Jörn Peter Hiekel • Christian Utz (Hrsg.) Lexikon Neue Musik Jörn Peter Hiekel ∙ Christian Utz (Hrsg.) Lexikon Neue Musik Jörn Peter Hiekel ∙ Christian Utz (Hrsg.) Lexikon Neue Musik Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02326-1 (Metzler) ISBN 978-3-7618-2044-5 (Bärenreiter) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH www.metzlerverlag.de www.baerenreiter.com Gemeinschaftsausgabe der Verlage J.B. Metzler, Stuttgart und Bärenreiter, Kassel Einbandgestaltung: Melanie Frasch unter Verwendung eines Notenbeispiels aus Beat Furrer, Antichesis für 14 Streicher (2006), T. 117 ff.: Ausschnitt aus der Seite 24 der Partiturreinschrift des Komponisten, © 2006 by Bärenreiter Verlag Basel Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Printed in Germany Inhalt Artikelverzeichnis VII Einleitung (Jörn Peter Hiekel / Christian Utz) IX I. Themen 1 Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (Ulrich Mosch) 2 Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (Wolfgang Rathert) 3 Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation (Christian Utz) 4 Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik (Jörn Peter Hiekel) 5 Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert (Elena Ungeheuer) 6 Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen (Christa Brüstle) 7 Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren (Lukas Haselböck) 8 Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 (Jörn Peter Hiekel) 9 Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 (Christian Utz) 3 17 35 54 77 88 103 116 135 II. Lexikon Artikel von A bis Z 157 Anhang Siglenverzeichnis Autorinnen und Autoren Personen- und Werkregister Sachregister 636 637 638 670 VII Artikelverzeichnis Afrika Akustik / Psychoakustik Aleatorik Ä Zufall Analyse Arabische Länder Architektur Ä Neue Musik und Architektur Ästhetik Ä Musikästhetik Atonalität / Posttonalität / Tonalität Australien / Neuseeland / Ozeanien Avantgarde Bearbeitung Bildende Kunst Ä Neue Musik und bildende Kunst China / Taiwan / Hong Kong Chor Ä Stimme / Vokalmusik Collage / Montage Composer-Performer Computermusik Ä Themen-Beitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Dirigieren Dodekaphonie Ä Zwölftontechnik Elektroakustische Musik Ä Themen-Beitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Ensemble Ä Kammerensemble Film / Video Form Fortschritt Ä Avantgarde Fragment Gattung Gender Geräusch Gesang Ä Stimme / Vokalmusik Globalisierung Gruppenkomposition Ä Serielle Musik Harmonik / Polyphonie Humor Improvisation Indien Informelle Musik Institutionen / Organisationen Instrumentales Theater Instrumentation Instrumente und Interpreten / Interpretinnen Intermedialität Internet Interpretation Intertextualität Ä Analyse, 1.3; Bearbeitung; Collage / Montage Iran Israel Japan Jazz Kammerensemble Kammermusik Kanonisierung Klang Ä Themen-Beitrag 3; Harmonik / Polyphonie Klangfarbe Klangkomposition, Klangflächenkomposition Ä ThemenBeitrag 3, 2.2 Klangkunst Klangmasse Ä Themen-Beitrag 9, 2., 3.1; Orchester, 1. Klangorganisation Ä Themen-Beitrag 3, 2.1 Klangzentrum Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie Komplexität / Einfachheit Komposition Ä Form; Harmonik / Polyphonie; Kompositionstechniken; Rhythmus / Metrum / Tempo; Schaffensprozess; Wahrnehmung; Zeit Kompositionstechniken Kontrapunkt Ä Harmonik / Polyphonie Konzeptuelle Musik Konzert Korea Körper Kulturpolitik Lateinamerika Literatur Ä Neue Musik und Literatur Artikelverzeichnis Live-Elektronik Ä Themen-Beitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Logik Ä Musikalische Logik Material Mathematik Ä Neue Musik und Mathematik Medien Melodie Metrum Ä Rhythmus / Metrum / Tempo Mikrotonalität Ä Themen-Beitrag 7; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie, Minimalismus / Minimal Music Moderne Montage Ä Collage / Montage Multimedia Ä Intermedialität; Medien Multiphonics Musikalische Logik Musikalische Syntax Musikanalyse / Musikalische Analyse Ä Analyse Musikästhetik Musikhistoriographie Musikjournalismus Musiksoziologie Musiktheater Musiktheorie Musikwissenschaft Musique concrète Ä Themen-Beitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik, 2. Musique concrète instrumentale Musique spectrale Ä Themen-Beitrag 7, 8.; Spektralmusik Nationalsozialismus Natur Neue Einfachheit Ä Komplexität / Einfachheit; Postmoderne Neue Musik Neue Musik und Architektur Neue Musik und bildende Kunst Neue Musik und Literatur Neue Musik und Mathematik Nordamerika Nordeuropa Notation Offene Form Ä Form Oper Ä Musiktheater Orchester Osteuropa Parameter Performance Politische Musik Ä Themen-Beitrag 4 Polystilistik Pop / Rock VIII Popularität Postmoderne Posttonalität Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität Psychoakustik Ä Akustik / Psychoakustik Punktuelle Musik Ä Serielle Musik Raum Ä Themen-Beitrag 6 Reihenkomposition Ä Serielle Musik; Zwölftontechnik Rezeption Rhythmus / Metrum / Tempo Säle und Gebäude Satztechniken / Satztypen / Strukturtypen Ä Harmonik / Polyphonie Schaffensprozess Serielle Musik Sinfonie Ä Gattung; Orchester Soziologie Ä Musiksoziologie Spektralmusik Sprache / Sprachkomposition Statische Musik Ä Themen-Beitrag 3, 2.2; Serielle Musik Stil Stille Ä Wahrnehmung, Ä Zeit Stimme / Vokalmusik Stimmungen Ä Themen-Beitrag 7; Atonalität / Posttonalität / Tonalität Stochastische Musik Ä Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Neue Musik und Mathematik; Zufall Streichquartett Struktur Südostasien Symmetrie Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie; Rhythmus / Metrum / Tempo Synästhesie Syntax Ä Musikalische Syntax Tanz / Tanztheater Tempo Ä Rhythmus / Metrum / Tempo Tonalität Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität Tonhöhenorganisation Ä Harmonik / Polyphonie; Kompositionstechniken Tonsysteme Ä Themen-Beitrag 7; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie Türkei Vermittlung Video Ä Film / Video Vokalensemble, Vokalmusik Ä Stimme / Vokalmusik Wahrnehmung Zeit Zentren neuer Musik Zufall Zwölftontechnik IX Einleitung Verallgemeinerungen erweisen sich nicht selten als kunstfremd. Auch der Umgang mit Entwicklungen und Ideen in der Musik hat dies oft genug gezeigt. Doch so selbstverständlich diese Einsicht für die Beschäftigung mit Musikwerken früherer Zeiten bereits sein mag, so dominant ist vielerorts noch immer die Tendenz, gerade die musikalischen Entwicklungen des 20. und 21.  Jh.s auf wenige Grundmuster und lineare Geschichtsverläufe zu reduzieren. Selbst in fachwissenschaftlichen Texten begegnet – um wenigstens das geläufigste dieser Grundmuster gleich zu nennen  – bis heute zuweilen die Behauptung, die Musik der vergangenen etwa hundert Jahre zeichne sich vor allem durch ein Festhalten am Prinzip der Innovation aus. Jedoch ist in jüngerer Zeit zunehmend sichtbar geworden, dass erst eine Betrachtung, welche die neue Musik nicht einseitig unter der oft überschätzten Perspektive des »Materialfortschritts« zu fassen sucht, der Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden vermag. Ein Handbuch wie das vorliegende Lexikon Neue Musik, das aus der Idee der Verlage Metzler und Bärenreiter entstand, die gemeinsam herausgebrachte Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart präzisierend, vertiefend und aktualisierend mit Blick auf einen ihrer besonders in Wandlung begriffenen Teilbereiche fortzuführen, lässt vor diesem Hintergrund durchaus das erwarten, was man gemeinhin als Orientierungshilfe beschreibt: eine Handreichung zur jüngeren und jüngsten Musikgeschichte  – wobei es von Anfang an primär um die Musik nach 1945 gehen sollte und nur punktuell um die vergleichsweise gut erforschte erste Jahrhunderthälfte. Die neue Musik nach 1945 in ihrer Gesamtheit darf man zweifelsohne als besonders facettenreich und unübersichtlich bezeichnen – und man mag dabei sogar an das denken, was der Philosoph Jürgen Habermas im Jahre 1985 mit dem Begriff der »Neuen Unübersichtlichkeit« meinte (Habermas 1985). Allerdings wird dieser Begriff bei Habermas wie auch sonst oft eher als typisches Kennzeichen nicht bereits der Moderne, sondern erst der Postmoderne ins Spiel gebracht. Das bringt die Gefahr mit sich, die Vielstimmigkeit der Kunstentwicklung aus den Jahrzehn- ten zuvor herunterzuspielen und einseitig das Bild eines »Avantgarde-Hauptstroms« vorauszusetzen. Angesichts solcher und ähnlicher Erwägungen geht es im vorliegenden Lexikon Neue Musik um den in unterschiedliche Darstellungsformate und Teilthemen aufgefächerten Versuch, Simplifizierungen, Klischees, Einseitigkeiten und »blinde Flecken« in bisherigen Beschreibungsansätzen in Frage zu stellen bzw. zu korrigieren. Das Ziel dieses Handbuchs liegt somit nicht zuletzt darin, sich der Musik des 20. und 21. Jh.s in ihrer erheblichen Pluralität von Tendenzen, Kriterien, Phänomenen und Intentionen zu nähern, aber auch in ihren Widersprüchen sowie in den manchmal unerwarteten Konvergenzen des scheinbar Widersprüchlichen. Diese Grundintention des Projekts begründet zugleich Anlage und Umfang der hier versammelten Beiträge. Einige Lemmata des lexikalischen Teils sind allgemein gehalten, sodass sie einigen Raum erfordern, um die oft verzweigten Aspekte in konziser Form abzuhandeln  – dies nicht zuletzt auch mit dem Ziel, dem in den letzten Jahren zum Teil deutlich gewachsenen Forschungsstand gerecht zu werden. Sie verbinden sich auf diese Weise eng mit dem im ersten Teil des Bandes versammelten Reigen thematischer Aufsätze zu grundlegenden Aspekten der neuen Musik. Das Zusammenspiel zwischen den neun Aufsätzen und 104  Lexikoneinträgen resultiert dabei in einer hohen Dichte von Querbeziehungen und zueinander komplementären Perspektiven, die durch zahlreiche Textverweise nachvollziehbar gemacht werden. 1. Geweiteter Horizont Der im Titel dieses Lexikons gewählte Begriff »neue Musik« ist gewiss weitaus mannigfaltiger als es seine zeitweilige (und teilweise noch bis heute zu beobachtende) Verwendung suggeriert. Wohl mag man produktiv darüber diskutieren, ob man ihn als Sammelbegriff auch für solche musikalische Tendenzen verwendet, die zumindest auf den ersten Blick gewisse »konservative« Elemente aufweisen, oder ob man ihn gar – wie dies gelegentlich vorgeschlagen wurde  – für jene Phänomene des Aufbruchs im frühen 20. Jh. reserviert, die längst als historisch gelten können. Im Gegensatz dazu kann man heute davon ausgehen, dass der Fortschritt bei der Betrachtung von Kunstdingen keine zentrale Kategorie mehr ist (über die triviale Tatsache hinaus, dass sich Kunst zu jeder Zeit von der jeweils vorangegangenen zu unterscheiden sucht). Zudem aber gehört eine Auseinandersetzung mit sich wandelnden künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten keinesfalls einer historisch abgeschlossenen Epoche an, sondern ist bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ein Attraktionspunkt kompositorischen Denkens geblieben. Einleitung Unter solchen Gesichtspunkten betrachtet ist der gut eingeführte Begriff »neue Musik« gewiss dazu angetan, eine wirkliche Vielfalt von Phänomenen innerhalb der Musik des 20. und 21. Jh.s zu fassen. Und dies gilt durchaus unabhängig davon, ob man für das Adjektiv Groß- oder Kleinschreibung wählt: Die Großschreibung hat heute längst ihre einschüchternde Wirkung verloren. Freilich darf man zugleich betonen, dass wohl keiner der in diesem Buch versammelten Beiträge wesentlich anders ausgefallen wäre, hätte man dieses mit einem anderen gebräuchlichen Begriff wie etwa »moderne Musik« oder »zeitgenössische Musik« überschrieben (Ä Neue Musik, 4.) Zur Moderne gehört – das haben grundlegende Darstellungen schon vor längerer Zeit gezeigt (vgl. etwa Henrich 1966) – eine Tendenz zur Reflexivität, bezogen auch auf die eigene Stellung in der Geschichte (Ä Moderne, 4.). Diese Dimension ist zuweilen mit einem aus der Theologie oder Hegelschem Denken geläufigen Geschichtsbewusstsein vermengt worden und hat nicht selten zu einer Ausklammerung bestimmter Phänomene geführt. Doch das Sendungsbewusstsein, das eine Zeitlang die Protagonisten der neuen Musik geprägt haben mag, dürfte heute weitgehend passé sein (Ä Neue Musik, 5.). Von einer »Ideologie« der neuen Musik auszugehen, erscheint jedenfalls längst obsolet – obschon es sie in früheren Zeiten punktuell gegeben haben mag. Zuweilen wird Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik als Exempel hierfür genannt (Adorno 1949/75). Doch erstens sollte man die unbezweifelbare historische Bedeutung dieser Schrift nicht übersehen, die ja nicht zuletzt darin liegt, ihrerseits auf Ideologisches zu antworten, und sich als Orientierungsversuch in einer weithin orientierungslos gewordenen Zeit verstand. Und zweitens war Adornos Buch zwar ein wichtiger Kristallisationspunkt für manche Diskussionen und das Moderneverständnis um 1950 in Westeuropa, hat aber bereits früh auch für energisch ausgetragene Kontroversen im Felde der neuen Musik gesorgt (und nicht zufällig hat Adorno viele seiner Positionen später auch erheblich modifiziert). Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass die neue Musik schon in der in Rede stehenden Zeit der 1950er Jahre, die bis heute oft als eine monolithische bezeichnet wird, von einer polyphonen Vielstimmigkeit geprägt war. Wenn das vorliegende Lexikon von manchen früher üblichen Vereinheitlichungen und Verkürzungen (über deren diskursgeschichtliche Gründe gleich noch zu sprechen sein wird) abzurücken versucht, so heißt dies auch, dass es in sich durchaus unterschiedliche – bisweilen wohl sogar einander widersprechende  – Beschreibungsansätze und Gewichtungsversuche versammelt. Und es heißt überdies, dass dabei kompositorische Ansätze berücksichtigt werden, die früher aus unterschiedlichen Grün- X den (meist wohl deshalb, weil sie außerhalb eines »Hauptstroms« der Musikgeschichte zu liegen schienen) vielfach ausgeklammert blieben. Es geht in diesem Band also auch um mitunter historiographisch marginalisierte Figuren wie John Adams, Benjamin Britten, Paul Hindemith, Arvo Pärt, Alfred Schnittke oder Isang Yun. Und es geht auch um neue Musik, die außerhalb des europäischen oder US-amerikanischen Horizonts liegt und als Resultat fortschreitender kultureller Ä Globalisierung in ein immer breiter werdendes Blickfeld tritt (Ä Themen-Beitrag 9), so besonders in den verschiedenen Beiträgen über Länder bzw. Regionen wie Ä Afrika, Arabische Länder, Australien/ Neuseeland/Ozeanien, China/Taiwan/Hong Kong, Indien, Iran, Israel, Japan, Korea, Lateinamerika, Nordamerika, Nordeuropa, Osteuropa, Südostasien, Türkei. Überdies kommen auch jene Tendenzen verstärkt zur Sprache, die mit unterschiedlichen Strategien herkömmliche Kriterien einer Trennung von Kunst- und Popularmusik unterlaufen (Ä Themen-Beiträge 5, 6, Improvisation, Jazz, Pop/Rock, Popularität). Mit einiger Selbstverständlichkeit werden dabei auch Komponistinnen und Komponisten in die Betrachtung einbezogen, die bei Selbstbeschreibungen den Begriff der neuen Musik kaum in Anspruch nehmen oder genommen hätten, sondern sich eher von Haltungen abzusetzen such(t)en, die man zuweilen früher mit ihm verband. Zu den Grundmustern der Beschreibung gehörte im Falle der Musik des 20. und 21. Jh.s eine Zeitlang deren Reduzierung auf wenige – tatsächliche oder vermeintliche – Schlüsselmomente und Entwicklungslinien, was manchmal zu einer Heroisierung von wenigen Hauptakteuren führte. Zuweilen ging das sogar so weit, dass man außer Arnold Schönbergs Schritt in die Atonalität im Zeitraum 1907–10, der »Erfindung« der seriellen Musik durch Persönlichkeiten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez in den frühen 1950er Jahren sowie der Einführung des Zufalls durch John Cage kaum andere Ereignisse von Gewicht für erwähnenswert hielt – vielleicht am ehesten noch die mit Namen wie György Ligeti oder Krzysztof Penderecki verbundene »Klangkomposition« und dann die vermeintliche »Neotonalität« bei Wolfgang Rihm und anderen (Ä Themen-Beitrag 3, Postmoderne). Vor diesem Hintergrund konnte ein Musikgeschichts-Erzählversuch über neue Musik früher zuweilen so aussehen: Erst kamen die Serialisten, die jegliche Entfaltung von Klängen und deren Bedeutungen eliminierten, dann kam Cage mit seiner anarchischen Aleatorik und seinem fröhlichdadaistischen Sinnlosigkeitsgehabe, und irgendwann die Postmoderne, die das Rad wieder zurückdrehte und damit den Anschluss an die gute, alte Zeit der musikalischen Sinnfälligkeiten und tönend bewegten Formen fand. XI Solche und ähnliche historiographischen Stereotype haben damit zu tun, dass nicht nur der Perspektivenreichtum der hier erwähnten Ansätze ignoriert wurde, sondern unter dem Primat eines teleologischen Denkens die Verschiedenartigkeit koexistierender Ansätze übersehen wurde. Gleiches gilt für das enorm facettenreiche Feld von Konzepten, die von anderen Kunst- und Darstellungsformen inspiriert sind (Ä Film/Video, Neue Musik und Architektur, Neue Musik und bildende Kunst, Neue Musik und Literatur, Tanz/Tanztheater) oder von ganz spezifischen (oft auch philosophisch grundierten) Sichtweisen auf Aspekte wie Klang, Ä Zeit oder Ä Form getragen werden (Ä Musikästhetik). So wurde etwa, um ein weiteres Beispiel zu nennen, immer wieder jener Aspekt einer »Sprache des Körpers« ignoriert, der exemplarisch für die Entfernung von begrifflichen Fixierungen und die Möglichkeit posthermeneutischer Zugangsweisen steht und erst in den letzten Jahren innerhalb der Musikwissenschaft und Musikpädagogik vermehrt diskutiert worden ist (Ä Körper). Es versteht sich von selbst, dass solche Verengungen, die auf einer mit einfachen Modellen und »roten Fäden« operierenden Musikgeschichtsschreibung basieren, erst mit der Zeit aufgebrochen werden können. Doch es ist mit Blick auf ein Handbuch wie das vorliegende, das dies im Sinn hat, vielleicht hilfreich, die Gründe für diese Verengungen wenigstens anzusprechen, um in einem nächsten Schritt dann einzelne jener Revisionen anzudeuten, die im Rahmen des Diskurses über neue Musik in den letzten Jahrzehnten erfolgten – oder sich zumindest anbahnen – und die zu den Ausgangspunkten des vorliegenden Handbuchs zählen. 2. Publizistik und Forschung zur neuen Musik Insbesondere zur deutschsprachigen Auseinandersetzung mit Phänomenen neuer Musik trug eine Zeitlang vor allem ein fester Kreis von Musikjournalistinnen und -journalisten bei, die durch den ständigen Kontakt mit speziell ausgerichteten Festivals und Konzertreihen einen erheblichen Wissens- und Anschauungsvorsprung gegenüber den akademischen Fachvertretern hatten (Ä Musikjournalismus). Als Beispiele seien jene sorgfältigen, wenn auch erkennbar subjektiv gehaltenen Beschreibungen einer großen Zahl kompositorischer Ansätze genannt, die Ulrich Dibelius in seinem kenntnisreichen Werk Moderne Musik vorlegte (Dibelius 1966/88/98) sowie die neutralere Darstellung Jean-Noël von der Weids (1997/2001) oder die aus US-amerikanischer Perspektive verfasste, beharrlich ins Feuilletonistische navigierende Darstellung des New Yorker Kritikers Alex Ross (2007/09). Eine gewisse Breite des musikjournalistischen Diskurses, der in musiksoziologischer Perspektive bisweilen Einleitung oft etwas abschätzig als bloßer Teil einer »Expertenkultur« bezeichnet wird, entwickelte sich zur gleichen Zeit auch im Rundfunk. Dieser hat vor allem in den deutschsprachigen Ländern sowie in Frankreich und Italien zur Förderung und Erörterung der neuen Musik bekanntlich Wesentliches beigetragen und damit eine Funktion von unschätzbarer Bedeutung eingenommen (Ä Institutionen/ Organisationen, 4.). Dasselbe gilt für diverse Fachzeitschriften, die  – anknüpfend an verschiedene schon vor dem Zweiten Weltkrieg erschienene Periodika – überwiegend oder sogar ausschließlich dem Bereich neuer Musik gewidmet sind oder waren (und in denen vor allem in der Anfangszeit in einem erheblichen Maß Manuskripte von Rundfunkbeiträgen abgedruckt wurden). Nicht zu unrecht wird oft beklagt, dass es im Rahmen der an Universitäten bzw. Musikhochschulen angesiedelten Musikwissenschaft eine deutliche Tendenz zur weitgehenden Ausklammerung oder Marginalisierung von weiten Teilen der neuen Musik gegeben hat bzw. teilweise immer noch gibt, und dies obgleich vereinzelt Professuren mit Kennern der neuen Musik besetzt wurden (Ä Musikwissenschaft, 2.). Ähnliches gilt erst recht auch für die Nachbarfächer Musikpädagogik und Ä Musiktheorie und vor allem für breite Segmente der Instrumentalausbildung. Man mag angesichts dieser Tendenz zur Ausklammerung des Neuen aus dem wissenschaftlichen und musikpraktischen Diskurs an die entschieden aufklärerische Ambition einer der ersten Musikzeitschriften der Geschichte erinnern  – nämlich an Johann Adam Hillers Zeitschrift Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen, die Musik betreffend (Leipzig 1766–70) und deren Leitgedanken zur Vermittlung von Musik. Diese Vermittlung zielte, wie später auch Robert Schumanns Neue Zeitschrift für Musik, ganz selbstverständlich auf das Neue. Doch sie erwies sich, wie Hiller ausdrücklich monierte, gerade bei jenen als schwierig, »welche keinen anderen kritischen Richterstuhl erkennen wollen als ihre Ohren« (zit. nach Tadday u. a. 1997, 1370). Eine offene, unvoreingenommene Haltung, die heute nicht anders als damals einzufordern ist und sich erfahrungsgemäß manchmal eher bei Kunstinteressierten aus anderen Bereichen finden lässt, hat mit einer Bereitschaft zu tun, auch das zu akzeptieren, was den eigenen Hörgewohnheiten zunächst nicht unmittelbar eingängig erscheint. Dies kann schlicht heißen, die eigenen Kriterien der Wahrnehmung und der Interpretation beim Erleben des Ungewohnten wenigstens für Momente in Frage zu stellen, um adäquate andere Kriterien zu entwickeln, wobei es weniger um kognitive Lernprozesse als um eine Haltung von Neugier und Entdeckerfreude geht (Ä Wahrnehmung, 3.5). XII Einleitung Eine breite antimoderne Tendenz, die solche Einsichten ohne Zweifel behindern kann, führt(e) in der Musikwissenschaft zu einer verbreiteten Zurückhaltung, nicht selten aber auch zu pauschalen Abwehrhaltungen. Ein prominentes Beispiel ist Friedrich Blumes bekannte Polemik, in der er die Musik Karlheinz Stockhausens als »Blasphemie« bezeichnete (Blume 1959, 17). Zu dieser Haltung gehört es allerdings bis heute oft auch, dass von einem eindimensionalen Begriff des Verstehens von Musik ausgegangen wird (Ä Analyse, 1.4, Ä Musikästhetik, 4.2), oft in schlichter Invertierung verschiedener  – gewiss ebenfalls einseitiger – Thesen Adornos zur Rolle der neuen Musik als »Flaschenpost« (1949/75, 126), bisweilen mit vermeintlich soziologischen Argumenten operierend (Ä Musiksoziologie, Neue Musik, 5.). Beide hier benannten Felder des Umgangs mit neuer Musik können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden: Die Abstinenz oder zumindest Zurückhaltung der akademischen Fachvertreter in den letzten Jahrzehnten verstärkte für Persönlichkeiten aus dem Bereich des Musikjournalismus die Notwendigkeit, die entstandene Lücke mit Engagement und Nachdruck zu füllen (nur vereinzelt, etwa im Falle von Hans Heinz Stuckenschmidt, waren sie zugleich auch in den akademischen Bereich eingebunden). Was aber, so ist zu fragen, war bzw. ist problematisch an diesem journalistisch geprägten Diskurs? Zu dessen unverkennbaren Merkmalen gehört es, dass sich die Autorinnen und Autoren oft durch die einseitigen Pauschalurteile von konservativer Seite  – in den Diktaturen des Ostblocks wohl auch durch jene des Staatsapparats (Schneider 2004)  – zu einer gegenüber der neuen Musik affirmativen Haltung veranlasst sahen. Diesem nicht kleinen Kreis von Schreibenden eine mangelnde Distanz zum Gegenstand ihres Tuns vorzuwerfen, mag in vielen Fällen zutreffend sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn gewisse in der Musik thematisierte gesellschaftliche Bezüge überbetont werden (Ä Themen-Beitrag 4, 5.) oder wenn Komponistinnen und Komponisten in oberflächlicher Weise als Repräsentanten einer bestimmten Strömung oder Richtung etikettiert werden (mit Blick auf die journalistische wie wissenschaftliche Rezeption der Musik Helmut Lachenmanns etwa ging es um die notwendige Befreiung aus dem »Ghetto einer Verweigerungs-Ästhetik«, vgl. Brinkmann 2005, 126). Gewiss ist aber auch nicht zu übersehen, dass eine solche Kritik an der Intention vieler journalistischer Beiträge vorbeigeht, versuchen diese doch zunächst das Verständnis und die Sensibilität gegenüber ungewöhnlichen Ansätzen in der jüngeren Musik zu vergrößern  – und es gehört zum journalistischen Schreiben dabei selbstverständlich der Mut zum pointierten Herausarbeiten von Tendenzen. Die oft dokumentierte Beobachtung freilich, dass journalistische oder halbwissenschaftliche Texte über neue Musik im Wesentlichen bloß das paraphrasieren, was Komponistinnen und Komponisten selbst über ihre Werke und Ideen äußerten, deutet auf einen nicht unwesentlichen Faktor für das Entstehen mancher Klischees und Einseitigkeiten vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Nachwirkung komponistenzentrierter Genieästhetik auch im Bereich der neuen Musik (Ä Analyse, 1.2–1.3). Gerade diese Erkenntnis aber kann, um auf den Bereich der Wissenschaft zurückzukommen, zur vertieften Beschäftigung mit den Phänomenen der neuen Musik einladen und Impulse für ein Umdenken in allen genannten Fächern setzen. Musik der Gegenwart in sämtlichen stilistischen Facetten sollte in der musikwissenschaftlichen Ausbildung ebenso wie in praktischen Fächern ganz selbstverständlich einen der Schwerpunkte bilden, um eine nicht nur vorurteilsfreie, sondern auch wissenschaftlich substanzielle Auseinandersetzung mit ihr zu ermöglichen, wie es auch für andere Epochen der Musikgeschichte selbstverständlich ist. Wer sich dieser Herausforderung verweigert, trägt dazu bei, dass erstens ein überaus vielfältiges Segment der Gegenwartskultur einem erheblichen Teil der Kunst- und Musikinteressierten vorenthalten bleibt und dass sich zweitens die in der Musikkultur ohnehin immer weiter wachsenden Tendenzen zur »Musealisierung« und zur »Leichtigkeitslüge« (Noltze 2010) in der Rezeption von Musik verstärken. Immerhin lassen sich in jüngerer Zeit ermutigende Anzeichen für eine gewisse Verbreiterung in der Auseinandersetzung mit neuer Musik feststellen. Es häufen sich Dissertationen, Tagungen und Forschungsprojekte zu wichtigen Teilbereichen des Feldes, die dazu beitragen können, Klischees und Einseitigkeiten zu korrigieren. Und es gibt mancherlei Denkanstöße, die Stereotypien des Diskurses in Frage stellen  – angefangen mit der in der postmodernen Wissenschaft auf breiter Basis beanstandeten Tendenz, Geschichte an »dead white men« zu orientieren (Inglis/Steinfeld 2000; Ä Gender, Ä Globalisierung, Ä Kanonisierung, Ä Musikhistoriographie). Vieles davon ist in das vorliegende Buch eingeflossen – und nachfolgend sei versucht, wenigstens einige Aspekte der sich abzeichnenden Neuorientierung schlaglichtartig zu skizzieren. 3. Revisionen und neue Perspektiven Ein wesentlicher, oft jedoch missverstandener Aspekt des Umgangs mit neuer Musik liegt in der Frage der Relevanz der Kommentare zu ihr. Carl Dahlhaus, einer der bekanntesten und einflussreichsten Musikwissenschaftler XIII im 20. Jh. (und noch dazu einer der wenigen, die für die neue Musik ein erhebliches, durch viele Konzertbesuche fundiertes Interesse mitbrachten), wies mit Blick auf kommentierende Texte zur Musik darauf hin, dass ein generelles »Misstrauen gegen Lektüre […] borniert« sein kann (1971/2005, 245). Zweifellos wird in manchen neuen Musikwerken die konzeptuelle Seite stark akzentuiert, bisweilen sogar in einer Weise, die es geboten scheinen lässt, den Kommentartext als Teil des Werkes gelten zu lassen (im Sinne eines Paratextes, der freilich seinerseits nach Interpretationen verlangt und nicht bloß fertige Verstehenslösungen bietet). Doch heikel kann das Vertrauen auf die Relevanz der Lektüre dann werden, wenn es lediglich um eine Dokumentation der von Komponistinnen und Komponisten vorgenommenen Selbstdeutung eines Werks oder womöglich der historischen Positionierung geht. Denn gewiss ist die Reflexivität von Musikwerken niemals schlicht mit dem gleichzusetzen, was im Diskurs über sie gesagt ist. Dieser kann an ihnen auch in beträchtlichem Maße vorbeigehen – bedingt durch seine gleichsam zentrifugale Eigendynamik, aber auch durch die verbreitete Neigung, alles auf griffige Tendenzen und Positionen zu reduzieren. Anlass zu dieser Einsicht können die einseitigen Stellungnahmen vieler Komponisten vor allem aus den 1950er Jahren geben, sei es zur eigenen Musik oder, etwa in ausführlichen strukturalistischen Analysen, zu Werken ihrer Zeitgenossen und Vorläufer (Ä Analyse, 2.). Diese Texte tendierten in einer musikgeschichtlich spätestens seit Richard Wagner verbreiteten Weise dazu, die historische Bedeutung des eigenen Handelns zu inszenieren und dabei mitunter mit Vehemenz eine Distanzierung gegenüber vieler anderer Musik auszusprechen. Letzteres vor allem ist heute lesbar als Attribut einer kompromisslos-kämpferischen Haltung, die noch Jahrzehnte nach 1945 im Diskurs über neue Musik spürbar war. Man könnte geneigt sein, die Entschiedenheit, mit der etwa die Idee der seriellen Musik und der mit ihr repräsentierte Neuanfang propagiert wurden, im Rückblick ausschließlich positiv zu bewerten: etwa in dem Sinne, dass sich an diesen Ideen jahrzehntelang nicht nur die Musikwissenschaft, sondern auch verschiedenste Komponistinnen und Komponisten abarbeiten konnten – angefangen bei Persönlichkeiten wie Iannis Xenakis, John Cage, Morton Feldman, Bernd Alois Zimmermann, Mauricio Kagel, György Ligeti und Helmut Lachenmann, die allesamt bereits deutliche Widersprüche gegenüber der seriellen Musik und manchen in ihr anklingenden Alleinvertretungsansprüchen anmeldeten. Doch das eigentliche Defizit der Musikgeschichtsschreibung – das eine solche ausschließlich positive Sicht auf die Entschiedenheit des Neuanfangs erschwert – hat wohl vor allem zwei andere Gründe. Ein Einleitung erster liegt darin, dass im Schrifttum über die Musik nach 1945 mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die bereits eingangs genannte simplifizierte fortschrittsorientierte Geschichtskonstruktion immer weiter transportiert und petrifiziert wurde. Und ein zweites, noch gravierenderes Dilemma wird darin deutlich, dass jene größere Gruppe von Autorinnen und Autoren, die sich der Beschäftigung mit neuer Musik schlicht entzog, in solchen vereinfachenden Geschichtskonstruktionen die eigene Abstinenz legitimiert sah, zumal viele Komponistentexte seit 1945 zwar mit wissenschaftlicher Verve auftraten, aber methodisch diesen Anspruch nur in wenigen Fällen einzulösen vermochten. Dabei dokumentierte der einseitige, oft harsche Tonfall mancher Kommentare der 1950er Jahre zuweilen sogar Sprachtopoi des Kalten Krieges. Anders formuliert: Der Diskurs über die Musik verstellte oft den Blick auf diese selbst. Man übersah dabei etwa die  – mit Blick auf Adorno schon angedeuteten  – Differenzen, die sich früh innerhalb jenes Kreises manifestierten, den man gern pauschalisierend als »Darmstädter Avantgarde« bezeichnete. Vor der Folie dieser einseitigen Konzentration auf den historischen Neuanfang und seine Fortführung des klassischen Werkbegriffs gelangten auch dem Projekt der neuen Musik grundsätzlich wohlgesonnene Autoren allzu schnell zu abwertenden Urteilen – namentlich etwa gegenüber John Cage und vieler von ihm beeinflusster künstlerischer Strategien oder gegenüber Hanns Eisler sowie dem gesamten Feld einer politisch engagierten Musik. Oder man erlaubte sich schlichte Ignoranz gegenüber anderen, alternativen Positionen, die man aus heutiger Sicht gewiss nicht als konservativ bezeichnen kann. Beispielhaft erwähnt seien hier jahrzehntelang unterschätzte Persönlichkeiten wie Giacinto Scelsi, Olivier Messiaen oder Bernd Alois Zimmermann, die heute als Schlüsselfiguren der neuen Musik gelten müssen. Aber Ähnliches lässt sich auch für fast alle wesentlichen kompositorischen Ansätze sagen, die außerhalb Europas und der USA entwickelt wurden. Im Falle von Cage  – mitsamt der experimentellen nordamerikanischen Tradition, die er repräsentiert (Ä Themen-Beitrag  2)  – mag es hilfreich sein, kurz auf Carl Dahlhaus zurückzukommen, der den Ansatz von Cage verkürzend als »verspätete[n] musikalische[n] Dadaismus« (1972/2005, 257) bezeichnete. Als Antwort darauf kann man an einen Gedanken von Karl Heinz Bohrer erinnern, der sich ausdrücklich auf die problematische Rezeption der neueren Kunst in der Wissenschaft richtet: »Wir haben bis heute die Tiefen-Dimension der Avantgarde, der Duchampschen Provokation etwa, nicht erforscht, weil sie viel zu früh formalistisch als Anti-Kunst klassifiziert und damit einer objektiven Kunst- und Stil- Einleitung geschichte sowie deren Werk-Begriff überliefert wurde. Hingegen wäre zu entdecken, daß Duchamps Gelächter überhaupt noch nicht gehört worden ist. Die Provokation des Schocks liegt nicht darin allein, daß er provoziert, sondern in dem bis dahin unbekannten Aspekt des Gesagten, der verwirrt. […] Er muß überhaupt noch realisiert werden im Kopfe der Wissenschaft, im Kopfe von uns allen« (Bohrer 1981, 77). Das Beispiel steht dafür, dass selbst in jenem Teil der Musikwissenschaft, in dem es eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuer Musik gab, eine erhebliche Fixierung sowohl auf einen engen Begriff von Form und strukturellen Zusammenhang als auch auf ein geschichtsphilosophisch grundiertes Entwicklungsdenken existierte. Und gerade dieses Denken ließ viele an Musik Interessierte immer wieder von einem »Avantgarde-Hauptstrom« ausgehen, der dazu angetan war, eine erhebliche Zahl von Komponistinnen und Komponisten zu »Außenseitern« abzustempeln, als sei das von ihnen Geschaffene, da nicht »geschichtsmächtig« genug, bloß etwas Peripheres. Und namentlich Cage galt vielen vorschnell als bloßes Indiz einer »Abschaffung« der Avantgarde, als sei deren Geschichte schlicht an ihr Ende gekommen. Eine adäquate Darstellung der neuen Musik kann die bei deren Verächtern wie deren Verfechtern gleichermaßen präsente Tendenz zur Simplifizierung nur dann überwinden, wenn sie im Sinne einer wichtigen Forderung von Jean-François Lyotard der Versuchung widersteht, von »großen Erzählungen«, von »Metanarrativen« auszugehen und sich stattdessen den »kleinen Erzählungen« (pétit récits) zuwendet (1979, 107). So wäre es gewiss zu einseitig, die neuere Musikgeschichte einzig unter dem Leitgedanken einer »Moderne als unvollendetem Projekt« (Jürgen Habermas) zu schreiben und die vielfältigen Parallel- und Gegenentwicklungen beiseite zu lassen. Kritik an einem am Materialbegriff orientierten Determinismus der Musikgeschichtsschreibung wurde bereits in einigen Überblicksdarstellungen zur neueren Musik der Ausgangspunkt breiterer Ansätze. Dies gilt etwa für die von Nicholas Cook und Anthony Pople im Jahre 2004 herausgegebene Cambridge History of Twentieth-Century Music, deren ausdrückliches Ziel ein Bewusstsein für die Pluralität der Musikkultur ist  – jenseits eines Beharrens auf innovativen oder auf nichtinnovativen Tendenzen (Cook/Pople 2004). An diesem in seiner Breite gewiss verdienstvollem Buch kann allerdings bemängelt werden, dass zwar ein ausführliches Kapitel zum »moderate mainstream 1945–75« enthalten ist, aber doch allzu viele andere Entwicklungslinien unberücksichtigt blieben  – namentlich etwa die neue Musik in asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern. Anders als die Seitenblicke auf Aspek- XIV te der Popularmusik, die vor allem in englischsprachigen Darstellungen zwischenzeitlich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit integriert werden (Griffiths 2006/08; Ross 2007/09), ist das Fehlen von Perspektiven, die außerhalb des europäischen und US-amerikanischen Horizonts liegen, im Reden über neue Musik weiterhin eher die Regel als die Ausnahme. Dies macht das in der Geschichte der Musik im 20. Jh.: 1975–2000 enthaltene Ansinnen, auch je ein Kapitel über »postkoloniale Perspektiven« (Gertich/ Greve 2000) und über »Urbane Aboriginale« (Barthelmes 2000) zu integrieren, umso wertvoller, selbst wenn das Spektrum der hier behandelten Tendenzen sehr selektiv und diskursiv wenig entwickelt ist. In deutlichem Kontrast zu dieser von Helga de la Motte-Haber herausgegebenen Publikation und zu Cooks und Poples Cambridge History, die unter wechselnden systematischen Blickwinkeln bewusst sehr unterschiedliche Ausschnitte aus dem Gesamtspektrum der neueren Musik zur Diskussion stellen und auf eine einheitliche Sicht der Dinge verzichten, steht die fünfbändige Oxford History of Western Music von Richard Taruskin (2005/10). Auch Taruskin möchte sich nach eigenem Bekunden eigentlich vom linearen Denken der Musikgeschichtserzählungen abwenden und das Modell der »kleinen Erzählungen« aufgreifen (2005/10, Bd. 1, XXIII). Doch kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass er sehr wohl weiterhin von einer Geschichte der »dead white men« ausgeht. Ein viel diskutiertes Manko seines Projekts besteht denn auch darin, dass eine von teleologischem Denken beflügelte Tendenz vor allem immer wieder durchschlägt, wenn es um das 20. Jh. geht (Cox 2012). In den beiden auf dieses Jahrhundert bezogenen Teilbänden 4 und 5 wird dabei einerseits das, was beim (US-amerikanischen) Publikum bereits »angekommen« ist, in epischer Breite dargelegt. Zugleich aber wird vieles einfach weggeblendet, Schlüsselfiguren europäischer Musik wie Helmut Lachenmann, Mathias Spahlinger oder Klaus Huber finden kein einziges Mal Erwähnung. Und dies gilt erst recht für das Komponieren jüngerer Generationen und Entwicklungen außerhalb der »Western Music« (die vor allem für die Musik nach 1945 als Eingrenzungskriterium nicht mehr tauglich ist). Nicholas Cook kritisierte zudem an Taruskins Ansatz, dass vielfach quantitative Kriterien wie Publikumserfolg, Verkaufszahlen und ökonomische anstelle von künstlerischen Kriterien zur Geltung kommen (2006, 206 f.) – eine Tendenz, die auch einige neuere soziologisch orientierte Polemiken, die sich auf Taruskin berufen, aufgegriffen haben. Wenn Taruskin etwa darlegt, die musikalische Avantgarde nach 1945 sei weitgehend ein Erbe der »asozialen« romantischen Ästhetik (2005/2010, Bd. 5, 210–213), so wird besonders drastisch sichtbar, wie soziale und weltbezogene Dimensionen von Musik in den XV Dienst pauschaler Werturteile gestellt werden (Ä ThemenBeitrag 4, 5.). Der Blick wurde hier vergleichsweise ausführlich auf Taruskins Werk gerichtet, weil er belegen kann, wie deutlich es sich heute abzeichnet, dass man den verschiedensten Phänomenen und Ansätzen innerhalb der neuen Musik keinesfalls gerecht wird, wenn man ihre Verzweigtheit und Vielstimmigkeit außer Acht lässt und zugleich allzu deutliche Wertungen in das Dargestellte integriert. Dabei markiert es eine fast triviale Erkenntnis der Geschichtswissenschaft, dass implizite Wertungen unvermeidbar sind. Schon die Auswahl der Phänomenbereiche, die man für ein Buchprojekt formuliert, ist eine Richtungsentscheidung (und Vergleichbares gilt für die Wahl von Autorinnen und Autoren). Manche der wertenden Implikationen erweisen sich hinreichend deutlich erst im Spiegel von Diskussionen folgender Jahre oder gar Jahrzehnte. Und diese Diskussionen können helfen, den Diskurs zu differenzieren. Abzulesen ist dies etwa daran, dass Hermann Danuser seinem viel beachteten Band zum Neuen Handbuch der Musikwissenschaft Die Musik des 20. Jh.s (Danuser 1984/92), der bereits Anfang der 1980er Jahre fertiggestellt wurde (und daher auch nur ungefähr zwei Drittel des 20. Jh.s behandelt, also nur einen kleinen Teil dessen, worum es im Vorliegenden vor allem geht), späterhin einzelne Präzisierungen, Erweiterungen oder Korrekturen an die Seite stellte. Man kann wohl davon ausgehen, dass die auch von Danuser zuweilen aufgeworfene Frage, inwieweit es überhaupt adäquat möglich sein kann, über Musik der jüngeren Geschichte  – oder sogar der Gegenwart  – Substanzielles zu schreiben, grundsätzlich positiv zu beantworten ist. Doch auch dann landet man schnell bei einer zweiten Frage, die sich auf die schon angedeuteten Diskurs-Wucherungen der letzten Jahrzehnte bezieht: Wie kann es gelingen, jener so misslichen Tatsache zu begegnen, dass der Diskurs über neue Musik, der sich vor allem seit 1950 entfaltet, bis heute so nachdrücklich die gewissenhafte Betrachtung dieser Musik selbst überlagert? Nach Auffassung der Herausgeber des vorliegenden Handbuchs liegt eine mögliche Lösung des Problems darin, jene Tendenzen im Erforschen dieser Musik und im Schreiben über sie aufzugreifen, die in grundlegender Weise die Notwendigkeit von wechselnden Akzenten und Betrachtungsweisen akzeptieren. Das erfordert zunächst die Überwindung von Verkürzungen und gängigen Überbetonungen. Hier ist außer der Darstellung von Musikgeschichte als Fortschrittsgeschichte auch jene kaum minder prekäre Tendenz zu nennen, sie als Geschichte von Kontroversen oder Dichotomien aufzufassen (Paul Griffiths wies mit Recht darauf hin, dass auch etwa die Mini- Einleitung mal Music keineswegs als Ganzes eine »Kampfansage an die anerkannte moderne Tradition« war, 2006/08, 262). Aber es erfordert vor allem die Einbeziehung und besondere Akzentuierung von verschiedenen wichtigen Aspekten des neueren Komponierens, die dazu angetan sind, gerade die außerordentliche Vielfalt der neueren Musik erfahrbar zu machen – und die angesichts der Fixierung des bisherigen Diskurses auf einen bestimmten Musikbegriff viel zu wenig berücksichtigt wurden. Beispielhaft erwähnt seien hierfür, neben dem schon genannten Aspekt der »Sprache des Körpers« und der Überwindung von Kultur- und Genrebegrenzungen, auch der so verschiedenartige musikalische Umgang mit Ä Zeit und Raum (Ä Themen-Beitrag  6) oder die  – oft bewusst reduzierten, oft hochkomplexen  – Ausgestaltungen der klanglichen oder der formalen Dimensionen von Musik. Solche konzeptionellen Differenzierungen führten nicht zuletzt dazu, dass die musikalische Ä Wahrnehmung in einer Weise ins Zentrum des kompositorischen Interesses rückte, die früher undenkbar gewesen wäre und die oft kaum ohne den Horizont nicht-europäischer Perspektiven angemessen untersucht werden kann. Die eingehendere Beschäftigung mit neuer Musik ist heute überdies undenkbar ohne das Bewusstsein dafür, wie mannigfaltig die Inspirationen von Musikwerken durch Aspekte der bildenden Kunst, der Literatur, des Tanzes, der Architektur oder der Bereiche Film/Video sind, wie umfassend und vielgestaltig aber auch die – oft von neuen technischen Möglichkeiten getragenen – Verknüpfungen mit diesen Nachbarkünsten. Hierzu zählen nach den frühen Aufbrüchen im Bereich Ä elektronischer Musik und ihrer zahlreichen Ausformungen (Ä Themen-Beitrag  5) gewiss auch Konzepte im Bereich der Ä Klangkunst sowie die äußerst variablen Ansätze im besonders stark geweiteten Bereich des Ä Musiktheaters. Hierzu gehören in deutlich gewachsenem Maße aber auch Aktivitätsfelder innerhalb der klassischen Ä Institutionen wie dem Ä Konzert und in Musik für Ä Orchester, Ä Kammerensembles oder für Ä Stimme und Vokalensembles. Darüber hinaus geht mit der inzwischen immens gewachsenen Digitalisierung unserer Lebenswirklichkeit eine weitere erhebliche Weitung von Möglichkeitsräumen einher (Ä Intermedialität, Ä Internet, Ä Medien). Will man der – pointiert als eigentlicher Anlass dieses Buches zu bezeichnenden  – Vielfalt der Tendenzen und Möglichkeiten des Komponierens, Spielens und Hörens von Musik im 20. und 21. Jh. auch nur annähernd gerecht werden, stößt man freilich auch noch auf verschiedenste weitere Teilaspekte, die man früher ebenso schlicht wie unzureichend oft als »außermusikalisch« rubrizierte oder sogar ganz ausklammerte: etwa auf die enorm facettenrei- XVI Einleitung chen Bezüge zur Ä Natur, auf vielfältige Akzentuierungen des Weltbezugs (gerade dies oft im Zeichen der in jüngerer Zeit oft diskutierten digitalen Revolution, Ä ThemenBeitrag 4, 11.), auf künstlerische Akzentuierungen von Spiritualität oder Religiosität (Ä Themen-Beitrag 8) oder auf Ansätze, die auf verschiedene Strategien oder Vorlieben etwa aus dem seinerseits weiten Feld von Ä Pop/Rock oder Ä Jazz rekurrieren. Alles das bezeichnet Facetten neuer Musik, die gewiss nicht immer mit Neuheitsansprüchen auftrumpfen, die aber die unbezweifelbare Lebendigkeit des in Rede stehenden Feldes von künstlerischen Möglichkeiten repräsentieren. Es sind Möglichkeiten, die einerseits die Traditionen bereits existierender kompositorischer Ansätze fortschreiben oder verfeinern können, die aber andererseits diese oft auch brechen, unterlaufen, umkehren oder kommentieren. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten eines Handbuchs wie dem vorliegenden, dass in seinen bewusst weit verzweigten Darstellungen an vielen Stellen Persönlichkeiten und Ansätze ins Blickfeld geraten, die bei einer auf nur wenige »rote Fäden« konzentrierten Darstellung ebenso zu kurz kämen wie bei Darstellungen, die das Innovative zum alleinigen Kriterium erheben. Insgesamt hoffen die Herausgeber, dass die Breite des Ansatzes des in diesem Buch Versammelten ebenso erfahrbar wird wie der Versuch, über stereotype Betrachtungsweisen markant hinauszugehen. Und so mag beim Umgang mit diesem Buch über neue Musik wie mit dieser selbst immer wieder hinreichend kenntlich werden, dass sie insgesamt allenfalls in Ausnahmefällen als bloße Verweigerung oder Kritik der reichen Tradition der Musikgeschichte angelegt ist – sondern vielmehr als faszinierend vielgestaltige Weitung von künstlerischen Gestaltungs- und Erfahrungsräumen. 4. Zum Gebrauch des Lexikons Das vorliegende Handbuch, das bewusst nicht von Einzelpersonen, sondern von Themen bzw. Themenclustern ausgeht, verschränkt unterschiedliche Darstellungsformen und Perspektiven. Dabei ist es so angelegt, dass die neun im ersten Teil stehenden Themen-Beiträge partiell auch einzelne Lemmata des lexikalischen zweiten Teils abzudecken suchen (vgl. hierzu jeweils die entsprechenden Verweise) und dass auch einige lexikalische Beiträge diskursiv ausgeweitet sind, und zwar dort, wo dies durch die im Gegenstand begründeten Zusammenhänge unerlässlich schien. Am Schluss jedes Beitrags sind weiterführende Verweise auf andere Beitrage in diesem Buch genannt, bei der aufgelisteten Literatur wurde im Wesentlichen jene berücksichtigt, auf die in den Beiträgen verwiesen wird. Das Register umfasst ein kombiniertes Personen- und Werkverzeichnis sowie ein Sachregister, in das freilich mit Rücksicht auf den Umfang nur eine Auswahl von Schlüsselbegriffen aufgenommen werden konnte. 5. Schreibweisen Zum Konzept des Buches gehört es, beim Begriff »Neue/ neue Musik«, der nicht als Epochenbegriff, sondern als Sammelbegriff höchst unterschiedlicher Tendenzen verstanden wird, sowohl Groß- als auch Kleinschreibung zuzulassen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit ist in den Aufsätzen wie den Lexikonbeiträgen dort, wo vereinfachend von »Komponisten«, »Hörern«, »Autoren« etc. die Rede ist, stets die weibliche Form mitzudenken. Bei Aufzählungen, die weibliche und männliche Namen enthalten, finden selbstverständlich beide Formen Verwendung. 6. Dank Der Dank der Herausgeber gilt zunächst allen Autorinnen und Autoren für ihre Geduld und gewissenhafte Kooperation im Rahmen des mehrjährigen Entstehungsprozesses. Besonders gedankt sei Dieter Kleinrath für die umsichtige und kompetente redaktionelle Assistenz, Übersetzertätigkeiten und die Erstellung des Registers sowie Oliver Schütze (J.B. Metzler Verlag), der das Projekt von Anfang an mit Leidenschaft und Nachdruck begleitete. Weiterer Dank gilt Rainer Nonnenmann für die kurzfristige Bereitschaft zur Ausweitung seiner Autorentätigkeit, Thomas Desi für die Mitarbeit am Lexikonbeitrag »Musiktheater«, Stefan Becker für die inhaltliche und redaktionelle Hilfe beim Themen-Beitrag  5 sowie Helga de la Motte-Haber und Alice Stašková für wertvolle Hinweise und Berichtigungen. Dank gilt auch der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung für die finanzielle Unterstützung der redaktionellen Arbeit. Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften  12), Frankfurt a.M. 1975  „  Barthelmes, Barbara: Urbane Aboriginale, in: Geschichte der Musik im 20. Jh., Bd. 4: 1975–2000 (HbM20Jh 4), hrsg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, 283–318  „  Blume, Friedrich: Was ist Musik?, in: Musikalische Zeitfragen, Schriftenreihe im Auftrag des Deutschen Musikrats, Bd. 5, hrsg. v. Walter Wiora, Kassel 1959, 10–17 „ Bohrer, Karl Heinz: Die Furcht vor dem Unbekannten. Zur Vermittlungs-Struktur von Tradition und Moderne, in: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, 68–86  „  Brinkmann, Reinhold: Der Autor als sein Exeget. Fragen an Werk und Ästhetik Helmut Lachenmanns, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Siegfried Mauser, Saarbrücken 2005, 116–127  „  Cook, Nicholas/Pople, Anthony (Hrsg.): The Cambridge History of Twentieth-Century Music, Cambridge 2004  „ Cook, Nicholas: Alternative Realities: A Reply to Richard Taruskin, in: 19thCentury Music 30/2 (2006), 205–208  „ Cox, Franklin: Richard Literatur XVII Taruskins The Oxford History of Western Music, in: Musik & Ästhetik  16/1 (2012), 95–106  „  Dahlhaus, Carl: Probleme der Kompositionskritik [1971], in: Gesammelte Schriften 8, Laaber 2005, 244–252  „ ders.: Über Sinn und Sinnlosigkeit in der Musik [1972], in: ebd., 253–262  „  Danuser, Hermann: Die Musik des 20.  Jh.s [1984] (NHbMw  7), Laaber 21992  „  Dibelius, Ulrich: Moderne Musik, Bd. 1: 1945–1965 (München 1966), Bd. 2: 1965–1985 (München 1988); erweiterte Neuausgabe: Moderne Musik nach 1945, München 1998  „ Gertich, Frank/Greve, Martin: Neue Musik im postkolonialen Zeitalter, in: Geschichte der Musik im 20. Jh., Bd. 4: 1975–2000 (HbM20Jh 4), hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, 49–64 „ Griffiths, Paul: Geschichte der Musik. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart [2006], Stuttgart 2008  „ Habermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M. 1985  „ Henrich, Dieter: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Blick auf Hegel), in: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. von Wolfgang Iser, München Einleitung 1966, 11–31  „  Inglis, Laura Lyn/Steinfeld, Peter K.: Old Dead White Men’s Philosophy, Amherst NY 2000  „  Lyotard, JeanFrançois: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 „ Noltze, Holger: Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität, Berlin 2010  „  Ross, Alex: The Rest is Noise. Das 20.  Jh. hören [2007], München 22009  „  Schneider, Frank: »Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff«  – Die Neue Musik in der DDR im Kontext der internationalen Musikgeschichte, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, hrsg. v. Michael Berg, Albrecht von Massow und Nina Noeske, Köln 2004, 89–106  „  Tadday, Ulrich/Flamm, Christoph/Wicke, Peter: Musikkritik, in: MGG2S, Bd.  6 (1997), 1362–1389  „  Taruskin, Richard: The Oxford History of Western Music, 5 Bde. [2005], New York 2010  „ Weid, Jean-Noël von der: Die Musik des 20. Jh.s [1997], Frankfurt a.M. 2001 Jörn Peter Hiekel/Christian Utz I. Themen 3 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen Inhalt: 1. Neukonzeption der Musik  „ 2. Probleme des Serialismus  „ 2.1 Klangkomposition  „ 2.2 »Polyphonie« im Raum  „ 2.3 Form  „ 2.4 Dissoziation der musikalischen Zeit  „ 2.5 Komponieren und Zufall  „ 3. Altern der Neuen Musik?  „ 4. Folgen der Atomisierung des musikalischen Materials  „ 4.1 Was ist Musik?  „ 4.2 Musik und menschliches Bewusstsein  „ 4.3 Serielle Musik als Sprache?  „ 4.4 Überfordert serielle Musik das Ohr? „ 5. Schluss Die sich um 1950 herausbildende europäische musikalische Ä Avantgarde verstand sich zwar selbst in der Tradition der Ä Neuen Musik und der Wiener Schule und insbesondere in der Nachfolge Anton Weberns. Mit ihrer Musik auf rein struktureller Basis vollzog sie aber einen weit tiefgreifenderen Bruch mit der Tradition als es beim Übergang Arnold Schönbergs zur Ä Atonalität vier Jahrzehnte zuvor der Fall gewesen war. Damals war nur ein – zweifellos wichtiger – Aspekt betroffen: die Ä Harmonik, während das Komponieren zunächst davon weitgehend unberührt blieb. Jetzt handelte es sich um eine veritable Neukonzeption, in die alle Aspekte der Musik und des Komponierens hineingezogen wurden. Auf diese Neukonzeption und auf ihre Entfaltung im Laufe der 1950er Jahre lassen sich alle wesentlichen Debatten dieser Zeit, nicht nur jene kompositionstechnischer Natur, sondern auch die über den Musikbegriff und das musikalische Hören, zurückbeziehen. Mit ihrem strukturorientierten kompositorischen Ansatz legte diese Avantgarde zugleich den Grundstein für die Arbeit nachfolgender Komponistengenerationen bis heute. Das Selbstbewusstsein und die Selbstwahrnehmung der Komponisten als ihrer Zeit vorauseilende Avantgarde lassen sich an gelegentlich harschen Urteilen über Andersdenkende ebenso ablesen wie am apodiktischen Tonfall vieler ihrer Schriften. In dem im Mai 1952 in der Revue Musicale publizierten Aufsatz Éventuellement … (Möglichkeiten) etwa dekretierte Pierre Boulez: »wir versichern unsererseits, daß jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkannt hat – wir sagen nicht: verstanden, sondern gründlich erkannt –, UNNÜTZ ist. Denn sein ganzes Werk steht außerhalb der Forderungen seiner Epoche« (Boulez 1952/72, 24). Und Karlheinz Stockhausen konstatierte in einem im selben Jahr in Paris verfassten Text: »Daß voneinander unabhängige private Bemühungen um kompositorisches Handwerk […] zu einem ›Stil‹ geführt haben, erlaubt es, von einer neuen Situation des Handwerks zu sprechen. Die historische Orientierung dieses neuen Denkens geht auf die letzte Wiener Schule mit ihrem konsequentesten Vertreter Anton von Webern zurück« (Stockhausen 1952/63, 17). Was Stockhausen  – im Gegensatz zu dem, was die Lehrergeneration zu vermitteln hatte, von der anscheinend nichts mehr zu erwarten war – als »private Bemühungen um kompositorisches Handwerk« mit gleichwohl offensichtlich allgemeingültigem Anspruch bezeichnete, waren Karel Goeyvaerts’ , Boulez ’ und eigene erste Versuche, auf der Basis des Reihenprinzips eine umfassend strukturell organisierte Musik zu schreiben. Unverbrüchlich war bei den genannten Komponisten das Vertrauen darauf, dass das menschliche Ohr – wie in vergangenen Zeiten – das Neue schon irgendwann einholen würde, auch die Überzeugung, dass die neue musikalische Wirklichkeit auf konstruktiver Basis nicht nur geschichtlich notwendig war, sondern auch dem Menschen dazu verhelfen werde, den eigenen Horizont zu überschreiten. Dieser Fortschrittsglaube blieb weitgehend ungebrochen bis in die 1960er Jahre wirksam. Diejenigen, die keinen Zugang zu dieser Musik fanden oder sich einfach skeptisch zeigten, ebenso wie ihre erklärten Gegner versuchten dagegen mit den verschiedensten Argumenten die Grenzen von Musik zu markieren, Grenzen, die nicht überschritten werden durften, wenn das Klangobjekt noch Musik sein sollte, Grenzen auch, jenseits derer, versteht sich, diese neutönerischen Produkte anzusiedeln waren. Inwieweit die westliche Avantgarde der 1950er Jahre und insbesondere die Ä serielle Musik und die daran anschließenden kompositorischen Entwicklungen sich als Konsequenz der sog. »Stunde Null« (Scherliess 2014) und der spezifischen historischen Konstellation im Europa der Nachkriegszeit mit dem beginnenden Kalten Krieg verstehen lassen, mag hier dahingestellt bleiben (Ä ThemenBeiträge 4, 3., 9, 3.). Fest steht jedenfalls, dass es unter den damals jungen Komponisten einige gab, die gewillt waren, tabula rasa zu machen und Musik noch einmal von Grund auf neu aufzubauen. Sie waren es, die mit ihren Bestrebungen die Avantgarde der 1950er Jahre begründeten. 1. Neukonzeption der Musik Bei der Entstehung des dieser Neukonzeption zugrunde liegenden Musikdenkens kam der Verbindung dreier Ideen ein besondere Bedeutung zu: (1) die aus der Ä Zwölf- J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_1, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen tontechnik abgeleitete Vorstellung, dass die Musik aus diskreten Elementen aufgebaut ist, die mittels eines Strukturprinzips (»Reihe«) geordnet sind; (2) die bei John Cage und anderen schon Ende der 1940er Jahre anzutreffende Idee, die Grundelemente  – die einzelnen Töne  – in ihre vier Aspekte Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Ä Klangfarbe zu zerlegen (Cage 1949/78, 63), sie sozusagen auf ein subatomares Niveau zurückzuführen; und (3) der Gedanke, strukturelle Organisationsprinzipien nicht nur auf die Tonhöhen anzuwenden, sondern auf jeden dieser Aspekte und sie von einem Aspekt auf den anderen zu übertragen, was voraussetzte, dass jede dieser vier Ebenen auf ihre Weise aus diskreten Elementen bestehend gedacht war. Aus dem solchermaßen vorgeformten mehrdimensionalen Material gingen dann im Kompositionsprozess die musikalischen Gestalten und Texturen synthetisch hervor. Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung dieser neuen Vorstellung von Musik spielte neben Weberns zwölftönigen Werken der späten 1920er bis 1940er Jahre vor allem Olivier Messiaen, und zwar als Lehrer wie als Komponist, und insbesondere die im Juni 1949 während seines ersten kurzen Besuchs der Kranichsteiner (später Darmstädter) Ferienkurse für Neue Musik entstandene Rhythmus-Studie Mode de valeurs et d ’ intensités für Klavier. Das Stück beruht auf einem 36-tönigen »Modus« von drei mal je zwölf verschiedenen absoluten Tonhöhen mit fest zugeordneten rhythmischen Werten aus drei linearen Skalen zwischen je einem und zwölf Zweiunddreißigsteln, Sechzehnteln und Achteln, d. h. insgesamt 24 verschiedenen Dauern. Ein Ton mit bestimmter Dauer kommt daher immer nur in ein und derselben Oktavlage vor; bestimmte Dauern dagegen, die in zwei oder allen dieser rhythmischen Skalen enthalten sind, erscheinen mit zwei oder maximal drei unterschiedlichen Tonhöhen verbunden. Messiaen verwendete zudem zwölf Anschlagsarten und sieben Lautstärkegrade, die allerdings nicht fest an einzelne Töne gebunden, sondern frei verfügbar waren. Bei diesem Material  – das gilt es zu unterstreichen  – handelte es sich nicht um ein »ordered set« im Sinne Allen Fortes (1973, 3), d. h. um eine bestimmte (zeitliche) Abfolge der Töne wie bei einer Zwölftonreihe, sondern um einen Modus, dessen Töne, da grundsätzlich ein »unordered set«, in beliebiger Folge verwendet werden konnten. Dieses unscheinbare Stück sollte eine vom Autor so nicht vorhersehzusehende Funktion als Katalysator bei der Entstehung einer umfassend reihenmäßig strukturierten Musik – der sog. seriellen Musik – übernehmen, eine Rolle, zu der Messiaen mit zunehmendem zeitlichem Abstand auf Distanz ging. Sprach er 1953 in Darmstadt noch von »meinem bescheidenen Mode de valeurs et d ’ intensités, den ich höchst naiv und ohne alle Voraussicht der 4 möglichen Folgen auf den musikalischen Markt geworfen hatte« (Messiaen 1953/99, 70), so äußerte er sich später zu dieser Etüde und insbesondere zu ihrer Rezeption sehr kritisch (Hill / Simeone 2007, 203). Boulez, der früher eine Zeitlang Messiaens Analyseklasse am Conservatoire in Paris besucht hatte, sah sich durch das Stück veranlasst, die damit sich eröffnende neue musikalische Welt auf eigene Weise kompositorisch zu erkunden. Für Goeyvaerts und Stockhausen hingegen hatte es eher eine bestätigende Funktion. Der belgische Komponist und gleichfalls ehemalige Messiaen-Schüler Goeyvaerts, der als einer der ersten in die Tat umsetzte, was damals förmlich in der Luft gelegen zu haben scheint: die Übertragung des Reihenprinzips auf andere Aspekte des Klangs, fand sich durch das »punktuelle« klangliche Erscheinungsbild dieser Studie in den eigenen kompositorischen Bestrebungen bestätigt. Als er das Stück im Sommer 1951 bei den Darmstädter Ferienkursen über eine Schallplatte kennenlernte, die Antoine Goléa aus Paris mitgebracht hatte, hatte er selbst eben seine auf allen Ebenen strukturell durchorganisierte und der Idee einer »statischen Musik« (Goeyvaerts 2010, 67) verpflichtete Sonate für zwei Klaviere (1950–51, später Komposition Nummer 1) in der »Arbeitsgemeinschaft freie Komposition« vorgestellt. Und Stockhausen, der Goeyvaerts ’ Stück in der in jenem Jahr von Theodor W. Adorno geleiteten Arbeitsgemeinschaft analysierend vorgestellt und zusammen mit dem Komponisten den zweiten Satz gespielt hatte, fühlte sich durch die Erfahrung wiederholten Hörens der Aufnahme von Messiaens Etüde bestärkt in seinem Plan, trotz aller damals absehbaren Schwierigkeiten für einen Deutschen im Nachkriegsfrankreich, sobald wie möglich zu weiteren Studien zu Messiaen nach Paris zu gehen. Boulez nahm mit der Structure Ia (1951), der ersten seiner drei Structures für zwei Klaviere (1951–52), auf Messiaens Stück direkt Bezug, indem er den ersten Abschnitt (»I«) des Modus als Ausgangsmaterial wählte und als Zwölftonreihe bzw. als Reihe von zwölf Tondauern zwischen einem Zweiunddreißigstel und einem punktierten Viertel interpretierte. Tonhöhen und Dauern waren bei ihm allerdings nicht wie bei Messiaens Modus fest aneinander gebunden, sondern separat strukturiert auf der Basis analoger Intervall- bzw. Proportionsreihen. Die zwölf Anschlagsarten und  – anders als bei Messiaen  – auch zwölf dynamischen Werte dagegen verwendete er aus guten Gründen nicht pro Element, sondern pro Reihenform. Dazu kam, dass Boulez nicht mit unveränderlichen absoluten Tonhöhen arbeitete, sondern mit einer »Klangagogik« (Boulez 1949/79, 250), der kompositorisch kontrollierten dynamischen Disposition der Registerlagen, die ihm aus dem ersten Satz von Weberns Symphonie op. 21 5 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (1927–28) vertraut war. Bei den mittels Überlagerung von einem bis maximal sechs Reihenfäden in insgesamt elf Großabschnitte gegliederten Structures Ia handelt es sich demnach um ein Stück, das auf einer reihentechnischen Umdeutung oder Lesart von Messiaens modalem Ausgangsmaterial fußte. Mit seinen bewusst auf ein Minimum reduzierten kompositorischen Entscheidungen, die György Ligeti 1958 in dem Aufsatz Pierre Boulez. Entscheidung und Automatik in der »Structure Ia« zum Gegenstand einer eingehenden Analyse machen sollte (Ligeti 1958/2007), scheint das Stück genau John Cages Vorstellung vom Komponieren zu entsprechen, wie er sie 1949 in dem Artikel Forerunners of Modern Music umrissen hatte: »Struktur in Musik ist ihre Teilbarkeit in aufeinanderfolgende Teile, von Phrasen bis zu langen Abschnitten. Form ist Inhalt, die Kontinuität. Methode ist das Mittel, um die Kontinuität von Note zu Note zu kontrollieren. Das Material von Musik sind Klang und Stille. Diese zu integrieren ist Komponieren« (Cage 1949/78, 62). Zur Zeit der Entstehung der Structures, zwei Jahre nachdem sich Cage und Boulez kennengelernt und angefreundet hatten, begannen sich aber bereits deutliche Differenzen zwischen den beiden Komponisten abzuzeichnen, wie ein Ende November 1951 geschriebener Brief Boulez ’ an Cage erkennen lässt: »Alles, was Du sagst über die in Deiner Music of Changes verwendeten Tabellen der Tonhöhen, der Dauern, der Lautstärken liegt, wie Du sehen wirst, genau auf der Linie, auf der auch ich im Moment arbeite. […] Die einzige Sache, Du wirst das entschuldigen, die ich der Sache nicht angemessen finde, das ist die Methode des absoluten Zufalls (durch Münzwurf ). Ich glaube, dass im Gegenteil der Zufall sehr kontrolliert werden muss: indem man sich der Tabellen im Allgemeinen bedient oder Reihen von Tabellen, kann man, glaube ich dahin kommen, das Phänomen des Automatismus des Zufalls, den ich, sei er nun geschrieben oder nicht, als eine Vereinfachung zurückweise, die absolut nicht notwendig ist, zu steuern« (Nattiez 2002, 193). Differenzen zwischen den beiden Komponisten bestanden demnach nicht bezüglich der Arbeit mit Elementen auf verschiedenen Ebenen; die Meinungen gingen auseinander, was die Methode betrifft, und die beruhte bei Cage damals schon auf Zufallsverfahren, die dem alten chinesischen Orakelbuch Yijing (Buch der Wandlungen) entlehnt waren. Die sich hier abzeichnenden Differenzen sollten dann 1957 im Zusammenhang mit den Diskussionen über den Ä Zufall im Komponieren seitens Boulez zu offener Polemik gegen Cage führen (vgl. 2.5). Anders als immer wieder zu lesen, stellte die Structure Ia nicht etwa ein Ideal des sog. seriellen Komponierens dar und alles, was danach kam, hätte sich bereits davon entfernt (vgl. z. B. Schubert 1985, 61). Wie der Bleistiftentwurf der drei Structures belegt, der sich heute in der Sammlung Pierre Boulez der Paul Sacher Stiftung in Basel befindet, überlegte Boulez offensichtlich, dieses in nur einer Nacht entstandene erste der drei Stücke  – bezugnehmend auf Paul Klees Bild Monument an der Grenze des Fruchtlandes (1928–29)  – »À la limite du pays fertile« (An der Grenze des Furchtlandes) zu benennen. Für Boulez war die erste der Structures nur ein Grenzfall, dem erst mit den Structures Ib und Ic, die nicht mehr auf einer solch einfachen Zuordnung von Elementreihen beruhen, und erst recht mit Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) Stücke folgen sollten, die das eigentliche Potenzial des neuen kompositorischen Ansatzes auszuschöpfen vermochten. Die Idee, nicht nur die Tonhöhen, sondern auch die anderen Aspekte des Klangs strukturell vorzuordnen und die damit sich eröffnenden Möglichkeiten des Komponierens schienen Boulez offenbar dermaßen zukunftsträchtig, dass er 1952 in einem Artikel für ein Gedenkheft der englischen Zeitschrift The Score für den im Jahr zuvor verstorbenen Arnold Schönberg dem Komponisten unter dem Titel Schönberg Is Dead (Schönberg ist tot) vorwarf, die Tragweite des von ihm entwickelten Reihenprinzips, die »echten reihenmäßigen Funktionen« (Boulez 1952/79, 294), nicht erkannt zu haben. Zugleich unterstrich er aber unmissverständlich die Bedeutung der Entdeckungen der Wiener Schule, deren »reihenmäßige Bestrebungen« (ebd., 295) für ihn  – in erstaunlicher Übereinstimmung mit Adornos Begriff des »musikalischen Ä Materials«  – den historischen Stand des Komponierens markierten, an dem keiner vorbeikam. Der Titel des Aufsatzes war daher weniger Feststellung und angedeutete Reflexion über die Folgen von Schönbergs Tod als die Behauptung, dieser Komponist sei sozusagen geschichtsphilosophisch tot und sein Komponieren – im Gegensatz zu jenem seines Schülers Anton Webern – nicht mehr an der Zeit. Dass Boulez einen in derselben Zeit entstandenen umfangreichen Aufsatz über die rhythmische Technik in Le sacre du printemps mit Strawinsky bleibt (Boulez 1953/79) betitelte, ist diesbezüglich als weiteres Statement zu verstehen. Wenig später, in dem eingangs bereits zitierten Text Éventuellement … (Möglichkeiten) vom Mai 1952, brachte Boulez dann, was für ihn damals an der Zeit war, auf den Punkt: »Was – wenn man von sich selbst ein Mindestmaß an konstruktiver Logik fordert – bleibt […] für uns zu tun übrig, wenn nicht der Versuch, das in einem Bündel zu vereinigen, was unsere Vorgänger an verfügbaren Möglichkeiten ausgearbeitet haben? In einer Zeit der Transformation und der Organisation, in der sich das Problem der Sprache mit besonderer Schärfe stellt und aus der, wie es 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen scheint, für eine gewisse Zeit die musikalische Grammatik hervorgehen wird, nehmen wir unsere Verantwortung unbeirrt auf uns. […] In dieser Absicht müssen wir die Mittel einer Technik ausweiten, die wir bereits vorgefunden haben; da diese Technik bislang ein Mittel der Zerstörung gewesen und gerade dadurch an das gebunden war, was sie zerstören wollte, wird es unser erstes Bestreben sein, ihr Selbständigkeit zu geben. Des weiteren, die rhythmischen Strukturen an reihenmäßige zu binden, und zwar mittels gemeinsamer Organisationsformen, die auch die anderen Klangcharakteristiken einschließen: Lautstärke, Einschwingvorgang, Klangfarbe. Schließlich gilt es, diese Morphologie auf eine zusammenhängende Sprachform hin zu erweitern« (Boulez 1952/72, 26–27). Im weiteren Verlauf des umfangreichen Textes entfaltete Boulez erstmals ausführlich einige kompositionstechnische Grundlagen dessen, was er »echte reihenmäßige Funktionen« nannte. In dem kompositorischen Ansatz manifestiert sich eine Verbindung des Montageprinzips, das Strawinskys Schaffen auszeichnet, mit einem von Schönberg und der Wiener Schule stammenden organizistischen Denken, dem zufolge das einzelne Werk in all seinen Aspekten aus einer einzigen Ausgangsstruktur hervorgehen sollte. Nicht von ungefähr spricht Boulez nicht selten in biologistischen Metaphern, etwa von der »Erzeugerzelle«, aus der etwas hervorgeht, oder es ist von einem »Mutterverhältnis« (relation utérine) zwischen musikalischer Schreibweise und formaler Architektur die Rede (Boulez 1951/79, 76; 1953/79, 176). Nebenbei bemerkt: Es ist interessant, dass Boulez später seine damalige kompositorische Orientierung und die Suche nach strukturellen Mitteln, die es ihm erlaubten, den eigenen Horizont zu überschreiten, wiederholt in den Zusammenhang mit einem bis heute aktuellen Thema rückte, das viele Komponisten und andere Künstler – und nicht erst in jener Zeit – beschäftigte: die historische Bürde schon existierender Musik und Kunst. Dabei nahm er mehrfach Bezug auf ein Zitat des von ihm hochgeschätzten Paul Klee, das er seit 1949 durch Cages oben erwähnten Text Forerunners of Modern Music kannte: »Ich möchte sein wie neugeboren, nichts, absolut nichts über Europa wissend« (Cage, 1949/78, 65; Boulez 1956/79, 15). Während Boulez mit seiner reihentechnischen Lesart von Messiaens Modus direkt auf eine integrale Serialisierung des musikalischen Werkes zusteuerte, führte Stockhausens Weg zu einer umfassend reihenbasierten Kompositionsvorstellung über eine Konzeption des Komponierens als »Tonordnung« (Blumröder 1993), das zunächst – etwa in Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger (1951) – näher zu den Verfahren seines Freundes Goeyvaerts stand. In dem eingangs 6 bereits zitierten, während der Studien bei Messiaen in Paris 1952 entstandenen Text Situation des Handwerks: Kriterien der punktuellen Musik hielt Stockhausen ganz im Sinne der oben umrissenen Neukonzeption von Musik fest: »Das Einzelne ist der Ton mit seinen vier Dimensionen: Dauer, Stärke, Höhe, Farbe. Das Komponieren, von der handwerklichen Fähigkeit geleitet, Töne zu ordnen, hat also schon in jeder dieser Dimensionen anzusetzen, um Widerspruchslosigkeit zu erreichen. Im Unterordnen versucht man, die einzelnen unteren Ordnungsprinzipien (sowohl untereinander, wie zum Übergeordneten hin) aus der Idee abzuleiten. Die dazu notwendige Fähigkeit nannte ich handwerkliches Können« (Stockhausen 1952/63, 19). Ein Jahr später wird er dann unter Berufung auf Webern und auf das Reihendenken als der, wie er sagt, einzig »universell ausbaumöglichen Methode« mit umfassenderem Anspruch formulieren: »Das Reihenprinzip besagt allgemein so viel, daß für eine Komposition eine begrenzte Auswahl von verschiedenen Größen getroffen wird; daß diese Größen proportionsverwandt sind; daß sie in bestimmter Folge und in bestimmten Intervallabständen angeordnet sind; daß diese Reihenauswahl für alle Elemente getroffen wird, mit denen komponiert werden soll; daß aus diesen ›Urreihen‹ weitere Reihenfolgen übergeordneter Gestalten komponiert werden, die wiederum reihenvariiert sind; daß die Proportionen der Reihe das umfassende Strukturprinzip des zu komponierenden Werkes sind und ihm die notwendige formale Konsequenz verleihen sollen« (Stockhausen 1953a / 63, 46; Hervorhebungen im Original). Musik sei »jeweils als Vorstellung jener umfassenden globalen Struktur zu verstehen, in die alles einbezogen ist« (ebd.). Genau an dieser Stelle sollte Ligeti einige Jahre später ansetzen, wenn er die »Unmotiviertheit der Form« serieller Kompositionen kritisierte, ästhetisch unmotiviert, da durch die Reihe vorwegbestimmt (vgl. 2.3). Seit den ersten Anfängen des seriellen Komponierens war das Verhältnis von Material(vor)organisation und eigentlichem Komponieren zwangsläufig implizit mit zum Thema geworden, bei Boulez genauso wie bei Goeyvaerts und Stockhausen. Der besondere Fall der Structures Ia hatte in Bezug auf Boulez schon bald zu Missverständnissen geführt, und er sah sich genötigt, der Vorstellung entgegenzutreten, die seriellen Verfahren der Materialvorformung seien schon das Komponieren. In dem 1954 in den Cahiers de la Compagnie Madeleine Renaud / JeanLouis Barrault publizierten Aufsatz … Auprès et au loin (Nahsicht und Fernsicht) stellte Boulez diesbezüglich fest: »Wohlgemerkt: das Phänomen der Komposition besteht nicht darin, in jedem Augenblick alle Mittel einzusetzen. Vor einem Trugschluß muß man sich sehr hüten: vor der 7 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen Verwechslung von Komposition und Organisation. Tatsächlich geht jeder Komposition ein zusammenhängendes System voraus […]. Die Entscheidung ist es, die das Werk stiftet, die Entscheidung, die in jedem Augenblick von neuem getroffen werden muß. Nie wird Komposition dem Zusammenstellen von Begegnungen gleichzusetzen sein, die in einer immensen Statistik aufgeführt sind. Bewahren wir uns diese unveräußerliche Freiheit: das Glück, auf das wir ständig hoffen – das Glück einer irrationalen Dimension« (Boulez 1954/72, 74–75; Hervorhebung UM). Auch wenn dies in Stockhausens frühen Schriften zum eigenen Komponieren nicht so direkt wie bei Boulez ausgesprochen erscheint: auch er blieb einem Kompositionsbegriff verpflichtet, der sich keineswegs darin erschöpfte, Produktionsmechanismen zu ersinnen, aus denen dann das Werk einfach abgeleitet werden konnte oder hervorging. Auch bei ihm findet sich der Begriff des »Schöpfers« bzw. des »Schöpferischen«, so etwa wenn er im Hinblick auf die ästhetische Qualität serieller Werke von der dazu notwendigen »schöpferischen Kraft« spricht (Stockhausen 1955/63, 60). Der strukturelle Ansatz, welcher der Neukonzeption der Musik der Nachkriegsavantgarde zugrunde lag, war nicht auf die herkömmliche Welt der instrumentalen und vokalen Töne und Klänge beschränkt. Er bot auch die Möglichkeit, das in jener Zeit ebenfalls in den Blick rückende, unüberschaubare Material elektronischer Klänge poietisch in den Griff zu nehmen, das weder durch Vorgaben der Beschaffenheit und Akustik der Instrumente begrenzt war noch durch irgendwelche Tonsysteme. Neben der empirischen Kontrolle durch das Ohr war damit auf der Ebene der Realisation der konkreten Klangobjekte im elektronischen Studio ein Mittel gegeben, ein Material zu beherrschen, mit dem im Prinzip alles möglich war. Mit seiner Vorstellung vom Aufbau einer Musik aus Elementen, die im Kompositionsprozess synthetisiert werden, bildete dieser strukturelle Ansatz darüber hinaus auch die Basis für die Materialzubereitung und für ein Komponieren mittels Algorithmen – wie es der amerikanische Komponist Lejaren A. Hiller 1959 erstmals vorstellte (Hiller / Isaacson 1959) – und damit später auch für computergestützte Kompositionsverfahren (Ä Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik, 6.). 2. Probleme des Serialismus Der primär synthetische Ansatz der auf vorstrukturierten Materialien aufbauenden seriellen Musik brachte es fast zwangsläufig mit sich, dass die ersten Stücke, auch wenn schnell eine ganze Reihe von herausragenden Werken zu verzeichnen war, zunächst Versuchscharakter hatten. Die Auseinandersetzung mit den dabei aufgetretenen Proble- men führte vielfach zu Lösungen, die die Entwicklung des Komponierens vorantrieben und teilweise weitreichende historische Folgen zeitigen sollten. 2.1 Klangkomposition Schon 1953, zwei Jahre nach der Entstehung von Boulez ’ Structures, sprach Stockhausen in einem musikalischen Nachtprogramm des (damals noch) Nordwestdeutschen Rundfunks in Köln zum Thema Entstehung der Ä elektronischen Musik von »statistischen Formkriterien«, die diese Musik charakterisieren: »Nicht bestimmte wiederkehrende musikalische Gestalten oder Tonverbindungen sind wesentlich, sondern Struktureigenschaften, wie ›dicht‹ oder ›weniger dicht‹ – in der vertikalen Tonüberlagerung wie in der horizontalen Dichte der Tonfolgen. […] Es ist die seltsame Dialektik einer nie dagewesenen Bedeutung des Einzeltones und einer übergeordneten formalen Vorstellung, in der die Einzeltöne zu kollektiven Tonscharen und damit zu musikalischen Gestalten zusammengeschlossen werden« (Stockhausen 1953b / 63, 43 f.). Damit sind Aspekte der seriellen Musik benannt, die einerseits Stockhausen selbst zu Reflexionen über »Klangkomposition« und »Gruppenkomposition« bewegten (Stockhausen 1953a / 63; 1955/63). Fast zeitgleich andererseits führten ähnliche Beobachtungen den französischen Architekten und Komponisten griechischer Abstammung Iannis Xenakis zu einer fundamentalen Kritik am seriellen Komponieren und seinen Grundlagen: »In der Tat wird das serielle System durch seine zwei Grundaspekte in Frage gestellt, die im Keim ihre eigene Zerstörung und Überschreitung enthalten: a) die Reihe; b) die polyphone Struktur. Die Reihe entstammt (ihrer ganzen Natur nach) einer linearen ›Kategorie‹ des Denkens. […] Die lineare Polyphonie zerstört sich selbst durch ihre aktuelle Komplexität. Das, was man hört, ist in Wirklichkeit nur eine Ansammlung von Tönen in unterschiedlichen Registern. Die enorme Komplexität hindert das Hören daran, dem Gewirr der Linien zu folgen und hat als makroskopischen Effekt eine sinnlose und willkürliche Verteilung der Töne über die ganze Breite des Klangspektrums zur Folge. Daraus folgt ein Widerspruch zwischen dem polyphonen linearen System und dem gehörten Resultat, das Oberfläche, Masse ist« (Xenakis 1955, 3; Übersetzung UM). Aus diesem zumindest für bestimmte serielle Texturtypen unmittelbar einleuchtenden Befund, zog Xenakis  – ohne allerdings weiter der Frage nachzugehen, unter welchen Bedingungen solche Strukturen doch wahrnehmbar in Erscheinung treten können  – die Konsequenz, Musik als Phänomen von Klangmassen nicht mehr über den Umweg serieller Strukturen zu realisieren. Statt dessen entwickelte er eine auf der Wahrscheinlich- 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen keitsrechnung basierende Kompositionsmethode, das »stochastische Komponieren«, dessen theoretischer Begründung er eine lange Reihe von Texten widmete, 1963 zusammengefasst in dem Buch Musiques formelles: nouveaux principes formels de composition musicale (Xenakis 1963). Die Kernthese seines Ansatzes lautet: »[Der] der Polyphonie inhärente Widerspruch verschwindet, sobald die Töne vollständig voneinander unabhängig werden. Wenn die linearen Kombinationen und ihre polyphone Überlagerung nicht mehr wirken, ist es in der Tat allein das statistische Mittel der isolierten Transformationszustände der Bestandteile, das in einem gegebenen Moment zählt. Der makroskopische Effekt wird demnach durch Mittelung der Bewegungen der von uns gewählten n Objekte kontrolliert werden können. Daraus folgt die Einführung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit, der übrigens in diesem präzisen Fall kombinatorisches Kalkül impliziert« (Xenakis 1955, 3). Xenakis zog demnach kompositorisch die Konsequenz aus der Tatsache, dass sich bei zunehmender Komplexität von Überlagerungen serieller Materialien für die Hörwahrnehmung bald ein qualitativer Sprung vollzieht: Nicht mehr die Einzelheiten der Strukturen sind dann noch wahrzunehmen, sondern nur noch Summenphänomene, Klangresultate, die sich auch – zumindest tendenziell  – durch die Anwendung von Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung erreichen lassen. Xenakis ’ Kritik an den seriellen Verfahren ist zugleich eine Distanzierung von der Aneignung der Zwölftontechnik durch die Messiaen-Schüler Boulez und Stockhausen und Frucht der Begegnung mit einem anderen Vorbild dieser Avantgarde: mit Edgard Varèse, der auch für viele andere Komponisten, insbesondere mit seinen Überlegungen zu dem technisch verarbeiteten »organized sound«, einen wichtigen Bezugspunkt bildete (Borio 2006; Ä Themen-Beitrag 3, 2.1). Dieser hatte sich Ende 1954 für zwei Monate in Paris aufgehalten, um in der von Pierre Schaeffer geleiteten Groupe de Recherche de Musique Concrète bei der Radiodiffusion Television Française unter Mitarbeit von Pierre Henry die Tonbandinterpolationen mit »organized sound« für die am 2. Dezember 1954 stattfindende Uraufführung von Déserts (1949–54) fertigzustellen. Varèses Musik, die Xenakis schon vorher bekannt war, bestärkte ihn in den eigenen Vorstellungen. Zu einer wenigstens indirekten Zusammenarbeit der beiden kam es allerdings erst 1958 im Zusammenhang mit dem Bau des Philips-Pavillons auf der Weltausstellung in Brüssel durch Le Corbusier, zu dem Varèse das Poème électronique (1957–58) beisteuerte (Ä Themen-Beitrag 6, 5.; Ä Klangkunst, 4.; Ä Neue Musik und Architektur; Ä Säle und Gebäude). Xenakis war damals als im Büro Le Cor- 8 busiers angestellter Architekt wesentlich an der baulichen Realisierung des Projektes beteiligt. Das erste Werk, das aus Xenakis ’ Überlegungen zu einer stochastischen Musik hervorging, war Achorripsis für Orchester (1956–57). Klangkomposition wurde unabhängig davon, mit welchen Methoden die Werke realisiert wurden, ob struktural oder stochastisch, und mit welchen Mitteln, ob instrumental oder elektronisch, zu einem zentralen Phänomen der Musik seit den späten 1950er Jahren nicht nur im Schaffen von Xenakis. Dazu zählen Werke von György Ligeti (etwa Atmosphères für großes Orchester ohne Schlagzeug, 1960–61; oder Lux aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella, 1966), von Bernd Alois Zimmermann und vielen anderen. 2.2 »Polyphonie« im Raum Mit der Auflösung traditioneller musikalischer Kategorien wie Motiv oder Thema verbunden war ein weiteres Phänomen: dass nämlich die Überlagerung zweier punktueller Strukturen nicht etwa den Eindruck einer Polyphonie erweckte, und nicht einmal den einer Schichtung, sondern nur jenen einer höheren Dichte (Ä Harmonik / Polyphonie, 4.). Aus der Lösung dieses Problems ging eine für die folgenden Jahrzehnte wichtige Entwicklung mit hervor: die kompositorische Arbeit mit der Lokalisierung des Schalls im Raum. Bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt kam Stockhausen 1958 in einem Vortrag zum Thema Musik im Raum beiläufig auf diesen Umstand zu sprechen: »die […] Auflösung aller ›mehrstimmigen‹ Prinzipien, der ›Stimme‹ als musikalischem Formbegriff überhaupt, ließ eine permanente Einschichtigkeit (wie in der asiatischen Musik) als einzige Möglichkeit offen. Die Auflösung in ›Punkte‹ zerstört die ›Gleichzeitigkeit‹, denn überlagerte Punkte ergeben bestenfalls mehr oder weniger dichte Punktfolgen, und erst Linien, das heißt kontinuierliche Punktverbindungen, ermöglichen die Darstellung verschiedener gleichzeitiger Vorgänge. Teilt man nun eine Punktstruktur in zwei Gruppen und läßt gleichzeitig die eine von links, die andere von rechts erklingen, so erlebt man sehr wohl zwei Schichten ein und desselben Klanggebildes« (Stockhausen 1958/63, 155). Die Entstehung eines Bewusstseins für das, was Stockhausen auch als den »fünften Parameter« (neben Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe) bezeichnete (ebd., 160 f.): die Lokalisierung und Bewegung von Klängen im Raum, ist demnach nicht allein mit der Entstehung der elektronischen Musik verbunden, die vom Komponisten forderte, zu entscheiden, wo die Lautsprecher zu platzieren waren, wenn er sich nicht abhängig machen wollte von Entscheidungen anderer. Sie steht auch 9 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen in direktem Zusammenhang mit dem genannten kompositorischen Problem der seriellen Musik. Zentrale Werke der Avantgarde wie Stockhausens »elektronische Musik« Gesang der Jünglinge für fünfkanaliges Tonband (1955–56), Gruppen für drei Orchester (1955–57) und Carré für vier Orchester und vier Chöre (1959–60) oder Boulez ’ Poésie pour pouvoir nach Henri Michaux für Sprecher, Tonband und drei Orchester (1958) verdanken sich ersten künstlerischen Erkundungen dieses Aspekts. Die kompositorische Verfügung über die Lokalisierung des Schalls sollte zu einem der bis heute wichtigsten Themen der zeitgenössischen Musik werden (Ä Themen-Beitrag 6). 2.3 Form In dem um den Jahreswechsel 1958/59 geschriebenen Aufsatz Wandlungen der musikalischen Form, der 1960 im siebten Heft der Zeitschrift die Reihe veröffentlicht wurde (Ligeti 1960/2007), präsentierte György Ligeti eine Bestandsaufnahme der Probleme des seriellen Komponierens aus der Perspektive der Formbildung (Ä ThemenBeitrag 3, 2.3). Hauptkritikpunkt war die Unmotiviertheit der musikalischen Form. Fast beiläufig formulierte er dabei eine Konsequenz seiner Überlegungen, die er wenig später für sein eigenes Komponieren auch tatsächlich ziehen sollte: »Da alle diese Verfahren [die Verfahren, um die Probleme der seriellen Dauernorganisation zu lösen] die ursprünglich fixe Prädeterminierung der Dauernwerte ohnedies zerstören, und zwar über den Umweg übergeordneter Steuerungsmaßnahmen, ist es sinnvoll, die Frage zu stellen, ob man nicht in die elementaren Dauernverhältnisse selbst eingreifen und anstelle korrektiver Therapie die Gestaltung des zeitlichen Ablaufs der Form unmittelbar in die Hand nehmen sollte« (ebd., 97). Diesen Schritt vollzog der Komponist, wie die Skizzen zeigen, tatsächlich seit dem Orchesterstück Atmosphères (1960–61). Den Stücken gingen nunmehr Planungen zur jeweils gewählten Form voraus, die sich im Frühstadium des Entstehungsprozesses in graphischen Skizzen niederschlugen (Duchesneau / Marx 2011, 170 f.). Theoretisch rückte Ligeti die anstelle einer »Bottom-up-Strategie« tretende umgekehrte »Top-down-Strategie« in einem Vortrag bei dem Kongress zum Thema »Form« bei den Darmstädter Ferienkursen 1965 in den Mittelpunkt. Nach einer ausführlichen Analyse der Probleme der Formbildung, insbesondere in serieller und aleatorischer Musik, kam er zu dem Schluss: Durch »eine Verlagerung des Ansatzpunktes der kompositorischen Methode« ergebe sich »die Möglichkeit, über Form als Intendiertes wieder zu verfügen. Dies bedeutet, daß Zusammenhänge innerhalb des kompositorischen Prozesses weitgehend mit den Zusammenhängen, die in der komponierten Musik erscheinen, übereinstimmen, und zugleich bedeutet dies den Verzicht auf Disposition und Manipulation mit im voraus aufgestellten Direktiven: Nicht das kompositorische Verfahren ist primär gegeben, sondern die Konzeption der Totalität der Form, die Imagination der erklingenden Musik« (Ligeti 1966/2007, 199). Das Verhältnis von strukturellen kompositorischen Verfahren und musikalischer Formbildung ist bis heute eine der zentralen Fragen des Komponierens geblieben. 2.4 Dissoziation der musikalischen Zeit Das synthetisierende serielle Komponieren hatte nicht nur Folgen bezüglich der kompositorischen Kategorien. Es brachte Werke hervor, bei denen sich eine prozessuale Zeiterfahrung, wie man sie seit der Musik Beethovens kannte, nicht mehr einstellte (Kramer 1988). Insbesondere an dieser Stelle setzte Adornos Kritik an der seriellen Musik an: Sie verstoße gegen das, was er 1961 in dem Vortrag Vers une musique informelle auf den Darmstädter Ferienkursen ihre »Verpflichtung des Werdens« (Adorno 1962/78, 518) nannte, will heißen: Sie verstoße dagegen, prozessual beschaffen zu sein. Er kritisierte diese Musik wegen ihrer, wie er es nannte, »Pseudomorphose an die Malerei«, ein Phänomen, das er schon in der Philosophie der neuen Musik an der Musik Igor Strawinskys bemängelt hatte (Adorno 1949/75, 174 f.; Ä Themen-Beitrag 3, 2.3, Ä Zeit, 2.1). Der Verlust dieser temporalen Dimension zeichnet nicht nur die sich Zufallsverfahren verdankenden Werke Cages aus, sondern ist auch ein Charakteristikum der seriellen Musik. Letztere führten dem Hörer nicht Variations- oder Entwicklungsprozesse vor Ohren, sondern synthetische Kombinationen von mittels spezifischer Erzeugungsverfahren gewonnenen Varianten, die in präformierten Materialvorräten bereitgestellt waren. Adornos Kritik zielte auf das Verhältnis von notierter Musik und zeitlicher Form ihres Erscheinens, in der das Identische zum Nicht-Identischen wird, da ein zweites Erklingen desselben dieses zwangsläufig zu etwas anderem werden lässt. Musik dieser Art übt aus Adornos Sicht sozusagen Verrat am Besonderen der Musik als Zeitkunst. Andere Formen musikalischer Zeitlichkeit, etwa jene einer vorüberziehenden Klanglandschaft, krankten für ihn daran, dass die entsprechende Musik das Verhältnis zur Zeit nicht bewältigt hatte. Die »Verpflichtung zum Werden« ist aber aus ihrer Existenzform als transitorischer Kunst nicht stringent herzuleiten, sondern beruht auf dem seinen Überlegungen zugrunde liegenden teleologischen Zeitbegriff. Das Zeitliche ist bei serieller Musik nicht mehr an einem mit veränderlicher Geschwindigkeit verlaufenden Prozess als Werden, Zerfall oder Transformation abzu- 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen lesen, der sich vor den Ohren eines Hörers vollzieht. An den Ohren zieht vielmehr ein Stück als Ganzheit mit festgefügten Teilen vorüber, das hörend »abgetastet« wird. Diese Form der Ä Wahrnehmung entspricht einem Komponieren, das nicht prozesshafte Veränderungen gestaltet, sondern Materialbausteine aneinanderfügt: Es setzt musikalisches Material in Konstellationen und gestaltet »quasi-räumliche« Strukturen, die als zeitliche erfahren werden (Ä Zeit, 2.1, 2.2). In musikalischen Werken solcher Faktur durchläuft nicht ein musikalisch Gleiches eine »Geschichte«, die als in der Zeit verlaufender Prozess wahrgenommen wird, sondern wir als Wahrnehmende durchschreiten gleichsam eine »Klanglandschaft«. Die Zeitstruktur solcher Stücke ist daher nicht die eines Prozesses, sondern die einer Bewegung. 2.5 Komponieren und Zufall 1958 lud Wolfgang Steinecke, damals Direktor der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, John Cage ein, im Rahmen der Kurse Vorträge zu halten. Sein Auftritt geriet zu einem Ereignis, das auch in der Presse breiten Nachhall fand. Zugleich markierte er aber auch den Schlusspunkt einer Rezeption, die längst stattgefunden hatte, wie Mauricio Kagel in seinem Bericht über die Ferienkurse für die Zeitschrift Buenos Aires Musical zu Recht feststellte: »Der Einfluß von Cages komplexer Persönlichkeit hat in den letzten Jahren veritable Konzeptrevolutionen hervorgebracht, und das Gewicht seines theoretischen Beitrages ist in den Werken etlicher junger europäischer Komponisten nicht zu verkennen. So geht auf ihn die ›offene‹ oder aleatorische Form zurück, in welcher der Interpret während der Aufführung die Reihenfolge verschiedener charakteristischer Strukturen wählen kann« (Kagel 1999, 180). Bereits vor seinem Darmstädter Auftritt hatte die CageRezeption in Europa eine klare Richtung angenommen. In Boulez ’ auf den Ferienkursen 1957 von Heinz-Klaus Metzger in Übersetzung verlesenen Vortrag Alea – Zeugnis der seit 1951 zunehmenden Entfremdung, die sich parallel zu Cages musikalischer Entwicklung bei Boulez eingestellt hatte – heißt es gleich zu Beginn zu Cage, ohne ihn beim Namen zu nennen: »So bestände die unterste Stufe einer Anverwandlung des Zufalls in der Übernahme einer orientalisch getünchten Philosophie, die eine grundlegende Schwäche der Kompositionstechnik zu verdecken hätte: das bedeutete ein Zufluchtnehmen vor dem Erstickungstod der Erfindung, Zuflucht freilich zu einem feineren Gift, das jedes künstlerische Handwerk schon im Keim abtötete. Ich möchte diesen Versuch – wenn es sich überhaupt um einen solchen handelt, da das Individuum seinem Werk gegenüber ja keine Verantwortung fühlt und sich aus uneingestandener Schwäche, aus Verwirrung und 10 um einer zeitweisen Erleichterung willen ganz einfach kindischer Magie in die Arme wirft – ich möchte diesen Versuch als Zufall aus Versehen bezeichnen« (Boulez 1957/72, 100). Boulez lehnte den »Zufall aus Versehen« und einen »Zufall durch Automatismus« ebenso ab wie die Möglichkeit, die Entscheidung einfach den Interpreten zu überantworten, indem man ihnen gewisse Freiheitsgrade einräumt, ein Verfahren, das auf ein »verallgemeinertes Rubato« (ebd., 105) hinausliefe. All diese Haltungen bedeuteten für ihn ein »Zurückschrecken vor der Entscheidung« (ebd., 102), zurückschrecken mithin vor dem, was erst das Werk stiftet. Statt dessen forderte Boulez eine Verbindung von Komposition und Zufall, die ihn innerhalb eines gerichteten Zusammenhangs in die Struktur selbst eingliedert (ebd., 108), eine Vorgehensweise, die er in der Dritten Klaviersonate (1955–57) mit einer Anlage aus »Formanten« realisierte, deren Reihenfolge der Interpret festlegt. Darin sah er nur eine mehr als plausible Konsequenz: »[…] daß man auf die [formale] Struktur den allgemeinen Begriff der Permutation anwenden kann […] ist eine logische und vollkommen gerechtfertigte Entwicklung, weil nun das gleiche Organisationsprinzip sowohl Morphologie wie Rhetorik durchwaltet« (ebd., 111). Die Folgen einer solchen Konzeption beschrieb Stockhausen im Hinblick auf sein ebenfalls gelenkter Aleatorik verpflichtetes Klavierstück XI (1956): »Kontinuität entsteht erst im Augenblick einer Interpretation und nur dann; die ›Musik‹ existiert nicht außerhalb ihrer klanglichen Realisation auf dem Papier. Immer stärker entzieht sich diese Instrumentalmusik der Wiederholbarkeit, dem Mechanischen und damit auch der Reproduktion ([…] man hat bestenfalls eine ›Version‹, nicht aber das Stück)« (Stockhausen 1957/75, 69). Henri Pousseur schließlich verstand Cages Haltung, wie aus einem 1958 am Vorabend von Cages erster Lecture in Darmstadt gehaltenen Vortrag hervorgeht, als ein durchaus anregendes »dada-ähnliches Manifest«. Aus seiner Sicht ist aber nur eine bestimmte »Spielart des Zufalls kompositorisch brauchbar«: Man habe gelernt, »daß der richtig verstandene (das heißt in seinen Grenzen und Ausgangspunkten definierte) Zufall eine Bedingung für die wahre Wahlfreiheit ist (was er in den amerikanischen Kompositionen selten war: dort gibt der Zufall selbst die präzisen, vollständigen Angaben über das zu Tuende; er selbst, das heißt: niemand trägt die Verantwortung für die Entscheidungen)« (Pousseur 1959, 25). Der entscheidende Punkt, an dem keiner der genannten Autoren bereit war, Konzessionen zu machen, war die Autorschaft, d. h. die Verantwortung des Autors für das von ihm Geschaffene, das Werk, und dies selbst dort, wo 11 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen man einen kontrollierten Zufall zulassen mochte. Genau diesen Aspekt der Verantwortung rückte Luigi Nono 1959 in Darmstadt in dem nach seinen Vorgaben von Helmut Lachenmann auf deutsch formulierten Vortrag Geschichte und Gegenwart in der Musik ins Zentrum der Ausführungen: »Über ihr [dem Zufall verpflichteter Komponisten wie John Cage] Allerweltsheilmittel, den Zufall, ließe sich unter Komponisten jederzeit reden, solange man bereit wäre, den Zufall zu verstehen und hervorzurufen als ein Mittel, um seinen empirischen Horizont zu erweitern, als Weg zu erweiterter Erkenntnis. Den Zufall und seine akustischen Produkte als Erkenntnis an die Stelle der eigenen Entscheidung zu setzen, kann nur die Methode derer sein, die Angst haben vor einer eigenen Entscheidung, derer, die Angst vor der Freiheit des Geistes haben« (Nono 1960, 40; vgl. De Benedictis / Mosch 2012, 44–47). Gerade Nono geht es dabei um mehr als nur um die künstlerische Verantwortung: Das Handeln des Künstlers ist für ihn vielmehr politisches Handeln, und handeln kann nur, wer einen Standpunkt bezieht und Entscheidungen trifft. Das Eingreifen des Zufalls im Schaffen beschäftigte damals nicht nur die Künstler selbst, es erregte auch die Aufmerksamkeit der Philosophie. Ebenfalls im September 1958, wenige Tage nach Cages Auftritt in Darmstadt, griff Umberto Eco das Phänomen der »offenen Form« in einer über die Musik hinausgehenden Perspektive im Rahmen eines Vortrages auf dem Zwölften Internationalen Philosophiekongress in Venedig aus poetologischer Perspektive auf. Der Text erschien 1959 in den von Luciano Berio herausgegebenen Incontri musicali unter dem Titel L ’ opera in movimento e la coscienza dell ’ epoca (Das Kunstwerk in Bewegung und das Bewusstsein der Epoche, Eco 1959) und ging später in modifizierter Form als erstes Kapitel in das 1962 publizierte epochemachende Buch Opera aperta (Das offene Kunstwerk, 1962/73) ein. Ausgehend von Beobachtungen an Berios Sequenza I für Flöte (1958), Stockhausens Klavierstück XI, Boulez ’ Dritter Klaviersonate, Pousseurs elektronischer Komposition Scambi (Wechsel, 1957) und James Joyces Ulysses und Finnegans Wake entwickelte Eco eine Poetik des offenen Kunstwerks. An den analysierten Beispielen bemerkte er »die Tendenz, das Kunstwerk so zu organisieren, daß keine Ausführung des Werkes mit einer letzten Definition von ihm zusammenfällt; jede Ausführung erläutert, aber erschöpft es nicht, jede Ausführung realisiert das Werk, aber alle zusammen sind komplementär zueinander, jede Ausführung schließlich gibt uns das Werk ganz und befriedigend und gleichzeitig unvollständig, weil sie uns nicht die Gesamtheit der Formen gibt, die das Werk annehmen könnte« (ebd., 49). Diese Formen des Kunstwerks sind nach Eco als »epistemologische Metapher« zu verstehen, in der sich »die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche [d. h. Ende der 1950er Jahre] die Realität sieht, widerspiegelt« (ebd., 46). 3. Altern der Neuen Musik? Im April 1954 hielt Adorno im Süddeutschen Rundfunk einen erst zwei Jahre später publizierten Vortrag unter dem Titel Das Altern der Neuen Musik (Adorno 1956/73). Darin meinte der Philosoph in der in jener Zeit neu entstandenen Musik Alterserscheinungen im Vergleich zu den Werken der Komponisten der Wiener Schule beobachten zu können: »die Qualität, die Verbindlichkeit der Gefüge« nehme ab (ebd., 144). Die Alterserscheinungen machte er vor allem an zwei Aspekten fest: am Kompositionsbegriff und am Begriff der musikalischen Zeit. Angesichts der Musik der jungen Komponisten – und damit waren wohl in erster Linie Boulez, der als einziger namentlich genannt wird, Stockhausen und Goeyvaerts gemeint  – treibt ihn die Sorge um, das Komponieren könne Opfer der Präformierung der Mittel werden. Boulez und »seine Anhänger« hätten »vor allem versucht, in die strenge Ordnung des Zwölftonverfahrens auch die Rhythmik hineinzuziehen und schließlich das Komponieren überhaupt durch eine objektiv-kalkulatorische Anordnung von Intervallen, Tonhöhen, Längen und Kürzen und Stärkegraden zu ersetzen  – eine integrale Rationalisierung, wie sie wohl in der Musik kaum zuvor visiert worden ist« (ebd., 151). Die Werke setzten bloß noch Materialvorordnungen um; Komponieren, soweit es mehr ist als bloße Anordnung, sei nicht zu erkennen (ebd., 150). Serielle Musik weigere sich dem hörenden Vollzug (ebd., 156): ihre Ordnungsprinzipien seien hörend nicht nachvollziehbar. Adorno rekurriert hier auf einen Kompositionsbegriff, der – durchaus kritisch – an den Werken der Wiener Schule entwickelt worden war und misst daran die Musik der jungen Komponisten. Dabei sieht er, was er bei den Jungen beobachtet, schon bei Webern vorgebildet. Dieser sei in seinen letzten Kompositionen dem Verzicht auf musiksprachliche Mittel zuweilen schon sehr nahe gekommen, ohne allerdings je den musikalischen Sinn vollends zu opfern. Der zweite Kritikpunkt ist die musikalische Zeitlichkeit dieser Musik: »Zugrunde liegt eine statische Vorstellung von der Musik: die genauen Entsprechungen und Äquivalenzen, welche die totale Rationalisierung anbefiehlt, basieren allesamt auf der Voraussetzung, daß das wiederkehrende Gleiche in der Musik auch tatsächlich gleich sei, etwa wie in einer schematischen räumlichen Darstellung. Das fixierte Notenbild wird mit dem Gesche- 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen hen verwechselt, das es bedeutet. Aber solange Musik überhaupt in der Zeit verläuft, ist sie dynamisch derart, daß das Identische durch den Verlauf zum Nichtidentischen wird, so wie umgekehrt Nichtidentisches, etwa eine verkürzte Reprise, zum Identischen werden kann« (ebd. 151 f.). Adorno diagnostizierte die Folgen der eingangs erwähnten Preisgabe der traditionellen kompositorischen Kategorien sehr genau, konnte aber offenbar damals, Mitte der 1950er Jahre, noch nicht erkennen, inwieweit die verallgemeinerten Reihenverfahren vielleicht ein anderes Komponieren ermöglichen würden, das auf »reihenmäßige Funktionen« (Boulez) setzte. In einer kritischen Replik auf die 1956 leicht verändert publizierte Fassung von Adornos Vortrag warf Heinz-Klaus Metzger dem Philosophen unter dem Titel Das Altern der Philosophie der Neuen Musik (Metzger 1957/80) vor, in Bezug auf die kritisierte Musik schlecht abstrakt geblieben zu sein und die tatsächlichen Probleme nicht erkannt zu haben. Letztlich beschränkte sich seine Kenntnis im Wesentlichen auf die oben erwähnte Sonate für zwei Klaviere (1950–51) von Goeyvaerts und vorserielle Stücke wie die Zweite Klaviersonate (1946–48) von Boulez. Adorno räumte später ein, er habe über Musik vor dem Entstehen einer eigentlich seriellen Schule gesprochen und Werke wie Boulez ’ Le marteau sans maître (1952–55) und Stockhausens Zeitmaße (1955–56) seien von der Kritik auszunehmen (Adorno 1963/73, 12; Metzger / Adorno 1957/80). 4. Folgen der Atomisierung des musikalischen Materials Die Idee, die verschiedenen Aspekte des Klangs getrennt voneinander und allenfalls isomorph zu organisieren, musste, da sie von einer Separierung der verschiedenen Aspekte des Klangs ausgeht, an die Grundfesten der herkömmlichen Kompositions- und Musikvorstellung rühren: Diese hatten auf umfassenden Kategorien wie Melodie, Thema oder Motiv beruht, in denen die Tonhöhen, rhythmischen Werte, die Artikulation und die dynamische Hüllkurve in der musikalischen Gestalt ungeschieden eine Einheit bildeten. Mit der neuen, seriellen Herangehensweise waren musikalische Gestalten nun nicht mehr direkt Gegenstand der Erfindung. Sie »schossen zusammen«, wie Stockhausen es im Hinblick auf die elektronische Musik formulierte (Stockhausen 1953a / 63, 59), aus der Kombination der verschiedenen mittels Materialpräparation vorstrukturierten Ebenen des Klangs. Resultat der komplexen Strukturierungs- und Zuordnungsverfahren sind musikalische Gestalten, in denen die Ausgangsstrukturen  – etwa eine bestimmte Tonhöhenreihe oder eine bestimmte Dauernfolge  – nur noch in Ausnahme- 12 fällen direkt erkennbar werden. Das Verfahren hatte eine vollständige Verwandlung des klanglichen Erscheinungsbildes zur Folge, das schon bei Messiaens Mode de valeurs et d ’ intensités und dann bei den frühen seriellen Werken zunächst als eine Atomisierung zu einer »punktuellen Musik« erscheint. Die ohrenfälligste Folge davon war das Ersetzen einer auf einem regelmäßigen Puls beruhenden, metrisch grundierten Rhythmik durch eine bloß additive Rhythmik, die keinen Taktschwerpunkt und keine Pulsation mehr kennt (Ä Rhythmus / Metrum / Tempo, 2.1). Die Fremdheit des Klangbildes und eine scheinbare Unzugänglichkeit für das Hören lösten eine Debatte um den Musikbegriff und das Hören aus, die bis heute noch nicht ganz erloschen ist (Ä Rezeption, Ä Wahrnehmung). Sie entzündete sich vor allem am Verhältnis der Ordnungsprinzipien zur Wahrnehmbarkeit, an dem, was Adorno mit der Formel, diese Musik weigere sich dem hörenden Vollzug, auf den Begriff gebracht hatte. Gegner wie auch durchaus wohlmeinende Kritiker bemühten die unterschiedlichsten Argumente, um zu zeigen, dass es sich dabei nicht um Musik handle bzw. man diese Musik »nicht hören« könne im Sinne eines musikalischen Hörens. 4.1 Was ist Musik? Auf den Kasseler Musiktagen im September 1958 hielt Friedrich Blume einen Vortrag unter dem Titel Was ist Musik?. Darin behauptete er, das Phänomen Musik sei an eine tonale Ordnung welcher Art auch immer gebunden: »Hier liegt eine echte Grenze des Begriffs Musik zutage: eine tonal unbezogene, tonalitätsfreie Musik kann es nicht geben. Die Überschreitung dieser Grenze würde von der Musik als geordnetem Tonstoff in das Chaos der prämusikalischen Klänge und Geräusche führen« (Blume 1959/63, 878). Das schließt auch aus, dass elektronische Musik überhaupt als solche betrachtet werden kann: »Die sogenannte Elektronische Musik verläßt grundsätzlich den Naturklang, indem sie (kurz formuliert) die Naturklänge in ihre Bestandteile auflöst und diese für sich oder in beliebigen Kombinationen montiert. […] Ausschlaggebend scheint mir, daß hier Dinge produziert werden, die für uns gar nicht apperzipierbar sind, weil unser Gehör, das auf den Naturklang und seine Ableitungen eingerichtet ist, weder im physischen noch im psychischen Sinne befähigt ist, diese Produktionen zu verarbeiten, und beim Versuch zur Apperzeption vergeblich nach Beziehungen zum naturklanglichen Tonstoff sucht, der in den elektronischen Reizen nicht mehr enthalten ist. Bestenfalls nehmen wir auch hier Farbflecken wahr. Das eigentlich Gemeinte bleibt unrealisierbar« (ebd., 881). Man habe es demnach nicht mit Musik zu tun, sondern mit etwas, für das man noch keinen Begriff habe (vgl. ebd., 882). 13 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen Diesem Vortrag widmete die Zeitschrift Melos im Frühjahr 1959 ein ganzes Heft mit größtenteils polemischen Repliken von namhaften Komponisten, Kritikern und Musikpublizisten, darunter Pierre Boulez, der in Blumes Ausführungen lediglich »die Verhüllung einer panischen Angst vor dem Neuen, aber keineswegs einen von irgendwelchen Beweisen gestützten Gedankengang« (Boulez 1959, 69) sah, Antoine Goléa, der die wissenschaftliche Fundierung von Blumes Argumenten schlichtweg bestritt (Goléa 1959, 75), und Bernd Alois Zimmermann, der die Definitionsmacht, was Musik sei, bei den Komponisten ortete, nicht bei der Wissenschaft: »Die Entscheidung darüber, wo die Grenzen der Musik liegen, kann schließlich und schlüssig nur durch die Unternehmungen der Komponisten ermittelt werden, die, jeder für sich, immer wieder bestrebt sind, das Unfaßbare faßbar zu machen, das Chaotische zu ordnen, das Grenzenlose zu begrenzen: ein Anliegen des menschlichen Geistes seit jeher« (Zimmermann 1959, 90). 4.2 Musik und menschliches Bewusstsein In seiner Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre entstandenen großangelegten Untersuchung Les fondements de la musique dans la conscience humaine (Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein) versuchte der Dirigent Ernest Ansermet aus der »Natur« des menschlichen Bewusstseins zu begründen, warum alle atonale Musik keine »Musik«, sondern bloße »Ton-Kunst« sei (1961/85, 45–76). In einem in der Struktur des Bewusstseins verankerten Gesetz, das er unumwunden als »tonales Gesetz« bezeichnete, sah er das Wesen einer Musik begründet, die allein diesen Namen verdient. Dieses Gesetz leitete er aus zwei Sachverhalten her: zum einen aus der empirischen Tatsache, dass die Wahrnehmung musikalischer Intervalle logarithmisch strukturiert ist, zum anderen aus der spekulativen Annahme, die Einheit des wahrnehmenden Bewusstseins sei nur dann gewährleistet, wenn ein einziger konstitutiver Logarithmus zugrunde liege. Ein Tonsystem kann demnach nur dann zu einer einheitlichen Wahrnehmung der Musik führen, wenn es aus einem konstitutiven Intervall deduziert ist, und bei Ansermet ist dieses Intervall die Quinte. Musik, die nicht auf einem solchen Tonsystem beruht, mithin alle atonale Musik, kann daher nur als sinnloses Chaos wahrgenommen werden (ebd.). In seiner Rezension der deutschen Übersetzung der Fondements de la musique dans la conscience humaine hat Carl Dahlhaus schlagend belegt, dass die Prämissen des »tonalen Gesetzes« unzureichend sind: (1) die logarithmische Strukturierung der Tonhöhen- und Intervallwahrnehmung, weil sie unspezifisch ist und für jede Reihe gleicher Intervalle gilt, seien es nun Ganztöne oder Sechsteltöne; (2) die Annahme der Quinte als konstitutives Intervall aus historischen Gründen, da nämlich in der tonalen Musik des 17. bis 19. Jh.s, um deren theoretische Begründung es Ansermet geht, anstelle einer Fundierung durch das pythagoräische Tonsystem die Terz als in der Auffassung direkt gegebene Naturterz für grundlegend galt; (3) schließlich die Verknüpfung der Annahme eines einzigen konstitutiven Intervalls als Voraussetzung der Einheit des musikalischen Bewusstseins mit der Tatsache der logarithmischen Strukturierung Intervallwahrnehmung, weil es sich um eine sachlich durch nichts gerechtfertigte Willkür handelt (Dahlhaus 1966, 180). 4.3 Serielle Musik als Sprache? 1959 erhob der Linguist Nicolas Ruwet von einem strukturalen linguistischen Modell ausgehend Einwände gegen serielles Komponieren (1959/72). Seriellen Komponisten warf er vor, »daß sie keine ausreichend klare Vorstellung davon gehabt hätten, was die Tatsache, daß Musik Sprache ist, bedeutet« (ebd., 25). Indem sie die Bedingungen der Möglichkeit von so etwas wie Sprache überhaupt außer Acht gelassen hätten, sei es ihnen versagt geblieben, eine neue Sprache zu begründen, deren prinzipielle historische Notwendigkeit nach dem »Tod des tonalen Systems« für ihn unstrittig war (ebd., 25). Resultat sei eine »sehr statische Musik«, der es nicht gelinge »ein Werden zu konstruieren« und »eine sich selbst bestimmende Rede hervorzubringen«. Sie sei gerade gut genug, um als »undifferenzierte Klangkulisse« unser alltägliches Dasein auszustaffieren (ebd., 24). Das Hauptproblem, was Komponisten wie Boulez, Pousseur oder Stockhausen betrifft, liegt Ruwet zufolge darin, dass sie »die Sprache auf eine einzige ihrer Ausdrucksformen, die Rede« (ebd., 28), reduzierten, anstatt Rede auf der Grundlage eines Sprachsystems hervorzubringen. Musikalische Differenzierung wäre demnach nur wahrnehmbar auf der Grundlage eines Systems. Wo dieses System preisgegeben wird oder seine Funktion nicht oder nur mangelhaft erfüllt, sei eben nur die besagte »undifferenzierte Klangkulisse« zu hören. Ähnlich wird in den 1960er Jahren der Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss in der »Ouvertüre« zu seinem Buch Le cru et le cuit (Das Rohe und das Gekochte) argumentieren (LéviStrauss 1964/76, 29–45). Ruwets Kritik bezieht sich nur auf frühe serielle Stücke wie Boulez ’ Structures I oder Stockhausens KontraPunkte, nimmt aber ausdrücklich andere aus: Le marteau sans maître (Boulez), Zeitmaße und Gruppen (Stockhausen). Inwiefern letztere Werke aber Sprache im definierten Sinne ausprägen – darauf hat schon Pousseur in seiner Entgegnung Musik, Form und Praxis (Zur Aufhebung eini- 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen ger Widersprüche) (Pousseur 1960) hingewiesen  – erläutert er nicht, und man kann daran zweifeln, ob sie es tun. Ruwets ästhetisches Urteilsvermögen stand offensichtlich der Kritik im Wege, verhinderte andererseits jedoch auch nicht, dass die Unangemessenheit seiner Kriterien, die aus seinem Musikbegriff herrühren, unbemerkt blieb. 4.4 Überfordert serielle Musik das Ohr? Der Ingenieur und Akustiker Fritz Winckel war einer der Ersten, der auf der Basis der Ende der 1940er Jahre von Claude Shannon entwickelten Informationstheorie versuchte zu zeigen, dass serielle Musik das menschliche Ohr überfordere: »Ähnlich wie für die Tonhöhe eine Zwölftonreihe aufgestellt wird, die keinen vorbestimmten Ton kennt, so sind für all die anderen erwähnten Elemente Reihen aufgestellt, so daß in der strengsten Beachtung dieses Prinzips der ›seriellen Musik‹ die Information das überhaupt mögliche Maximum an Information erreicht. […] Da die psychische Beanspruchung mit der physischen direkt gekoppelt ist, erhebt sich die Frage, ob der Mensch der Einwirkung von Information bis zur Grenze seiner Kapazität gewachsen ist – ohne den Ausgleich durch Redundanz, in der Kunst also durch formale Verarbeitung. Das ist gleichsam ein Naturgesetz, dem sich denn auch die Komponisten der seriellen Musik unterwerfen, indem sie von überlieferten Formen wie z. B. Wiederholung, Variation, Passacaglia usw. Gebrauch machen« (Winckel 1960, 72 f.). Neue Musik, im Besonderen aber serielle Musik sei Winckel zufolge so schwer zu hören, weil ihre Informationsmenge im Sinne der gleichnamigen Theorie zu groß ist bzw. umgekehrt ihre Redundanz, die nach Auffassung der Verfechter dieser These allein Verständlichkeit verbürgt, zu klein sei. Der Ansatz krankt jedoch daran, dass die quantitativen Termini der ursprünglich rein deskriptiven Theorie qualitativ interpretiert werden, ohne dass die Anwendungsbedingungen ausreichend bedacht wären. Der äquivoke Gebrauch sämtlicher Grundbegriffe der Informationstheorie in Winckels Ausführungen verdeckt die prinzipielle Divergenz von informationstheoretischer Beschreibung und Wahrnehmung. Um die Theoreme überhaupt anwenden zu können, bedarf es zählbarer Einheiten, seien das Töne, Intervalle oder sog. Markowketten (bedingte Wahrscheinlichkeiten im Zusammenhang mit Musik im Allgemeinen; Ä Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik, 6.1). Aus dieser Perspektive unterscheidet sich aber ein Schubert-Lied nicht von einem seriellen Stück oder einem Schlager. Und es lässt sich auch nicht mehr unterscheiden zwischen einem Musikstück und einer Klasse von Gegenständen, die auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeits- 14 regeln erzeugt werden, welche aus diesem abgeleitet sind. Die Theorie ist demnach auch unspezifisch, sie verfehlt den ästhetischen Gegenstand und erlaubt damit streng genommen gar keine Aussagen über Musik, sondern nur über eine Klasse von Gegenständen mit gleichen Tonhäufigkeiten und Übergangswahrscheinlichkeiten, unter die auch Musikstücke fallen. Der entscheidende Einwand gegen den Versuch, mit informationstheoretischen Argumenten Kapazitätsgrenzen des Hörens zu bestimmen, ergibt sich indessen aus der Tatsache, dass Information und Redundanz als statistische Größen ohne jeden Bezug auf den Hörer allein am musikalischen Objekt bestimmt werden. Zwar wurde  – um dem Paradox zu entgehen, dass ein statistisch gesehen sehr informationsreiches Stück für einen Hörer gänzlich redundant ist, der es auswendig kennt – verschiedentlich versucht, den Informationsgehalt und die Redundanz in Abhängigkeit vom Hörer zu bestimmen, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Das Problem, die Erfahrung und das Wissen des Hörers quantitativ zu erfassen und mit »dem Informationsgehalt« eines Stückes in Beziehung zu setzen, ist anscheinend unlösbar. 5. Schluss Die Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog mit ihrer Neukonzeption der Musik auf struktureller Basis, in deren Sog alle Aspekte von den grundlegenden Kategorien bis hin zur musikalischen Form und zum Werkbegriff gerieten, einen tiefgreifenden Bruch mit der traditionellen Vorstellung von Musik. Mit der Idee, Musik aus vorstrukturierten Elementen auf verschiedenen Ebenen aufzubauen, die im Kompositionsprozess synthetisiert werden, legte dieser Ansatz den Grundstein für zahlreiche kompositorische Weiterentwicklungen bis heute, arbeiteten diese nun in herkömmlicher Weise mit Stift und Papier oder, seit einiger Zeit nun schon, auch computergestützt. Aus diesem Komponieren ging eine Musik hervor, die das Hören grundsätzlich herausfordert. Die Diskussionen um Musikbegriff und Wahrnehmbarkeit, die sie provozierte, sind noch immer nicht verstummt, auch wenn sich die Akzente mit zunehmender historischer Distanz längst zu verschieben begonnen haben. Das gilt auch für die musikwissenschaftliche Rezeption dieser Musik. Sie war lange Zeit, nicht zuletzt durch eine Orientierung an den Komponistentexten, vorwiegend auf die kompositionstechnische Seite fixiert. Manchem mochte es sogar scheinen, als ob sich die Geschichte dieser Musik als Kompositionsgeschichte schreiben ließe, in der die Werke nur noch Dokumente einer technischen Entwicklung wären (Dahlhaus 1985, 10). Mit dem geschichtlichen Abstand und der vertieften und breiteren Kenntnis des Denkens der Kompo- 15 1. Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen nisten und ihrer Werke hat sich der Akzent heute eher hin zu den Werken als ästhetischen Gegenständen verschoben (Kovács 2004; Mosch 2004; Delaere 2011), auch wenn immer noch ein Großteil der Studien technischen Fragen gilt und darüber hinausgehende ästhetische Fragen eher selten ins Zentrum gerückt werden. Ä Themen-Beitrag 3; Rezeption; Serielle Musik; Wahrnehmung; Zeit; Zufall Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Das Altern der Neuen Musik [1956], in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (Gesammelte Schriften 14, 7–167), Frankfurt a. M. 1973, 143–167 „ ders.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia – Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 493–540 „ ders.: Vorrede zur dritten Ausgabe [1963], in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (Gesammelte Schriften 14, 7–167), Frankfurt a. 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Akkulturationsphänomene  „ 9. Technologie(n)  „ 10. Europa und USA  „ 11. Jazz: Der amerikanische Sonderweg par excellence?  „ 12. »Pulverisierung« des Vertrauten: Das Vermächtnis der New York School 1. Vorbemerkung Die Frage, ob es einen nordamerikanischen Sonderweg in der Musikgeschichte des 20. Jh.s gibt, erweist sich letztlich als unbeantwortbar, wenn man sie zu Ende denkt (Ä Nordamerika). Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen steht hinter dieser Frage eine andere, grundsätzliche und umfassende, nämlich diejenige nach dem Kern der Identität der nordamerikanischen Musik. Zum anderen sind die Probleme, die sich aus dem Konstrukt von Hauptund Sonderwegen in der Musikgeschichte ergeben, größer, als es dieses doch offenbar bewährte Modell erwarten lässt. Eine um Objektivierung bemühte Sicht auf die nordamerikanische Musik und ihren Beitrag zur Musikgeschichte des 20. und 21 Jh.s gehört damit zu den größten Herausforderungen, denen sich Ä Musikwissenschaft und Ä Musikhistoriographie gegenüber sehen. Die im Jahr 2013 unter der Leitung von Charles Hiroshi Garrett und einem mit über 40 Experten besetzten Beratungsgremium konzipierte zweite Ausgabe des Grove Dictionary of American Music (Garrett 2013) hat die Dimensionen eines solchen Unterfangens deutlich gemacht. Im Vergleich zur ersten Ausgabe von 1986 hat sich der Umfang mehr als verdoppelt: 1500 Autoren haben mehr als 9300 Einträge verfasst, von denen einige den Umfang einer kleineren Monographie haben. Das gigantische Tableau, dem sich der Leser gegenüber sieht, könnte bei ihm Beklemmungen auslösen, wenn er von der Erwartung ausgeht, damit auch einen allgemeingültigen »point of departure« zu erhalten. Im Gegenteil muss er sich jedoch damit abfinden, dass dieses Lexikon nur als ein Prisma funktionieren kann, das eine Vielzahl unterschiedlicher – und zum Teil auch einander widersprechender – Perspektiven auf einen Gegenstand wirft, der sich jeder Definition (im wörtlichen Sinn von Begrenzung) zu entziehen scheint. Insofern ist in den nachfolgenden Überlegungen darauf verzichtet worden, sich in das aussichtslose Unterfangen zu begeben, eine kondensierte Geschichte der nordamerikanischen Musik im 20. und 21. Jh. zu skizzieren; schon der flüchtige Blick auf die Literatur, die allein zu John Cage existiert, macht deutlich, welche Konsequenzen ein solcher Versuch nach sich ziehen würde. Vielmehr können nur einzelne Stationen und Konstellationen betrachtet werden, an denen sich exemplarisch bestimmte Tendenzen zeigen lassen. Man kann – oder muss – sich mit dem bekannten Aperçu von Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften trösten, wonach die Wahrheit kein Kristall sei, das man in die Tasche stecken könne, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfalle. Denn sie ermöglicht eine Umkehrung der Argumentation, wonach gerade und vielleicht nur eine prismatische Perspektive dem Phänomen der nordamerikanischen Musik gerecht würde. Charles Ives hatte dies vielleicht im Sinn, als er an das Ende seines Beitrags The Music and its Future, der den Abschluss des 1933 von Henry Cowell herausgegebenen Sammelbands American Composers on American Music bildet, das Plädoyer eines »unknown philosopher of half a century ago« für eine Ästhetik der Toleranz setzte: »How can there be any bad music? All music is from heaven. If there is anything bad in it, I put it there  – by my implications and limitations. Nature builds the mountains and meadows and man put in the fences and labels« (Ives 1933/62, 198). Diese romantische Metapher ist nicht die schlechteste, um sich zu vergegenwärtigen, dass es in der nordamerikanischen (Musik-)Kultur fortwährend um Grenzen und deren Überwindung geht  – freilich auch Grenzen, die von den jeweiligen musikalischen Akteuren selber errichtet oder eingerissen werden. 2. Identitätsprobleme Ob es sich bei der Identität der nordamerikanischen Musik um eine musikgeschichtliche Realität, um eine (immer auch interessengeleitete) Projektion oder um ein Rezeptionsphänomen handelt, ist umstritten: Sicher ist nur, dass sich in dem Begriff unterschiedlichste Beobachtungen und Erwartungen bündeln und spiegeln. In der nordamerikanischen Musikwissenschaft hat sich jedenfalls seit längerem der Plural »musics«, der im Deutschen mit »musikalische Kulturen« zu übersetzen wäre, etabliert, um der daraus resultierenden Schwierigkeiten Herr zu werden. Der Terminus gibt die einheitliche Betrachtung J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_2, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte der Musikgeschichte auf, die für europäische Historiker so selbstverständlich ist (oder zumindest lange gewesen ist); an ihre Stelle treten unterschiedliche Narrative, die sich immerhin noch phasenweise zu einer gemeinsamen Erzählung verknüpfen lassen. Dies gilt besonders für größere Phasen der Musikgeschichte des 20. Jh.s, das oft auch als »amerikanisches« bezeichnet worden ist: Denn die nordamerikanische Musik hat spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bis heute nicht nur die Popularkultur dominiert, sondern auch im Bereich der Ä neuen Musik bzw. der Ä Avantgarde entscheidende Weichen gestellt. Die inzwischen in vollem Gang befindliche Aufarbeitung und Rekonstruktion dieses Prozesses hat freilich gezeigt, dass es auch hier aussichtslos ist, einen musiksprachlich konsistenten Kern freilegen zu wollen. Liegt es also nur im Auge des Betrachters, was als »nordamerikanische« Musik definiert werden kann? Oder sollten europäische Exegeten akzeptieren, dass ihre Kriterien und Kategorien, die traditionell vom Vorrang des sog. Werkbegriffs ausgehen, nur bedingt taugen? Andere Kategorien, die der Sozial-, Kultur-, Medien- und Technikgeschichte entstammen, kämen dann ins Spiel, die der spezifischen Dynamik und Instabilität der nordamerikanischen Musik im 20. Jh. eher gerecht würden. Doch sofort könnten hier erhebliche Einwände erhoben werden durch den Hinweis auf Komponisten wie Elliott Carter oder George Rochberg, deren Bedeutung und  – so im Falle Carters – repräsentative Funktion in der nordamerikanischen Musik des 20. Jh.s niemand bestreiten dürfte: Hielten sie nicht geradezu demonstrativ und ostentativ an einem europäischen Werkbegriff fest, was  – paradox genug – am entschiedensten von europäischer Seite kritisiert wurde (Weber 1994, 23–31)? Hier zeigen sich offenbar grundlegende Konflikte und Verwerfungen innerhalb der Musikgeschichte der USA, die darauf hindeuten, dass die Identitätsfrage nicht nur eine Frage des Rezeptionsstandpunkts ist, sondern substanziell mit dem Verhältnis nordamerikanischer Komponisten zur europäischen Musikgeschichte und deren ästhetischen Prämissen zu tun hat. Damit aber wird das Feld der Identität nochmals geweitet  – und zwar so stark, dass es fast aussichtslos erscheint, es noch vermessen und definieren zu wollen. So sind der Frage nach der Identität der nordamerikanischen Musik inzwischen ganze Bibliotheken gewidmet, deren zutiefst kontroverse Resultate und Fülle an Lösungsvorschlägen und Reflexionsfiguren ein einzelner Forscher nicht mehr zu überblicken oder gar zusammenzufassen vermag. Auch die einschlägigen Standardwerke zur nordamerikanischen Musikgeschichte bzw. zu ihrer Geschichte im 20. Jh., die seit den 1950er Jahren von Koryphäen des 18 Fachs wie Gilbert Chase, Charles Hamm, H. Wiley Hitchcock, Richard Crawford oder Kyle Gann verfasst wurden, beschränken sich notgedrungen auf bestimmte Aspekte: auf den Versuch, die nationale Identität über den Einfluss der Folklore zu definieren (Chase 1955/92), auf sozial- und kulturgeschichtliche Faktoren (Hitchcock / Gann 2000), auf die Bedeutung performativer und distributiver Faktoren für die Dynamik des Musiklebens (Crawford 2001) oder die Dialektik von Koexistenz und Konkurrenz verschiedenster Konzepte des Neuen (Gann 1997). Und wenn man von der Erforschung der Folgen des politischen Exils europäischer Komponisten und Musiker in den USA nach 1933 absieht, sind Forschungen zu anderen Aspekten wie den Wechselwirkungen transatlantischer bzw. auch -pazifischer Musikbeziehungen lange Zeit – sei es aus Gründen nicht zugänglicher Quellen oder aus kulturpolitischen Gründen – nicht möglich gewesen oder unterblieben. Die Voraussetzungen dafür, grundlegend darunter die Erschließung wichtiger Komponistennachlässe wie desjenigen von Edgard Varèse, sind erst in den letzten Jahren geschaffen worden und haben zu Ergebnissen geführt, die weitere erhebliche Revisionen des Bilds der nordamerikanischen Musik nach sich ziehen werden (Meyer / Zimmermann 2006). 3. Haupt- und Sonderweg(e) Historiker der nordamerikanischen Musik sind gezwungen, multiperspektivisch oder  – in Anlehnung an eine grundlegende strukturalistische Unterscheidung  – eher synchron statt diachron vorzugehen. Der imposante Band der von David Nicholls herausgegebenen Cambridge History of American Music zeigt, wie in der Verbindung topologischer und chronologischer Aspekte in den insgesamt 19 Beiträgen diese Differenzierung geleistet wird und ein solcher Paradigmenwechsel gelingen kann. Jeder der Beiträge ist, wie Nicholls im Vorwort schreibt, »to some extent self-contained, telling its own story from its own perspective« (Nicholls 1998, XIII), soll aber auch Teil des Ganzen sein. Doch die polyphone Auffächerung der Historiographie in selbständige und gleichberechtigte Wege bringt ein neues Dilemma hervor, nämlich das latente Verschwinden eines gemeinsamen Bezugspunktes; jeder Weg wäre dann sein eigenes Ziel. Damit verlieren jene Erscheinungsformen in der nordamerikanischen Musik des 20. Jh.s, die unter dem Stichwort des »American Maverick« (des Rebells, Außenseiters oder Nonkonformisten, der sich dem Druck des Marktes und der Kulturindustrie erfolgreich entzieht) firmieren, ihre Sonderrolle: Sie sind unter der Perspektive der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ebenso »zentral« wie die Vertreter des akademischen Establishments. 19 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte Doch es lässt sich mit gleichem Recht auch ein entgegengesetzter Standpunkt einnehmen, der gerade die Übergänge und Verflechtungen zwischen den verschiedenen Kulturen und Sprachen der nordamerikanischen Musik betont. Sie würde nicht nur stilistisch gelten, wie es die vielfachen Berührungen zwischen der populären und der ernsten Musik in den USA zeigen. Vielmehr ginge es auch oder sogar primär um konstitutive politische, religiöse und soziale Sphären und Konflikte der amerikanischen Gesellschaft, die in den jeweiligen Musikkulturen thematisiert oder gespiegelt werden und sich in den Werken, die aus solchen Verflechtungen entstehen, in eine Art Chiffre verwandeln: Ives ’ Musik ist dafür das erste und bis heute vielleicht komplexeste Beispiel, diejenige von John Adams das inzwischen bekannteste. Die permanente Leistung der Transformation und Amalgamierung solcher Spannungen wäre dann ein gemeinsames Hauptziel großer Teile der amerikanischen Moderne, das sich mit den abstrakten Gattungs- und Wertungskriterien der europäischen Ästhetik nicht oder nur unzureichend fassen lässt. Ob dieses Ziel die Einlösung des Wappenspruchs e pluribus unum der Gründerväter von 1776 meint, der zunächst ein von der Kulturindustrie gepflegtes Ideologem ist, bleibt umstritten. Mit Ausnahme der Situation im Kalten Krieg, als die amerikanische Musik teilweise zum Symbol westlicher Freiheit umgedeutet und entsprechend instrumentalisiert wurde, neutralisierte die europäische Rezeption diese Lesart einer gesellschaftlichen Utopie weitgehend. Eine politische Rezeption wurde dabei vor allem von HeinzKlaus Metzger und Dieter Schnebel am Beispiel von Cages »sanftem« Anarchismus forciert (Metzger 1978), während für Theodor W. Adorno Cages Musikbegriff unter dem Verdacht eines verspäteten Dadaismus oder Surrealismus stand, der den Mechanismen der Kulturindustrie durch das »sektiererisch Séancenhafte« seiner Werke in die Hände arbeitete (Adorno 1965/82, 271). Die Ausblendung der vielschichtigen Voraussetzungen der amerikanischen Moderne, die schon für Adornos Verdikt über den Jazz gilt, verfestigte sich später bei Carl Dahlhaus zu dem Urteil, dass Cages »geschichtsfremdes« Denken in eine »blinde Naturverehrung« und bloßen »Fetischismus« umschlage (Dahlhaus 1972/2005, 257; vgl. dazu auch Gronemeyer 1992). 4. Inneramerikanische Voraussetzungen Die Aporien, die der Versuch einer Klärung des Sonderwegs bzw. der Identität der amerikanischen Musik nach sich zieht, hängen eng mit der besonderen Dynamik der nordamerikanischen Geschichte und ihrer Entwicklungsstränge zusammen: Anders als in Europa definierten nicht nationale, politische oder institutionelle Traditionen die Identitätsbildung der Nation, sondern dynamische Prozesse mit (bis heute) offenem Ausgang. Schon in der ersten Generation der neuenglischen Siedler taucht der bis heute politisch aktive Begriff des »exceptionalism« (Exzeptionalismus) auf, der die Sonderstellung der Neuen Welt bezeichnet: Mit ihr habe die westliche Zivilisation die einmalige historische Chance, sich noch einmal neu zu gründen, und zwar als »city upon a hill« (»die Stadt, die auf einem Berg liegt«, Matthäus 5,14), die es nun für alle Zeiten zu verteidigen und zu bewahren gelte. Im Lauf des 18. und 19. Jh.s wurde diese ursprünglich christliche Vorstellung zu einer mächtigen politischen Idee und Ideologie weiterentwickelt, und zwar nicht nur von Amerikanern, sondern auch von Europäern wie dem französischen Historiker und Publizisten Alexis de Tocqueville, der in seinem Buch De la démocratie en Amérique (1835/40) die fundamentalen Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in klassischer Weise beschrieben hat. Aber auch der Gegenbegriff zum Exzeptionalismus, der Universalismus, ist mit dem Selbstverständnis der USA untrennbar verbunden. Die älteste Demokratie der westlichen Welt wurde nicht primär auf einer sprachlichen, ethnischen, religiösen oder territorialen Identität bzw. Integrität gegründet, sondern auf der Annahme universaler, für alle auf amerikanischem Boden lebenden Menschen gültigen Ideen und Prinzipien. Dies erklärt die Attraktivität der Vereinigten Staaten als Einwanderungsland, das seit dem 19. Jh. in mehreren Wellen Millionen von Menschen aus Europa und Asien aufnahm, welche allerdings fürchten mussten, ihre ethnische Identität im vielbeschworenen »melting pot« zu verlieren. Parallel dazu vollzog sich die geopolitische Expansion der USA, die erst mit dem Eintritt Alaskas und Hawaiis als 49. und 50. Staat der Union im Jahr 1949 abgeschlossen wurde. Die kontinuierliche Verschiebung und Überwindung von Grenzen und damit die Erforschung des Unbekannten wurden zu mächtigen Topoi der amerikanischen Kultur (Turner 1920/96). Aus dem Spannungsverhältnis von Exzeptionalismus und Universalismus resultierten das Selbstverständnis der USA und die manifesten Widersprüche einer »unfinished nation« (Brinkley 2004): Der Isolationismus, der außenpolitisch schon früh in der Monroe-Doktrin die Unumkehrbarkeit der Ablösung von Europa proklamierte und innenpolitisch mit der Rassen- bzw. Sklavenfrage in die Katastrophe des Bürgerkriegs führte, und das Sendungsbewusstsein einer »Weltbürgernation« sind nicht voneinander zu trennen. Das faszinierende Oszillieren zwischen Sonder- und Hauptweg, zwischen Peripherie und Zentrum (oder den 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte damit verbundenen ideologischen Prämissen) verdankt sich auch den besonderen historischen Voraussetzungen der amerikanischen Musikkultur. Sie haben weniger mit ästhetischen Konzepten zu tun als mit gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen, in die Musik stark involviert ist. Soziale, religiöse, technologische und musikalische Aspekte sind von Anfang an ineinander verwoben. Die relative Kürze der (westlich geprägten) Musik auf nordamerikanischem Boden ist dabei zu beachten: So begann ein reguläres Musikleben erst zu Beginn des 17. Jh.s an der Ostküste, und die geographische, ethnische und politische Expansion der amerikanischen Nation gelangte erst Ende des 19. Jh.s (mit Ausnahme Hawaiis) zum Abschluss. Dadurch konnten sich in Europa vergleichbare kulturelle, politische und eben auch ästhetische Traditionsbestände nicht oder nur als Enklaven herausbilden, die dann allerdings schnell zu Außenposten einer europäischen Musikkultur wurden. Unter ihnen nahm Boston dann einen herausragenden Platz ein, da seine Musikrepräsentanten sich über das ganze 19. Jh. hinweg als Verteidiger eines elitären, kulturprotestantisch und klassisch geprägten Musikbegriffs verstanden; dies war auch ein Sonderweg, aber eben ein kryptoeuropäischer, wie Gründung (im Jahr 1815) und Aktivitäten der Handel and Haydn Society oder das überwiegend aus europäischen Melodievorlagen zusammengestellte Hymnen-Repertoire der Kirchenmusikreformer Lowell Mason und Thomas Hastings zeigen. (Der Historiker Michael Broyles sprach 1992 treffend von der »music of the highest class«, um die es im Bostoner Musikleben vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs ging.) Er ist noch greifbar in der Bachelorarbeit des 21-jährigen Leonard Bernstein an der Harvard University über die Absorption of Race Elements into American Music, die mit der These endet, dass die Zukunft der amerikanischen Musik in der Synthese der afroamerikanischen und der neuenglischen, d. h. der Europa am nächsten kommenden Kulturen läge (Bernstein 1982). Angesichts der Tatsache, dass Bernstein der Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine war und in der Stadt mit der höchsten ethnischen und nationalen Durchmischung innerhalb der USA aufwuchs (Lawrence / Massachusetts), drückt diese These, die zu seinem künstlerischen und weltanschaulichen Lebensmotto werden sollte, auch den unumwundenen Wunsch nach Identität und Identifikation aus. Freilich ist hier zu bedenken, dass die radikale Umsetzung der »melting pot«-Idee zur Auslöschung jeglicher Distinktion führen würde. Die Musikgeschichte der USA ist daher auch die Geschichte eines erbitterten Kampfs um kulturelle Selbstbehauptung: In zwei Hauptwerken Bernsteins – der Operette Candide (1956) und dem Musiktheater Mass (1971) – wird er metaphorisch und, im Fall der Mass, sogar unter 20 tendenzieller Auflösung der Bühnenillusion auf die Spitze getrieben. 5. Dvořák, Ives und die Folgen Ende des 19. Jh.s wurde die amerikanische Musik, die nach dem Ende des Bürgerkriegs im Zeitraffer einen enormen Professionalisierungsprozess vollzog, mit aller Macht mit dem Problem ihrer Identität konfrontiert. Sie wurde  – nicht zufällig, aber wohl doch unbeabsichtigt – von einem der berühmtesten europäischen Komponisten der Zeit ausgelöst, nämlich von Antonín Dvořák, der von 1893–96 in den USA als Direktor am National Conservatory of Music in Washington (das die Philanthropin Jeanette Thurver gegründet hatte) wirkte und lebte (Tibbetts 1993). Mit seinen in dieser Zeit entstandenen Werken – allen voran der Sinfonie Aus der Neuen Welt – gab er den amerikanischen Komponisten ein Modell an die Hand, das durch die Verwendung afroamerikanischer Spirituals als »lokale Farbe« eine semantische Autonomie andeutete, während die Form weiterhin europäisch-erhaben blieb; paradoxerweise dadurch aber trat die Abhängigkeit der amerikanischen Kunstmusik vom europäischen umso deutlicher hervor. Die Reaktion war entsprechend heftig: Dvořáks Vorstoß, die orale afroamerikanische Musik ernst zu nehmen, für kunstfähig zu erklären und damit als Grundlage einer amerikanischen Kunstmusik vorzuschlagen, stieß in konservativen und fortschrittlichen Kreisen gleichermaßen auf entschiedene Ablehnung. So fühlte sich der Komponist und Pianist Edward MacDowell von afroamerikanischer Musik an die Sklaverei erinnert und empfahl stattdessen ausgerechnet die Verwendung der Musik der Indianer, die zu diesem Zeitpunkt von einem Genozid bedroht waren: »Why cover [the trademark of nationality] with the badge of whilom slavery rather with the stern but at least manly and free rudeness of the North American Indian?« (zit. nach Hamm 1983, 415 f.). Die Dvořák-Kontroverse wurde auch zum Anstoß verstärkter Anstrengungen zur Entwicklung einer eigenen amerikanischen Musiksprache. Es war Charles Ives, der ebenso konsequent wie radikal daran arbeitete, die Heterogenität der amerikanischen Musik – also die Vielzahl ihrer ethnischen und sozialen Dialekte  – zur Grundlage eines ganzen Werkkonzepts zu erheben. Ives beschritt damit um 1900 in der Tat einen Sonderweg, der ihn in eine splendid isolation führen sollte: Seine Musik blieb während langer Phasen seines Berufslebens, das außerhalb des offiziellen amerikanischen Musiklebens lag, fast unbekannt oder wurde abgelehnt. Erst posthum errang Ives Ruhm: Aus dem Außenseiter wurde nun der »Vater« der amerikanischen Musik, und diese zum Symbol einer stolz-unbeugsamen Eigenständigkeit, die eine schon 1837 21 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte von dem transzendentalistischen Philosophen Ralph Waldo Emerson in seiner Rede The American Scholar proklamierte Ablösung von den »courtly muses of Europe« (Emerson 1960, 79) nun auch musikalisch und damit musikgeschichtlich vollzogen hatte. Die heutige Forschung hat einen Teil dieses Bildes als Mythos dekonstruiert und die dahinterstehende Dialektik aufgezeigt: Tatsächlich ist auch Ives ’ Musik erheblich von europäischen Anteilen und Vorbildern durchdrungen – Ives bewunderte wie viele amerikanische Komponisten seiner Generation zutiefst den metaphysischen und religiösen Gehalt der Sinfonien Beethovens und Brahms ’ und beobachtete die aktuelle musikalische Entwicklung in Europa (Claude Debussy, Richard Strauss) sehr kritisch. Aber er erkannte und beschritt zugleich auch die sich bietenden Alternativen, allen voran die Umdeutung der (im weitesten Sinn) amerikanischen Popularmusik. Auch hierfür hatte Emerson in The American Scholar mit seinem Bekenntnis, das Alltägliche zu feiern (»I embrace the common, I explore and sit at the feet of the familiar, the low« [ebd., 78]), die ästhetischen Weichen gestellt; Dvořák folgte ihm in seinem Artikel Music in America 1894, als er für die Gospelmelodien die Metapher der »rare and lovely flower growing amidst enchroaching weeds« (zit. nach Hamm 1983, 412) wählte, die es zu retten gälte. Der entscheidende Schritt Ives ’ bestand darin, dieses Material (Lieder, Hymnen, Märsche etc.) zum Träger des musikalischen Satzes zu nobilitieren, obwohl ihre melodische Substanz – austauschbare diatonische Formeln einfachster Provenienz – dies im Grunde gar nicht zuließ. An die Stelle (ehemaliger) motivisch-thematischer Arbeit und eines Entwicklungsprinzips trat nun ein Prinzip der assoziativen Verknüpfung, Überlagerung und Verzerrung populärer Melodien, das Ives in Werken wie den Three Places in New England für Orchester (1912– 21) und der Vierten Sinfonie (1912–25) zu chaotischen und surreal anmutenden Hörbildern zuspitzte. Es ist zwar interessant, diese Melodien zu identifizieren, um ihre Ursprünge in einem kollektiven auralen Gedächtnis aufzufinden (Burkholder 1995; Gail 2009), aber noch mehr lohnt es sich über die Ambivalenz der Ä Wahrnehmung nachzudenken, die von diesem Verfahren ausgelöst wird (Rathert 2004). Cage sprach 1964 und unter Bezug auf das Werk des amerikanischen Malers Jasper Johns davon, dass es in der Kunst nicht mehr um ein »Entweder – Oder«, sondern um ein »Sowohl als auch« ginge (»The situation must be Yes-and-No not Either-Or. Avoid a polar situation«, Cage 1964/69, 79); genau diese Unbestimmtheit wird durch Ives erstmals Gegenstand musikalischer Formgestaltung. Der zweite, nicht weniger beharrliche Weg, den Ives einschlug, bestand in der Quadrivialisierung und Rationalisierung des Tonmaterials: Objektivierte, aus mathemati- schen Abläufen erzeugte Formen treten an die Stelle der bisher favorisierten narrativen Formen der europäischen Sonate. Daraus entstehen – zumindest in nuce – selbstreferenzielle Strukturen, deren kleinste und größte Glieder demselben Prinzip unterliegen bzw. dieses in unterschiedlichen Dimensionen widerspiegeln. Ives ’ unvollendet gebliebene Universe Symphony (1911–28) ist dergestalt eine Art tönender akustischer Kosmos aus periodisch schwingenden bzw. expandierenden vertikalen und horizontalen Schichtungen, deren Basis die Primzahlreihe ist (Ä Neue Musik und Mathematik; Ä Rhythmus / Metrum / Tempo). Die zahlhafte Grundlage des klingenden Materials (einschließlich der verwendeten Stimmungssysteme) und der Form gibt auch der kompositorischen Tätigkeit einen anderen Sinn; an die Stelle der  – im europäischen Denken fast sakrosankten  – autonomen künstlerischen Inspiration tritt die Herausforderung, aus der Formel etwas Eigenes zu entwickeln. Ives öffnete mit diesem Werk einen Raum, den auch andere nordamerikanische Komponisten erforschten: außer Cowell und Cage auch Henry Brant, Lou Harrison, Harry Partch, James Tenney oder (in Kanada) R. Murray Schafer. Und auch die europäische Nachkriegsavantgarde  – Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Luciano Berio seien hier genannt  – widmete sich dieser Dialektik von Form(el) und Freiheit. Es gab jedoch einen gewichtigen Unterschied: Die Vertreter der amerikanischen Tradition des Experimentellen, die Ives mitbegründet hatte, strebten nicht  – oder zumindest nicht primär – danach, zu den Europäern in Konkurrenz zu treten. Den amerikanischen Komponisten ging es vielmehr darum, die Ä »Natur« des Klanges abzubilden, während die Europäer weitgehend an einem teleologischen Geschichtsverhältnis festzuhalten suchten. Komponisten, denen beide musikalische Kulturen vertraut waren (wie etwa Varèse oder Wolpe), gerieten dann schnell zwischen die Stühle und konnten zu Außenseitern erklärt oder abgestempelt werden. Auf der anderen Seite bildeten sich innerhalb der amerikanischen Avantgarde so zahlreiche Ansätze der Erforschung unbekannter klanglicher Welten, dass es keinen großen Sinn hätte, hier noch zwischen Haupt- und Nebenwegen unterscheiden zu wollen. Eine »Sezession der Sezession«, wie sie Anfang des 20. Jh.s in der europäischen Kultur beobachtet werden kann, ist der amerikanischen Vorstellung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der Phänomene fremd. 6. Asymmetrien Dennoch hatten viele amerikanischen Musiker und Komponisten die Vorstellung des eigenen Sonderwegs verinnerlicht und damit das komplementäre Bild eines Hauptwegs, der durch die europäische Musik vorgegeben sei. 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte Der erst nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend sich vollziehende Wandel dieses Bildes, der zu einer spektakulären Erweiterung des Wissens über die nordamerikanische Musik geführt hat, zeigt die Fragwürdigkeit dieser Sicht. Vergegenwärtigt man sich aber die heutige Präsenz amerikanischer Musik des 20. Jh.s auf europäischen Podien, so muss man nüchtern konstatieren, dass sie sich offenbar weder beim Publikum noch bei Intendanten und Interpreten durchgesetzt hat. So begegnet uns ein großer Teil des Œuvres von Komponisten der amerikanischen Moderne zwischen Aaron Copland und Carter nur höchst selten in Konzertprogrammen. Die Ausnahmen aber, unter denen einige den Status von Klassikern erlangt haben, fungieren möglicherweise als kulturelles Feigenblatt oder Repräsentanten des Amerikanischen schlechthin: so George Gershwins Porgy and Bess (1926–35) oder Bernsteins West Side Story (1957) im Bereich des Ä Musiktheaters, Ives ’ The Unanswered Question (1908/30–35), Samuel Barbers Adagio for Strings (1936) oder Philip Glass ’ Erstes Violinkonzert (1987) im Bereich der Instrumentalmusik. Von einer Gleichberechtigung der amerikanischen neben der europäischen Moderne, die das Stigma des Sonderwegs mildern oder sogar aufheben würde, kann im Konzertleben nicht die Rede sein. Dieses asymmetrische Verhältnis zwischen europäischer und amerikanischer Musik ist in den USA in ähnlicher Weise zu beobachten. In einem Land, in dem es eine staatlich subventionierte Musikpflege nur während der fünf Jahre der Ära des »New Deal« (1933–38) gab, bestimmt der Markt, was gespielt wird und sich durchsetzt – es sei denn, private Stiftungen oder Hochschulen springen in die Bresche. So tritt der Eindruck des weiterhin bestehenden Sonderwegs der amerikanischen Moderne in den USA noch deutlicher als in Europa zutage, denn in den amerikanischen Konzertsälen und Opernhäusern dominiert nach wie vor der europäische Kanon zwischen Bach und Mahler, Beethoven und Schostakowitsch, Mozarts Figaro und Bergs Lulu die Konzertprogramme und Spielpläne. Die Liste der Pulitzer-Preisträger für Musik seit 1943 zeigt indessen, dass die amerikanische Musik durchaus eine hohe öffentliche Wertschätzung genießt und sich in den ausgezeichneten Preisträgern auch die Entwicklung der amerikanischen Moderne abbildet: 1943 war William Schuman der erste Preisträger, 2015 Julia Wolfe die bislang letzte Preisträgerin – jener Vertreter einer akademisch geprägten, um die dauerhafte Etablierung einer nationalen Identität kämpfenden Generation, diese eine souverän zwischen allen stilistischen und musiksprachlichen Sphären mühelos wechselnde Repräsentantin des postmodernen Crossover. Als Ives 1947 für seine Dritte Sinfonie ausgezeichnet wurde, wurde ein Außenseiter gewürdigt, der 22 30 Jahre später zur nationalen Ikone der amerikanischen Moderne (v)erklärt wurde. Nicht anders ist die Verleihung des Pulitzer-Preises 2009 an Steve Reich für sein Double Sextet für Ensemble und Zuspiel-CD (2007) zu verstehen: Sie zeigt die Anerkennung einer Avantgarde, die zum Mainstream geworden ist, ohne offenbar ihre künstlerischen Prinzipien verraten zu müssen. Andere Preisträger waren John Adams und John Luther Adams, Samuel Barber (als bislang einziger Komponist zwei Mal, 1958 und 1963, ausgezeichnet), William Bolcom, Henry Brant, Elliott Carter, Ornette Coleman, Aaron Copland, George Crumb, Jacob Druckman, Lukas Foss, Peter Lieberson, George Rochberg, Roger Sessions, Gunther Schuller oder Charles Wuorinen. Freilich fehlen überraschenderweise einige jener Komponisten, die gerade aus europäischer Sicht die Physiognomie der amerikanischen Musik in besonderer Weise geschärft haben bzw. repräsentieren: Leonard Bernstein, John Cage, Morton Feldman, Philip Glass, Conlon Nancarrow, Harry Partch, Terry Riley oder Miles Davis. (Wäre es vorstellbar, dass La Monte Young den Pulitzer-Preis erhalten und ihn annehmen würde? John Zorn etwa wurde zweimal, 2000 und 2015, zum Finalisten nominiert, aber gewann nicht. Muss er noch warten, bis er zu einem Klassiker der Post-Avantgarde geworden ist?) Und auch die Zahl der ausgezeichneten Komponistinnen ist  – der so früh einsetzenden Emanzipation in den USA zum Trotz  – gering. Ruth Crawford Seeger (1900–53), zweifellos die bedeutendste Komponistin der ersten Jahrhunderthälfte, erfuhr aufgrund ihres tragisch frühen Todes und im Schatten ihres charismatischen Ehemanns Charles Seeger (1886–1979) sowie ihrer nicht minder berühmten (Stief-)Kinder Pete, Mike und Peggy Seeger erst eine späte posthume Anerkennung (Straus 1995). Es wäre spekulativ, solche »Lücken« als Beleg dafür zu nehmen, dass es recht genaue Vorstellungen in den Auswahlkomitees darüber gibt, was als genuin »amerikanisch« in der Musik zu gelten habe; die Popularität eines Komponisten scheint dabei eine gewisse, aber sicherlich nicht allein ausschlaggebende Rolle zu spielen. In den Entscheidungen für und gegen einen Namen schlägt sich vielmehr der stete Wandel ästhetischer Kriterien in der amerikanischen Musikgeschichte nieder, der seinerseits von der sozialen Spannung zwischen Establishment und Renegatentum gespeist wird. Der Maverick wäre dann, selbst in der Abwesenheit von den Pulitzer-Rängen, eine zentrale Figur der amerikanischen Musik, wie umgekehrt der Star zum Außenseiter werden kann  – wie es ausgerechnet Leonard Bernstein von sich glaubte. Äußerer Erfolg und innere Isolation werden dann zu zwei Seiten derselben Medaille, zu zwei Erscheinungsformen einer zutiefst gespaltenen Musikkultur (Key 2001). 23 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte 7. Musikalischer vs. konzeptioneller Amerikanismus Es ist bezeichnend, dass die Frage nach der Identität der amerikanischen Musik erst um 1900 – mehr als ein Jahrhundert nach der Unabhängigkeitserklärung  – virulent wurde, und zwar auch als Folge des Bürgerkriegs, der im Norden zu einem beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung führte. Dieser Aufschwung schuf eine schlagkräftige Infrastruktur des Musiklebens und bekräftigte das Selbstvertrauen in die eigene Kultur, das in der Philosophie und Literatur bereits eine Generation zuvor mit Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman manifest geworden war. Doch die Diskussion um die Standortbestimmung der amerikanischen Musik brachte zwei Lager hervor: die Verfechter eines »musikalischen« (d. h. ikonologisch im jeweiligen Werk identifizierbaren) Amerikanismus und diejenigen eines konzeptionellen (auf die Schaffung von Institutionen und Infrastrukturen des Musiklebens ausgerichteten) Amerikanismus (Zuck 1980). Während die einen die Identität auf einen musikalischen Substanzbegriff zurückführen wollten, der in der (vermeintlich) indigenen Volksmusik seinen Ursprung hätte, erblickte die andere Seite im Aufbau des Musiklebens die Lösung: Seine Institutionen – von der Elementarschule bis zur Universität, von der Blaskapelle der kleinen Provinzorte bis zum großen Sinfonieorchester der Metropolen – würden Musik unterschiedlicher stilistischer Provenienz fördern, solange sie in den USA entstand und der Konsolidierung der amerikanischen Kultur diente. Die musikalischen Amerikanisten operierten mit der positiven Vorstellung einer authentischen amerikanischen Musik, über die es sich nur zu verständigen gelte; die konstitutionellen Amerikanisten waren dagegen von der Sorge getrieben, dass die von ihnen erhoffte kulturelle Konsolidierung gerade durch den Bezug auf eine zwar indigene, aber »primitive« Musik bedroht sei; als »Yankee Blues« war diese Haltung bei Hauptvertretern der akademischen Musikszene um 1900 wie George Chadwick und Daniel Gregory Mason (dem einflussreichen Enkel Lowell Masons) weit verbreitet, und selbst Ives war von ihr nicht unberührt. An beiden Positionen werden die zentrifugalen Kräfte sichtbar, die dann den Aufbruch der musikalischen Moderne in den USA in Gang setzten. Denn der musikalische Amerikanismus setzte auf die ethnischen Musikkulturen, der konzeptionelle Amerikanismus auf europäische Werte. Dem entsprach in gewisser Weise die Spaltung zwischen den wirtschaftlich abgekoppelten Südstaaten, in denen sich vormoderne Musikpraktiken lange hielten (und zum Teil bis heute halten), und dem prosperierenden Norden bzw. Osten, der zum Motor permanenter kultureller Erneuerung wurde. Populäre und elitäre Kultur(en) traten dadurch in ein paradoxes Spannungsverhältnis von Koexistenz und Konkurrenz, das die Physiognomie der amerikanischen Musik bis weit ins 20. Jh. hinein als Versuch bestimmte, die Kluft zwischen »low« und »high« zu überwinden. Der verblüffende Erfolg von Frederic Rzewskis Variationszyklus für Klavier The People United Will Never Be Defeated! (1974), einem Hybrid von politischem Kampflied, Beethovens Diabelli-Variationen und PostAvantgardismus, erklärt sich nicht zuletzt dadurch. Das Populäre formierte sich aber nicht nur im Gegensatz von musikalischen Praktiken verschiedener Ethnien, aus denen der Ä »Jazz« als neues, zunächst afroamerikanisch dominiertes Phänomen hervorging, und der Pflege eines europäischen Werte- und Werkekanons durch die weiße Mittel- und Oberschicht in den großen Städten der Ostküste und des mittleren Westens. Tatsächlich gab es noch eine Reihe anderer Genres und Formationen, die zwischen den sozialen und musiksprachlichen Gegensätzen vermittelten: die Musik der Blaskapellen (an der Spitze die zu Weltruhm gelangte Band von John Philip Sousa), deren Repertoire unterhaltende und ernste Musik gleichermaßen umfasste und zur Verbreitung europäischer Klassik wesentlich beitrug; der Ragtime, dessen unmittelbare rhythmische Fasslichkeit (mit Wurzeln in der Synkopierung des scotch snap) mit einem komplexen und daher schriftlich fixierten Formenreichtum einherging; schließlich das populäre Musiktheater, allen voran am (New Yorker) Broadway, das von Anfang an auch die brennenden politischen und sozialen Probleme der amerikanischen Gesellschaft thematisierte. Im New Yorker Musikleben vor und nach dem Ersten Weltkrieg verdichtete sich das Spektrum der gesamten amerikanischen Musikszene brennspiegelartig: es war nicht nur ein Mikrokosmos des europäischen Musiklebens und aller Arten von Unterhaltungsmusik, sondern leitete auch die Institutionalisierung der experimentellen und Avantgarde-Bewegungen in der amerikanischen Musik ein. Mit der sog. »Ultramoderne« um Komponistinnen und Komponisten wie Henry Cowell, Charles Seeger, Ruth Crawford Seeger und Carl Ruggles trat erstmals eine Richtung auf den Plan, die in den 1920er Jahren als explizit amerikanische identifiziert und rezipiert wurde. (Tatsächlich war einer ihrer Initiatoren aber Varèse, der 1915 zusammen mit Marcel Duchamp aus Frankreich nach New York übersiedelt war.) So zeigt die New Yorker Situation exemplarisch die Schwierigkeiten, die Genese der musikalischen Moderne in den USA zu fassen: Sie entzieht sich nicht nur der eindeutigen Definition von Richtung und Ziel, sondern wird zudem noch durch die Berührungen mit der bildenden Kunst (Ä Neue Musik und bildende Kunst), der Fotografie und dem Ä Tanz in weitere Kontexte gerückt, die sich in der 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte Folgezeit intensivieren und differenzieren sollten. Cage hätte eine solche, Musikhistorikern eher unangenehme Gemengelage begrüßt, sah er doch in der Ambivalenz von Kunst – die damit zur Projektionsfläche unterschiedlichster Bedeutungszuweisungen wird – ihre größte Errungenschaft. 8. Akkulturationsphänomene Für die Deutung der amerikanischen Musikgeschichte ergibt sich die Möglichkeit, aus dem Zusammentreffen oder Zusammenprall heterogener kultureller Sphären wichtige Hinweise zur Herausbildung von Identitäten zu gewinnen, also im Phänomen der sog. Akkulturation die Figur einer longue durée zu entdecken, die für Historiker und Ethnologen gleichermaßen von höchstem Interesse ist. Die Akkulturationsforschung untersucht den Austausch und das Dritte, Neue, das sich aus dem (erzwungenen) Kontakt von Ethnien und Kulturen ergibt; die Grenze zwischen inneren und äußeren Faktoren, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wird durchlässig und schließlich beinahe unsichtbar. Der Sonderweg der amerikanischen Musik bestünde dann gerade nicht in der Konservierung einer angenommenen Ursprungskultur – allen voran die von den afrikanischen Sklaven in die Kolonien importierte und etablierte Musikpraxis –, sondern im wechselseitigen Austausch kultureller Praktiken. (Das gilt allerdings nicht für die Kultur der nordamerikanischen Indianer, den Ureinwohnern des Kontinents. Sie wurde weitgehend vernichtet, und alle Akkulturationsversuche waren zum Scheitern verurteilt; der Indianismus der amerikanischen Musik der Jahrhundertwende war ein idealistischer, aber hilfloser Versuch, das schlechte Gewissen zu beruhigen, leitete aber andererseits die wissenschaftliche Erforschung und Dokumentation der indianischen Musik ein.) Die Akkulturationstheorie vermag also eine ganze Reihe von Besonderheiten der amerikanischen Musik zu erklären und löst in gewisser Weise auch das Problem der Identitätsfrage, indem sie die Identitätsfindung zu einem offenen, per se unabschließbaren Prozess macht. Mindestens zwei ikonische Werke der amerikanischen Musik der zweiten Jahrhunderthälfte, Terry Rileys In C (1964) und Steve Reichs Tonbandstück It ’ s Gonna Rain (1965), lassen sich in diesem Sinn als Beispiele einer konzeptionellen Akkulturation bezeichnen. Rileys In C – bei dessen Uraufführung auch Reich mitwirkte  – ist für eine unbestimmte Anzahl von Ausführenden und beliebige Instrumente geschrieben. Die Partitur besteht aus einer fixierten Folge von 53 Phrasen unterschiedlicher Länge; jede Phrase kann beliebig wiederholt werden und jeder Ausführende kann selbst entscheiden, wann er zur nächsten Phrase weitergeht; Einschränkungen bzw. Ord- 24 nungselemente sind durch einen rhythmischen Puls gegeben, den ein Instrument übernimmt, und die Anweisung, dass die Spieler nicht mehr als 2–3 Phrasen auseinanderdriften dürfen; die Spieldauer kann zwischen mindestens 15 Minuten und mehreren Stunden liegen. Die Gesamtstruktur einer kontrollierten und kollektiv gesteuerten Ä Improvisation und einer heterophonen Entfaltung des Klangs lässt an eine Gruppenimprovisation denken, wie sie aus den »ring shouts« im Gospel bekannt ist. Musikgeschichtlich ist In C als eine der größten Provokationen der orthodoxen Zwölftönigkeit in den USA empfunden worden; Riley zeigte, dass der Rückbezug auf archaische, gleichwohl noch an vielen Orten lebendige Musikpraktiken ein weitaus größeres Echo auslöst als komplexe, aber häufig als Überforderung empfundene Partituren, die nur wenigen Ausführenden und Zuhörern zugänglich sind. In C kann auch von nicht-professionellen Spielern realisiert werden und ist offensichtlich nicht für ein ExpertenPublikum geschrieben; damit verwirklicht es radikal das Prinzip des »What you see is what you get«, denn kompositorische Struktur und erklingende Oberfläche sind identisch; zudem ist jede Aufführung unwiederholbar und einmalig. So gibt In C eine Antwort auf Milton Babbitts berühmt gewordenen Essay mit der ironischen Titelfrage Who Cares if You Listen? von 1958 und Elliott Carters resignativen Shop Talk by an American Composer von 1960. Babbitt hatte die Isolation des avancierten amerikanischen Komponisten von einer breiten Hörerschaft als unumkehrbar und befreiend empfunden (Babbitt 1958/2012). Carter befürchtete dagegen eine endgültige Atomisierung des Verhältnisses von Komponist und Hörer, während in der zeitgenössischen bildenden Kunst das Gegenteil beobachtet werden könne; der Komponist sei zwar »free, here, to do what he likes, of course, but it does not take him long to realize that whatever he chooses to do, radical or conservative, his music will further divide into small subgroups the handful of people who will listen to contemporary music at all. Not one of these small sub-groups has the power or the interest to convince the large public by publicity or other means of the validity of its opinions, as happens in the other arts here« (Carter 1960, 200 f.). Riley machte – jedenfalls dem Prinzip nach – seine Musik dagegen wieder einer größeren und breiteren Musiker- und Hörerschaft zugänglich. Die Stoßrichtung des Stücks war damit auch auf die Durchsetzung einer ästhetischen Demokratie gerichtet, die seit Ives ein Hauptziel amerikanischer Avantgarden war und ist. Im Lichte dieser Metapher ist In C sogar eine politische Manifestation, allerdings eine durch Esoterik verdeckte. Die Tonalität der 53 Phrasen lässt sich als klingendes Plädoyer für Offenheit hören: Das Stück kreist zwar um den Ton C, der zu Beginn erklingt, 25 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte aber es treten auch die der Obertonreihe entnommenen Töne fis und b hinzu (Bartóks »akustische Skala«), sodass sowohl eine modale wie eine dur-moll-tonale Deutung der Skalen denkbar ist. Das 1965 im San Francisco Tape Center entstandene Stück It ’ s Gonna Rain markierte Steve Reichs Übergang zu einer Kompositionstechnik mit Patterns (in diesem Fall durch gegeneinander geführte Tonbandschleifen erzeugt), die seitdem unter der – zunächst negativ konnotierten – Bezeichnung des Ä Minimalismus firmierte. Ein weltweites Echo löste erst die europäische Rezeption aus, als Reichs Werke Anfang der 1970er Jahre von westdeutschen Redakteuren neuer Musik vorgestellt und durch ihn und sein Ensemble bei der Deutschen Grammophon eingespielt wurden; die Reaktionen schwankten in Deutschland zwischen Enthusiasmus und Ablehnung. Auch Philip Glass ’ und Robert Wilsons Oper Einstein on the Beach (1975–76) hatte ihre Premiere in Europa, nämlich auf dem Festival d’Avignon; dies bezeugte einmal mehr, wie im Fall der zahlreichen Uraufführungen von Werken Cages in Deutschland, wie wichtig Europa als Sprungbrett amerikanischer Komponisten blieb. (Glass hatte zudem zu den letzten Schülern Nadia Boulangers am berühmten Conservatoire américain auf Schloss Fontainebleau gehört.) Durch die Phasenverschiebung in It ’ s Gonna Rain wurde der apokalyptische Gehalt des Textes – es handelt sich um die von Reich 1964 am Union Square in San Francisco aufgenommene Straßenpredigt des schwarzen, der Pfingstbewegung angehörenden Predigers Brother Walter, aus der man einen Bezug auf die Kubakrise, die die Welt an den Abgrund eines Atomkriegs gebracht hatte, herauslesen kann – als unmittelbare, geradezu physisch schmerzhafte Attacke hör- und erlebbar. Der konzeptionelle Hintergrund aber verweist auf einen kulturellen Austausch: Das spontane, unwiederholbare und auf der Straße stattfindende Ereignis, zugleich die Ursituation der Predigt, wird durch das Loop-Verfahren in den Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum einer medial und technisch hochgerüsteten Zivilisation übernommen  – und umgekehrt tritt damit auch der magische, ersatzreligiöse Zug der Technik umso stärker hervor. Im Fortgang des 17-minütigen Stücks verliert die Predigt als Aussage ihre Identität, während ihr musikalischer Kern, der im Sprechgesang angelegt ist, umso klarer hervortritt. (Insofern wurde dieses Stück auch zum Vorbild für Alvin Luciers I Am Sitting in a Room, 1969, dessen Selbstbezüglichkeit freilich jede politische Implikation vermeidet.) Im Prozess der Akkulturation wird aber auch ein struktureller Wandel vollzogen, den man entweder als Nobilitierung oder aber als Entfremdung fassen könnte: Dem Verlust der Mündlichkeit und Einmaligkeit steht nun ein beliebig oft wie- derholbares, auf einer genauen (d. h. schriftlich fixierten) Strategie basierendes Artefakt gegenüber. Der Übergang von der Mündlichkeit zur (beliebigen) Reproduzierbarkeit durch Aufzeichnungssysteme ist demnach ein »europäisches« Phänomen. Doch im Hinblick auf die vergleichbare Problematik bei Ives, der diesen Übergang als enormen, wenn auch unvermeidlichen Verlust eines Geburtsrechts empfand, und angesichts von Reichs konsequenter Verschmelzung von Sprache und Musik in späteren Werken ließe sich auch argumentieren, dass die Patterntechnik so viel wie möglich von der ursprünglichen Qualität des gesprochenen (oder gesungenen) Wortes beibehalten will. Reich verfolgte diesen Zusammenhang in seinen Werken ab den 1980er Jahren weiter, nun aber unter dezidiert religiös-autobiographischen und zivilisationskritischen Vorzeichen (so in den Video-Opern The Cave, 1989–93, und Three Tales, 1997–2002); dabei machte er sich auch den technischen Fortschritt zunutze, der ihm ermöglichte, Stimmen zu verlangsamen, ohne ihre Tonhöhe ändern zu müssen. 9. Technologie(n) Reichs Loop-Verfahren und Stimm-Manipulationen werfen ein helles Licht auf die eminente Bedeutung von Technologien für die Entwicklung und das Selbstverständnis der experimentellen und avantgardistischen Richtungen der nordamerikanischen Musik im 20. Jh., die William Brooks eindrucksvoll nachgezeichnet hat (Brooks 2006, 332–353). Auch hieran zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied zu Europa, denn wenngleich auch dort der technische Fortschritt mit Macht im 19. Jh. einsetzte, waren seine Auswirkungen auf die Kompositionsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jh.s deutlich geringer als in den USA: Die Geräuschinstrumente des Futurismus fanden keinen dauerhaften Eingang in die Klangwelt der neuen Musik Europas, während George Antheil mit dem Ballet mécanique 1925 in Paris demonstrierte, wie sich Flugzeugmotoren, Klaviere und Schlagzeug zu einer überwältigenden auralen Erfahrung bündeln ließen. Von hier aus zieht sich eine kontinuierliche Linie der Verwendung elektronischer Instrumente durch die amerikanische Musikgeschichte, und zwar auch über die Grenzen von experimenteller und populärer Musik hinweg. Frank Zappa glaubte sich kurz vor seinem Tod am Ziel seiner künstlerischen Ambitionen, als er mit dem Synclavier ein kompositorisches Instrument (im doppelten Sinn des Wortes) in Händen hielt, mit dem sich ein beliebiger Grad an Komplexität erzeugen ließ, ohne auf die Grenzen menschlicher Interpreten Rücksicht nehmen zu müssen (Meyer 2010). Technische Innovationen hatten das aufstrebende amerikanische Musikleben nach dem Bürgerkrieg konti- 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte nuierlich begleitet und schon vor dem Ersten Weltkrieg eine weitverzweigte Musikindustrie mit einer breiten Medienpalette (Notendrucke, Klavierrollen, Schellackplatten) hervorgebracht: 1877 hatte Thomas Edison den Phonographen patentieren lassen, mit dem erstmals Schall aufgenommen und wiedergegeben werden konnte, 1895 folgte mit dem von seinem Ingenieur William Dickson konstruierten Kinetographen das Gegenstück für die Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder; zudem hatte Edison 1893 das erste kommerzielle Filmstudio, die »Black Maria«, in New Jersey eröffnet. 1887 hatte der deutschamerikanische Erfinder Emil Berliner in den USA die erste Schallplatte vorgestellt, 1896 präsentierte die Firma Wurlitzer mit dem Tonophon das erste münzbetriebene Klavier der Welt. Ein Jahr später trat Thaddeus Cahill in Washington mit dem Tellharmonium, einer zimmergroßen, 200 Tonnen schweren Apparatur an die Öffentlichkeit; das Gerät war der Prototyp eines elektronischen Klangerzeugers, dessen Sinusklänge per Telefon an angeschlossene Haushalte übertragen werden konnten. (Busoni verwies in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1907/16 enthusiastisch auf diese Erfindung, von der er sich den Zugang in die Welt der Mikrotonalität erhoffte.) Der Tonfilm war zwar keine amerikanische Entwicklung, feierte aber mit dem amerikanischen Film The Jazz Singer, der 1927 mit Al Jolson von den Warner Brothers produziert wurde, seinen Durchbruch. Der Stellenwert technischer Verfahren und die Verwendung elektrischer (bzw. nicht-akustischer) Instrumente war nach 1918 ohnehin gestiegen, als in den USA das sog. MaschinenZeitalter (»Machine Age«) anbrach, in dem industrielle, für den alltäglichen Konsum gefertigte Gegenstände als Design-Objekte auch das Interesse der Kunst auf sich zogen und die Formel des »form follows function« auch zu einer maßgeblichen ästhetischen Devise wurde. Varèse hatte bereits 1918–19 in seinem Orchesterstück Amériques technische Geräte wie die Schiffssirene oder das Nebelhorn zur Charakterisierung der Neuen Welt eingesetzt: Ihre Klänge waren mehr als eine »couleur locale«, sondern kündeten von einem neuen Zeitalter der Ä Wahrnehmung, in dem Alltagsgeräusche nicht mehr diskriminiert, sondern als Teil eines unendlich weiten und differenzierten akustischen Kosmos akzeptiert wurden. Henry Cowell schließlich regte den russischen Erfinder Leon Theremin, der 1920 das gleichnamige elektronische Instrument in Russland vorgeführt hatte und es sieben Jahr später – nun als Emigrant – in den USA patentieren ließ, dazu an, ein weiteres Gerät zur Darstellung komplexer irrationaler Rhythmen zu konzipieren, das sog. Rhythmicon; Ives plante dessen Einsatz in seiner Vierten Sinfonie, und auch der komplexe rhythmische Unterbau der unvoll- 26 endet gebliebenen Universe Symphony ist möglicherweise von diesen neuen Möglichkeiten inspiriert. Von hier aus – und über die wichtige Etappe der ersten rein perkussiven Komposition, Varèses Ionisation (1929–31)  – war es ein folgerichtiger Schritt, eine vollständige Emanzipation nicht nur des Ä Geräuschs, sondern auch der elektronischen Klänge zu verkünden (Ä Themen-Beiträge 4, 5). Es war Cage, der ihn um 1940 wagte: In seinem Vortrag The Future of Music: Credo, den er während seiner Zeit als Lehrer an der 1914 gegründeten Cornish School of the Arts in Seattle (einer federführenden Institution der interdisziplinären Zusammenführung der Künste) hielt, proklamierte er: »I believe that the use of noise to make music will continue and increase until we reach a music produced through the aid of electronic instruments« (Cage 1938– 40/78, 3 f.). Zwar wurde der Vortrag erst 1958 anlässlich seines 25-jährigem Künstlerjubiläum – das er mit einem skandalträchtigen, als Mitschnitt festgehaltenen Konzert in der New Yorker Town Hall feierte  – veröffentlicht, aber Cages Intentionen schlugen sich unmittelbar in Kompositionen wie der Serie der Imaginary Landscapes No. 1 (1939) bis No. 5 (1952) nieder, deren Titel Cage als Vorgriff auf eine klangliche Landschaft der Zukunft verstand. Zu den akustischen Instrumenten (Klaviere und Schlagzeug) treten Schallplattenspieler und Radios hinzu, die als Abspielgeräte zugleich »Instrumente« sui generis sind und damit die spätere Akusmatik vorwegnehmen, da die Quellen der von ihnen produzierten Klänge nicht sichtbar und auch stellenweise nicht identifizierbar sind (Straebel 2012) (Ä Elektronische Musik). In Credo in US (1942), einer Musik zu einer Choreographie von Merce Cunningham und Jean Erdman, treten zu einem Klavier, dessen Hämmer mit Reißzwecken präpariert sind, ebenfalls Schallplattenspieler hinzu, die nun aber Aufnahmen mit Musik des europäischen Kanons – u. a. ausgerechnet Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen Welt! – abspielen; hier ist die ironische Funktion der Gegenüberstellung von Technik und Kunst offensichtlich. In den Sonatas and Interludes for Prepared Piano (1946–48) verzichtet Cage zwar auf elektronische Mittel, doch stimmen der Tonort auf der Tastatur und die dort erzeugte Tonhöhe der Saite nicht mehr überein; das verblüffende Resulat der Entkopplung ist ein gleichsam ortloser Zwitter zwischen Klang und Geräusch. Den meisten dieser Werke liegen kompositorische Verfahrensweisen zugrunde, die Cage von seinem Lehrer Cowell gelernt hatte, so eine »square root form«, bei der die Längenverhältnisse der Tondauern auf die Längenverhältnisse von Phrasen und dann weiter auf die von Abschnitten übertragen werden (Emmerik 2009). So entsteht eine Identität von Mikro- und Makroform, aber auch eine konsequente Beziehung von Methode, Ä Struktur und 27 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte Ä Form, die Cage später auch bei seinen indeterminierten Werken beibehalten sollte (Ä Zufall). In Cages Mailänder Realisierung der graphischen, aus einem Abschnitt des Concert for Piano and Orchestra (1957–58) hervorgegangenen Partitur Fontana Mix (1958), für zwei Magnettonbänder kulminieren dann beide Seiten von »Technik« (der kompositorischen und der auf elektrischen Klängen bzw. Trägermedien beruhenden) und verschmelzen zu einer akustischen Phantasie, in der Konzeption und Rezeption nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Den Höhepunkt dieses Ansatzes – mit dem sich Cage auf der Seite des Ergebnisses, d. h. der Ä Wahrnehmung durch den Hörer, radikal von der europäischen Tradition (und damit von den Prämissen seines anderen Lehrers Arnold Schönberg) verabschiedete  – bildeten dann wenige Jahre später, gewissermaßen als Gegenstück zu 4'33" (1952), die Variations IV (1963) »for any number of players, any sounds or combinations of sounds produced by any means, with or without other activities« (Nicholls 2002, 107), die zudem überall aufgeführt werden können. Die hier mögliche totale Integration beliebiger Klänge führt folgerichtig zur totalen akustischen Freiheit (oder Anarchie): Danach wird – und auch dies ist eine Konsequenz aus 4'33"  – der Unterschied zwischen künstlich und absichtlich erzeugten Klängen und zufälligen Geräuschen der Umwelt hinfällig (Ä Themen-Beitrag 3, 1.1), Kunst und Leben gehen also ineinander über. Nicht zufällig bewegt sich eine der berühmtesten Anekdoten Cages genau in diesem Kontext: Er habe, so berichtete er, um 1950 in einer Echokammer an der Harvard-Universität festgestellt, dass es absolute Stille nicht gebe, sondern man immer noch zwei Geräusche bzw. Klänge höre: das Sirren des Nervensystems (faktisch wohl eher ein Tinnitusgeräusch) und das Rauschen des Blutdrucks (Revill 1992, 152 f.) Man kann eine solche Extremposition als Endpunkt, nämlich als Negation jeglichen Kunstanspruchs deuten – wie es Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Cage in seinem Darmstädter Vortrag Vers une musique informelle tat (Adorno 1962/88, 533) – oder aber umgekehrt als Ausgangspunkt des Versuchs, das Verhältnis von Technologie und Kunst systematisch zu klären. In der amerikanischen Experimentalmusik nach Cage haben Komponisten wie Alvin Lucier und Alvin Curran diesen Weg weiter beschritten und damit auch den menschlichen Körper als ein Instrument besonderer Art entdeckt. Luciers I Am Sitting in a Room für Stimme, Tonband und Raumakustik (1969) ist – zu Recht – deshalb berühmt geworden, weil es zeigt, welche paradoxen Dimensionen der so simpel und vertraut erscheinenden Situation einer Aufnahmesitzung innewohnen: Nimmt man die Aufnahme des von einer menschlichen Stimme vorgetragenen Satzes (der nichts anderes als diese Prozedur beschreibt) noch einmal auf und wiederholt diesen Vorgang tendenziell unendlich oft, so treten in dem Maße die Eigenschaften des Raumes hervor, wie diejenigen der Stimme und damit der Erkennbarkeit des Gesagten schwächer werden und sich schließlich in ein ätherisches Summen verwandeln (Ä Medien, Ä Sprache / Sprachkomposition). Das, was wir  – mithilfe der Technik  – hören, ist ein akustischer Abdruck des Raumes, nicht mehr und nicht weniger. Darin waltet eine eigentümliche Dialektik: Die akustische »Verunreinigung« der Stimme, die der technische Prozess der Aufnahmeschleife auslöst, führt zu einem umso höheren Grad an »Reinheit« des entstehenden Klangs. Lucier hat mit diesem Stück, das sich durch seine Einfachheit, Direktheit und Determiniertheit von den komplexen Tonbandstücken Cages denkbar weit entfernt, auch ein konstruktivistisches Grundproblem thematisiert, das die bildnerischen und skulpturalen Werke der amerikanischen Minimal Art der 1960er Jahre beherrschte. Danach können der Akt der Wahrnehmung durch das Subjekt und das betrachtete Kunstwerk, das Objekt, nicht wirklich voneinander geschieden werden, sodass in jedem Akt der Wahrnehmung auch eine Selbstwahrnehmung und darüber hinaus deren Reflexion liegt (Ä Wahrnehmung, 3.2). »Reine Kunst« gibt es, wie Donald Judd einmal feststellte, in diesem Sinne nicht (Judd 1983/98, 83 f.). In anderer Weise zog La Monte Young für die Musik aus dieser grundsätzlichen Einsicht die Konsequenz, auf Narration gänzlich zu verzichten und stattdessen Liegetöne (»drones«) – in Kombination mit Farbwirkungen, die er seit ca. 1966 in seinem Dream House-Projekt verwirklichte – zu verwenden, die den Hörer immer wieder auf sich selbst zurückwerfen. Die psychoakustischen Phänomene, auf die minimalistische Kompositionen zielen, treten so gewissermaßen den Beweis an, dass die Kontrolle des kompositorischen Prozesses eine Illusion ist und es um etwas ganz Anderes – etwa eine mystische Zeiterfahrung (Herzfeld 2007) – geht (Ä Zeit, 2.3). Aber während bei Cage das unvorhersehbare bzw. -hörbare Ergebnis einer genau geplanten Strategie ist, ergeben sich die psychoakustischen Phänomene hier allein im Kopf des Hörers und damit, wie Steve Reich in seinem Manifest Music as a Gradual Process (1968) schrieb, als Erfahrung eines »particular liberating and impersonal kind of ritual. Focusing in on the musical process makes possible the shift of attention away from he and she and you and me outward toward it« (Reich 1968/2002, 36). 10. Europa und USA Die amerikanische Rezeption europäischer Musik beleuchtet bis weit in die Mitte des 20. Jh.s hinein, wie stark 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte deren Traditionen und Kategorien verinnerlicht wurden. Ihr Gattungs- und Formenkanon galt als Norm, und zwar nicht nur bei einer zu Wohlstand gelangten Mittel- und Oberschicht an der Ostküste, die nach kultureller Identifikation mit bewährten bürgerlichen Werten suchte, sondern auch bei den in den USA geborenen Komponisten und Musikern selbst. Diese Identifikation war fast unausweichlich, denn es waren vor allem deutsche Musiker – wie die Dirigenten Theodore Thomas und Leopold Damrosch sowie seine Söhne Walter und Frank –, die das Konzertrepertoire entsprechend prägten, wobei immer auch ethische, pädagogische oder (wie im Falle von Frank Damrosch, der 1894 in New York die People ’ s Choral Union ins Leben rief ) sozialreformerische Ziele mit hineinspielten. So vollzog sich die Sozialisation amerikanischer Komponisten bis weit in das 20. Jh. als ein von Europa dominiertes, und zwar entweder als reale Ausbildung in Europa oder über ein nach europäischem Muster gestaltetes Curriculum an einem heimischen Konservatorium. Die künstlerische Biographie des in Massachusetts geborenen George Chadwick (1854–1931) vereinte beide Wege: Nach seinem Studium, das er in Leipzig und München absolviert hatte, wurde er zunächst Dozent am New England Conservatory in Boston, das er ab 1897, nach seiner Wahl als dessen Präsident, nach dem Vorbild des Leipziger Lehrplans zu einer führenden Ausbildungsinstitution umbaute. Und der Strom der Einwanderer riss nicht ab, wie Daniel Gregory Mason 1928 in seinem Essay The Dilemma of American Music beklagte: »Since 1914 musicians of every country on earth have flowed in upon us in an unending stream. The music of the whole world has battered our ears. […] How could we hope to stand against such a flood? What was there for us to do but open our mouths and shut our eyes, and try to swallow as much of it all as we could without drowning? Too much passive reception, too little self-realising activity – that had always been the characteristic danger of our situation« (Mason 1928, 11). Masons Sorge vor einer ausländischen »Überfremdung« und die folgende Selbstanklage  – ironischerweise in sicherer Distanz von der Wahlheimat Italien aus geäußert  – ist typisch für die paradoxe Situation einer Generation weißer akademischer Komponisten der Jahrhundertwende, die einerseits in der europäischen Klassik und Romantik einen unverrückbaren moralischen Maßstab sah, andererseits aber unter Einflussangst litt. Trotz seiner öffentlichen Autorität konnte Mason nicht verhindern, dass nun (osteuropäische) Einwanderer wie Leo Ornstein (1893–2002) die New Yorker Musikszene mit Stücken eroberten, deren »ultramoderne« Physiognomie mit klanglichen und rhythmischen Extravaganzen sowie entsprechenden provozierenden Sujets (unter denen Orn- 28 steins Klavierstück Suicide in an Airplane, 1918, besonders Furore machte) eine ganz andere Form der Identifikation mit amerikanischen Lebenswelten suchte und fand. Auch die statische Klangwelt der frühen, vom Symbolismus durchdrungenen Kompositionen von Dane Rudhyar (1895–1985) – er übersiedelte 1917 unter seinem ursprünglichen Namen Daniel Chennevière aus Frankreich nach New York und wurde später zu einem der bedeutendsten Astrologen der USA – passte kaum zu den Erwartungen, die Mason an eine mehrheitsfähige amerikanische Musik der Gegenwart hatte (Ä Themen-Beitrag 3, 2.1). Die Vorstellung, dass Rudhyar in gewisser Weise einen Musikbegriff der »Losigkeit« (des Subjekts) oder Absichtslosigkeit antizipierte, wie ihn seit Ende der 1950er Jahre La Monte Young und Morton Feldman entwickelten, hätte Mason wohl als Horrorvision empfunden. Tatsächlich ist Rudhyars Musik ein eindringliches Beispiel für die verblüffende Wirksamkeit von Kontextualisierungen: In dem Moment, als sie auf nordamerikanischem Boden komponiert wurde oder auch nur erklang, war sie zu einem Teil der amerikanischen Musikgeschichte geworden  – ohne auch nur im entferntesten sich der eindeutigen Codes des Nationalen zu bedienen, wie dies etwa zeitgleich Aaron Copland tat. Dieser war umgekehrt von den USA nach Frankreich zum Studium bei Nadia Boulanger aufgebrochen, um sich von der Dominanz der deutschen Musiktheorie zu lösen (die ihm Ruby Goldmark vermittelt hatte, der seinerseits Dvořáks Assistent in den USA gewesen war) und eine eigene ästhetische Position zu finden: Er bestimmte sie dann zunächst als hybride Verbindung von Strawinskyschem Neoklassizismus und den vorherrschenden Idiomen des frühen Jazz, insbesondere dem Ragtime. Die vehemente öffentliche Reaktion auf frühe Werke wie die Music for the Theatre für Kammerorchester (1925) oder das Piano Concerto (1926)  – die beide im Auftrag Serge Koussevitzkys, dem Leiter des Boston Symphony Orchestra, entstanden  – zeigte Copland, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Aber er verließ diesen Weg schon 1930 wieder mit den Piano Variations, deren thematisch-motivische Ökonomie sich an Schönberg orientiert (ohne zwölftönig zu sein), um dann mit dem Anbruch des New Deal 1933 einen erneuten Richtungswechsel zu unternehmen. Mit ihm setzte sich Copland an die Spitze einer dezidiert »national« argumentierenden jüngeren Komponistengeneration, welche die Frage der amerikanischen Musik ein für allemal durch eine Verbindung von eindeutig identifizierbaren Idiomen der nordamerikanischen Folklore mit der Orientierung am Geschmack eines als sozial homogen gedachten Publikums zu lösen und damit auch die Spaltung zwischen musikalischem und konzeptionellem Amerikanismus zu überwinden hoffte. 29 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte 11. Jazz: Der amerikanische Sonderweg par excellence? Allein der Ä Jazz, so scheint es, stemmte sich der europäischen Dominanz entgegen: Durch die Potenzialität seines Tonsystems, die Freiheit seiner Rhythmik und die Praxis der (kontrollierten) Improvisation bot er die einzige Alternative zum europäischen Werkbegriff, der wesentlich auf schriftlich fixierten Strukturen basiert und dessen geistige Substanz  – Schönbergs »musikalischer Gedanke« – von der klanglichen Ausführung sogar völlig unberührt bleibt. Betrachtet man jedoch den Akt der Aufführung als wesentlich und die kompositorische Struktur als bloßen Ausgangspunkt oder Rahmen, ändert sich die Perspektive entscheidend: Es gibt kein Werk mehr jenseits der unwiederholbaren, einmaligen Aufführung (Ä Interpretation). Damit antizipiert der Jazz bereits das Konzept der Ä Performance, in der dann allerdings die situationsbezogene Handlung eines Akteurs (Performer) selber zum musikalischen Ereignis werden kann, und entsprechend die Partitur lediglich eine Handlungsanweisung ist. Diese Grundfigur der amerikanischen Musik, die sich (weit vor der Entstehung des Jazz) auf bestimmte afrikanische und dann afroamerikanische Formen des rituellen gemeinschaftlichen Musizierens zurückführen lässt, von einer europäischen Warte aus als »Sonderweg« zu bezeichnen, wäre ebenso absurd wie überheblich. Eher umgekehrt ließe sich sagen, dass nur der Jazz der europäischen Entwicklung zur fetischhaften Verabsolutierung der schriftlich fixierten Komposition einen entschiedenen Einhalt bot. Wie fundamental diese Alternative empfunden wurde, kann man an dem Schritt von Charles Ives sehen, die Mündlichkeit als ein work in progress in ein schriftliches Konzept zu integrieren und dadurch ein Drittes zu schaffen, oder an dem überwältigenden Echo, das Gershwins Rhapsody in Blue (1923–24) durch ihre Synthese von offenen, quasi-improvisatorischen Elementen und geschlossenen, d. h. vertrauten formalen Schemata auslöste. Auch die europäischen Protagonisten der neuen Musik und des Neoklassizismus der 1920er Jahre reagierten heftig darauf. Doch für sie ging es mehr um die Adaptation eines Ä Stils (und die Imitation eines Lebensgefühls), nicht um ein grundsätzliches Verlassen des bisherigen Wegs (Danuser 2003). In den USA wurde die Durchlässigkeit dagegen konstitutiv. So nahm ab ca. 1960 der Free Jazz auf die Genese des Minimalimus starken und anhaltenden Einfluss. Als Gunther Schuller um 1961 den »Third Stream« ausrief (Schuller 1961/86), also für eine Verbindung und Auflösung der Gegensätze plädierte, bezog er sich auf bestimmte Tendenzen sowohl in der amerikanischen Big Band-Tradition wie im Bereich der europäischen klassischen Ä Moderne: Duke Ellington hatte 1943 mit Black, Brown, and Beige den heute naiv anmutenden Versuch unternommen, das weiße Publikum mit einer sinfonischen Konzeption davon zu überzeugen, dass auch Afroamerikaner »wertvolle« Musik zu schreiben in der Lage wären; Strawinsky hatte schon Ende des Ersten Weltkriegs im Ragtime pour onze instruments (1918) und der Piano-RagMusic (1919), dann in den USA mit dem Ebony Concerto für Klarinette und Orchester (1946) seine eigenwillige Auseinandersetzung mit dem Jazz betrieben; und Darius Milhaud (La Création du Monde für Kammerorchester, 1923), Arthur Honegger (Concertino pour Piano et Orchestre, 1924) und Maurice Ravel (u. a. mit dem Blues seiner Zweiten Violinsonate, 1923–1927) hatten demonstriert, wie gut sich Jazz-Idiome als lokale Farben integrieren ließen. War der »Third Stream« also historisch, vielleicht sogar geschichtsphilosophisch legitimiert? Immerhin hatte Bernd Alois Zimmermann 1954 mit dem Konzert Nobody knows de trouble I see für Trompete, Jazzband und Sinfonieorchester eine metaphysische Überhöhung des Jazz und des afroamerikanischen Spirituals unternommen, die bis heute eine Sonderstellung innerhalb seines Werks wie der Musikgeschichte der 1950er Jahre einnimmt. Aber Schullers Forderung haftete auch das unkalkulierbare Risiko einer ästhetischen Herr-und-Knecht-Situation an: Es war kaum auszumachen, wer hier zu wessen »Diener« wurde, ob also nicht die alte Asymmetrie der unterlegenen amerikanischen Musik wieder in Kraft gesetzt würde. Die Versuche, eine Balance herzustellen – genannt seien hier Bernsteins Prelude, Fugue, and Riffs (1949) oder zwanzig Jahre später William Russos Three Pieces for Bluesband and Orchestra (1968) –, erwiesen sich als schwierig: Bernsteins Stück leidet unter der Paradoxie des ausnotierten Jazz, der jegliche Spontaneität unterbindet, während Russos kühne Verbindung abstrakter Zwölftonthemen im Sinfonieorchester mit einem authentischen, »dreckigen« Blues-Sound unvermeidlich dem stilistischen Altern ausgesetzt ist und außerhalb seines ursprünglichen, auch stark politisch determinierten Kontextes fast wie eine Parodie klingt. Zahllose weitere Crossover-Stücke, die in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auf beiden Seiten des Atlantiks komponiert worden sind, weisen ähnliche Probleme auf. Eher waren es hier die radikalen Lösungen innerhalb des Jazz wie Ornette Colemans Skies of America (1976) oder Miles Davis ’ Trilogie der Alben bzw. Konzerte Dark Magus, Agharta und Pangaea (1974–75), die demonstrierten, dass die Weiterentwicklung bzw. Übernahme bestimmter harmonischer oder formaler Modelle der Avantgarde zu wegweisenden künstlerischen Lösungen führen konnte. Faszinierend ist festzustellen, dass Cole- 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte mans musiktheoretisches Konzept der »harmolodics«  – eine Art gesteuerter Heterophonie, die durch eine variable Schlüsselung verschiedene diastematische bzw. harmonische Lesarten zulässt (Wilson 1989, 67)  – sein Gegenstück in bestimmten Werken Earle Browns und Christian Wolffs hat, die auch auf die Schlüsselung verzichten bzw. durch Rotation des Notenblatts um 180 Grad ebenfalls alternative Lesarten erlauben (Ä Notation). 12. »Pulverisierung« des Vertrauten: Das Vermächtnis der New York School Vergegenwärtigt man sich die Positionen von Cage aus dem Jahr 1940 und von Reich aus dem Jahr 1968, so scheint sich innerhalb einer Generation der amerikanischen Musik ein dramatischer Wandel vollzogen zu haben: Was bei Cage noch eine Auflehnung gegen die als universal empfundene Vorherrschaft stillschweigender Prämissen eines – aus seiner Sicht –auf den Vollzug bestimmter satztechnischer Prozeduren verengten Musikbegriffs deutscher Provenienz war (zu der er auch die Zwölftontechnik Schönbergs rechnete, die er nicht mehr motivisch-thematisch, sondern als akustischen »pitch set« einsetzte), wurde bei Reich (und damit auch bei Riley, Glass und später Adams) zu einer universalen, psychologisch und anthropologisch fundierten Haltung, die am Ende jedoch paradoxerweise geradezu »klassische« Werke (Reichs geistliche Kompositionen, Glass ’ Violinkonzerte und Sinfonien, Adams ’ Opern und Oratorien) hervorbrachte. Doch der frühe Minimalismus hatte sich, ähnlich wie Cage, der Aufgabe gewidmet, das Primat der Strukturbeherrschung zu brechen, das für die europäische Ä serielle Musik  – und auch für die akademischen Vertreter der amerikanischen Avantgarde – nach 1950 typisch war. War damit also eine Emanzipation der nordamerikanischen Musik eingeleitet? Die europäische Rezeption der Musik Cages nach 1945, schon früh eines der berühmtesten und inzwischen gründlich erforschten Kapitel der neueren Musikgeschichte, legt eine eindeutig bejahende Antwort auf diese Frage nahe. Man erwartete in Darmstadt einen Avantgardisten nach europäischem Vorbild; stattdessen kam ein Experimentator, dessen »Sonderweg« mit einer Mischung aus Erstaunen und Fassungslosigkeit zur Kenntnis genommen wurde (Iddon 2013). Wie sein Lehrer Cowell, der in seinem 1930 veröffentlichten (aber schon 1919 fertiggestellten) Buch New Musical Resources einen ebenso kühnen wie pragmatischen, letztlich auf dem einzigen Argument (und zwar der Rückführung sämtlicher musikalischer Strukturen auf die Zahlenverhältnisse der Obertonreihe) basierenden Vorschlag zu einer radikalen, als Befreiung gedachten Reduktion der kompositorischen Handlungen machte (Cowell 1930/96), revolutionierte Cage mit auf den 30 Prinzipien der Indetermination beruhenden »Werken« wie dem Concert for Piano and Orchestra alle bislang gewohnten Beziehungen zwischen kompositorischem Verfahren und klanglichem Ergebnis. In seinem Artikel History of Experimental Music in the United States, den er 1959 in den Darmstädter Beiträgen zur Neuen Musik veröffentlichte, bezog Cage deutlich Stellung gegen jene (vorherrschenden) europäischen und amerikanischen Avantgarden, die aus seiner Sicht lediglich an den alten Problemstellungen einer immer weiteren Verdichtung der Ebenen von Vertikale und Horizontale weiterkomponierten (Cage 1959/78). Sein Beitrag blickte bereits auf einen Bruch zurück, der sich seit 1950 angedeutet hatte und sich nun auch innerhalb der amerikanischen Szene vollzog: nämlich zwischen dem akademischen Establishment der Modernisten und den Vertretern der »experimental tradition«, die sich daran machten, den Begriff dessen, was Musik sei, neu zu überdenken. Während die akademische Tradition die von Schönberg und Strawinsky vorgegebenen Wege der Ausdifferenzierung der Ä Zwölftontechnik und der aus ihr resultierenden Permutationstechniken für die Organisation von Tonhöhen und zunehmend auch Tondauern ausschritt (und zwar auch mithilfe elektronischer Mittel), formierte sich auf der anderen Seite eine Gruppe der jungen New Yorker Komponisten Earle Brown, Morton Feldman und Christian Wolff; zusammen mit Cage, der als eine Art primus inter pares agierte, und dem Pianisten David Tudor machten sie sich daran, den letzten »Klebstoff« zwischen den Tönen zu entfernen – so soll es Henry Cowell nach einem Konzert der für kurze Zeit unter dem Namen New York School of Composers firmierenden Gruppe formuliert haben, wie Cage in dem erwähnten Beitrag schreibt (Cage 1959/78, 71; vgl. Johnson 2002, 21). Cowells Metapher lässt sich in zwei Richtungen deuten, einer musikgeschichtlichen und einer allgemeinen. Die erste Deutung verweist auf die Idee eines Nullpunkts, einer »tabula rasa«, wie sie im selben Zeitraum Karlheinz Stockhausen formulierte, als er 1953 meinte, dass »selten eine Komponistengeneration so viele Chancen hatte und zu solch glücklichem Augenblicken geboren wurde wie die jetzige: Die ›Städte sind radiert‹, und man kann von Grund auf neu anfangen ohne Rücksicht auf Ruinen und ›geschmacklose‹ Überreste« (Stockhausen 1953/63, 48). Stockhausens zynisch anmutende, offensichtlich von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs geprägte Diagnose ist nur dann verständlich (bzw. erträglich), wenn man sie als Abwehr einer übermächtigen Tradition liest, gegen die freilich eine neue Meister-Erzählung etabliert wird. Cowell  – und mit ihm die New York School  – zielte demgegenüber auf etwas, was Morton Feldman 1964 in dem 31 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte Essay A Life without Bach and Beethoven auf den Punkt brachte. Nachdem er auf Stockhausens »gargantuan eclecticism« anspielte, mit dem dieser von »fragmentary literary reminiscences of the past to the eschatological regions of La Monte Young« alles gleichermaßen rigide seinem totalisierenden Anspruch unterwerfe, beendete er den Text mit folgendem Bekenntnis: »If I want my music to demonstrate anything, it is that ›nature and human nature are one‹. Unlike Stockhausen, I don ’ t feel called upon to forcefully ›mediate‹ between the two. Stockhausen believes in Hegel, I believe in God. It is as simple as that« (Feldman 1964/2000, 17 f.). Dass Natur und menschliche Natur eins seien, spielt auf Spinozas Vorstellung an, Gott als eine mit sich selbst identische und unendliche Substanz zu denken (»natura naturans«) und alles, was aus ihren Eigenschaften abgeleitet ist, als »zweite Natur« (»natura naturata«). Übertragen in die ästhetische Sphäre bedeutet dies, dass sich der kompositorische Zugriff auf die Ent-Bindung der Töne aus subjektiven Setzungen oder historischen Determinierungen beschränkt: Musik wird damit zum einen wieder »reine« Natur (was Cowells Herleitung sämtlicher musikalischer Beziehungen aus den ganzzahligen Proportionen der Obertonreihe entspricht), zum anderen werden Themen, Entwicklungen und gewohnte Konzepte musikalischer Form vom Komponisten preisgegeben, um einen möglichst »losen« Zusammenhang zu schaffen (Claren 2000). Den Klebstoff zu entfernen, meint also auch, apriorische Behauptungen, was Musik »sei«, infrage zu stellen, indem etwa die von Webern noch als basal empfundene Dialektik von »Kontrast« und »Wiederholung« nicht mehr gilt, wonach das eine Verfahren erst das andere bewusst und damit möglich macht. Besteht die Musik aber nur noch aus Kontrasten (was für Cages IndeterminanzKonzepte gilt) oder nur noch aus  – scheinbar unendlichen  – Wiederholungen (was für den späten Feldman gilt), nutzen sich beide Verfahrensweisen nach einiger Zeit notgedrungen ab und hinterlassen den gewünschten Effekt eines klanglichen Objekts, dessen Ausdehnung in Ä Zeit und Raum vom Hörer nicht mehr erfasst werden kann. Es ist bezeichnend, dass Cage Saties Musik so schätzte: In ihr erkannte er eine Emanzipation der Wiederholung als Formprinzip – und so ist die mutmaßliche Uraufführung von Saties vermutlich bereits 1893 komponiertem Klavierstück Vexations, die Cage 1963 in New York mit zwölf Pianisten (darunter einigen Komponistenkollegen und Fluxuskünstlern) mit einer Dauer von knapp 24 Stunden realisierte (Ä Klangkunst), auch als ein zentrales Manifest von Ideen der New York School zu sehen. Die naturans / naturata-Figur aufgreifend, könnte man hier sagen, dass die litaneiartige Wiederholung des atonalen Chorals, der in seiner harmonischen Unbestimmtheit eine in sich ruhende Substanz verkörpert, in der Aufführung in ein soziales Sinnbild umschlägt. Denn auch dies gehört zur Logik des fehlenden »Klebstoffs«: An die Stelle ritualisierter Konzertaufführungen, in denen einem passiven und schon längst zum Komplizen der Interpreten gewordenen Publikum immer wieder die Gültigkeit des Kanons aus Meisterwerken versichert wird (Ä Kanonisierung), treten nun unvorhersehbare, gewissermaßen »gefährliche« Situationen, in denen die aktiven Reaktionen sowohl der Ausführenden wie des Publikums zwingender Teil des ästhetischen Konzepts sind. Als Leonard Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern Cages Atlas Eclipticalis (1961–62) unter Anleitung des Komponisten probte, kam es zum Eklat: Cages Forderung, dass jeder Spieler seine eigene, vollkommen unabhängige Stimme aus dem Notenmaterial generieren müsse, wurde vom Orchester noch akzeptiert, zumal sich Bernstein daraus eine möglichst virtuose Darbietung erhoffte. Als die Orchestermusiker aber erfuhren, dass jedes Instrument mit Kontaktmikrophonen ausgestattet werden sollte, die mithilfe des Zufallsprinzips an- und ausgeschaltet wurden, sodass die Bemühungen am Instrument vielfach gar nicht hörbar waren, brach ein Sturm der Entrüstung aus; das Konzert geriet zu einem Skandal, der die Grenzen des Konzertbetriebs  – aber auch zum ersten Mal diejenigen von Cages Langmut – sichtbar machte (Piekut 2011, 20– 64). Während Earle Brown in den Ensemble- bzw. Orchesterwerken Available Forms I / II (1961–62) ein ähnliches Prinzip anwandte, um die gewohnte Hierarchie von Dirigent und Orchester zu dynamisieren – die Musiker improvisieren innerhalb bestimmter Zeitblöcke über ein genau festgelegtes Material, der Dirigent fungiert als reiner Zeitgeber –, brach Christian Wolff in den 1960er Jahren aus der Enklave der Professionalität aus. Er konzipierte experimentelle Anordnungen, die auch von Laien und mit Alltagsgegenständen ausführbar waren, und überführte Klänge, die sich scheinbar völlig naturhaft und absichtslos ereigneten, damit in den Raum der »natura naturata«: Das, was vormals ein »Werk« war (und es im Bereich der Notation auch blieb), wurde nun eine gemeinsam von den Spielern getroffene Entscheidung; sie resultierte nicht nur in musikalischen Aktionen, sondern stellte auch die Fähigkeit auf die Probe, einander zuzuhören und aufeinander zu reagieren. Der Schritt zur politischen Aussage lag hier nahe, aber Wolff vermied eine Instrumentalisierung oder Vereinnahmung durch konkrete politische Ziele  – anders als Stockhausens früherer Assistent, der englische Komponist Cornelius Cardew: Er gründete in London das Scratch Orchestra und schrieb »Stücke«, die als politische Happenings und Manifeste gedacht waren. In der monu- 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte mentalen, von maoistischen Maximen geprägten Sammlung des Great Learning hatte der gesellschaftliche Klebstoff den musikalischen weitgehend ersetzt. Nie war der Einfluss der amerikanischen Avantgarde auf die europäische Linke größer als am Ende der 1960er Jahre. Hatte Konrad Boehmer in seinem einflussreichen Buch Zur Theorie der offenen Form, das 1967 am Vorabend der Studentenrevolte erschien, die Komponisten der New York School noch heftig für ihre angebliche Geschichtsvergessenheit kritisiert, so unternahm HeinzKlaus Metzger in dem umfangreichen Beiheft zu der Schallplatten-Anthologie Music before Revolution, die 1970 ausgerechnet bei EMI erschien, einen umfangreichen Versuch einer Legitimation der Verfahrensweisen der New York School aus linkshegelianischer Sicht, der Morton Feldman sichtlich Verdruss bereitete. Um noch einmal im Bild zu bleiben: Hier sollte den amerikanischen Werken nachträglich wieder ästhetischer, eigentlich aber geschichtsphilosophischer »Klebstoff« im Sinn einer Dialektik der Aufklärung zugeführt werden, obwohl dieser auch vom europäischen Post-Serialismus zunehmend abgelehnt worden war. Auch das bedeutende String Quartet Earle Browns aus dem Jahr 1965 war nur eine scheinbare Rückkehr zur Tradition: Tatsächlich ist das Stück der Versuch, zwei verschiedene Verfahren des Umgangs mit »Form« zu erproben und in Beziehung zu setzen: über ein rational-inhärentes (oder »methodisches«) Vorgehen, das vom Komponisten gesteuert wurde, und über ein unkalkulierbares (oder »nicht-methodisches«) Verfahren, das die Interpreten zwingt, aus der Deutung der Partitur eine offene, mobile Form zu generieren. (Eine Nicht-Form schloss Brown allerdings kategorisch aus, womit er sich vom Fluxus distanzierte.) Verfolgt man vom String Quartet über die Available Forms Browns Entwicklung zurück, so entdeckt man in dem Klavierstück 25 Pages (1953) das einfache Modell eines Baukastenprinzips. Der Titel verweist selbstreferenziell auf das Notenmaterial, das auf 25 Seiten notiert ist: Man kann nicht nur jede Seite aufgrund der diastematisch und rhythmisch unbestimmten Ä Notation auf den Kopf stellen, sondern eine, mehrere oder alle Seiten in beliebiger Reihenfolge von einem bis zu 25 Pianisten aufführen lassen, woraus sich aufgrund der nicht vorgeschriebenen Temponahme eine unerschöpfliche Zahl von Kombinationen und eine theoretisch nahezu unendliche Spieldauer ergibt. Stücke des jungen Christian Wolff wiesen in eine ähnliche Richtung paradoxer Spielsituationen, die damit das Ideal einer nicht vorhersehbaren und jeweils einmaligen Aufführung anstreben, womit Wolff eine größtmögliche Entfernung von dem orthodoxen Werkbegriff der europäischen seriellen Musik anstrebte. 32 Die andere Bedeutung von Cowells Klebstoff-Metapher lässt sich interessanterweise mit einer haptischoptischen Sphäre in Verbindung bringen. Töne werden hier nun zu Monaden, die punktförmig und vereinzelt im Klangraum verteilt sind. Der Zusammenhang ist nicht mehr durch eine wie auch immer zu denkende Verbindung – im simpelsten Fall eine Linie zwischen zwei Punkten, musikalisch also als diastematische Beziehung (sei es als tonale Melodie oder als zwölftönige Grundgestalt)  – gegeben. An ihre Stelle tritt die Beziehung zwischen den einzelnen Punkten (dem »Vordergrund«) und dem Feld (dem »Hintergrund«), auf dem sie platziert werden. Welche Struktur und Ausdehnung dieses Feld hat, ist Gegenstand einer eigenen Konzeption. In den berühmten White und Black Paintings Robert Rauschenbergs vom Anfang der 1950er Jahre ist nur das Feld übrig geblieben, die Punkte sind verschwunden  – es entsteht ebenfalls eine »Tabula-rasa«-Situation, die keine geschichtliche Anknüpfung, keine Erinnerung mehr erlaubt. Dem war im Abstrakten Expressionismus (der den europäischen Surrealismus beerbte) das Erlebnis einer fundamentalen Krise des Bildbegriffs vorangegangen. Unabhängig von den eingeschlagenen Richtungen geht es bei Arshile Gorsky, Mark Rothko oder Jackson Pollock um die Frage, wie Bildinhalt und Bildaufbau zukünftig zu definieren seien: technisch durch die Art des Farbauftrags, konzeptionell durch das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem und schließlich psychologisch durch die Konfrontation des Betrachters mit der Bildwelt jenseits der vertrauten Kategorien (und Klischees) von »abstrakt« versus »konkret«. Daraus formte sich eine »gesture of liberation« (Lucie-Smith 2000, 38), die nach 1945 unter den geänderten geopolitischen Bedingungen weltweit ausstrahlte. Die Verlagerung auf das Material und seine Reflexion war durch den massiven Einfluss, den die europäischen Emigranten ab 1933 in den USA gewannen, vorbereitet worden; so hatte Hans Hofmann in Manhattan eine private Malschule eröffnet, die praktisch von allen wesentlichen Vertretern der New Yorker Nachkriegsavantgarden durchlaufen worden war. Mit Josef Albers lehrte ab 1933 einer der prominentesten Bauhaus-Lehrer am Black Mountain College, an dem später auch Cage, Willem de Kooning und Cunningham unterrichteten; und hier sollte 1952 – also während der Hochzeit der New York School of Composers – eines der ersten »Happenings« der Kunstgeschichte inszeniert werden, das zugleich eine Geburtsstunde des Fluxus war (Ä Themen-Beitrag 6, 6.). Wollte man eine musikgeschichtliche Parallele zu diesem kunstgeschichtlichen Einfluss bestimmen, so wäre nicht nur an Varèse zu denken, der die Idee eines »organized sound« an die Stelle traditioneller musikalischer Narrative setzte (Ä Themen-Beitrag 3, 2.1), 33 2. Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte sondern auch an Joseph Schillinger, der mit seinem gleichnamigen System eine vollständige Modularisierung des Komponierens auf einer strikt algorithmischen Grundlage (und unter Verwendung graphischer Umsetzungen von musikalischen Strukturen) anstrebte (Ä Neue Musik und Mathematik, 1.); Earle Brown erhielt seine musikalische Ausbildung im Schillinger-System, das auch unter Jazzmusikern auf großes Interesse stieß. Die Übertragung bildnerischer Prinzipien auf musikalische Prozesse lag in gewisser Weise in der Luft und wurde zu Beginn der 1950er Jahre durch den magischen Bann forciert, den New York als Inbegriff der »New Art City« des 20. Jh.s auf Künstler jeglicher Couleur ausübte (Perl 2006). Die Künstlerkreise, die sich hier bildeten und an heute legendenumworbenen Orten wie der Cedar Tavern im Greenwich Village (genauer in der 24 University Place an der Ecke zur East 8 Street) trafen, bildeten eine eigenartige Synthese zwischen einer ersten genuin amerikanischen Musik-Avantgarde und einer Bohème des Kalten Kriegs. (Mit seinem Aufsatz Give my Regards to Eighth Street setzte Morton Feldman 1971 der Achten Straße ein ironisch-liebevolles Denkmal; zugleich war dieser Titel eine Anspielung auf den alten Tin Pan Alley-Hit Give my Regards to Broadway von George M. Cohan aus dem Jahr 1904.) Zu den wichtigsten Maßnahmen, den alten »Klebstoff« einer traditionellen Form- und Narrationsstrategie in der Musik loszuwerden, gehörte der Verzicht auf eine herkömmliche Notation: Feldman verwendete erstmals 1950–51 in der Reihe Projections eine graphische Aufzeichnungsweise, die den Ausführenden die Wahl der Tonhöhen innerhalb festgelegter Register freistellte und nur die Anordnung der Einsätze festlegte. Brown ging in December 1952 so weit, jegliche Erinnerung an ein Notenbild auszulöschen: Die Partitur war eine »abstrakte« Graphik, eine an Piet Mondrian erinnernde Anordnung geometrischer Linien in einem Feld, zu realisieren und in einem höheren Sinn zu »interpretieren« von einer beliebigen Zahl Ausführender. Improvisation und Konzeption waren hier nicht mehr zu trennen, und es ist nicht übertrieben, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, der nicht weniger grundsätzlich war als der Übergang zum seriellen Komponieren in Europa (Gresser 2005). Bei Cages und David Tudors Auftritten in Köln, Donaueschingen oder Darmstadt prallten so nicht nur konträre kompositorische Strategien aufeinander, sondern auch die alten und offenbar unversöhnlichen Konzepte von performativer versus werkhafter Musikkultur (Iddon 2013, 196–299). Dagegen ließ Feldman die Vorstellung einer fiktiven »Leinwand«, auf der Töne wie Farben aufgetragen sind, nicht mehr los: In Werken wie Rothko Chapel für Sopran, Alt, Chor, Schlagzeug, Celesta und Viola (1970) und Coptic Light für Orchester (1985) ist dieses Prinzip mit größter Konsequenz und Ausdifferenzierung realisiert. Wir haben es hier nicht nur mit einer faszinierenden »Komplizenschaft« (Emons 2006) zwischen Musik und bildender Kunst zu tun, sondern mit einer intellektuellen Gratwanderung. Offensichtlich ging es Feldman  – der lange Zeit zum engsten Freundeskreis des Malers Philip Guston gehörte  – darum, den Objektcharakter des Klanggewebes durch den minimalen, aber kontinuierlichen Perspektivwechsel, den er dem Hörer sanft aufzwingt, zu unterlaufen: So tritt immer die Wahrnehmung des Hörers als eigentliches Thema hervor, am Ende vielleicht sogar die Selbstwahrnehmung. Der Konzeptkünstler Robert Morris sprach in den 1960er Jahren davon, dass ein Kunstwerk eigentlich eine »blank form« sei, also eine leere Form, die dem Leben ähnele; es sei allein die Entscheidung des Betrachters, ob er sie mit Bedeutung füllen wolle (Kerber 1971, 175). Morris spielte hier auf Marcel Duchamps Konzept der »ready-mades« an, das für Cages Musikbegriff zu einem entscheidenden Ausgangspunkt wurde. Bei Feldman ist das »Leere« aber auch das Göttliche, so wie der Künstler für die Romantiker das »leere Gefäß« ist, in das die göttliche Inspiration fließt. Überdenkt man die Entwicklung, die die Komponisten der New York School genommen haben, so ist es erstaunlich, wie konsequent sie ihre Position verteidigt haben. Mark Rothkos programmatische Forderung von 1947, dass »the familiar identity of things has to be pulverized in order to destroy the finite association with which our society increasingly enshrouds every aspect of our environment« (Rothko 1947/68), hat sich, betrachtet man die Entwicklung im Rückblick, als prophetisch erwiesen. Denn die amerikanische Avantgarde hat es immer als eine ihrer wichtigsten Aufgaben angesehen, Musik als ein Mittel gesellschaftlicher und politischer Aufklärung einzusetzen. Und dass diese Aufgabe gerade in unserer Zeit einen zentralen, ja universalen Stellenwert besitzt, kann wohl kaum ernsthaft bestritten werden. Ä Themen-Beitrag 3; Konzeptuelle Musik; Minimalismus / Minimal Music; Nordamerika; Wahrnehmung; Zeit; Zufall Adorno, Theodor W.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. 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Klang: historische und systematische Dimensionen  „ 1.1 Definitionsversuche und Problemstellungen  „ 1.2 Vorgeschichte: Klang als das »Andere« in der Musikästhetik  „ 1.3 Klangerzeugung vs. Klangwahrnehmung  „ 2. Klangdiskurse der neuen Musik  „ 2.1 Klangorganisation „ 2.2 Klangkomposition 1950–65 „ 2.3 Klang und Zeit, Klang und Form „ 2.4 Klangkomposition nach 1965 1. Klang: historische und systematische Dimensionen Musikhistorisch hat die Emanzipation von Klang als primäre Kategorie der Kompositionsästhetik im 20. Jh. zahllose Formen angenommen. Dazu zählen Claude Debussys Prinzip von »Klang-Tonalitäten« (vgl. Jakobik 1977), Arnold Schönbergs viel diskutierter Gedanke der »Klangfarbenmelodie« (Schönberg 1911/22, 506 f., vgl. Haselböck 2013), Edgard Varèses Metapher der »aktiven«, »intelligenten« Klänge, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen (Varèse 1936/98, 197), John Cages »Klangontologie«, die in Klängen »nichts als Klänge« sehen wollte und jegliche Beziehung zwischen ihnen zu unterbinden suchte (vgl. 2.1), der Aufschwung Ä elektronischer Musik in ihren diversen Spielarten, der schließlich u. a. zu den multiplen Formen situativ konzipierter Ä Klangkunst führte, die Anwendung klangbasierter Studiotechniken auf das Ä Orchester bzw. allgemein die wachsende Relevanz von computergestützten Klanganalyseverfahren für das Komponieren, der Einfluss außereuropäischer, insbesondere asiatischer Klangbegriffe auf die neue Musik (Ä Themen-Beitrag 9), die Erkundung von Timbres in der freien Ä Improvisation etc. Klang als holistisches Phänomen in diesem emphatischen Sinn der musikalischen Ä Moderne, das insbesondere auch deutlich über ein »Komponieren mit Ä Klangfarben« hinausweist (Borio 2011; Decroupet 2012), bezeichnet weniger ein »Basismaterial« jeglicher Musik, sondern eine bestimmte Wahrnehmungsweise bzw. -haltung, die nicht zuletzt durch eine Durchkreuzung konventioneller Zeitund Formdramaturgien erreicht werden kann. Heute ist deutlich sichtbar, dass diese Fokussierung auf die Mate- rialität von Klang zum einen Konsequenz der Wende zur Ä Atonalität bzw. Posttonalität ist, da mit der Abkehr von Prinzipien der Dur-Moll-Tonalität auch das mit tonalem Hören eng verbundene metaphorische melodisch-harmonische Beziehungsgeflecht in Frage gestellt wurde und die klangliche Materialität in Form von Gestalten, Gesten, Figuren und Texturen an Valenz gewann (Utz 2013a). Damit wiederum steht die Suche zahlreicher Komponisten nach neuen Dimensionen musikalischer Zeit- und Formerfahrung in Zusammenhang, sodass »Klang« in diesem emphatischen Sinn nicht unabhängig von Diskursen zu Ä Wahrnehmung, Ä Zeit, Ä Form, Ä Material und Ä Interpretation verstanden werden kann. Gianmario Borio charakterisierte diese Hinwendung zum »Klang selbst« also durchaus zu Recht als eine »kopernikanische Wende, die das Schreiben, Spielen und Hören von Musik gleichermaßen betrifft« (Borio 2011, 27). Das Thema »Klang« ist somit an der Schnittstelle mehrerer Diskursfelder situiert, die in komprimierter Form kaum angemessen darstellbar sind. Neben den grundlegenden physikalischen und psychologischen Forschungen zur Entstehung, Verbreitung und Wahrnehmung von Klang in moderner Ä Akustik und Psychoakustik ist Klangwahrnehmung bereits seit den Antike immer wieder kontrovers verhandelt worden, wird seit dem späten 18. Jh. aber verstärkt zum Gegenstand philosophischer und ästhetischer Schriften (vgl. 1.2), wobei sich seit dem frühen 20. Jh. mit dem Aufkommen der Phänomenologie die Auseinandersetzung deutlich intensiviert und dabei philosophische (z. B. Günther Anders, Roman Ingarden, Roger Scruton) und musikologische Ansätze (z. B. Ernst Kurth, Hans Mersmann, Heinrich Besseler, Thomas Clifton, David Lewin) umfasst. Gemeinsam ist diesen Entwürfen der Wunsch, die Erfahrung von Musik in Form von Klangereignissen und -prozessen ernst zu nehmen und diese angemessen zu interpretieren. Verbunden damit war und ist nicht zuletzt eine (teils implizite) Kritik an der philologischen Grundlegung der Musikwissenschaft, in der stets die schriftliche Manifestation musikalischer Werke wesentliches Fundament der Deutung war bis hin zu den im Kontext der neuen Musik besonders intensiv gepflegten strukturalistischen und textorientierten Methoden der Ä Analyse. Parallel dazu wächst in kompositorischen Poetiken seit dem frühen 20. Jh. das Bewusstsein, Klang als »Materie« oder als »Phänomen« zu gestalten, und wird insbesondere durch Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung, aber auch durch kontroverse Diskussionen über die »Hörbarkeit« neuer Musik, insbesondere serieller Musik, befeuert (Ä Rezeption). Vor diesem Hintergrund wird Klangwahrnehmung – mit unterschiedlichen Akzentuierungen – zum zentralen Paradigma bei zahlrei- J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_3, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation chen Komponisten unterschiedlichster Stilrichtung, u. a. bei Edgard Varèse, John Cage, Giacinto Scelsi, Karlheinz Stockhausen, La Monte Young, James Tenney, György Ligeti, Helmut Lachenmann, Gérard Grisey, Wolfgang Rihm und Salvatore Sciarrino. Zur Beschreibung, Analyse und Interpretation klanglicher Phänomene und Prozesse in der neuen Musik werden im selben Zug Klangtypologien und -morphologien entwickelt, die zum Teil spezifisch auf elektronisch erzeugte Musik fokussiert sind bzw. von dieser ausgehen (Schaeffer 1966; Smalley 1986, 1997; Roy 2003; Thoresen / Hedman 2007), sich zum Teil auf instrumentale Musik beschränken (Lachenmann 1966/93/96, vgl. 2.4; Smalley 2011), in der Regel aber auf alle Formen von Klangproduktion und -wahrnehmung anwendbar bzw. übertragbar sind (Utz / Kleinrath 2015). Auf Grundlage solcher Klangtypologien und -morphologien wurden gerade in jüngerer Zeit generalisierende klanganalytisch orientierte musikologische Ansätze entwickelt, die versuchen in der Nachfolge von kaum rezipierten Pionierarbeiten aus den 1970er Jahren (Cogan / Escot 1976; Chomiński 1968/77, 1976–78; Chomiński / Wilkowska-Chomińska 1983) mittels klangund wahrnehmungssensitiver Analyse neuer Musik als klingendem Phänomen gerecht zu werden (Lindstedt 2006, 2008; Utz / Kleinrath 2011, 2015; Decroupet 2012; De Benedictis / Decroupet 2012; Ungeheuer 2012; Utz 2013a, 2013b). Viele der rein morphologischen Ansätze vernachlässigen allerdings die Zeitdimension. Klang ist jedoch immer als transformatorische Größe in der Zeit, mithin im Sinne von »Klang-Zeit-Bewegungen« zu verstehen und so als Antithese zu atemporalen und rein architektonischen Konzeptionen musikalischer Form (vgl. 1.2). Ein solcher Ansatz kann von einer der genannten Morphologien ausgehen (vgl. etwa die Adaption von Schaeffers »Typomorphologie« in Decroupet 2012), wobei das Problem einer rein deskriptiven, mitunter (zu) reduktiven Tendenz nicht zu unterschätzen ist, durch die musikalische Prozesse bisweilen zu einem »kruden Plasma« vereinfacht werden (Spitzer 2004, 88), was kaum Rückschlüsse auf »reale« Wahrnehmungserfahrungen oder -potenziale in der Zeit erlaubt. In diesem Sinn müssen solche Morphologien also jedenfalls mit musikpsychologischen Erkenntnissen zum Erfassen musikalischer Klangstrukturen und zum Erleben musikalischer Zeit gekoppelt werden (Utz 2013b, 2015). Als besonders produktiv erweist sich daneben eine integrierte Betrachtung solcher klangphänomenologischer Aspekte mit jenen der Werkgenese und -poetik (De Benedictis / Decroupet 2012; Utz 2013c). Aus musikologischer Sicht sind zudem musik- bzw. kulturhistorische Studien zur Stellung des Klangbegriffs im ästhetischen Diskurs (Sponheuer 1987; Janz 2006; Stoll- 36 berg 2006; vgl. 2.1), auf posttonale Musik anwendbare musikpsychologische Studien zur musikalischen Klangwahrnehmung (Bregman 1990; Deliège 1989), die systematische Auseinandersetzung mit der Klanggestalt musikalischer Werke in der Interpretations- und Performanceforschung (Cook 2013) sowie die seit der Jahrtausendwende in der Folge von R. Murray Schafers klangökologischem Soundscape-Konzept (1969, 1977/2010) hervorgetretenen sound studies (Schulze 2008; Pinch / Bijsterveld 2012; Sterne 2012) zu nennen, die Klang bzw. sound in seiner alltagsbedingten und sozial kodierten Situativität nachgehen. In jüngerer Zeit wird daneben auch verstärkt nach Querbeziehungen zwischen dem Klangbegriff neuer Kunstmusik und dem sozial integrierenden Phänomen sound in der Popmusik (Diederichsen 2014) gesucht. Eine verbindliche Definition von Klang unternehmen zu wollen, scheint vor dem Hintergrund solcher Diversität und historischen Wandelbarkeit von Klangphänomenen und Klangästhetiken in der Musik der letzten einhundert Jahre vermessen. Der einleitende Definitionsversuch umreißt so auch eher Problemstellungen (1.1), worauf nach der Skizze einiger diskursgeschichtlichen Voraussetzungen (1.2–1.3) wichtige historische Stationen und Dynamiken des »Komponierens mit Klang« im 20. Jh. vertieft werden (2.). 1.1 Definitionsversuche und Problemstellungen (1) Für eine musikalischen Zusammenhängen angemessene Annäherung an Klang scheint eine Erweiterung herkömmlicher phänomenologischer Ansätze notwendig. Klang kann zwar als durch die Wahrnehmung bzw. das Bewusstsein konstituiert begriffen werden, Wahrnehmung aber ist wiederum nicht in Isolation von poetologischen und performativen Dimensionen von Klang und Musik begreifbar, da sie stets in einem diskursiven kulturellen Raum situiert ist. Wenn es auch zweifellos Diskussionsbedarf in der Musikphilosophie gibt, ob Klang auch außerhalb von konkreten Wahrnehmungsakten existiert (Nudds / O’Callaghan 2009), so ist doch im musikalischen Zusammenhang gerade die Präsenz des unmittelbar gegenwärtigen Klangeindrucks der entscheidende Faktor, auf dessen Grundlage eine »Emanzipation« von Klang und Wahrnehmung im 20. Jh. vor dem Hintergrund eines sozial-, ideen- und mediengeschichtlichen Wandels behauptet wurde und als historischer Diskurs interpretierbar wird, der sich mit anderen Emanzipationsbewegungen in der Moderne verschränkt (vgl. 1.2; Hentschel 2006, 158– 331). Vor dem Hintergrund einer solchen nachhaltigen »Befreiung« von Klang aus einer funktionalen Einbettung innerhalb von hierarchischen Wahrnehmungsmodellen hin zu einer unhintergehbaren »Ipseität« scheint also 37 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation auch die in der Akustik gängige Unterscheidung zwischen »Klang« als intentionalem Objekt und »Schall« als subjektunabhängigem akustischem Ereignis (physikalische Wellenform) fragwürdig geworden zu sein. Daher greifen auch Versuche, Klang »zwischen diskursiv konstituierter Musik und rein physikalischem Schall« zu verorten, zu kurz (vgl. Ungeheuer 2008, II.). (2) Die angesprochene vermeintlich voraussetzungslose, in jedem Fall aber nicht durch die Einschränkungen »formalistischer« Musikästhetik oder -analyse beschnittene Wahrnehmung des unmittelbar gegenwärtigen Klangs kann als zentraler Topos der traditionskritischen musikalischen Ä Avantgarde seit dem frühen 20. Jh. gelten. Die von Edgard Varèse und John Cage in diesem Zusammenhang vorgenommene Spezifizierung bzw. Neudefinition von Musik als »organisierter Klang« oder »Klangorganisation« (vgl. 2.1) erscheint vor dem Hintergrund späterer Entwicklungen beinahe als Tautologie: Ist ein Klang, dem durch musikalische »Gestaltung«, und sei sie auch noch so elementar, sowie durch unser gliederndes Wahrnehmungsvermögen nicht irgendeine Form von »Organisation« unterschoben wird, überhaupt denkbar? Obschon der Begriff »Organisation« einen produktionsästhetischen Akzent trägt, wurde schon bei Varèse und Cage zumindest implizit auch die Klangwahrnehmung zentraler Topos kompositorischer Poetik. Für Varèse etwa bot die Auseinandersetzung mit Hermann von Helmholtz ’ Psychophysik einen entscheidenden Impuls für seine Hinwendung zum »Elementar-Klanglichen« (Nanz 2003, 44–47; Lalitte 2011). In der Musik der 1950er Jahre dann wurden, nicht zuletzt bedingt durch die zunächst unüberwindbar scheinenden »Schwierigkeiten« beim Hören serieller Musik, wahrnehmungstheoretische Überlegungen ausgehend von informationstheoretischen und phänomenologischen Ansätzen auf breiter Basis in den Vordergrund gerückt (Ä Themen-Beitrag 4, Ä Wahrnehmung, 2.1). In Summe lässt sich sagen, dass die kompositorische Hinwendung zu Klang und eine verstärkte Integration von Überlegungen zur Wahrnehmung von Klang Hand in Hand gingen und in den Jahrzehnten seit 1950 zu einem fortgesetzt ausdifferenzierten »Komponieren des Hörens« wurden – dies freilich gerade nicht im Sinn einer Bestätigung von Hörkonventionen oder kulturell geprägten Erwartungen, sondern im Sinn einer durch die »neuen Klänge« provozierten Ausweitung und – teils bewusst utopischen – Entgrenzung von Wahrnehmungserfahrungen. (3) Dabei ist nun zu fragen, wie das Verhältnis zwischen »Klang«, »Ton« und »Geräusch« aus Sicht solcher Entwicklungen präzise gefasst werden kann. Dass Grenzzonen zwischen den durch diese Begriffe benannten Bereichen nicht nur vernachlässigbare Einzelphänomene betreffen, sondern an die Substanz von »Klang-Wahrnehmung« reichen, ist durch die Musik der vergangenen siebzig bis einhundert Jahre mehr als deutlich geworden. Zum einen ist eine kategoriale Unterscheidung zwischen Ä Geräusch einerseits und »harmonischen Klängen« andererseits problematisch geworden  – im Gegensatz zu Hermann von Helmholtz ’ klassischer Differenzierung zwischen diesen beiden Phänomenen auf Grundlage der spektralen Struktur (Helmholtz 1863, 16): Selbst in vermeintlich »reinen«, tonhöhengebundenen Klängen sind in der Regel Geräuschkomponenten enthalten, etwa durch Anblas- oder Streichgeräusche, spektrale Interferenzen oder räumliche Reflektionen. Die in der Akustik etablierte Unterscheidung zwischen »reinen Tönen«, »komplexen Tönen« und »Klängen« muss im musikalischen Zusammenhang ebenso relativiert werden. Selbst beim (selten genug auftretenden) Erklingen »reiner« Sinusschwingungen sind, zumindest außerhalb von Laborsituationen, »unreine« Ergänzungen durch unseren Wahrnehmungsapparat oder durch die Übertragungsmedien wahrscheinlich. Die von Helmholtz vorgenommene Trennung der Begriffe »Ton« im Sinne einer Einzelschwingung und »Klang« im Sinne von obertonhaltigen Einzeltonwahrnehmungen (1863, 39) sollte daher insofern ernst genommen werden, als eine schlüssige Abgrenzung von »Einzelton« und »Mehrklang« in vieler Hinsicht und in zahllosen Situationen kaum eindeutig getroffen werden kann. Gerade solche »liminalen« Grenzbereiche der Wahrnehmung hat neue Musik ganz ausdrücklich thematisiert: Ein »Klang« in diesem Sinn muss also den gesamten Bereich zwischen Sinus- bzw. »Einzel«-Tönen und »Mehrklängen« höchster Komplexität bishin zum »reinen« Geräusch (dem weißen Rauschen) umfassen (vgl. Danuser 1984/92, 383). Aus ähnlichen Überlegungen heraus muss die von konservativer Musikästhetik weiterhin konstruierte Unterscheidung zwischen »musikalischen« und »nicht-musikalischen« Klängen (Scruton 1997, 16; Hamilton 2007, 40–46, 59–62; Hindrichs 2014, 97 f.) zurückgewiesen werden. 1961 schrieb James Tenney: »There was a time when theorists could refer to noises as ›non-musical sounds‹, and this attitude still exists to some extent. But it is clearly unrealistic to make such a distinction now, in the light of musical developments in the 20th century« (Tenney 1961/64/88, 7). Der »Wunsch, Musik von anderem Umgang mit Klang abzugrenzen, [wurzelt] im bürgerlichen System einer vom Alltag abgetrennten, quasi über ihm schwebenden Sphäre der Kunst« (Ungeheuer 2013, 184). Indessen ist zwar der Vorbehalt gegenüber einer nivellierenden schlichten Gleichsetzung von »Klang« und »Musik« ernst zu nehmen (ebd., 185; Ungeheuer 2008, IV.), allerdings ist die für eine Trennung meist vorausgesetzte 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation Unterscheidung zwischen nicht-intentionalem Klang und intentional-metaphorischer Musik gerade durch die neue Musik längst umfassend problematisiert worden. Denn gerade der nicht-intentionale Klang, der durch die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung als »Klang« gehört, nicht jedoch kompositorisch-intentional als »musikalischer« Klang gesetzt werden muss, stand im Vordergrund vieler Bemühungen. Entscheidend für diese emanzipatorische Bewegung war der von Cage formulierte Avantgarde-Topos, der jegliches akustische Ereignis innerhalb eines »Kunst«-Kontextes als »Musik« begreifen konnte, einfach indem dieses Ereignis »re-konzeptualisiert«  – also neu gehört  – wurde. Von Andy Hamilton als »liberal or avant-garde universalism« charakterisiert (2013, 92), machte Cage diesen Topos bereits Ende der 1930er Jahre deutlich: »I believe that the use of noise to make music will continue and increase until we reach a music produced through the use of electrical instruments which will make available for musical purposes any and all sounds that can be heard« (1938–40/78, 3 f.). Während hier Klang tendenziell noch als »Material« aufgefasst wird, ist mit der radikalen Anti-Metaphorisierung von Klang seit den frühen 1950er Jahren dann ein Vorstoßen zum »Klang an sich« verbunden (Cage 1952/69, 100, 1955/78, 13) und Cage brachte diesen Punkt auch in seinem Aufsatz für die Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 1959 mehrfach zur Sprache: »sounds are to come into their own, rather than being exploited to express sentiments or ideas of order. […] Where people had felt the necessity to stick sounds together to make a continuity, we […] felt the opposite necessity to get rid of the glue so that sounds would be themselves« (Cage 1958/78, 69, 71). Unabhängig von der Grundsatzfrage, ob ein solches Verschwinden des Metaphorischen aus dem Wahrnehmungsprozess überhaupt möglich ist (Thorau 2007), macht diese Position deutlich, dass die musikalische »Angemessenheit« eines Klangs nicht mehr eine Frage von dessen akustischen Eigenschaften oder eines klanglich-syntaktischen Zusammenhangs ist, sondern vielmehr abhängig von der perzeptuellen Intention und Interpretation, die aus jeglichem akustischen »Ereignis« einen (musikalischen) Klang macht bzw. zu machen versteht. Roman Ingarden hat mit dem Prinzip der Intentionalität einen verwandten Gedanken entwickelt, wenn dieser auch stärker an den Begriff des Kunstwerks gebunden war, das für Ingarden ein »rein intentionaler Gegenstand« ist, der sich zeitlich wandelt und somit historischen Prozessen der Um- und Neudeutung unterworfen ist (Ingarden 1962, 101–136). Eine solche »performative«, konstitutive Eigendynamik der Wahrnehmung ist auch in Bezug auf traditionelles Repertoire in jüngeren Tendenzen musikwissenschaftlicher Forschung stark 38 akzentuiert worden, wobei hier ebenfalls die Klanggestalt und deren performative Hervorbringung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht (Abbate 2004; Cook 2013). 1.2 Vorgeschichte: Klang als das »Andere« in der Musikästhetik Kontroversen und divergierende Positionen zum Phänomen Klang und seinem Verhältnis zu Zeit, Form und Wahrnehmung beschreiben ein zentrales Gebiet ästhetischer Diskursgeschichte, das, wie Thomas Christensen, gezeigt hat, bis in die Antike zurückverfolgbar ist (Christensen 2013). Das artistotelische Modell von Klang als holistischem Wahrnehmungsgegenstand, prominent von Aristoxenos in die Musikästhetik eingebracht in Form der Forderung die logoi mit der aisthesis zu verbinden (Riethmüller 1987, 249 f.), steht die pythagoreisch-platonische Auffassung von Klang als aus distinkten Elementen zusammengesetzter Größe, die rationalem Verständnis unterworfen ist, entgegen (Christensen 2013, 53 f.). Solche Polarisierungen wirken bis ins 17. Jh. fort, als Fortschritte in der musikalischen Akustik wie die Entdeckung der Obertonreihe auch in der Musiktheorie eine verstärkte Reflexion empirischer musikalischer Wahrnehmung in der Theoriebildung notwendig machten, wie es etwa an Johann Matthesons Traktat Versuch einer systematischen Klang-Lehre (1748) ablesbar ist. In Matthesons Schrift figuriert »Klang« erstmals als eigenständiger musiktheoretischer Begriff (ebd., 55–58). Mattheson versucht dabei, mit dem eigenwilligen Terminus »Ton-Klang« den Aspekt der Klangproduktion (Ton) und der Klangwahrnehmung (Klang) zu verbinden (vgl. 1.3). Zweifellos erreichten vor den dynamischen Entwicklungen in Musik- und Wissenschaftsgeschichte solche Überlegungen im 19. und 20. Jh. dann eine erheblich gesteigerte Brisanz. Bis ins 20. Jh. hinein stieß die Vorstellung einer physischen oder physiologischen Präsenz musikalischer Klänge im ästhetischen Diskurs auf breiten Widerstand und Skepsis, galt sie doch als Ausdruck der als defizitär abgelehnten »Genuss«- bzw. »Gefühlsästhetik« (Sponheuer 1987, 100–112). In der Hierarchie der Sinne, die um 1800 auf breiter Basis diskutiert wurde, entwickelte sich die hierarchische Überlegenheit des Auges gegenüber dem Ohr zum einflussreichen Topos (Stollberg 2006), dem in der Musiktheorie die Verbreitung architektonischer Metaphern entsprach. Wesentliche Figuren zur Disziplinierung des Klangs waren somit Ä »Form«, Ä »Musikalische Logik« und »Satz« bzw. später Ä »Struktur« (Janz 2006, 32–39), eng gekoppelt an die viel untersuchten Entwürfe einer Autonomie der Musik sowie die daraus hervorgehenden taxonomischen und didaktischen Traditionen der Formenlehre. 39 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation Die Assoziation des Musikalisch-Klanglichen mit Ä Instrumentation »im Dienste« einer substanziellen musikalischen Ä Struktur, die ohne größere Verluste auch im Klavierauszug wiedergegeben werden kann, steht im Zentrum dieser Form-Klang- bzw. Satz-Klang-Dichotomien (ebd.). Das Faktum, dass etwa Richard Wagners Musik mit diesem Modell kaum zu fassen war, wurde in Theodor W. Adornos Wagner-Monographie mit dem Prinzip einer »Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produkts« (Adorno 1939/52/71, 82) assoziiert, der »gegen seine Produktion abgeblendete, verabsolutierte Klang« (ebd., 79) Wagners als Produkt des neuzeitlichen Kapitalismus gedeutet. Wagners Musikdrama gleicht für Adorno einem »Konsumgut, in dem nichts mehr daran gemahnen soll, wie es zustandekam« (ebd., 500). Wenn die  – im Kontext der Klangkomposition neu aufgeflammte (vgl. 2.3)  – Priorität von Form über Klang mithin als Teil einer großen durch die (vorrangig deutsche) Musikgeschichtsschreibung konstruierten Emanzipationsbewegung (Hentschel 2006, 257–331)  – im Sinne einer Emanzipation weg von einer »elementarischen« Hingebung an den Klang hin zu einer geistigen Durchdringung der Form  – verstanden werden kann, so setzt die »Emanzipation« des Klangs von Form und Struktur im 20. Jh. diesen Topos der »Befreiungsgeschichte« (ebd., 257) einerseits fort, kehrt ihn in einer reflexiven Bewegung aber zugleich um, indem sie im Sinne einer Gegenmoderne das ehemals Marginalisierte ins Zentrum rückt (Janz 2014, 399–410). Helmut Lachenmanns Ziel einer »befreiten Wahrnehmung« (1990/96, 90) teilt mit zahlreichen weiteren Entwürfen der frühen und späteren Moderne die Kritik an einer solchen Disziplinierung von Klang als kulturhistorischer Konstante. 1.3 Klangerzeugung vs. Klangwahrnehmung Adornos Grundgedanke, dass die Erzeugung, die »Arbeitsteiligkeit« der Hervorbringung von Klang in Richard Wagners Musik gezielt verdeckt und damit die Illusion einer einheitlichen Klangquelle vermittelt werde (vgl. 1.2), lässt sich in mannigfaltigen Varianten in den ästhetischen Diskursen des 20. Jh.s wiederfinden. Gewiss liegt es hier zunächst besonders nahe, an Helmut Lachenmanns Ä musique concrète instrumentale zu denken, deren Impetus ja darin lag, all jene Vorgänge der Klangerzeugung, die in der »philharmonischen« Klangästhetik unhörbar bzw. unmerklich gemacht werden sollen, gezielt hervorzukehren: »[Die musique concrète instrumentale will] Klang […] als direkten oder indirekten Niederschlag von mechanischen Handlungen und Vorgängen profanieren, entmusikalisieren und von dort her zu einem neuen Verständnis ansetzen […]. Klang als akustisches Protokoll eines ganz bestimmten Energieaufwandes unter ganz bestimmten Bedingungen« (1970/96, 150). Dabei insistiert Lachenmann darauf, dass die dergestalt »verfremdeten« Klänge zueinander in essentiell strukturellen Beziehungen stehen (Lachenmann 1978/96). Es geht ihm nicht um »Klang um der Struktur willen, sondern – bei stets luzider Konstruktion  – Struktur um des Klanges, besser: um des Klangereignisses willen. Das Hören von Musik […] wird zum kunstvoll provozierten Beobachten dessen, was da geschieht. Es wird in aller Ernsthaftigkeit dorthin verwiesen, wo bisher seine Irritationsgrenze zu sein schien: an den ›Eklat‹ […], der […] sich keineswegs als Skandalon, sondern als Ausgangspunkt einer veränderten Wahrnehmung begreift« (1994/96, 308). Können solche Ausführungen nun indirekt doch so gedeutet werden, dass sie – aller ikonoklastischer Emphase zum Trotz – am Ende doch wieder den autoritären ästhetischen Diskurs einer Überlegenheit von Struktur über Klang bewahren oder sogar zuspitzen? Es mag einige Belege für eine solche Deutung geben, nicht zuletzt die hierarchische Weise, in der Lachenmann seine Klangtypologie aufbaut mit dem »Strukturklang« als Idealzustand, in dem individuelle Komponenten und eine übergeordnete klangliche Situation interagieren ohne zu einer rein globalen »Textur« zu verschmelzen (1966/93/96, 17–20). Relevanter als dieses Verharren im »Struktur«-Topos scheint mir aber die Bemühung Lachenmanns zu sein, simplistische Gegensätze zwischen »rein strukturellen« und »holistischen« Wahrnehmungsmodellen gezielt zu dekonstruieren, wobei Aura, Assoziation und Unmittelbarkeit der Klangerfahrung eine wichtige Vermittlerrolle einnehmen. Die Figur des »dialektischen Strukturalismus« bezeichnet genau dieses Spannungsfeld: »Befreite Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf die bewußtgemachte Evidenz des akustischen Moments – das allerdings auch –, Wahrnehmung, künstlerisch in Anspruch genommen, will vielmehr ihrerseits dialektisch operieren: Die Qualität beziehungsweise die erlebbare Bedeutung des Klingenden ändert sich und präzisiert sich erneut im neugeschaffenen strukturellen Beziehungsfeld« (1990/96, 90). Struktur, Klang und Wahrnehmung sind für Lachenmann also eng aneinander gebundene, interagierende Dimensionen. Eine prägnante Formulierung findet dies in den Wortspielen des Klangtypen-Aufsatzes, eine These György Ligetis vom Zusammenfallen von Klang und Form aufgreifend (Ligeti 1960a / 2007, 103; vgl. 2.3): Ein »Strukturklang« kann ebenso als eine »Klangstruktur« gelesen werden  – und umgekehrt (1966/93/96, 17–20). Diese Perspektive mag auch hilfreich sein, um das Verhältnis zwischen Lachenmanns Klangphänomenologie und Pierre Schaeffers Theorie des objet sonore unter 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation einem neuen Aspekt zu betrachten (Nonnenmann 2000, 30–34; Hilberg 2009). Schaeffers fragwürdige Metapher des »Klangobjekts« gründet auf dem Gedanken des »reduzierten Hörens« (l ’ écoute reduite; Schaeffer 1966, 270– 272): Klänge »reduziert« oder »akusmatisch« zu hören (l ’ écout acousmatique) bedeutet, sie möglichst unabhängig von ihrer Klangquelle, ihrer Bedeutung oder (intendierten) Wirkung zu erfassen; indem so alle herkömmlichen semantischen Assoziationen ausgeschaltet werden, soll das Klangobjekt »an sich« (par lui-même) erfasst werden, ein Hörmodus, der ganz besonders durch das Hören von Tonträgern bzw. von Lautsprechermusik ohne jegliche performative Komponenten gestützt werden soll (ebd., 91–98, 152–156, passim). Auch wenn Schaeffers »reduziertes Hören« und Lachenmanns »befreite Wahrnehmung« die Grundintention teilen, musikalische Wahrnehmung von syntaktischen Kategorien zu lösen und zwar durch eine verstärkt selbstreflexive Form des Hörens (eine »sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung«, Lachenmann 1985/96, 117), so könnten die Methoden, die beide Komponisten wählen, um dieses Ziel zu erreichen, kaum gegensätzlicher sein. Schaeffers Theorie offenbart einen aussichtslosen Versuch, durch die Verdeckung performativer Anteile jegliche Assoziationen und Beziehungsbildung auszublenden und ist in ihrer Idealisierung des Lautsprecherhörens Produkt eines naiven technologischen Optimismus. Das Performative bildet dagegen das Zentrum von Lachenmanns Gedanken des »konkret« erfahrenen Strukurklangs: Erst die vollständige Hinwendung zum Akt der Klanghervorbringung bringt den Hörer an einen Punkt, an dem konventionelle metaphorische Hörstrategien bedeutungslos zu werden beginnen – einen Punkt, an dem, wie Lachenmann sagt, »Zuhören« zum »Hören« wird (Lachenmann u. a. 2008, 18 f., 28–30). Eine vermittelnde Position im Diskurs über die Bedeutung von Klang, Struktur und Aufführung für die Wahrnehmung nehmen die Texte Andy Hamiltons ein, die insbesondere die von Roger Scruton im Anschluss an Schaeffer formulierte »acousmatic thesis« zu widerlegen versuchen. Zum einen stellt Hamilton dar, dass Scrutons These von der Theorie Schaeffers klar unterschieden werden muss (Hamilton 2007, 100–103): Während Schaeffers Gedanke des »reduzierten Hörens« im Wesentlichen präskriptiv formuliert ist, mithin also eine bewusste Refokussierung des Wahrnehmungsvorgangs, eine Anstrengung seitens des Rezipienten also, erfordert, argumentiert Scruton, dass »akusmatisches Hören« ein »natürlicher« Wahrnehmungsvorgang sei, der musikalisches Hören insgesamt auszeichne: »Music is an extreme case of something that we witness throughout the sound world, which is the internal organization of sounds as pure events [deta- 40 ched from their cause]« (Scruton 2009, 64; vgl. Scruton 1997, 1–18). Hamilton wies Scrutons »acousmatic thesis« zurück, indem er mit dem Modell des »hearing-in« – in Analogie zu einer Theorie visueller Wahrnehmung bei Richard Wollheim (»seeing-in«) – die Gleichzeitigkeit einer »atomistic experience of individual sounds« und einer holistischen Erfahrung musikalischer Struktur, vermittelt durch metaphorische Kausalität annimmt (2007, 109–111; 2009, 169–173). In diesem Sinn kann von einer Interaktion morphologischer, energetischer, »haptischer« Dimensionen einerseits und metaphorischer Dimensionen andererseits bei der Wahrnehmung von Klang ausgegangen werden, die gerade für ein angemessenes Verständnis der den Bereich neuer Musik durchziehenden Klangdiskurse zentral ist. 2. Klangdiskurse der neuen Musik 2.1 Klangorganisation Der auf Varèse und Cage zurückgehende Gedanke der »Klangorganisation« (»organized sound« bzw. »organization of sound«) bezeichnete, wie angedeutet, zunächst zweifellos eine Klangpoiesis, eine Anordnung von Klängen in der Zeit durch den Komponisten, wobei der Begriff als Alternative zu einem etablierten und restriktiven Begriff von »Musik« dienen sollte, in dem »Klang« lediglich eine sekundäre Rolle zugewiesen bzw. als Resultante kompositorisch substanzieller »Tiefenstrukturen« angesehen wurde. Bereits bei Varèse ist die Begriffsbildung allerdings keineswegs eindeutig. So bezeichnete er mit »organized sound« im engeren Sinn elektronisch erzeugte Klänge (Nanz 2003, 45), zuvor und teilweise auch später noch aber auch »Musik« schlechthin, wobei er selbst die Entstehung der Formulierung auf die 1920er Jahre datierte und dabei insbesondere auf den Zusammenhang mit der Emanzipation des Geräuschs hinwies: »Although this new music is being gradually accepted, there are still people who, while admitting that it is ›interesting‹, say, ›but is it music?‹ It is a question I am only too familiar with. Until quite recently I used to hear it so often in regard to my own works, that, as far back as the twenties, I decided to call my music ›organized sound‹ and myself, not a musician, but ›a worker in rhythms, frequencies, and intensities‹. Indeed, to stubbornly conditioned ears, anything new in music has always been called noise. But after all what is music but organized noises? And a composer, like all artists, is an organizer of disparate elements. Subjectively, noise is any sound one doesn ’ t like« (1962/98, 196). Varèse übernimmt den Topos von Klang als »Rohmaterial« von Musik aus John Redfields Schrift Music, a Science and an Art (1926), das er in einer Neuausgabe aus dem Jahr 1935 besaß (Zimmermann 2006, 270). Der erste 41 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation schriftliche Nachweis von »organized sound« in Varèses Schriften findet sich 1936 (Nanz 2003, 45). Dem Begriff liegt daneben die Vorstellung einer in den Klängen angelegten »Intelligenz«, mithin ein autopoietisches Grundkonzept zugrunde (Zimmermann 2006, 270). Damit ist also von vornherein auch die Rezeptionsperspektive zumindest implizit mitbedacht. Generell lag das große Potenzial eines Komponierens mit »Klang« spätestens im zweiten Jahrzehnt in der amerikanischen Avantgarde gleichsam in der Luft: Der aus Frankreich stammende und u. a. von der musikalischen Mystik Alexander Skrjabins und der Theosophie Helena Blavatskys geprägte Dane Rudhyar (1895–1985) etwa lebte seit 1916 in den USA und verbreitete das asiatisch inspirierte Konzept der »living tones«, in dem Töne als »living reality, a sound« aufgefasst wurden und das sich dezidiert gegen die Konzentration auf die relationale Beziehung zwischen Klängen in der europäischen Kunstmusik richtete (Rudhyar 1928, 1930). Rudhyar war während der 1920er und 30er Jahre in engem Kontakt mit der amerikanischen Avantgarde um Henry Cowell, Carl Ruggles, Ruth Crawford Seeger u. a. und übte vermutlich auch nicht unwesentliche Einflüsse auf John Cage aus (Ertan 2009, 150–154). Man liegt aber wohl nicht falsch, wenn man konsequentere Einlösungen von Rudhyars Modell in Giacinto Scelsis Musik seit den späten 1950er Jahren sieht sowie in den konzeptionell verwandten meditativen Klang-Konzepten von La Monte Young, der bereits 1957 mit for Brass für Blechbläseroktett sein erstes »Lang-TonStück« komponiert hatte (Potter 2002, 30–32), und den psychoakustisch fundierten Werken James Tenneys seit dem Orchesterstück Clang (1972) (Ä Themen-Beitrag 7). Scelsi, dessen Schriften und Äußerungen zum Teil zu Rudhyar wortgleiche Formulierungen aufweisen (Reish 2001, 63–65; Ä Themen-Beitrag 9), versuchte über einen nachträglich durch Verschriftlichung »rationalisierten« intuitiven Ä Schaffensprozess ein nicht-lineares Hören zu provozieren, das von der Vorstellung eines »kugelförmigen« Klangs ausging (Scelsi 1953? / 2013, 596), dessen »Tiefe« Scelsis Musik durch das intensive und extensive Abtasten von Tonhöhenbändern ab dem Trio à cordes (1958) und den Quattro pezzi (su una nota sola) für Orchester (1959) erkunden will. Nun kann Scelsis Musik, wohl gemäß dieser Autorintention, holistisch, präsentisch oder kontemplativ gehört werden. Durch ständige leichte Verschiebungen des Klangbandes wird eine »vertikale« Desorientierung erzeugt, ebenso wie »horizontal« oft ein in die Zukunft hin offener, aber nicht gerichteter Verlauf zu konstatieren ist, der eine Erfahrung von »Präsenz« zu begünstigen scheint (Utz 2014). Ebenso sehr aber kann, und darauf haben vor allem jüngere Scelsi-Forscher hin- gewiesen, Scelsis Musik als eine dramatisch konventionell inszenierte Folge von großen Wellen verstanden werden, die durchaus herkömmlich durch cues und saliente Ereignisse gegliedert wird. Es kann vermutet werden, dass in einem konkreten Wahrnehmungsakt immer eine Art Oszillieren zwischen diesen beiden Hörmodi stattfindet, wobei ein aktiv gestaltendes Hören immer auch die Option wahrnehmen kann, »gegen« eines der beiden Paradigmata zu hören (ebd., 127–134). Cage verwendet die Bezeichnung »organization of sound« in Anlehnung an Varèse (Jostkleigrewe 2008, 67– 70) ebenfalls häufig als Synonym bzw. als Alternative für »Musik«. Cage führt diese Wendung insbesondere im Vortrag The Future of Music ein: »If this word ›music‹ is sacred and reserved for eighteenth- and nineteenth-century instruments, we can substitute a more meaningful term: organization of sound« (1938–40/78, 3). Spätestens in der zwischen den Jahren 1952 und 1958 erfolgten Wende zur Ästhetik der Unbestimmtheit wurde für Cage jedoch gerade eine solche »Organisation« von Klängen zur Negativfolie, vor der sich sein utopischer Entwurf von für Komponist wie für Hörer nicht-intentionalen Klangfolgen abhob. Auch wenn »organized sound« heute vor allem als Überbegriff in der Theorie elektronischer Musik geläufig geblieben ist (vgl. Fachzeitschrift Organised Sound seit 1996; Landy 2007), so ist doch die Attraktivität des Begriffs »Klangorganisation« als allgemeiner Terminus für intentional systematisierte und wahrnehmungspsychologische Vorgangsweisen, die das Phänomen »Klang« betreffen, deutlich (Utz / Kleinrath 2011, 2015). Denn musikalische Wahrnehmung, ja auditive Wahrnehmung insgesamt beruht auf einer (kognitiven) »Organisation« von Klangereignissen, die freilich im Falle von Musik eng an die kompositionspraktische »Organisation« von Klang gekoppelt, jedoch nicht immer linear auf diese beziehbar ist. Kompositionstechnische Strukturen entstehen historisch gesehen aus einer komplexen Wechselwirkung von künstlerischer Intention, kompositionstechnischer Umsetzung, aufführungspraktischer Interpretation und kognitiver sowie soziokultureller Rezeption, die mit dem Begriff »Klangorganisation« durchaus adäquat gefasst werden kann. 2.2 Klangkomposition 1950–1965 In Europa ging die Aufwertung von Klang zum primären kompositorischen Gegenstand mit der Abwendung von der Funktionalität von Klang und Klangfarbe im Rahmen tonaler Syntax seit dem frühen 20. Jh. einher, u. a. in Werken wie Arnold Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16,3 (1909), Claude Debussys »poème dansé« Jeux (1912) oder Anton Weberns Symphonie op. 21 (1921) 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation (Borio 2011). Nach 1945 verstärkte sich diese Tendenz zunächst vor allem mit dem Aufkommen der Formen elektronisch gestützter Komposition. Durch die Arbeit im elektronischen Studio, wo Klänge ohne Vermittlung instrumentaler oder vokaler Medien erzeugt wurden, wuchs das Bewusstsein, »Klang an sich« zu gestalten: »Der Musiker sieht sich vor die gänzlich ungewohnte Situation gestellt, den Klang selbst erschaffen zu müssen« (Boulez 1955/72, 77). Dabei wurden vor allem in der Anfangsphase »Klang« und »Klangfarbe« tendenziell synonym verstanden wie etwa in Karlheinz Stockhausens Arbeitsbericht 1952/53: »Der Komponist […] beginnt, auch den Klang in die Struktur eines Werkes einzubeziehen, die Klangfarben ihrer physikalischen Natur nach zu kom-ponieren in Hinsicht auf die Funktion, die sie in der Form des geplanten Werkes haben sollen« (Stockhausen 1953a / 63, 34). Stockhausens Einführung des Begriffs »Klangkomposition« im Jahr 1953 im Kontext der elektronischen Musik basierte so noch stark auf einer »parametrischen« Vorstellung und dem Versuch, der Klangfarbe innerhalb des »Parameterdenkens« gerecht zu werden: »Selbst wenn die Teiltöne mit ihren seriell bestimmten Intervall-, Lautstärke und Zeitdauerproportionen in einem Sinustongemisch nicht mehr einzeln hörbar werden und der Eindruck eines zu einer Einheit zusammengeschmolzenen Klangkomplexes resultiert – was ja gerade bei der ›Klangfarben-Komposition‹ besonders beabsichtigt ist – selbst dann ist es doch wesentlich, daß aufgrund einer bestimmten seriellen Auswahl und Proportionierung eine Familie von Klängen in einem Werk existiert, und daß diese Klangfamilie einen der Reihe entsprechenden Grad an Homogenität und Exklusivität erreicht, der damit für diese bestimmte Komposition charakteristisch ist« (Stockhausen 1953b / 63, 50). Zunehmend erkannte man Klangfarbe als komplexes Phänomen, das eher als Resultante denn als Bestandteil der Parameterorganisation aufzufassen war. Man hatte also gewissermaßen die ganze Zeit über schon »Klang« komponiert, wie es 1958 György Ligetis bekannte Analyse von Boulez ’ Structures Ia für zwei Klaviere (1951) besonders dort sichtbar machte, wo im dritten Abschnitt des Werkes (T. 32–39) sich sechs »Reihenfäden« überlagern und aufgrund der rhythmischen Dichte und der für alle sechs Reihen verbindlichen Oktavlagenfixierung der Töne im Grunde ein einziger pulsierender Zwölftonklang resultiert (Ligeti 1958/2007, 442). Tatsächlich hatte sich schon früh, etwa im Rahmen des Briefwechsels zwischen John Cage und Pierre Boulez, die Erkenntnis durchgesetzt, dass methodisch ein Komponieren mit »aggregates« und »constellations« – wie in Cages Music of Changes für Klavier (1951; Pritchett 1993, 78–88) – oder von »complexes de sons« bzw. »blocs sonores« – wie in Boulez ’ Le mar- 42 teau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55; Mosch 2004, 50–55)  – zu vielschichtigeren Ergebnissen führte als die Arbeit mit Einzeltönen (Ä Harmonik / Polyphonie, 3.4). Dem entsprachen Stockhausens Gedanken der von Debussy abgeleiteten »statistischen Form« und der »Gruppenkomposition« (Stockhausen 1954/63, 1955/63) wie sie im Gesang der Jünglinge (1955–56) und Gruppen für drei Orchester (1955–57) Gestalt wurden. Indem in Gruppen jede »Gruppe« durch je eigene Dichte, Bewegungsrichtung, Tempo, Dynamik und Instrumentation bestimmt ist, die dieser Gruppe damit einen komplexen »Klang-Abdruck«, eine Identität verleihen (Decroupet 1997; Misch 1999), erscheint der Formprozess als Wandel von globalen klanglichen Ähnlichkeiten und Kontrasten, wobei die Folge und Überlagerung der Gruppen keine stringente formale Dramaturgie im konventionellen Sinne mehr beschreibt, sondern – als Vorwegnahme der »Momentform« – einem grundlegenden Montageprinzip folgt (Decroupet 2002; vgl. auch Mosch 2004, 80–88); dabei verdichtet sich, besonders in den nicht seriell organisierten »Einschüben«, die Gruppenpolyphonie zu insistierenden »Klangballungen«, die prozesshafte Kontinuitäten entfalten. Gerade die Tendenz solcher an »globalen« makroformalen Prozessen orientierter Klangkomposition zur Montage, in der die »Positionierung eines bestimmten Klangs in der Gesamtform des Stücks« willkürlich schien (Borio 2011, 30), mithin das Problem der Ä Form und ihres Verhältnisses zu Klang und Klangfarbe, entwickelte sich in der Folge zu einer kontroversen Frage, in die vor allem Adornos Beiträge eine gewichtige Rolle spielten, in Gestalt der beiden Darmstädter Vorträge Vers une musique informelle (Adorno 1961/2014, 1962/78) und Funktion der Farbe in der Musik (Adorno 1966/99) (vgl. 2.3). Diese Fragen wurden kompositorisch nun zunehmend im instrumentalen Medium verhandelt, nachdem die erste Welle von Schlüsselwerken elektronischer Musik abgeklungen war. Nach den »Massenphänomene« erstmals konsequent einbeziehenden orchestralen Pionierwerken von Iannis Xenakis (Metastaseis, 1953–54, Pithoprakta, 1955–56) spielten dabei besonders die um das Jahr 1960 entstehenden Orchesterwerke von Ligeti (Apparitions, 1958–59, UA Köln 1960; Atmosphères, 1961, UA Donaueschingen 1961), Krzysztof Penderecki (Anaklasis für Streicher und Schlagzeuggruppen, 1959–60, UA Donaueschingen 1960; Tren ofiarom Hiroszimy (Threnos für die Opfer von Hiroshima) für 52 Solostreicher, 1960, UA Warschauer Herbst 1961; Fluorescences, 1961–62, UA Donaueschingen 1962) und Friedrich Cerha (Fasce für Orchester, 1959/74, Mouvements I–III für Kammerorchester, 1959–60, Spiegel I–VII für Orchester mit Elektronik, 1960–61) eine Rolle. Cerhas 43 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation Werke erfuhren dabei eine verzögerte Rezeption, da sie erst mit Verspätung uraufgeführt wurden (Mouvements 1962 in Berlin, Spiegel II 1964 in Donaueschingen, Spiegel I–VII 1972 in Graz und Fasce 1975 in Graz). Jeden Prioritätsstreit abwendend hat Ligeti die Gleichzeitigkeit von Cerhas und seinen Ansätzen mit jenen von Giacinto Scelsi (vgl. 2.1) und Penderecki hervorgehoben (1986/2007; vgl. auch Shintani 1996). Besonders Ligetis und Pendereckis Werke wurden – ungeachtet ihres teilweise sensationellen Erfolgs beim Publikum (sowohl Anaklasis als auch Atmosphères mussten bei der Donaueschinger Uraufführung aufgrund des großen Erfolgs wiederholt werden) – ausgesprochen kontrovers diskutiert, waren sie doch repräsentativ für eine globale Tendenz, die mit der experimentellen Tradition und frühen Formen des Ä Minimalismus in den USA (vgl. 2.1), Pionierwerken wie Toshirō Mayuzumis Nirvana Symphony (Nehan kokyokyoku) für Orchester und Männerchor (1958) (Ä Themen-Beitrag 9), Messiaens für 18 Solostreicher gesetzte Fläche aus Vogelgesängen im sechsten Satz Epôde aus Chronochromie für Orchester (1959–60, UA Donaueschingen 1960, im selben Konzert wie Anaklasis), dem polnischen »Sonorismus« (s. u.), den 1961 auch Witold Lutosławski mit den Jeux vénitiens für Orchester aufgriff, sowie den Ansätzen von Komponisten wie Bo Nilsson, Jan W. Morthenson, Niccolò Castiglioni, Aldo Clementi, Franco Evangelisti, Roland Kayn, Isang Yun und José Maceda eine nachdrückliche Wende hin zum kompositorischen Denken in Klangtexturen mit sich brachte. Dabei lag früh ein Topos der deutschsprachigen Musikpublizistik darin, Ligetis Verfahren als legitime Fortsetzung seriellen Strukturdenkens zu werten, Pendereckis Flächen hingegen oberflächliche Koloristik vorzuwerfen. Sprach schon Carl Dahlhaus 1960 in einer Rezension der Donaueschinger Uraufführung von Pendereckis Anaklasis von einer »fast rohen Sinnfälligkeit« der Form (»Das Differenzierteste schlägt um ins Gröbste«, zit. nach Häusler 1996, 202), so war auch Ligeti selbst in den frühen 1960er Jahren bemüht, sich von Penderecki abzugrenzen, zumal er sich infolge seines 1962 gehaltenen Darmstädter Seminars Die Komposition mit Klangfarben als »Klangfarben-Komponist« abgestempelt fühlte. Er schrieb 1964 an Harald Kaufmann, der eine Analyse von Atmosphères zur Publikation vorbereitete: »die Erfindung neuer Klangfarben […] war für mich nie Selbstzweck, sondern nur Mittel der Formgestaltung. […] (Ganz privat möchte ich Dir sagen, daß ich mich ganz entscheiden abgrenzen möchte gegen die ›polnische‹ Klangfarben-Schule  – die Gemeinsamkeiten sind nur äußerlich. Ich werde aber mit Penderecki in einen Topf geworfen, und da fühle ich mich unwohl)« (Brief an Harald Kaufmann, 9. 8. 1964, Kauf- mann 1993, 209). Noch in Hermann Danusers Darstellung nimmt die Entgegensetzung von Penderecki und Ligeti eine fast reflexhafte Wendung: »Was bei Penderecki als ein nur selten über den wirkungsästhetischen Zweck hinaus reflektiertes Mittel eingesetzt wird, nahm im Œuvre von György Ligeti als eine höchst differenzierte Kunstidee Gestalt an« (Danuser 1984/92, 388; vgl. auch denselben Topos etwa bei Häusler 1996, 211). Übersehen wird in solchen Polarisierungen, dass Pendereckis Schaffen bis zur Mitte der 1960er Jahre nicht zuletzt auch als zeitgeschichtliches Dokument einer künstlerischen Unabhängigkeit von politischer Gängelung vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs bedeutsam bleibt (ohne dass Pendereckis Musik oder die seiner Zeitgenossen auf diesen zeitgeschichtlichen Impuls reduziert werden könnte), wobei die geräuschhafte Tonsprache teilweise auch in die christlichen Bekenntniswerke Stabat Mater (1962) und Lukas-Passion (1963–66) übernommen wurde und damit im Kontext des »realen Sozialismus« zwei Provokationen miteinander koppelte (Taruskin 2005/10, 217; Ä Themen-Beitrag 8, 5.). Dasselbe galt freilich für alle anderen Vertreter des polnischen »Sonorismus«, mit denen Pendereckis Schaffen in enger Wechselwirkung stand und die ihn seit 1957 über die Darmstädter Ferienkurse informierten (Shintani 1996, 309), so etwa Kazimierz Serocki, Włodzimierz Kotoński und Henryk Górecki (Ä Osteuropa). Auch Ligetis »undurchdringliche« Klangtexturen derselben Zeit entsprangen einer regimekritischen Reflexion. Noch in Budapest hatte Ligeti die Vision einer »schwarzen« Klangflächenmusik als Gegensatz zur »roten« Musik des Sozialistischen Realismus gehabt und 1956 »taktlose« Musik in den Orchesterwerken Víziók (»Visionen«; Partitur verschollen) sowie Sötét és világos (»Dunkel und Helle«) entworfen, die dann in das zweisätzige Apparitions (1958–59) einfloss (1980/2007, 253; vgl. Borio 1993, 37–50). Mit dem Requiem (1963–65) ging Ligeti dann ebenfalls den Weg zum Bekenntniswerk, auch wenn er damit keine Gläubigkeit, sondern die Angst vor dem Tod und dem Ende der Welt zum Ausdruck bringen wollte (Sabbe 1979, 17). Selbst über den vergleichbaren politisch-sozialen Erfahrungshintergrund hinaus gibt es zumindest in der frühen Phase kompositionstechnisch neben evidenten Unterschieden zahlreiche Parallelen zwischen Pendereckis und Ligetis Verfahren, etwa die Tendenz zur Überblendung unterschiedlicher, in sich klar charakterisierter Klangtexturen in einer Art Reihungsform (Decroupet / Kovács 1997, 296), die auch ein Werk wie Xenakis’ Pithoprakta auszeichnete. Das besonders reichhaltige Repertoire an Binnenstrukturen und Übergangsgestaltungen in Ligetis Werken sticht dennoch zweifellos unter allen Werken der Zeit 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation V1 - 1 V1 - 2 V1 - 3 V1 - 4 V1 - 5 V1 - 6 V1 - 7 V1 - 8 V1 - 9 V1 - 10 V1 - 11 V1 - 12 V1 - 13 V1 - 14 fis3 g3 f3 e3 d3 d3 es3 des3 c3 b2 h2 a2 a2 as2 g3 f3 e3 d3 es3 es3 des3 c3 b2 h2 a2 as2 as2 g2 f3 e3 d3 es3 des3 des3 c3 b2 h2 a2 as2 g2 g2 f2 e3 d3 es3 des3 c3 c3 b2 h2 a2 as2 g2 f2 f2 fis2 d3 es3 des3 c3 b2 b2 h2 a2 as2 g2 f2 fis2 fis2 e2 es3 des3 c3 b2 h2 h2 a2 as2 g2 f2 fis2 e2 e2 dis2 des3 c3 b2 h2 a2 a2 as2 g2 f2 fis2 e2 dis2 dis2 cis2 c3 b2 h2 a2 as2 as2 g2 f2 fis2 e2 dis2 cis2 cis2 d2 b2 h2 a2 as2 g2 g2 f2 fis2 e2 dis2 cis2 d2 d2 c2 h2 a2 as2 g2 f2 f2 fis2 e2 dis2 cis2 d2 c2 c2 h1 a2 as2 g2 f2 fis2 fis2 e2 dis2 cis2 d2 c2 h1 h1 a1 as2 g2 f2 fis2 e2 e2 dis2 cis2 d2 c2 h1 a1 a1 b1 44 Abb. 1: György Ligeti, Atmosphères, T. 44–45, Tonhöhenfolgen in den Violinen I Abb. 2: György Ligeti, Atmosphères, T. 44–45, Dauernwerte der Violinen I (Angabe der Werte in Vierundsechzigsteln; rechte Spalte: Summe) heraus. So lassen sich allein in Atmosphères 16 unterschiedliche Verknüpfungsmodi zwischen zwei aufeinander folgenden Klangtexturen unterscheiden, die Ligeti im Vorstadium systematisch erarbeitete (De Benedictis / Decroupet 2012, 325 f.). Auf die Einflüsse der elektronischen Klangverarbeitung auf die Klangkomposition – nicht nur bei Ligeti, sondern auch bei allen anderen Komponisten der Zeit inklusive Penderecki – ist oft hingewiesen worden (Iverson 2010). Unüberhörbar ist im direkten Vergleich zwischen der von Ligeti nicht realisierten elektronischen Komposition Pièce électronique Nr. 3 (1957–58, ursprünglicher Titel: Atmosphères; 1996 durch Kees Tazelaar und Johan von Kreij am Utrechter Institute for Sonology realisiert) und der orchestralen Umsetzung Ligetis von Techniken wie additiver Synthese, aufsteigenden Stimmkreuzungen, Filtertechniken und Texturbildungen, um wie viel überzeugender diese Techniken klanglich im Orchester aufgehen. Am bekanntesten wurde dabei die von Ligeti als Mikropolyphonie bezeichnete Technik, die wesentlich durch Stockhausens Überlegungen zum Übergang zwischen Dauer und Tonhöhe in … wie die Zeit vergeht … (Stockhausen 1957/63) sowie durch die daran anknüpfenden Theorien und Verfahren Gottfried Michael Koenigs inspiriert wurde (Ligeti 1980/2007, 252–261). Ligeti war an der Realisierung von Koenigs elektronischer Komposition Essay (1957) beteiligt gewesen und bezog sich insbesondere auf Koenigs Gedanken der Bewegungsfarbe. Dabei ging es um den Übergang zwischen der Wahrnehmung distinkter Impulse oder Wellen (unter 20 Hz) und einer konti- nuierlichen Tonhöhenwahrnehmung (ab ca. 16–20 Hz). Ligeti entwickelte auf dieser Basis polyphone Verfahren, in denen durch die Überlagerung von »Zeitformanten« (d. h. unterschiedlichen rhythmischen Unterteilungen desselben Grundwertes; Stockhausen 1957/63, 109–124) mehr als 16–20 Impulse pro Sekunde entstehen und damit die Wahrnehmung auf die übergeordnete Ebene der Gesamttextur gelenkt wird. Die Technik wird in Apparitions (2. Satz, 25–37) und in Atmosphères (T. 44–53) jeweils nur einmal verwendet. Die ersten beiden Sätzen des Requiem (1963–65) bauen dann ausschließlich auf dieser Kompositionstechnik auf. Dabei knüpft Ligeti hier vor allem an die Technik des von Johannes Ockeghem perfektionierten Mensur- oder Proportionskanons an und verstärkt mit der Verwendung von Luigi Nonos allintervallischer Spreizreihe aus Incontri (1955) und dem Canto sospeso (1955–56) sogar noch den Bezug auf serielle Strukturprinzipien, die er freilich radikal im Sinne von Klangraum-Konturen umdeutet (Utz 2012, 70–73). Die durch Mikropolyphonie entstehende »vibrierende Fläche« (De Benedictis / Decroupet 2012, 328) in Atmosphères besteht aus einem Spiegelkanon in den in 48 Stimmen geteilten Streichern (14/14/10/10) über einem Orgelpunkt-Cluster der Kontrabässe (Cis–Gis). Die 28 Violinen bringen eine tendenziell chromatisch absteigende Tonhöhenfolge, Violen und Celli eine chromatisch aufsteigende, wobei (fast) jede Stimme auf einem anderen Ton einsetzt, sodass zu Beginn ein vollständiger chromatischer Cluster von c–g (= 44 Töne) entsteht. Der »Kanon« verläuft in seriell maximierter rhythmischer Variabilität: 45 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation In einer grundsätzlichen Polymetrik spielen Violinen I in fünfteiliger, Violine II und Violen in vierteiliger und Celli in dreiteiliger Taktmetrik. Abb. 1 demonstriert das Prinzip des Tonhöhenkanons anhand der ersten zwölf Tonhöhen der ersten Violinen, Abb. 2 zeigt die Unregelmäßigkeit der »statistischen« Dauernwerte anhand der ersten acht Dauern der Violinen I (Angabe der Werte in Vierundsechzigsteln, wobei im fünfteiligen Metrum 40 Vierundsechzigstel = fünf Achtel auf einen halben Takt entfallen). Für Techniken der französischen Ä Spektralmusik seit den 1970er Jahren wichtig wurden besonders spektrale Verstärkungseffekte, die sich durch die Filterung von Klangmassen in Atmosphères ergeben. Die Takte 17–21 (Abb. 3) bringen durch raffinierte dynamische Überblendungen von diatonischen Clustern (nach dem Modell des Klaviers in Tongruppen »weißer Tasten« und »schwarzer Tasten« getrennt) besonders schillernde Klangwirkungen hervor. Durch die tiefen Pedaltöne E (Kontrafagott) und Es (Tuba) bilden sich starke Spektraleffekte, sodass die Stelle in guten Einspielungen und Aufführungen wie ein farbenreicher Wechsel der Töne e und es erscheint (Abb. 3). Ähnliche Wirkungen wurden von Ligeti vor allem in Lontano für Orchester (1967) weiterentwickelt. Noch stärker als in Atmosphères wird die Raummetapher hier im Sinne durchschrittener Tonräume (»vertikal«) und dynamischer Zeitgestaltung (»horizontal«) zum Zentrum der Konzeption (Utz 2015, 46 f.). Die zu Bernd Alois Zimmermanns Klangkomposition Photoptosis für Orchester (1968) analoge Licht-Metaphorik, die Ligeti anlässlich von Lontano artikuliert, macht dabei besonders deutlich, wie sehr die Vorstellung einer Gegenwart von Klang mit farblicher Intensität und Leuchtkraft verbunden ist (ebd.). 2.3 Klang und Zeit, Klang und Form Der Einwand gegen eine vermeintlich oberflächliche Wirkungsästhetik in Werken der Klangkomposition war geprägt durch eine von Adorno bereits in der Philosophie der neuen Musik prominent artikulierte anti-französische Tendenz, in der immer wieder Berlioz’, Debussys und Strawinskys – aber auch Wagners Werke (vgl. 1.3) als Beispiele einer vermeintlichen »Verräumlichung des Zeitverlaufs« (Adorno 1949/75, 173) bzw. einer »Pseudomorphose an die Malerei« und einer »Pseudomorphose der musikalischen Zeit an den Raum« (ebd., 174, 177) herhalten mussten; dynamisch-prozessuale Formmodelle würden hier durch ein zur Willkür tendierendes Montageprinzip ersetzt. Die Kritik erneuerte Adorno 1961 in Darmstadt, wobei er vorrangig aleatorische Tendenzen im Auge hatte, aber auch eine »konsequent statische Musik« (1962/78, 517) wie sie Ligeti zeitgleich mit seinen Atmosphères ge- rade anstrebte (vgl. Ligeti 1962/2007). In seinem Vortrag vom September 1961 galt Adornos Einwand zunächst allgemein dem Prinzip der Reihungsform; er führte aus »daß es zu einer informellen Musik zum mindesten notwendig dazugehört, daß die Musik nicht länger sich erschöpft in der bloßen Reihung von voneinander kontrastierenden Klangfeldern, sondern daß […] doch zwischen diesen Abschnitten selbst solche Relationen, solche Proportionen sich herstellen müssen, daß dadurch die Musik wieder zu einem Werdenden wird, anstatt daß sie in dem Stadium der schwebenden Kadenz oder in dem Stadium der nebeneinandergestellten Teilmomente des Bildes, die in einem gewissen Sinn nun also wirklich Pseudomorphose an die Malerei sind, eigentlich sich bescheidet« (Adorno 1961/2014, 445 f.). In der schriftlichen Ausarbeitung des Vortrags, der 1962 erschien, weitete Adorno dann, ohne zwischenzeitlich die Werke Ligetis kennengelernt zu haben, diese Kritik aus, indem er die »mit übertriebener Säuberlichkeit voneinander getrennten, als Feld organisierten Klangflächen« als neues auf die »Punkte« der frühen seriellen Musik folgendes »Cliché« kennzeichnete (1962/78, 531) und bei allem Verständnis für einen Gegenimpuls zur »Dürftigkeit des Dissoziierten« in der seriellen Musik eine Gefahr vor allem darin sah, dass »der bloße Klang musikalischer Inhalt werde«: »Der Klang bietet der musikalischen Auffassung in unmittelbarer Evidenz sich dar; was aber kompositorisch sonst vorhanden ist, das Gewebe, bleibt bar solcher unmittelbaren Evidenz, uneinsichtige Folgerung aus dem System, nach dem jeweils die Parameter geordnet sind. Klang und Musik divergieren. Der Klang gewinnt durch sein Eigenleben aufs neue eine kulinarische Qualität, die mit dem Konstruktionsprinzip unvereinbar ist. Die Dichte von Satz und Farbe hat an dem dissoziativen, dem Phänomen gegenüber äußerlichen Charakter der Struktur nichts geändert. Sie wird so wenig zeitlichdynamisch wie zuvor die unverbunden nacheinander getupften Töne oder die bloß gereihten Felder. Gegen die sogenannten neo-impressionistischen Züge der jüngsten Musik wäre das einzuwenden« (ebd., 532 f.). Adorno revidierte nach Ligetis Aussage auf das erstmalige Hören von Atmosphères im Jahr 1964 hin seine skeptische Haltung gegenüber der Klangkomposition (Brief an Harald Kaufmann 6. 2. 1970, Kaufmann 1993, 253) und Harald Kaufmann argumentierte, dass Adornos Thesen »blank als gegen die von Ligeti vertretene Musik gerichtet mißverstanden werden konnten, aber inzwischen in ihrer Argumentation so lesbar sind, daß sie genau das rühmen, was Ligeti zustande brachte« (Kaufmann 1970/93, 145). Tatsächlich hielt Adorno im Vortrag von 1966 dann zwar an einer Scheidung von Klangfarbe und 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation 46 Abb. 3: György Ligeti, Atmosphères, T. 13–22, Particell »verborgener Struktur« fest (1966/99, 268), nannte aber Ligetis Werk explizit als eine entscheidende Stufe zum »Freiwerden des gleichsam absoluten Klanges«, da Ligeti »die Schranke, die dem produktiven Klang durch seinen synsemantischen Charakter dem Ton gegenüber auferlegt ist, durchbrach, indem er […] das Paradoxon einer Musik ohne Töne, nämlich ohne irgend unterscheidbare fixierte Tonhöhen zustande brachte, ohne daß es aber dabei Bruitismus wurde, also ohne daß er dem Geräuschhaften verfiel: sondern es bleibt hochartikulierte Musik« (ebd., 311). Neben Adorno war vor allem Boulez als »Gegner« der sog. »Klangflächenkomposition« aufgetreten und Adornos Polemik war vermutlich nicht unwesentlich von Boulez geprägt (Kaufmann 1993, 253; Decroupet / Kovács 1997, 284 f.). Bereits 1960 bezeichnete Boulez in seinen Darmstädter Vorlesungen die Verwendung von »Clusters und Glissandi« als Symptom »einer […] zu anfängerhaften Auffassung von Stil; ihr Mißbrauch hat in jüngster Zeit sehr rasch zur Karikatur geführt. Dieses schnell zusammengefädelte Material bürgt weiß Gott nicht für große Schärfe des Einfalls; es zeigt im Gegenteil die befremdliche Schwäche, sich mit akustisch undifferenzierten Organismen zufriedenzugeben« (1960/63, 37). Demgegenüber hatte Xenakis bereits 1955 auf dem wirkungsästhetischen, immersiven Grundprinzip seines Klangkomponierens beharrt: »Der Hörer muß gepackt und, ob er will oder nicht, in die Flugbahnen der Klänge hineingezogen werden, ohne daß er darum eine spezielle Ausbildung brauchte. Der sinnliche Schock muss ebenso eindringlich werden wie beim Anhören des Donners oder beim Blick in bodenlosen Abgrund« (Xenakis, Programmtext zu Metastaseis, 1955, zit. nach Häusler 1996, 178). Sowohl Xenakis als auch Ligeti legten dabei Wert darauf, ihre Arbeit mit Klang als »Überwindung« seriellen Denkens darzustellen (1962/2007, 181; vgl. Xenakis 1955/96), andererseits hoben sie die Kontinuität sowohl mit (post-)seriellen Verfahren als auch mit den Erfahrungen durch die elektronische Musik hervor (Ligeti 1980/2007). Entgegen Adornos »Verräumlichungsthese« thematisierte auch Friedrich Cerha in seinen Werken um das Jahr 1960 gerade das Problem der Zeit, das »kaum merkliche Fortschreiten von einem zum anderen«, in dem »Gestaltzusammenhänge« gewahrt bleiben (Cerha 1969, 57; vgl. Urbanek 2006). Solche Widerlegungen der Einwände gegen ein rein »kulinarisches« Schwelgen in Klängen dürften mit dafür verantwortlich sein, dass sich die anfangs für die neuen Tendenzen verwendeten Termini »Klangfarben-Kompo- 47 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation sition«, »Komposition mit Klangflächen« (Ligeti 1962– 64/2007) bzw. »Klangflächenkomposition« (Shintani 1996, 309) – insbesondere begründet durch die Sorge der Komponisten vor einer einseitigen Etikettierung – nicht durchsetzten und zwischen 1964 und 1971 der 1953 durch Stockhausen eingeführte Begriff »Klangkomposition« nun auch für die gesamte Tendenz verwendet wurde: Ligeti hielt am 10. Januar 1964 in Hamburg einen Vortrag mit dem Titel »Neue Möglichkeiten der Klangkomposition« (sein Seminar bei den Darmstädter Ferienkursen im selben Jahr war mit »Klangtechnik und Form« überschrieben) und Helmut Lachenmann wies 1966 darauf hin, dass »Klang-Komposition« und »Klangfarben-Komposition« keineswegs deckungsgleich seien: »Das zweite Wort ist länger, der Vorgang selbst aber bedeutend schlichter« (1966/93/96, 8). Durch die konsequente Verwendung vor allem in den Texten von Carl Dahlhaus seit 1971 etablierte sich der Begriff »Klangkomposition« als musikhistorischer bzw. stilgeschichtlicher Terminus (Dahlhaus 1971/2005) und wurde durch Danusers Darstellung dann »kodifiziert« (1984/92, 383–392). Nichtsdestotrotz blieb infolge der »Provokationen« der Klangkomposition das Thema »Form« in der ersten Hälfte der 1960er Jahre virulent, was nicht zuletzt auf eine tief in der neueren europäischen Musikgeschichte verankerte Polarisierung von Klang und Form verweist (vgl. 1.2). 1963 etwa verwies Helga Boehmer in einer Rezension des Festivals Settimane internazionali di nuova musica von Palermo »auf einen auftauchenden Manierismus der Klangkomposition, der auf die Herstellung von Zusammenhängen gänzlich verzichtete und sich mit der bloßen Präsentation ungewöhnlicher Sonoritäten begnügte« (zit. nach Borio 1993, 124). Dahlhaus wiederum erklärte, »Klangkomposition« und »Aleatorik« in einem Atemzug nennend, diese Tendenzen hätten »die Kategorie der Form in den Hintergrund gedrängt oder sogar suspendiert. Der tönende Verlauf tendiert dazu, in tönende Augenblicke zu zerfallen, die sich in sich selbst erschöpfen, statt als Teile eines Ganzen zu fungieren« (1971/2005, 225). Das Problem bloßer Reihung hatte Ligeti in seinen Darmstädter Seminaren 1962 und 1964 noch kaum offensiv thematisiert, vielmehr argumentierte er, eine wichtige Funktion der Klangfarbe sei es »die Form [zu] gliedern durch kontrastierende Instrumentalfarben, die die verschiedenen Strukturelemente voneinander abheben und so den Formablauf für unsere Wahrnehmung plastisch gestalten« (1962– 64/2007, 158), und führte zahlreiche historische Vor- und Zwischenstufen als Belege dafür an, u. a. von Haydn, Mahler, Debussy, Schönberg, Boulez und Stockhausen. Bereits 1960 aber hatte Ligeti in seinem Schlüsseltext Wandlungen der musikalischen Form Adornos Kritik an der Ver- räumlichung von Zeit aufgegriffen und daneben den mit Atmosphères dann realisierten Gedanken einer Identität von Klang und Form skizziert: »Der einzige Klang selbst, in seinem Aufbau und Ausschwingen, wurde als ein Keim der Form erkannt  – eigentlich ist er selbst schon eine, wenn auch winzige, doch autarke musikalische Form. Er dient als möglicher Archetyp Strukturabläufen und sogar umfassenden Konstruktionen. Kristallbildungen Webernscher Art sind mit diesem Formgefühl nicht mehr zu vereinbaren. Das bedeutet, daß trotz aller Raumillusion eine Neigung besteht, den Zeitablauf wieder in eine Richtung fließen zu lassen, was schließlich zum Abbau der Verräumlichung selbst führen muß« (1960a / 2007, 103). Mit Apparitions hatte Ligeti zugleich gezeigt, dass ein Komponieren mit Texturen keineswegs atemporale »Formlosigkeit« implizieren muss, sondern im Gegenteil eine neue Unmittelbarkeit musikalischer Zeiterfahrung ermöglichen konnte. Der Aufgabe des Prinzips musikalischer Erwartung in der frühen seriellen Musik (Stockhausen: »Man hält sich in der Musik auf, man bedarf nicht des Vorausgegangenen oder Folgenden, um das einzelne Anwesende (den einzelnen Ton) wahrzunehmen«, 1952/63, 21) versuchte Ligeti eine neue Qualität musikalischer Zeiterfahrung entgegenzusetzen. Dabei war eine Poetik des plötzlichen Umschlags entscheidend; daraus resultierte, so Ligeti, eine »Form […], in der dem Komponisten in jedem Moment eine Entscheidung möglich wäre, die den gesamten weiteren Verlauf auf völlig andere Pfade leiten könnte. Der Überraschungsgrad solcher Strukturen wäre groß. Es könnte Unvorhersehbares eintreten, das die Form plötzlich umkippen ließe. Die Integrität der Form bliebe aber nur gewahrt, wenn ›Überraschungen‹ nicht unorganisch, bloß äußerliche Störungseffekte wären. Vielmehr sollten sich solche heterogenen Geschehnisse in gegenseitiger Einwirkung verändern, wobei graduelle Transformationen wie auch plötzliche Mutationen möglich wären« (ebd., 95). Die Plastizität, die für die Gestaltung dieser Erwartungssituationen notwendig ist, gewinnt Ligeti im ersten Satz der Apparitions durch eine klare Konturierung von Klanggruppen nach dem Vorbild von Stockhausens Gruppen (Borio 1993, 33–57, Kunkel 1998, 9–34; vgl. 1.3). Zusammen mit den Registern, den Dichtegraden und den Zeitblöcken sind sie in ein postserielles Organisationsnetz eingebunden. Die Abfolge der Klanggruppen folgt jedoch keiner Automatik, sondern wird durch gezielte »irrationale« Eingriffe und die freie Anwendung mathematischer Proportionen in einen konsistenten Prozess gebracht (ebd., 43 f.). Ligeti gelingt so ein Formprozess, der die Erwartungssituation im Spannungsbereich von Zustand und Prozess ständig neu deutet (Utz 2013c): »Die Zustände 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation werden dabei von plötzlich eintretenden Ereignissen unterbrochen und verändern sich unter deren Einfluß, und umgekehrt« (Ligeti 1960b / 2007, 177). Resultat ist eine »Scheinkausalität« der Ereignisse: »Da sich der Grad der Zustandsänderungen zur Impulsstärke der Ereignisse annähernd proportional verhält, entsteht der Eindruck einer Kausalbeziehung zwischen Ereignissen und Zustandsänderungen. Diese Kausalbeziehung ist allerdings nur scheinbar  – Element einer bloß fingierten musikalischen Syntax« (ebd., 173). In dieser »sich vom Einzelnen her entfaltende[n] dramatische[n] Form« sah Borio das Formideal der von Adorno im Jahr darauf skizzierten Ä informellen Musik verwirklicht (1993, 56). 2.4 Klangkomposition nach 1965 Eine pointiert negative Einschätzung der Errungenschaften Ligetis und Pendereckis zeigt sich kurz darauf in Helmut Lachenmanns bekanntem seit Herbst 1963 entwickelten Aufsatz Klangtypen der Neuen Musik (1966 erstmals im Radio vorgetragen, 1970 erstmals veröffentlicht), der etwa das »primitive Simultanerlebnis des starren Farbklangs« durch Pendereckis Anaklasis illustriert, nicht ohne bissig hinzuzufügen: »Trotz der in diesem Darstellungsrahmen erforderlichen radikalen Vergröberung bei der graphischen Darstellung der Musikbeispiele konnte hier das Partiturbild so gut wie unverändert übernommen werden« (1966/93/96, 9). Obschon Lachenmann bereits 1960 Aufführungen von Apparitions und Anaklasis beigewohnt und deren Tendenz als befreiend gegenüber der »orthodoxen« Fortführung serieller Ansätze empfunden hatte (Nonnenmann 2013, 190), versuchte er sich spätestens ab 1963 nachhaltig auch von diesen Tendenzen abzugrenzen. 1962 zeigte er sich enttäuscht vom »oberflächlichen« Darmstädter Seminar Ligetis (ebd., 231), 1964 besuchte er dennoch erneut Ligetis Darmstädter Seminar »Klangtechnik und Form«, in dem Apparitions, Atmosphères und Aventures analysiert wurden. Die im Klangtypen-Aufsatz anhand von Ligetis Werken veranschaulichten Typen »Farbklang« (Atmosphères, Anfang), »Fluktuationsklang« (Atmosphères, T. 88–91, V. II) und »Texturklang« (Apparitions, 2. Satz, T. 25–29, V. II  – die in Mikropolyphonie gehaltene Passage) sind vorwiegend negativ charakterisiert (1966/93/96, 8–15). Entgegen Ligetis Akzentuierung, in der Struktur und Textur gleichberechtigt sind bzw. die Tendenz »strukturellen« Komponierens in Texturen aufzugehen im Vordergrund steht (1960a / 2007, 98), positioniert sich Lachenmann klar gegen den »PauschalEindruck« des Texturklangs und für den Strukturklang, den man »nicht beliebig fortsetzen [kann] wie eine Klangfarbe oder eine Textur« (ebd., 17). Deutlich schärfer noch formulierte Lachenmann einige Jahre darauf seine Kritik 48 an den seiner Ansicht nach »bewußt um ihrer geläufigen Wirkung willen geborgte Klischees der bürgerlichen tonalen Musikerfahrung« in Ligetis Requiem (1971/93/96, 29). Der Ausgangspunkt von Lachenmanns Klangtypologie, der zentrale Bedeutung im Rahmen der Herausbildung einer eigenen Kompositionspoetik zukommt (Nonnenmann 2000, 39–44), ist die Emanzipation des »akustisch vorgestellten Klangs« im 20. Jh. und das daraus folgende Primat einer »unmittelbar empirisch-akustischen Klangerfahrung«, die anstelle der Polarität von Konsonanz und Dissonanz tritt (1966/93/96, 1). Grundlage für Lachenmanns Typologie ist dabei das von Stockhausens Begriff der »Erlebniszeit« ableitbare Konzept einer »Eigenzeit« jeden Klangs (Ä Zeit, 1.); Lachenmann versteht darunter die »Zeit, welche erforderlich ist, um die Eigenschaft eines […] Klangs zu übermitteln« (ebd., 8). Die Typologie wird in die übergeordneten Kategorien Klang als Prozess (Kadenzklang, Strukturklang) und Klang als Zustand (Farbklang, Fluktuationsklang, Texturklang) eingeteilt, wobei vielfältige Übergangsbereiche denkbar sind. Ersichtlich ist an der Grundlage dieser Typologie, wie sehr Lachenmann bemüht ist, die Temporalität von Klang in den Vordergrund zu rücken und damit das »Formproblem« der Klangkomposition für sich zu lösen: »Form wird nicht als abstrakt oder schematisch organisierte Zeitgliederung von außen an Musik angelegt und dann mit Klängen ›gefüllt‹, sondern zeitigt sich selbst aus den konkreten Eigenschaften der Klänge« (Nonnenmann 2000, 43). Lachenmanns Kritik an der Klangkomposition der Jahre zuvor wird auch vor dem gesellschaftskritischen Impetus seiner Poetik verständlich: »für Lachenmann ist […] die Kritik am illusionistischen Schönheitsideal des Klangs Teil einer allgemeinen Ideologie- bzw. Gesellschaftskritik. An die Stelle der Ästhetik des ›reinen‹ Klangs, der wegen seiner vermeintlichen Immaterialität Mystifikationen ausgesetzt ist, tritt so eine Ästhetik der bewussten Desillusionierung. Mit den physikalisch-energetischen Bedingungen des Klangs wird eine materiale Basis der Musik freigelegt, die den schönen Schein des Klangs profaniert und die Musik den Geräuschen der Alltagswelt so weit annähert, bis sie an der durch industrielle Produktionsprozesse aller Art geprägten Alltagswelt partizipiert« (ebd.). Zentrales kompositorisches Werkzeug zur Inszenierung der Strukturklänge ist Lachenmanns Gedanke der »Klangfamilien«: Im Sinne Ludwig Wittgensteins arbeitet Lachenmann hier mit nicht-exklusiven Zuordnungen von Klangereignissen zu Familien (Neuwirth 2008; Lachenmann u. a. 2008, 20–27), d. h. ein Element oder »Modul« kann mehreren Familien gleichzeitig angehören. So werden im Zusammenwirken auch verschiedene Möglichkei- 49 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation Abb. 4: Helmut Lachenmann, Kontrakadenz, T. 21–28; annotierte Spektralanalyse ten angeboten, die »Strukturklänge« von Lachenmanns Musik beim Hören »abzutasten« bzw. eine Überlagerung oder Verbindung von »streams« wahrzunehmen  – also ein Angebot im Sinne eines performativen Hörens. Die in Abb. 4 dargestellte annotierte Spektralanalyse aus dem Orchesterwerk Kontrakadenz (1970–71) erlaubt es mindestens sechs verschiedene Klangfamilien zu unterscheiden: beschleunigte Impulse [1], kurze Impulse [2], stabile Tonhöhen [3], Tonhöhen in hohem Register [4], Blechblasinstrumente [5], »externe« Klangerzeuger [6]. Wir können beim »performativen Hören« versuchen, je eine dieser Klangfamilien »herauszuhören« oder auch ihre Interaktion und Überlagerung verfolgen. Natürlich sind nicht alle diese Wahrnehmungsoptionen in einem einzigen Hörakt realisierbar. Eine »performative Analyse« würde in der Konsequenz nicht nur »deskriptiv« reale Hörakte beschreiben, sondern auch im weitesten Sinn »präskriptiv« einen realen Hörer dazu anregen, neue bzw. immer andere Hörstrategien zu erproben (Utz 2013c, 2014; Ä Analyse, 1.4). Eine stärker affirmative Rezeption der Klangkomposition fand hingegen in der französischen Ä Spektralmusik der 1970er Jahre statt, in der mit dem Topos des »harmonie-timbre« (Murail 1984, 24) jener »liminale« Grenzbereich zwischen Klangfarbe und Harmonik fokussiert wurde, der auch Xenakis oder Ligeti faszinierte und in Pierre Schaeffers Theorie als »timbre harmonique« eine wichtige Rolle einnahm (1966, 516–528). Einer immer expliziteren Kritik an seriellen Methoden bei den jungen französischen Komponisten lagen nicht zuletzt systematische wahrnehmungspsychologische Erwägungen zugrunde, die vor allem bei Gérard Grisey zum Schlüssel der kompositorischen Poetik wurden. Hatte Grisey in frühen Werken wie Périodes für sieben Musiker (1974) und Par- tiels für 16 oder 18 Musiker (1975) zunächst unter dem Einfluss von Spektralanalysen einzelner Instrumentalklänge und Giacinto Scelsis kontemplativen Klangexplorationen eine Projektion kurzer Klangspektren in die Makroform mittels »instrumentaler Synthese« (Grisey 1979/2008; Féron 2010) und damit eine schlichte »Wellen-« oder »Atemform« entwickelt, so wurde auch für ihn das Thema der Zeitlichkeit von Klang zunehmend dringlich. Wie Ligeti rückte er dabei den Aspekt der Hörerwartung ins Zentrum. 1978 erklärte er in einem Darmstädter Vortrag den »Grad der […] Voraushörbarkeit […] zum wahren Grundstoff des Komponisten« und forderte das »Komponieren der […] wahrnehmbaren Zeit, nicht der chronometrischen Zeit«. Grisey demonstrierte dabei die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten des Zeiterlebens an den Beispielen des »Schocks« einerseits und »extrem vorhersehbaren klanglichen Ereignissen« andererseits (1978/2010, 321). Um seine Musik verstärkt mit solchen Qualitäten der Zeiterfahrung auszustatten, versuchte Grisey in Werken wie Talea für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier (1985–86) mittels Prozessen von Entropie, gefasst in der Metapher des »Unkrauts«, absehbaren Formprozessen ein mitunter abruptes Ende zu setzen (Haselböck 2009, 161–181, 235–250). Schließlich wird Klang im Sinne einer wuchernden Ausbreitung in den Raum ab den 1980er Jahren zum Schlüssel in Luigi Nonos Musik. In Nonos Spätwerk ist diese räumliche Ausbreitung von Klang unter dem Einfluss der Möglichkeiten live-elektronischer Klangtransformation Grundmedium eines existenziellen Hörbegriffs, den der Komponist als Fortsetzung seines politischen Engagements mit anderen Mitteln verstand. Die im Kontext oder in der Folge der »Hörtragödie« Prometeo (1981–85) entstandenen Werke wie À Pierre. Dell ’ azzurro silenzio, 3. Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation inquietum für Bassflöte, Kontrabassklarinette und LiveElektronik (1985–86) oder Post-prae-ludium n.1 »per Donau« für Tuba und Live-Elektronik (1987) zielen auf eine immersive Klang-Zeit-Erfahrung, der nicht zuletzt ein stark gemeinschaftlicher, kollektiver Impetus eigen ist und die über Fragmentierung des Zeitverlaufs und eine teilweise unsichtbare Form der Klangerzeugung (sowohl durch Akteure im Raum als auch durch technische Medien) ins Geschichtliche und Mythologische geweitet wird (Jeschke 1997). Mit den fortsetzt ausgebauten technologischen Möglichkeiten der Raum-Klang-Verteilung ist nach den Raum-Kompositionen der 1950er Jahre (die als wichtige Vorstufe der Klangkomposition betrachtet werden können, da sie Klangrezeption bewusst »inszenierten«) die Raumsituation in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt in der Nachfolge Nonos – verstärkt ins Zentrum von klangorientierten kompositorischen Ansätzen gerückt. Durch ein dialogisierendes Prinzip von verschiedenen quer durch den Aufführungsraum »konzertierenden« Gruppen gewann so auch Lachenmann etwa im großen Ensemblewerk Concertini (2004–05) seinen Strukturklängen neue Facetten ab, nachdem in seiner »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96) das vorletzte Bild (Nr. 23: Shō) bereits stark die raumgreifende auratische klangliche Sogwirkung der japanischen Mundorgel inszeniert hatte, nach deren Vorbild die klanglichen Verdichtungen im Schlussabschnitt von Concertini gestaltet sind (Utz 2008; Utz / Kleinrath 2011, 92–98). * Der Komplexität von »Klang-Erfahrung« als Paradigma der neuen Musik können nur wahrnehmungs- und aufführungsorientierte wissenschaftliche Ansätze gerecht werden, die Musik als klingendes Phänomen konsequent in die Betrachtung mit einbeziehen. Im Sinne der hier zusammengefassten »Befreiungstendenzen« kann musikalische Wahrnehmung dabei  – bei aller Prägung durch auditive Alltags- und Musikerfahrungen – als eigenständige und nicht apriorisch durch Regeln oder Vorschriften eingeschränkte Aktivität gelten. Dies impliziert die Hinwendung forschenden Interesses auf den performativen Akt der Klangerzeugung und musikalischen Aufführung in Live- oder auch den zunehmend überwiegenden medial vermittelten Hör-Situationen und auf entsprechende Rezeptionsstrategien, die wiederum mit der zugrunde liegenden kompositorischen »Klangpoetik« kurzzuschließen wären. So betrachtet ist die »Klangorganisation« und »Klangkomposition« der neuen Musik weiterhin als Herausforderung für hörende und forschende Aktivität zu verstehen. 50 Ä Themen-Beiträge 1, 5, 6, 7; Akustik / Psychoakustik; Form; Harmonik / Polyphonie; Spektralmusik; Wahrnehmung Abbate, Carolyn: Music  – Drastic or Gnostic?, in: Critical Inquiry 30/3 (2004), 505–536 „ Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner [1939/52], in: Die musikalischen Monographien (Gesammelte Schriften 13), Frankfurt a. M. 1971, 7–148; 497–508 „ ders.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Vers une musique informelle [1961], in: Kranichsteiner Vorlesungen (Nachgelassene Schriften 4,17), Frankfurt a. M. 2014, 381– 446 „ ders.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16, 249–540), Frankfurt a. 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Umrisse des thematischen Feldes  „ 2. Direkte und weniger direkte Bezüge zum Politischen  „ 3. Die serielle Musik als Kristallisationspunkt  „ 4. Perspektiven in Osteuropa und der DDR  „ 5. Kontroverse Deutungen  „ 6. Subkutane und evidente Weltbezüge  „ 7. Verwendung und Entgrenzung klassischer Gattungen  „ 8. »Kritische« Ansätze  „ 9. Nicht-hierarchische (Gesellschafts-)Modelle in Musikwerken  „ 10. Das Konzert als Ort der Weltbezogenheit – und seine Infragestellung „ 11. Neue Formen des Gegenwarts- und Alltagsbezugs als Paradigmenwechsel? Musik hat wohl zu allen Zeiten weltbezogene Facetten besessen. So wurde ihr bereits seit vorchristlicher Zeit, etwa in den philosophischen Schriften von Aristoteles oder Konfuzius, eine Wirksamkeit zugestanden, die bis zu Einflussnahmen im Bereich des Alltäglichen oder sogar des Politischen reicht. Bedenkt man allerdings, dass dabei vor allem spezifische Wirkungen auf der elementaren Ebene (etwa der Tonarten) thematisiert wurden, wird schnell klar, dass es im Reden über die Musik des 20. und 21. Jh.s – und damit auch in der folgenden Darstellung – doch meist um etwas anderes geht: nämlich um spezifische intentionale Setzungen von Weltbezügen, die erstens im Gehalt eines Werkes, zweitens in dessen Struktur und drittens bei dessen Titel oder in dessen Autorenkommentar gegeben sind. 1. Umrisse des thematischen Feldes Die Dimension des Politischen in der Musik ist die konkreteste und am meisten diskutierte Seite des Weltbezogenen. Bewusst wird der Aspekt der politischen Musik im Folgenden allerdings nur als Teilaspekt behandelt, ist doch die Auseinandersetzung mit ihr – von ihren Verfechtern, aber gewiss noch mehr von ihren Verächtern  – immer wieder von Einseitigkeiten oder Missverständnissen geprägt, auch manchmal von gewissermaßen allergischen Abwehrreaktionen; dass das »politische Lied« ein »garstiges« sei, meinte bekanntlich schon Johann Wolfgang von Goethe zu wissen. Der vorliegende Beitrag sucht über diese Probleme nicht dadurch hinwegzukommen, dass er diese Dimension ausklammert. Doch soll sie eingebettet werden in ein größeres Panorama, das auch andere wichtige (in der Musik der letzten Jahrzehnte teilweise präsentere) Aspekte des Weltbezugs berücksichtigt. Selbst wenn ein konkreter Weltbezug in weiten Teilen der Musikgeschichte fast stets eine grundsätzliche Option künstlerischen Handelns markierte, trat diese Dimension – im umfassenden Sinne als im Kunstwerk sichtbar werdende Anbindung an gesellschaftliche, politische oder menschliche Realitäten verstanden – im Laufe der letzten zweieinhalb Jahrhunderte deutlicher hervor und war zudem erheblichen Wandlungen unterworfen. Festzustellen ist allerdings auch, dass in den Ritualen des klassischen Ä Konzerts die Aura des Besonderen, der Welt gleichsam Enthobenen und bewusst Nichtalltäglichen das Weltbezogene tendenziell deutlich übersteigt. Gerade das war (bzw. ist) im 20. und 21. Jh. für viele Komponisten Anlass zu kritischer Distanz gegenüber diesen Ritualen. Auch rückt die hier in Rede stehende Dimension mit gewisser Regelmäßigkeit entweder ins weithin Unscheinbare oder – etwa durch das Einbinden in Fest- und Gedenkveranstaltungen – ins bloß Äußerliche, Routinierte und Repräsentative. Anders gesagt: Der Musikbetrieb kann durch die Anbindung an bestimmte Anlässe jedes noch so »weltabgewandte« Musikwerk mit Weltbezügen ausstatten. Doch er tut dies, so sei behauptet, oft in eher unspezifischer Weise. Weltbezogen bzw. welthaltig ist Musik, so kann das eingangs Festgestellte präzisiert werden, indem sie (1) Bezüge zur politischen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit akzentuiert, (2) auf Alltägliches rekurriert, (3) eine semantische Aufladung von Klangereignissen durch Assoziationen, Zitate oder Anspielungen aufweist oder (4) implizite Formen des Weltbezugs im Sinne einer neuen, zunächst verstörenden musikalischen Sprache ausprägt. Dabei versteht es sich, dass diese vier Varianten sich überschneiden können. So gibt es Beschreibungsansätze zum Aspekt des Weltbezugs in Musik, die gerade die zuletzt erwähnte Seite akzentuieren (Wellmer 2009; Mersch 2015). Freilich steht außer Frage, dass auch diese mit allen drei zuvor genannten Dimensionen gemeinsam in Erscheinung treten kann. In der Musik des 20. und 21. Jh.s gibt es hinsichtlich des Weltbezogenen – und dabei nicht nur des Politischen, sondern auch hinsichtlich anderer Formen des Alltagsund Wirklichkeitsbezugs  – klare Anzeichen einer neuen Aktualität oder sogar Dringlichkeit. Damit gehen vielerlei ungewöhnliche künstlerische Poetiken und Konzepte einher, die ehedem im Musikbereich kaum denkbar gewesen J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_4, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 55 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik wären. Das gilt besonders für die Tendenz zur Direktheit und Deutlichkeit von Bezügen zur politischen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit oder zum menschlichen Alltag. Diese Tendenz zeigt sich in ästhetisch und konzeptionell sehr unterschiedlich ausgerichteten musikalischen Werken. Zu ihnen gehören viele weltbezogene Prägungen, die von jeder äußerlichen Repräsentativität und von der Möglichkeit, in entsprechende Fest- oder Gedenkveranstaltungen eingebunden zu werden, denkbar weit abrücken. Eine solche Diagnose, so bewusst allgemein sie zunächst formuliert ist, mag als Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen dienen. Zu fragen sein wird, was die Integration von Welt- und Gegenwartsbezügen im 20. und 21. Jh. gegenüber früheren Zeiten auszeichnet und inwieweit sich ein Wandel in den Präferenzen des Konzertlebens sowie im Reden über Musik abzeichnet. Fragen wie diesen geht der vorliegende Beitrag anhand von sehr unterschiedlichen Beispielen nach. Er mündet dabei in einen Blick auf die Gegenwartssituation, in der etwas sichtbar wird, das man womöglich als Paradigmenwechsel bezeichnen kann – getragen von einer erheblichen Vielfalt an Strategien des Welt- und Gegenwartsbezuges und vor allem einer nachdrücklichen Konkretisierung von Bezügen zum außermusikalischen Alltag. Die nachfolgenden Überlegungen sind geleitet von der Überzeugung, dass mit dem in Rede stehenden Thema oft das Grundverständnis von Musik als Kunst berührt ist und damit auch wesentliche Fragen zur Rezeption und zur Präsentation von Musik ins Spiel geraten. 2. Direkte und weniger direkte Bezüge zum Politischen Man sollte bei der Betrachtung der Neuen Musik nicht unberücksichtigt lassen, dass es auch in früheren Zeiten, vor allem im 19. Jh., mancherlei direkte Gegenwartsbezogenheit gab. So war Ludwig van Beethovens bei seinen Zeitgenossen wohl beliebteste Komposition das im Dezember 1813 uraufgeführte Werk Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, das dem im Titel genannten politischen Ereignis gewidmet war, es auch hörbar zu machen suchte und dabei in seiner naturalistischen Abbildung der Schlachtsituation ein frühes Beispiel einer »Raumkomposition« darstellt. Und so war Franz Schubert im Rahmen einer satirischen Künstlergemeinschaft mit dem Namen »Unsinnsgesellschaft«, in der politische Parodien entstanden, als Komponist offenbar an dem 1817 uraufgeführten Theaterstück Feuergeist von Joseph Kupelwieser beteiligt, dessen Untertitel »Drama in 4 Aufzügen mit Chören, Maschinen und Flugwerken« einen bemerkenswert alltagsbezogenen Einsatz künstlerischer Gestaltungsmittel verrät (Steblin 1998, 14, 26 f.). Liegt es an der Dominanz einer bestimmten Rezeption der Musik als autonome Kunst, wenn uns heute solche und vergleichbare andere Musikwerke mit direkten Bezügen zu Politik und Alltag tendenziell als eher marginal erscheinen? Diese Frage ist selbst dann nicht eindeutig zu verneinen, wenn man anerkennt, dass die Dominanz der Absoluten Musik in den letzten zweihundert Jahren zu keiner Zeit wirklich unangefochten war: Stets existierten substanzielle andere Konzepte, die ihrerseits traditionsbildend waren. Aber vor allem wohl hat dieses Urteil damit zu tun, dass ein gewisses Maß an Plakativität und Aktualität – und das meinte früher in der Regel eine politische Grundierung – auch für Beethoven und Schubert schon deshalb die Ausnahme bleiben musste, weil sie den Kunstanspruch und die Dignität ihrer Arbeiten nicht gefährden wollten. Und so lässt sich konstatieren, dass die wenigen wirklich aktualitätsbezogenen Musikstücke beider Komponisten, durchaus in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Meinung, mehr als Dokumente der eigenen Zeit oder als Gelegenheitswerke denn als gewichtige überzeitliche Kunstwerke zu verstehen sind. Vergleichbares lässt sich zudem über einzelne andere Komponisten sagen. Bezeichnet ist damit nun aber ein Spannungsfeld, innerhalb dessen sich verschiedenste Werke auch des 20. und 21. Jh.s bewegen. Das Spektrum umfasst Werke von so unterschiedlichen Komponisten wie Bohuslav Martinů, Karl Amadeus Hartmann, Dmitri Schostakowitsch, Luigi Nono, Krzysztof Penderecki, Steve Reich, Hans Werner Henze oder Toshio Hosokawa (um hier nur ganz wenige Namen zu nennen. Bis in die jüngste Vergangenheit (Reichs WTC 9/11 für Streichquartett und Tonband, 2010, bezieht sich auf die Anschläge des 11. September 2001 in den USA) taten sie das, was Beethoven in Wellingtons Sieg vormachte: sich mit einem Musikwerk auf ein konkretes politisches Ereignis zu beziehen. Freilich sei damit nicht pauschal behauptet, dass die aktualitätsbezogenen Stücke dieser und anderer Komponisten bloß als Zeitdokumente von Interesse sein können. Eine vor allem für politische Musik wichtige, manchmal sogar überstrapazierte grundsätzliche Frage lautet, ob Musik mit Weltbezügen zwingend auf allgemeine Verständlichkeit und eine eindeutige Aussage (die womöglich durch Kommentar- oder Gesangstexte klar sichtbar wird) zielen muss oder welche Alternativen es jeweils gibt. Aber hierzu rechnet andererseits auch die Überlegung, ob und bis zu welchem Grad die gängigen Formate von Musik für den Konzertsaal dazu geeignet sind, Weltbezüge zu transportieren und damit diesen geschützten Raum, der von klaren hierarchischen Strukturen wie auch von eindeutigen Ritualen geprägt ist, ein Stück weit zu öffnen oder sogar zu entgrenzen. 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik Innerhalb der Tradition der den Ritualen des Konzertsaals verpflichteten Instrumentalmusik wurde gerade Beethoven zum Inbegriff eines politischen Komponierens. Hier allerdings gelangt man schnell zu einem Punkt, wo das Beharren auf Eingängigkeit oder leichter Verständlichkeit an Grenzen kommt. Denn die weltbezogene Dimension wird in Beethovens Musik zwar einerseits durch Inhalte und durch vielerlei assoziative Momente erfahrbar, die auch die Möglichkeit der tiefen Verstörung einschließen kann (ein berühmtes Beispiel ist das Dona nobis pacem aus der Missa solemnis, das eine überlieferte Form mit einer spezifischen Skepsis ausstattet; Kirkendale 1983; Möller 2005). Aber sie hat andererseits mit der strukturellen bzw. formalen Seite von Beethovens Musik zu tun. Vorbildcharakter besitzt Beethovens Komponieren bis heute auch an diesem Punkte. Und gerade hier zeichnet sich die für das tiefere Verständnis mancher Musik unentbehrliche Grundeinsicht ab, der gemäß ein Weltbezug in einem Musikwerk auch dergestalt zum Ausdruck kommen kann, dass dieser über Gewohntes bewusst hinausgreift und eine neue Sprache erschließen möchte. Es gibt nicht wenige Äußerungen zur Neuen Musik, die gerade dies für die zentrale Option eines – äußerlichen Bezügen möglichst enthobenen – politischen Komponierens ansehen (Adorno 1962/78) bzw. in ihr sogar etwas »Messianisches« erkennen (Mahnkopf 2005). Über solch implizite Formen des Weltbezugs hinausgehend gibt es allerdings noch weitere wichtige Begründungszusammenhänge für die starke Präsenz explizit weltbezogener und dabei auch dezidiert politischer Ansätze in der Musik des 20. und 21. Jh.s: Das 20. Jh. ist, kulminierend in der Barbarei der NS-Zeit und dem inkommensurablen Ereignis des Holocaust, als Jahrhundert der alles erschütternden Kriege in die Geschichte eingegangen. Und die im Feld der Neuen Musik oft (wenn auch gewiss nicht bei allen Werkkonzepten) zu beobachtende erhebliche Skepsis gegenüber (zu) großer Eindeutigkeit hat auch damit zu tun, dass aus der NS-Zeit und auch aus der stalinistischen Sowjetunion so nachdrückliche Beispiele plakativer politischer Musik mit prekärer Tendenz überliefert sind. Selbstverständlich erscheint heute die Einsicht, dass ein unmittelbar nachvollziehbarer politischer Effekt bzw. eine direkte eingreifende Wirkung von Musik nur in wenigen  – in jedem Einzelfall durch die jeweilige politische Gesamtsituation geprägten – Ausnahmefällen zu erwarten sind. Doch über die punktuellen Werke mit dezidiert politischem Bezug hinaus, auf die inzwischen auch die Musikwissenschaft eingegangen ist und deren Spektrum bis zu Kompositionen reicht, die auch in Zeiten der Politisierung von Musik (John 1994) als offiziöse »Staatsmusik« bezeichnet werden können (Heister 1997, 56 1669), lässt sich sagen, dass ein erheblicher Teil der Musik des 20. und 21. Jh.s zumindest Momente weltbezogener Einschreibungen aufweist. Gemeint ist damit die semantische Aufladung oder Anreicherung von Klangmaterial durch Assoziationen, Zitate und Anspielungen. Beachtung verdient bei einem Thema wie diesem das erhebliche Maß an weltbezogenen Musikstücken außerhalb dessen, was gemeinhin als Neue Musik bezeichnet wird. Man denke nur an die stark politischen Konnotationen im Free Jazz (namentlich in den USA, aber auch etwa in der DDR) oder an die vielfältigen Facetten des politischen Liedes, etwa im Feld der Rock- und Popmusik (auch in geographischen Kontexten weit außerhalb Europas), denen oft ein erhebliches Potenzial an Wirkungskraft innewohnt. Gerade hier findet sich vieles, das bis heute als Ausdruck von Widerständigkeit rezipiert wird. Diese gehört in zentraler Weise zur Identität nicht weniger Musiker (und natürlich auch von Musikhörenden), selbst wenn es heute, nach den politischen Ereignissen von 1989/90, vor allem im deutschsprachigen Bereich wohl nur relativ wenige bekannte Musiker mit dezidiert politischer Ausrichtung gibt. Ein markantes Beispiel aus dem Bereich des Free Jazz ist Günter »Baby« Sommer, der  – nachdrücklich geprägt von einer widerständigen Haltung im Kontext einer Diktatur  – teils in Kooperation mit Literaten bis heute immer wieder entschieden politisch ausgerichtete Projekte entwickelt. Dabei liegen Berührungspunkte mit den Ansätzen verschiedener Komponisten Neuer Musik auf der Hand. Hanns Eisler mit seinen äußerst nachdrücklichen Liedern, aber auch mit weiten Teilen seines sonstigen Schaffens ist dafür eines der prominentesten Beispiele (John 1998). Wie vielschichtig Eislers politische Musik tatsächlich ist, hat auf künstlerischerem Wege etwa Heiner Goebbels in seinem Stück Eislermaterial (1998) gezeigt. Doch sucht man im Bereich jener Musik des 20. Jh.s, die mit der Erfahrung von Propaganda- oder direkter Widerstandsmusik ausgestattet ist, nach signifikanten Erweiterungen der kompositorischen Möglichkeitsräume, ist ein Blick auf das Werk des in Berlin geborenen Komponisten Stefan Wolpe wohl noch ergiebiger. Wolpe nämlich, der in den 1930er Jahren in die USA emigrierte und zeitweise Agitprop-Lieder komponierte, schrieb nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sein Quartet für Trompete, Saxophon, Schlagzeug und Klavier (1950), in dem er die alte Idee von »Kampfmusiken« verarbeitet und gleichzeitig auf originelle Weise zur Reflexion bringt. »The quartet is one of my best Kampfmusiken, as one called it so most scheußlicherweise in Germany. Es ist populism, and my personal human radicalism, mit offenen Armen gesungen«, formulierte der Komponist in seinem Kommentar 57 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik zu diesem Werk und betonte, dieses solle möglichst »auch auf öffentlichen Plätzen gespielt werden« (Wolpe im Brief an Josef Marx, 1954, zit. nach Hiekel 1999, 7). Insbesondere dann, wenn man einräumt, dass der Kommentar dieses Kammermusikwerkes als Epitext zu diesem untrennbar dazu gehört und diesem eine stark konzeptionelle Dimension verleiht, kann Wolpes Werk als ein – zuweilen missverstandener  – Versuch gelten, das in der NS-Zeit korrumpierte politische Komponieren sozusagen zu retten und zu erneuern. Jazzelemente erscheinen dem Komponisten dabei, wie er wenig später in seinem Darmstädter Vortrag Über neue (und nicht so neue) Musik in Amerika auch verbal unterstrich (Wolpe 1956/97), als etwas Innovatives und Befreiendes. Dies deutet auf eine in ihrer Relevanz für die Neue Musik des 20. Jh.s noch nicht genügend beachtete Sichtweise (Hiekel 1999), die auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg (etwa bei Erwin Schulhoff ) existierte, die sich später auch bei anderen Komponisten (etwa Bernd Alois Zimmermann) manifestierte – und die natürlich mit dem Denken nicht weniger namhafter Jazzmusiker des 20. Jh.s (wie etwa Ornette Coleman) konvergiert (Ä Themen-Beitrag 2, 11.). Wichtig für die in Wolpes Stück hörbar werdenden Momente der Suspendierung eines mitreißenden Gestus, die wie eine produktive Reflexion der Usancen »klassischer« politischer Musik erscheint, ist der Bezug zum Ä Jazz. Hervorzuheben scheint dieser Aspekt gerade deswegen, da er für eine Abweichung von den auch in diesem Felde so präsenten Klischees der Musikdarbietung und vom Ideal leichter Verständlichkeit steht (insofern überrascht es auch nicht, dass Wolpes Ansatz in den USA zuweilen gerade mit Blick auf das Kriterium der Publikumswirkung als unzureichend kritisiert wurde; vgl. Taruskin 2005, 540). Sucht man in der Musik der nachfolgenden Generationen nach Parallelen oder Ähnlichkeiten zu Wolpes Ansatz der absichtlichen Brechung vertrauter Idiomatik, wird man etwa im Schaffen von Mauricio Kagel fündig, namentlich bei seinem Werk 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen für Bläser und Schlagzeug (1978–79). Dabei liegt ein gewisser Unterschied darin, dass Kagels Märsche als Karikatur politischer Entschiedenheit die ironische Dimension verschärfen (Ä Humor, 3.1). Daraus spricht ein genereller Zweifel, ob es eine substanzielle Musik heute überhaupt noch geben kann, die mit mitreißenden Momenten zu tun hat. Kagel  – der im Diskurs über Neue Musik eher selten auch als ein »politischer« Komponist wahrgenommen wird – ist noch in einem anderen Werk vergleichbar markant auf einen vertrauten Gestus aus dem Bereich des Politischen eingegangen: Im vierten Teil seiner Komposition …, den 24.XII.1932 für Bariton und Instrumente (1988–92), die den Untertitel »Verstümmelte Nachrichten« trägt und auf Zeugnisse des Alltags von 1932 rekurriert, wird anhand einer Zigarrenreklame (es geht um eine Marke mit dem vieldeutigen Namen »Parole«) auf trefflich »subversive« Weise das Gehabe von NSLeuten persifliert. Kagel hat hier eine Einsicht aktualisiert, die zwar für Eisler oder Wolpe noch selbstverständlich war, aber in späteren Zeiten im Musikbereich anders als im Kontext anderer Künste (vor allem im Bereich politischer Karikaturen) weithin aus dem Blick geraten ist: dass nämlich Ironie ein probates Mittel politischer Reflexion sein kann. 3. Die serielle Musik als Kristallisationspunkt Es ist anhand einer Vielzahl von Publikationen, aber vor allem auch anhand unzähliger Äußerungen von Komponisten ersichtlich, dass die Neue Musik der 1950er Jahre einen der bevorzugten Kristallisationspunkte der Diskussionen zur Musikgeschichte, aber insbesondere für etliche Meinungen und Überlegungen zu Fragen des Gegenwarts- oder Weltbezugs der neueren Musik markiert. Dabei ging bzw. geht es allerdings zumeist nicht um eine – ja immerhin auch in Darmstadt zur Diskussion gestellte – Position wie die von Wolpe, der an die Erfahrung des politischen Komponierens der Zwischenkriegszeit unter veränderten Vorzeichen anzuknüpfen suchte. Sondern es ging bekanntlich mehr um die Idee der Ä seriellen Musik. Diese jedoch scheint nun  – folgt man der bislang vorherrschenden Rezeption – eher die Abkoppelung von der »Welt« als deren bewusste Akzentuierung zu bezeichnen. Tatsächlich liegt auf der Hand, dass die durch serielle Musik repräsentierte radikale musikästhetische Position denkbar weit von jenen plakativen, nicht selten von mutwilliger Usurpation bestimmten Welt- und Gegenwartsbezügen entfernt ist, die man in Jahrzehnten zuvor erleben konnte, kulminierend in der prekären Funktionalisierung von Musik im Hitler-Regime. Doch andererseits kann diskutiert werden, ob und inwieweit diese Distanz dafür steht, gleichsam ex negativo auf die Usancen dezidiert politischen Komponierens, wie man es in der NS-Zeit oder im Stalinismus erleben konnte, zu reagieren. Es scheint nun allerdings, dass an diesem Punkte der zeitgeschichtliche Bezug oft erheblich übertrieben wurde. Dies gilt erstens etwa für eine (möglicherweise ironisch gemeinte) Formel wie die des Komponisten Nicolaus A. Huber, der zufolge die serielle Musik eine »Entnazifizierungs-Zwölftontechnik« war (Huber 1974/2000, 57). Aber es gilt zweitens auch für Theodor W. Adornos Diagnose zur Musik dieser Zeit (auf die noch kurz einzugehen sein wird). Und es gilt drittens für manche Statements von Kritikern der Musik dieser Zeit, die diese ausschließlich auf ein zeitge- 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik schichtliches Phänomen zu reduzieren versuchten, ohne die Potenziale des Neuansatzes zu registrieren (vgl. 5.). 4. Perspektiven in Osteuropa und der DDR Unter dem Aspekt des Welt- oder Gegenwartsbezugs wird im Diskurs über Neue Musik noch ein weiteres, ganz anderes Gegenbild zu dem, was die Idee der seriellen Musik im Kern meinte, geltend gemacht: nämlich jene Festlegung auf Verständlichkeit und auf eine bestimmte, leicht einsehbare Form des Weltbezugs, wie sie zeitgleich und teilweise auch noch in den Jahrzehnten danach in den sog. Ostblock-Ländern von vielen öffentlichen Instanzen propagiert wurde (Ä Osteuropa). Es ging in diesem Zusammenhang nicht in einem mit Mitteleuropa vergleichbaren Maße um Innovation (obwohl man diesen Aspekt vor allem mit Blick auf spätere Entwicklungen keineswegs ganz von der Hand weisen sollte). Sondern es ging zunächst um Kontinuität und um die Bewahrung des Erbes der Musik der Zwischenkriegszeit (was namentlich in der DDR auch als explizit antifaschistische Haltung gewertet werden konnte und durch Hanns Eislers und Bertolt Brechts Rückkehr aus der von Kommunistenverfolgungen geprägten USA in die DDR nachdrücklich beglaubigt wurde). In der Sowjetunion, in Polen, der Tschechoslowakei oder der DDR war ein Komponieren mit deutlichen Bezügen zur (politischen) Gegenwart jahrzehntelang verbreitet. Hier war ein Rekurs auch auf manche einschlägige politische Themen erwünscht  – obzwar diese in jedem der Staaten etwas anders definiert wurden (das Spektrum reichte von antifaschistischer Haltung bis zu unverhohlener sozialistischer Propaganda). Es überrascht nicht (und sollte auch aus heutiger Sicht auch nicht vorschnell als künstlerisches Defizit der Neuen Musik dieser Zeit und dieses geographischen Raumes verbucht werden), dass es in manchen Fällen gewisse Überschneidungen zwischen dem staatlich Verordneten und der jeweiligen musikalischen Ä Avantgarde gab, obschon diese sich ja gemeinhin gerade durch den Widerspruch gegenüber dem Verordneten definierte. Der schon angedeutete Bezug zum Komponieren von Beethoven besitzt innerhalb des staatssozialistischen Kontextes besondere Relevanz. Diese Tendenz führt über Schostakowitsch deutlich hinaus und gilt vor allem im Kontext der großen sinfonischen Programme, die in fast allen Ostblock-Staaten Verbreitung fanden und fast überall auch zeitgenössische Komponisten in erheblichem Maße einbezogen. Hinter ihr darf man nicht zuletzt das Ziel vermuten, die geschichtliche Dimension des eigenen künstlerischen Tuns zu unterstreichen. Musikgeschichtlich interessant und aufschlussreich wird diese Tendenz hauptsächlich dadurch, dass sie (im Sinne der schon an- 58 gedeuteten Rezeption Beethovens als Inbegriff des Innovativen, von Gewohnheiten Abweichenden) immer wieder auch die Möglichkeit einer verdeckten subversiven Implikation einschloss, die sich gegen die Machthaber richtete. Um wenigstens ein Beispiel hierfür zu nennen, das für jene musikalische Avantgarde in der Sowjetunion steht, die sich einer bewussten Abweichung vom staatlich Verordneten offenbar weithin bewusst war: In Alexander Wustins Hommage à Beethoven für Perkussion und kleines Orchester (1984) wird ein Beethovenscher Satz zunächst ausführlich zitiert und durchgeführt, um später ganz plötzlich vom Schlagzeugensemble aus den Angeln gehoben zu werden. Es scheint, als gerate hier Beethoven mitsamt dem humanistischen Potenzial, für das er steht, gleichsam unter die Räder. Wustin geht es mit diesem Beethoven-Bezug offenbar um einen Appell an die Freiheit. Wer diese Freiheit durch Repressalien außer Kraft gesetzt habe, war – so berichtete der Komponist später – allen hellhörigen Besuchern bei der Uraufführung im Jahr 1984 sehr wohl bewusst (Hiekel 2014). Bei Dmitri Schostakowitsch finden sich – keineswegs überraschend angesichts der biographischen Situation des Komponisten in der Sowjetunion  – politische Akzente überaus unterschiedlicher Art. Da gibt es einerseits machtvoll auftrumpfende Gesten, die zumindest auf den ersten Blick kaum im Widerspruch zu den Kunstdoktrinen jenes Staates standen, in dem er lebte. Aber da gibt es andererseits  – vor allem im Spätwerk  – auch zutiefst düstere und verrätselte politische Botschaften. Trotz einer enormen Forschung zu Schostakowitsch seit 1989 ist bislang noch nicht hinreichend geklärt, inwieweit manche offizielle Leitlinien des Landes, denen er ausgesetzt war, mit den Intentionen des Komponisten konvergierten und wo die »subversiven« Momente seines Schaffens wirklich beginnen. Die Behauptung liegt jedoch nahe, dass auch manche der machtvollen, scheinbar politisch opportunen Momente in einigen von Schostakowitschs Werken ihrerseits enigmatische oder karikaturartige Elemente aufweisen. Sie wären dann als bewusste Übererfüllung oder Persiflage der auf Optimismus und glatte Verständlichkeit zielenden Normen des Sozialistischen Realismus zu deuten (vgl. Gülke 1994, 110–116; Hiekel 2012). Mit Blick auf das Schaffen von Schostakowitsch wie etwa auch anhand des mit ihm befreundeten Benjamin Britten  – der mit dem War Requiem 1961–62 ein ausdrücklich auf die Erfahrungen der Weltkriege bezogenes, oft gespieltes oratorisches Werk schuf – ist die Interpretation geläufig, dass hier durch die weitgehende Übernahme des musikalischen Gesten- und Affektrepertoires der klassisch-romantischen Musik ein Art Gegenmodell zu weltbezogenen Strategien vor allem westeuropäischer Neuer Musik vorliegt. Doch 59 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik gibt es auch plausible Schostakowitsch-Deutungen, die eher das Gemeinsame betonen (Rihm 1986/97). Vor allem aber sollte man vorsichtig sein, eine solche Diagnose pauschal auf andere Komponisten aus dem Kontext der ehemaligen Ostblock-Staaten zu übertragen. Eine deutliche Tendenz zur Suche nach weniger traditionsbezogenen Lösungen wird namentlich etwa im Falle vieler DDR-Komponisten dann sichtbar, wenn man die kompositorischen Entwicklungen der 1970er und 1980er Jahre mit einbezieht. Im Kontext dieses Landes jedenfalls bildete sich, vermittelt wohl nicht zuletzt durch Eislers Generationsgenossen Paul Dessau, mehr und mehr die Identität einer widerständig und kritisch ausgerichteten Neuen Musik heraus, die sich mit der damals oft als »westeuropäisch« bezeichneten Avantgarde berührte oder von dieser sogar beeinflusst war (Schneider 2004). Referenzpunkte bildeten dabei u. a. die weltbezogenen Ansätze von Nono und Zimmermann (vgl. 7.). Politisches Komponieren aus dem DDR-Kontext meint mithin keineswegs durchgehend, dass der auf einfache Verständlichkeit ausgerichtete, von humanistisch gestimmtem Pathos und einem zuweilen feierlichen Grundgestus bestimmte Tonfall eines Werkes wie Eislers Deutscher Sinfonie (1935– 57) aufgegriffen und fortgeschrieben worden wäre. Freilich konnte sich jedes Abweichen vom doktrinären Sozialistischen Realismus sogar auf Eisler selbst berufen, hatte dieser doch gesprächsweise bemerkt: »wenn jetzt Tausende ohne konkreten Anlass immer ›durch Nacht zum Licht‹ […] komponieren, wird das langweilig«, um im selben Zusammenhang auf »eine Art tiefsinnigen Schwulst […] des so genannten bedeutenden symphonischen Werkes« hinzuweisen (Eisler 1975, 232 f.). Eisler meinte damit manche Sinfonik des 20. Jh.s auch und gerade in jenem Kontext, in dem er lebte. Musikwerke, die diese Distanz der Leitfigur Eisler gegenüber der puren Affirmation beherzigen und zugleich eine politische Akzentuierung in sich tragen, entstanden im Kontext gerade der DDR in nicht geringer Anzahl. Ein erkennbar kritisch getöntes Beispiel für die in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks so wichtige Gattung des Oratoriums, das in der Nachfolge Beethovens zum Idealtypus politischen Komponierens wurde, ist Wilfried Krätzschmars Komposition Heine-Szenen (1983). Dieses Beispiel steht dafür, dass die Erwartung einer »staatstragend« optimistischen Tönung immer wieder beharrlich unterlaufen wurde. Dabei ging in diesem Falle eine aufrüttelnde und für manche irritierende Wirkung in starkem Maße von den Texten aus. Dieses, gepaart mit dem (bewussten) Mangel an Zuversicht, der von diesem Werk ausgeht, sorgte für einen Skandal (Sřamek 2005), durch den der Komponist jene Position »zwischen alle[n] Fronten« (Krätzschmar 2011, 98) festigte, die auch durch einzelne seiner rein instrumentalen Werke hervorgerufen wurde. Ein vergleichbares Beispiel aus dem Bereich der ebenfalls öffentlichkeitswirksamen – und daher mit spezifischen Erwartungen verbundenen  – Orchestermusik ist Friedrich Schenkers Fanal Spanien 1936 (Hommage à Paul Dessau) aus dem Jahr 1981. Das Werk ist trotz der im Titel aufscheinenden Konkretheit, die (wie der Anlass selbst) durchaus auf eine gewisse Vorliebe des Musiklebens in der DDR deutet, erkennbar auf Überzeitlichkeit ausgerichtet. Dies kommt nicht zuletzt in der Verklammerung unterschiedlichster Lieder aus verschiedenen Zeiten zum Ausdruck  – so steht das polnische Revolutionslied Warschawjanka neben der Marseillaise, der Internationale, dem italienischen Revolutionslied Bandiera Rossa und dem als Verhöhnung Francisco Francos gesungenen spanischen Lied Mamita Mia. Freilich ist der Weltbezug dieses Werkes  – das in seinen collageartigen Setzungen offenbar von Zimmermann oder Charles Ives, aber wohl auch vom Widmungsträger Dessau beeinflusst ist – von einer wuchtigen Energieentfaltung getragen, die man unschwer als Tonfall des Aufbegehrens zu deuten vermag. In seiner verstörenden Heftigkeit geht ein Werk wie dieses doch über das hinaus, was hier – wie zum Teil natürlich auch im anderen deutschen Staat – in Konzertwerken weithin üblich war. Darin wird sichtbar, dass es Schenker – und Ähnliches kann man auch für seine Generationsgenossen Krätzschmar, Reiner Bredemeyer, PaulHeinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Jörg Herchet, Lothar Voigtländer oder Christfried Schmidt sagen – gerade auch in Instrumentalmusik darum gehen konnte »neue, nicht korrumpierbare und nicht gesellschaftlich funktionalisierbare musikalische Mittel« zu schaffen (Massow 2004, 159, vgl. auch Schneider 1979). Dies deutet auf ein breiteres (und gewiss adäquates) Verständnis von Autonomie, die als »eine weitgehend souveräne Beziehung der Kunst zur Gesellschaft« (Massow 2004, 157) keineswegs etwas Apolitisches meint. 5. Kontroverse Deutungen Für Komponisten wie die zuletzt genannten, aber auch für etliche andere war es selbstverständlich, im eigenen künstlerischen Handeln etwas zu leisten, was auch jenseits des Eisernen Vorhangs von einigen ihrer Generationsgenossen  – nicht zuletzt jenen mit einer Tendenz zum »dialektischen Komponieren« (Hilberg 2000)  – intendiert war: das Ausformulieren eines entschiedenen Ausdrucks von Hellhörigkeit und Wachsamkeit, zugleich das Opponieren gegen eine vordergründig affirmative Grundhaltung sowie eine Tendenz zu manchmal deutlichen Weltbezügen. Dabei zeigt sich ein Verantwortungs- 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik gefühl gegenüber der Gesellschaft darin, dass ästhetische und politische Dimensionen unauflöslich miteinander verwoben sind – wobei letztere sowohl implizit als auch (zumindest bei einzelnen Komponisten) explizit zum Ausdruck kommen konnten. Mit Blick auf die Koexistenz der westlichen Avantgarde und der Musikentwicklung in den Ostblock-Ländern wurde trotz solcher unübersehbarer Konvergenzen zuweilen gefragt, inwieweit das eine vom anderen gerade darin abhängig gewesen ist. Kann also, pointiert formuliert, die auf der Hand liegende Polarität zwischen der Idee der seriellen Musik und jener des Sozialistischen Realismus auch so verstanden werden, dass das eine die Reaktion auf das andere darstellt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist kaum möglich, aber auch an Punkten wie diesem ist vor der Überbetonung einfacher Dichotomien zu warnen. Denn erstens gab es nicht nur in der westlichen Avantgarde, sondern auch innerhalb des Ostblocks, mancherlei unterschiedliche Strömungen und Ansätze. Zu denken ist hier etwa an die erheblichen Differenzen, die hinsichtlich der Deutlichkeit der jeweiligen Aussage zwischen den beiden namhaften DDR-Komponisten Siegfried Matthus und Paul-Heinz Dittrich bestehen – wobei gerade die ästhetische Ausrichtung des zuletzt Genannten einen Inbegriff für die Tatsache darstellt, dass es in der DDR jenseits des staatstragend Repräsentativen auch verrätselte und düstere Tönungen gab (Hiekel 2005), überdies auch einen Strukturgedanken, der mit dem Dekonstruktivismus in Zusammenhang gebracht werden kann (Noeske 2005, 2007). Erwähnt sei aber auch die religiöse Prägung etlicher Musikwerke mitsamt manchen politischen und widerständigen Assoziationsmöglichkeiten (Beispiele dafür finden sich etwa im Schaffen von Jörg Herchet, Marek Kopelent oder Sofia Gubaidulina, Ä Themen-Beitrag 8). Dennoch waren manche stark mit gesellschaftlichem Gehalt aufgeladene Werke noch aus der Spätzeit der DDR vielleicht tatsächlich auch von der Idee beflügelt, eine Art Antwort auf die serielle Musik und die von ihr ausgehenden Traditionen in Westeuropa zu sein. Und diese Antwort sollte einen entschieden größeren Weltbezug besitzen. Udo Zimmermanns Kammeroper Die Weiße Rose (1967–68) etwa, bis heute eines der meistaufgeführten Musiktheaterwerke des 20. Jh.s und auch nach dem Fall der Mauer ein Referenzwerk für eine ebenso suggestive wie effektvolle Vergegenwärtigung der Geschichte sowie der Bedrohungen des Totalitarismus, ist dafür ein Beispiel – freilich lassen sich auch zu diesem Werk, etwa im Schaffen von Henze, Parallelen aus dem Kontext des anderen deutschen Staates finden. In manchen Deutungen der neueren Musikgeschichte wurde nun allerdings noch einen Schritt weitergegangen 60 und sogar davon ausgegangen, dass die serielle Musik ihrerseits als Reaktion des »Westens« auf die Verständlichkeits-Doktrinen des Ostblocks zu deuten und als solche ein Ausdruck des Kalten Kriegs gewesen sei (Blomann 2015). Mit Blick auf die – zuweilen unbezweifelbar präsente  – Ideologie des Fortschritts entsteht so der Eindruck, als sei die Geschichte der Musik zwischen 1945 und 1989 eine Art Wettrüsten gewesen. Diese Sichtweise stützt sich auf die inzwischen hinreichend bekannte Tatsache, dass es Aufführungen Neuer Musik gab, die von staatlichen Institutionen bis hin zum amerikanischen CIA unterstützt wurden (Tischer 2011). Mit den nicht zuletzt von Richard Taruskin angestoßenen und dann auch von anderen Autoren aufgegriffenen Überlegungen zu Einflüssen des Kalten Kriegs sind gewiss in manchen Fällen wichtige Aspekte jenes Teils des damaligen Diskurses über Musik angesprochen, der entweder Anzeichen eines ideologischen Denkens oder zumindest eine ideologische Sprache aufweist. »Die Rhetorik der frühen Jahre des Kalten Krieges schlich sich in die musikalische Diskussion«, merkte hierzu der Musikjournalist Alex Ross in seinem viel gelesenen Buch The Rest is Noise (2009, 395) an. Er zitierte als Beispiel Leonard Bernstein, der über Strawinskys Hinwendung zur Zwölftontechnik äußerte: »Das war, als sei ein General ins Feindeslager übergelaufen und habe all seine treuen Regimenter mitgenommen« (ebd.). Heikel indes werden die Pauschalurteile, die Ross an solche Bemerkungen über die damalige Sprache der Auseinandersetzungen knüpft: »In den Dreißigern und Vierzigern wurde die gesamte romantische Tradition praktisch von den totalitären Regimes annektiert. Doch nichts davon konnte sich mit dem messen, was nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Beginn des Kalten Krieges geschah« (ebd., 394). Abseits solcher journalistischen Überspitzungen sollte man – was zuweilen nicht genügend geschieht – deutlich genug unterscheiden zwischen dem, was an Ideologischem in den Diskurs der damaligen Zeit eindrang (und das war nicht wenig) und was in der Musik selbst sich damals ereignete. Das Problem des vorwiegend US-amerikanischen Diskurses zu solchen Fragen liegt darin, dass (im schon angedeuteten Sinne) manchmal einseitig von einem Verständlichkeitsideal als Maßstab jedweder Beurteilung von Musik ausgegangen wird, wie es sich in den letzten Jahrzehnten im US-amerikanischen Mainstream herausgebildet hat (Ä Themen-Beitrag 2). Dadurch schleichen sich rigorose  – ihrerseits ideologische  – Pauschalurteile in die Darstellungen ein, die einer adäquaten Auseinandersetzung mit der Musik der Nachkriegszeit im Wege stehen. Diese können sich durchaus mit gewissem Grund darauf berufen, dass es auf beiden Seiten des Eisernen 61 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik Vorhangs eine Kulturförderung mit ideologischer Absicht gab. Allerdings ist in den meisten Fällen deutlich genug zu trennen zwischen den Ambitionen von Institutionen wie dem CIA und jenen der Musikschaffenden. Und es würde die Entwicklungen in den 1950er Jahren verzerren, wollte man behaupten, dass die serielle Musik ein Produkt des Kalten Kriegs war  – selbst wenn man bemerken kann, dass sich in manchen Äußerungen auch von ihren Protagonisten ein Tonfall bemerkbar machte, der von jenem ideologischer Abgrenzungsrituale nicht weit entfernt oder sogar von diesen beeinflusst war. Betrachtet man den (oft weniger von musikwissenschaftlicher als von musikjournalistischer Seite bestimmten) Diskurs zu diesem Bereich, fallen einige argumentative Schieflagen auf, die mit bestimmten Aversionen zu tun haben: auf der einen Seite mit der namentlich im deutschsprachigen Bereich präsenten Aversion gegen dezidiert politische Musik (was auch an der Distanz gegenüber Eisler lange Zeit deutlich wurde; vgl. Hiekel 1999), auf der anderen Seite mit jener (ebenfalls schon angedeuteten) gegenüber der seriellen Musik. Inzwischen recht häufig diskutierte Beispiele finden sich auf der einen Seite etwa bei Carl Dahlhaus, namentlich in seinen Thesen über engagierte Musik (Dahlhaus 1972) und auf der anderen in Richard Taruskins viel beachteter Publikation The Oxford History of Western Music (Taruskin 2005; vgl. hierzu Shreffler 2011, 2015). Während Dahlhaus sich allzu sehr auf jene politische Musik mit bewusst überdeutlichen Akzenten konzentriert, für die vor allem der Name Hanns Eisler steht, tendiert Taruskin dazu, den gesamten Verlauf der neueren Musik einseitig nach Maßgabe seiner »Cold war fantasies« (Shreffler 2015, 56) zu beurteilen  – »in Taruskins Ideologie ist der letzte Sinn aller Kunst sozial«, lautet ein treffender Satz des amerikanischen Komponisten Franklin Cox (Cox 2012, 101) zu diesem musikgeschichtlichen Beschreibungsversuch. Tatsächlich neigen gerade Ansätze wie dieser, die Musik nahezu ausschließlich von ihrer weltbezogenen Dimension aus zu fassen versuchen, nicht selten zur Einseitigkeit. Albrecht Wellmer hat in seinem Versuch über Musik und Sprache, in dem der Aspekt des Weltbezugs eine wichtige Rolle spielt, klar herausgearbeitet, dass der oft diagnostizierte Sprachverlust der seriellen Musik auch das Suchen und Finden einer neuen, anderen Sprache gewesen ist. Die »Nötigung zur eigenen Sprache«, von der Pierre Boulez in den 1950er Jahren sprach, ist für Wellmer eine Art Leitmotiv des Denkens der damaligen Zeit, bezogen auf den Kontext der musikalischen Avantgarde (Wellmer 2009, 49). Und dieses Leitmotiv ist, nimmt man ihren Weltbezug genügend ernst, dazu angetan, die gängigen Pauschalurteile über diese musikgeschichtliche Entwicklungsphase zu überwinden. Um die im 20. Jh. gewachsene Bedeutung des Verhältnisses von Kunst und Lebenspraxis angemessen zu deuten, erscheint es hilfreich, auch an jene theoretischen Ansätze zu erinnern, zu denen es gehört, der Kunst in den politisch dunkelsten Zeiten dieses Jahrhunderts in besonderem Maße eine Orientierungsfunktion zuzuerkennen. Der tschechische Theoretiker Jan Mukařovský etwa schreibt im Jahr 1938, in dieser Zeit, »die den Menschen mit Angst vor dem reißenden Strom der sich verwandelnden Wirklichkeit erfüllt«, bestünde die Aufgabe der Kunst darin, »den Menschen in diesem scheinbaren Chaos« zu orientieren. (Mukařovský 1974, 286). Die Kunst besitzt für Mukařovský eine Erkenntniskraft, die auf ethische Konsequenzen zielt. Und tatsächlich lassen sich auch in der Musik seit 1945 nicht wenige Werke finden, die mit der hier herausgestellten Orientierungsfunktion von Kunst plausibel zu fassen sind. Gewisse Konvergenzen zu dem, was auch etwa im Kontext der Kritischen Theorie entwickelt wurde, liegen auf der Hand. Und da Theodor W. Adorno als einer der prominentesten Repräsentanten dieser Denkrichtung mit gewisser Vorliebe auch die Neue Musik zum Gegenstand seiner Betrachtung (oder zu deren Fundierung und Illustration) erhoben hat, ist die darin aufscheinende Dimension des Weltbezugs ja sehr geläufig und in den Diskussionen  – wenn auch oft in erheblich verkürzter Weise – durchaus präsent. Hier ist etwa an die (nicht nur) von Adorno formulierte Maxime authentischer Kunst zu denken, die darin besteht, sich von der durch die Kulturindustrie bedingten »Warenförmigkeit« abzuheben. Gerade durch Adornos Schriften, die ihrerseits stark von den Erfahrungen der NS-Zeit geprägt worden sind, wurde die widerständige, auf der »negativen« Kraft basierende Seite neuerer Kunst zumindest in der Zeit nach 1950 wohl auch angeregt oder beflügelt. Bekanntlich war Adorno an einem zentralen Ort der musikalischen Avantgarde, nämlich bei den Darmstädter Ferienkursen, einige Jahre auch selbst präsent – was aber, auch das sollte man nicht übersehen, nie zu einer völligen Konvergenz zwischen dem (in sich schon heterogenen) Denken der dort prägenden Persönlichkeiten und seiner Philosophie führte. Immerhin, zu einem der Leitgedanken nicht weniger Komponisten entwickelte sich in jenen Jahren die später auch in Adornos Ästhetischer Theorie formulierte Maxime, nach der Kunst als »gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft« verstanden werden müsse und »nicht unbedingt aus dieser zu deduzieren« sei (Adorno 1970, 19). Die Reaktion auf Gesellschaftliches hat nach Adorno indirekt zu geschehen, also in der Regel nicht durch direk- 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik tes Engagement und plakative Botschaften  – diese Seite von Kunst lehnte Adorno (von signifikanten Ausnahmen abgesehen) mehr und mehr ab. Wichtig war für ihn dagegen eine Faktur, die vom »Schock des Unverständlichen« (Adorno 1962/74, 412) kündet oder sogar als »Flaschenpost« (Adorno 1949/75, 126) charakterisiert werden kann. Untrennbar davon ist bei Adorno (wie bei einigen von ihm beeinflussten Denkern) die Erwägung, dass »Kunstwerke in ihrer intimsten Struktur mimetisch den Zivilisationsbruch einverleiben und dadurch dessen Wirklichkeit zu einer Erfahrung bringen« können (Nanni 2004, 431). Im Falle des Konzepts von Kunst als Medium der begriffslosen Erkenntnis geht Adorno über die klassische Ästhetik, in der es diesen Topos ja auch bereits gibt, einen entscheidenden Schritt hinaus – einen Schritt, der nun überhaupt auch die Musik zum Zuge kommen lässt. Denn wenn etwa Immanuel Kant von der Musik schreibt, sie würde »durch lauter Empfindungen ohne Begriffe« (Kant 1790/1963, 185) sprechen, so klingt das eher wie ein Defizit, selbst wenn Kant im selben Zusammenhang die Fähigkeit der Musik zu intensiver Gemütsbewegung konzediert. Bei Adorno wird daraus gerade ein besonderes Vermögen sowie ein entscheidender Anhaltspunkt für die Wertigkeit der Musik, für ihre privilegierte Position im Spektrum der Künste (Zenck 1977). Die Spannung zwischen der modernen Wirklichkeit, in welcher der diagnostizierte »Warencharakter der Kunst« hervortritt, und der Kunst selbst ist ein Faktor, der auch von anderen Theoretikern als zentrale Dimension von Betrachtungen moderner Kunst analysiert und beschrieben worden ist. Dabei ist die Einsicht geläufig, dass die künstlerische Ä Moderne insgesamt geradezu als eine kritische Reaktion auf die moderne Wirklichkeit definiert werden kann. Dieter Henrich etwa hat in seinen Darlegungen zur modernen Kunst noch stärker als Adorno die  – auch für die Beschäftigung mit Neuer Musik relevante  – Beobachtung formuliert, dass das spezifisch Neue und gerade auch die Oppositionshaltung gegenüber der Wirklichkeit primär aus der Form der Werke zu erschließen sei (Henrich 1966). Für ihn ist – im Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel – die Entwicklung bzw. Auflösung der Ä Form ein Anzeichen dafür, dass die Lebensverhältnisse der Moderne keine Grundlage mehr für ein ihnen adäquates Gesamtbewusstsein böten. Daher stelle ein Kunstwerk immer nur eine »ausgezeichnete« Wirklichkeit dar, die eine Interpretation verlangt, welche nicht mehr auf universale Zusammenhänge zielt (ebd., 17). Es gibt nicht wenige Darstellungen auch zu musikalischen Fragestellungen, die  – meist unausgesprochen  – solchen in der Literaturwissenschaft geläufigen Argumentationsmustern folgen. Als Beispiel dafür, dass auf diesem 62 Wege auch die Frage der Autonomie von Kunst berührt ist, sei die kurze Skizze politische aspekte der musik von Mathias Spahlinger erwähnt. Darin weist der Komponist im Rekurs u. a. auf Vladimir Karbusickys Begriff der »sekundären Semantisierung« (Karbusicky 1990) nachdrücklich darauf hin, dass in autonomer Musik »jeder äußere oder innere aspekt von kunst inhaltlich werden« könne (Spahlinger 1991, 40). Dies führt Spahlinger zu der Formel: »nur eine revolution, die die musik umwälzt, findet in wirklichkeit statt« (ebd., 41). Eine Deutung weltbezogener Bezüge von Musik, die von Adorno ihren Ausgang nimmt, aber doch in der Reduzierung der »negativen« Momente auch erkennbar von ihm abweicht, hat Claus-Steffen Mahnkopf in seinem Beitrag Der Ewige Friede und die ungeteilte Gerechtigkeit. Zum Messianischen in der Musik (2005) vorgelegt, ausgehend vom Begriff des Messianischen, wie ihn vor allem Walter Benjamin und (daran anknüpfend) Jacques Derrida entwickelt haben. Es geht Mahnkopf dabei um die utopische Seite von Musik  – für ihn sind »messianische Ansprüche stets mit einem grundlegend neuen musikalischen Design verbunden, vor allem, was Harmonik und Klanglichkeit betrifft« (ebd., 94) und »durch ein verändertes Verhältnis zur Zeit« (ebd., 95) geprägt. Über Adorno gehen an entscheidenden Stellen auch Wellmers Darstellungen zum Weltbezug in Musik deutlich hinaus. Dies wird etwa dann sichtbar, wenn er in seinen Überlegungen von einer »Moderne ohne Heilsversprechen und Erlösungsperspektiven, aber mit dem kritischen Potenzial einer Selbst-Transzendierung« (Wellmer 2011, 10) ausgeht, und von der »negativen« und randständigen Dimension der Neuen Musik (die dieser die Position einer bloßen Nische oder gar eines Ghettos zuweist) abrückt, um ihr einen Weltbezug zu konzedieren, der »an den Erfahrungshorizont zeitgenössischer Hörer anknüpft« (ebd., 10 f.). Neue Musik, wie sie Wellmer (nicht ohne gewissen Optimismus) beschreibt, erschließt sich auf vielfältigsten Wegen Räume zur Verankerung von Weltbezügen  – durchaus auch mit Strategien, die über die klassischen Formate des Komponierens hinausreichen. 6. Subkutane und evidente Weltbezüge Mit Blick auf die neue Sprache der seriellen Musik und ihre Ideen kann angesichts solcher und ähnlicher Überlegungen durchaus gesagt werden, dass diese nicht unbedingt etwas Weltabgewandtes sind, sondern zumindest in einigen Fällen etwas in ihrer Andersheit implizit Weltbezogenes. Eine solche Deutung mag freilich provokativ erscheinen, denkt man an das Schaffen von Pierre Boulez, der mit Structures Ia für zwei Klaviere (1951) das wohl strengste Musikstück aller Zeiten komponierte, das ja 63 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik vielfach als Inbegriff einer Fortführung oder Radikalisierung der absoluten Musik angesehen wird – und in seiner bewussten Hermetik ja gerade als die Abkoppelung von jeder Art des Weltbezugs erscheinen kann. Mit Blick auf die Uraufführungssituation dieses Werkes wurde aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu erweisen versucht, dass dieses dezidiert eingebunden sei in die politisch-gesellschaftliche Situation und die intellektuellen Diskurse in Frankreich Anfang der 1950er Jahre (Parsons 2003). Obwohl diese Erörterungen aufschlussreich sind, kann bezweifelt werden, ob der »gesellschaftliche« Aspekt dieses Werkes damit adäquat oder gar hinreichend zu erfassen ist. Möglich sind gewiss auch ganz andere Deutungen der seriellen Musik von Boulez, bezogen namentlich auf Fragen der Körperlichkeit (Zenck 2014), aber auch mit Blick auf die Tatsache, dass sich in fast allen Werken, die auf die kurze wirklich strenge Phase seines Komponierens folgen – Boulez spricht neuerdings von einem »Tunnel von zwei Jahren« (Boulez 2010) – sehr wohl Anzeichen von Weltbezügen finden. Dies sind gewiss keine explizit politischen Bezüge wie im Schaffen von Nono. Aber es sind – z. B. in Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55)  – etwa bewusste Anspielungen auf andere Kulturen, die sogar die Option einer »radikalen, vitalistischen Zivilisationskritik« (Bösche 1997, 75) einschließen können, und dies durchaus, so lässt sich ergänzen, mit gewissen Konvergenzen zur kritischen politischen Haltung des Komponisten gegenüber der Algerienpolitik seines Heimatlandes Frankreich. Nicht zu leugnen ist, dass diese Anzeichen in den meisten Werken von Boulez und anderer Komponisten eher in geringer – man könnte oft sogar sagen: in homöopathischer – Dosierung auftreten. Doch grundsätzlich gibt es in einigen Werken aus diesem Kontext der seriellen Musik Anreicherungen aus dem Bereich des Weltbezogenen, teilweise  – etwa in Stockhausens Komposition Hymnen (1966–67; vgl. Siebert 2014)  – auch des politisch Konnotierten. Beim Wahrnehmen solcher Werke kann man durchaus davon sprechen, dass die erhebliche Reduzierung der gewohnten musikalischen Affekte und (im Falle der Musik von Boulez) der weitgehende Verzicht auf traditionelle Gesten dazu beizutragen vermögen, dass die weltbezogenen Kristallisationspunkte sogar dann erfahrbar sind, wenn sie sich auf bloße Andeutungen beschränken. Das zuletzt Erörterte berührt jenen schon erwähnten zentralen Aspekt des Themas, der auch für die Reflexion der heutigen Situation von Belang sein kann: die naheliegende Frage, ob weltbezogene Dimensionen von Musik mit erheblicher Deutlichkeit präsent sind oder aber auf weniger direkte Weise. Gewiss dominierte in bestimmten Kreisen der Neuen Musik in den 1950er und 1960er Jahren die – mit Adornos Konzept einer »begriffslosen« Erkenntnis konvergierende – Auffassung, dass jede plakative Deutlichkeit bei der Setzung von Weltbezügen unangemessen sei. Nicht zuletzt damit ist es wohl zu erklären, dass Iannis Xenakis mit Blick auf sein berühmtes Orchesterwerk Metastaseis (1953–54) erst lange nach der Uraufführung öffentlich davon sprach, dass dessen Gestus von der Erfahrung antifaschistischer Demonstrationen in Griechenland inspiriert sei (Varga 1995, 54). Dies war selbst für manche Kenner seiner Musik überraschend. Aber womöglich war es nicht zuletzt eine Antwort des Komponisten, dem es mit seiner Musik explizit um eine sinnliche und sogar schockhafte Wirkung von Musik ging, auf die geläufige Überbetonung der stochastischen und architektonischen Seite dieses Stückes (Ä Neue Musik und Architektur). Selbst wenn man über die Evidenz solchen Weltbezugs diskutierten könnte, spürt man beim Hören von Metastaseis die Suche nach einem markant auftrumpfenden, aber gleichsam noch unverbrauchten Ausdruck, bei dem es durchaus nicht schwer ist, Weltbezüge zu assoziieren. Dabei dürfte Xenakis, als er diesen Bezug zunächst verschwieg, darauf bedacht gewesen sein, einer Kritik vorzubeugen, die später Krzysztof Penderecki im Zusammenhang mit seinem Stück Threnos für die Opfer von Hiroshima (Tren ofiarom Hiroszimy, 1960) gemacht wurde. Diese Kritik, die im umfassenderen Kontext einer generellen Distanz gegenüber Penderecki schon in den Jahren der Entstehung dieses Werkes zu sehen ist (Ä Themen-Beitrag 3, 2.2), bezog sich darauf, dass ein expliziter Weltbezug hier eher aus werbetechnischen Gründen eingebracht und gleichsam äußerlich aufgeklebt worden sei (vgl. hierzu Taruskin 2005, 200, wo erläutert wird, dass dieses Werk, das der staatliche polnische Musikverlag zunächst ablehnen wollte, intern nur aufgrund dieses reißerischen Titels durchsetzbar war). Denn die Konkretheit, die der Titel suggeriert, erscheint nicht als notwendiges Pendant, sondern als Inkohärenz gegenüber der Allgemeinheit und Einfachheit der Klangsprache. Andererseits lenkt diese Diskussion den Blick auf die Frage, in welchem Maße beim Hören und Deuten von Musik jeweils auch der Erfahrungshorizont von Komponisten mit zu berücksichtigen ist  – bei Penderecki also konkret der Kontext seiner damals kommunistischen Heimat Polen, die dem Weltbezug von Musik einerseits eine besondere Form der Dringlichkeit verliehen haben mag (vgl. Ä Themen-Beitrag 8), aber andererseits auch eine anti-amerikanische Tönung, die durchaus in Konvergenz mit dem zu sehen ist, was den damaligen polnischen Machthabern besonders willkommen war. Politische Akzente in Musikwerken verweisen, wie an Beispielen wie diesen sichtbar wird, gerade dann oft auf 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik weltpolitisch grundierte Aspekte wie jenen des Kalten Kriegs, wenn sie konkrete historische Ereignisse als Bezugspunkte wählen. Pendereckis Hiroshima-Stück steht letztlich – wie auch Udo Zimmermanns schon erwähntes Musiktheaterwerk Weiße Rose – für den durchaus heiklen Fall eines auch für Repräsentationszwecke nicht ungeeigneten politischen Kunstwerks, dessen Ausrichtung jenem Unrechtsregime, dem sein Autor sich ausgesetzt sah, gewiss genehm war. Sind, so kann gefragt werden, dadurch Werke wie diese für die Zeit nach dem Ende der jeweiligen Diktaturen desavouiert? Oder besitzen sie eine Geltung, die auch unabhängig von den Entstehungsumständen zu erschließen ist? Ein anderes Beispiel für die Relevanz der Thematik des Kalten Kriegs ist die oft diskutierte Einbindung des koreanischen Komponisten Isang Yun in die  – bis heute nahezu unversöhnliche – Konfrontation zweier koreanischer Teilstaaten (Kim 2015), auf die Yun im Laufe seines Schaffens in sehr unterschiedlicher, manchmal freilich auch in direkter Weise reagierte (Sparrer 2005; Ä Themen-Beitrag 9, 2., 3.2). Ohne hier, zur weiteren Fundierung solcher und ähnlicher Fragen, auch nur annähernd alle wichtigen Komponisten des 20. Jh.s zu erwähnen, denen das Schicksal nicht erspart blieb, in einer Diktatur zu leben und in ihr eine adäquate Rolle als Künstler suchen zu müssen, sei auf wenigstens eine zentrale Persönlichkeit der Neuen Musik in Lateinamerika eingegangen, dessen Schaffen unter diesem Aspekt bemerkenswerte Rückschlüsse zulässt: nämlich auf den uruguayischen Komponisten Coriún Aharonián (*1940). Signifikant ist eine Äußerung Aharoniáns, die auf die Situation in seinem Heimatland und auf die darin artikulierte »Kultur als Widerstand« (resistencia cultural) bezogen ist: »Während der Diktatur war kulturelle Betätigung ein klarer Ausdruck des Widerstands. Nach ihrem Ende ist sie, jedenfalls nach der überwiegenden öffentlichen Meinung, kein Ausdruck des Widerstands mehr, weil es keine verdammten Feinde mehr gibt« (zit. nach Wilson 2005, 296; Ä Lateinamerika, 1.). Aharonián schuf eine Reihe von bedeutenden Werken, die über das in diesen Worten Gesagte hinaus auch konkrete Momente des Widerstands enthalten. In seinem beim Festival im französischen Bourges realisierten Tonbandstück Gran tiempo (Große Zeit) etwa gibt es eine bemerkenswerte Verknüpfung von Momenten des Alltags  – einschließlich klarer Anspielungen auf die Klänge einer Militärdiktatur  – mit Phasen des Innehaltens und der Stille. Als »Meisterstück vor allem der Andeutung, der Auslassung, der Allusion, der Suggestion« hat Peter Niklas Wilson das Stück bezeichnet (ebd., 295) und plausibel gefolgert: »Solche Kunst des Sagens durch Nicht-Sagen, der mehrdeutigen Geste, des eloquenten Details war im Uruguay jener Zeit wohl 64 die einzige Möglichkeit, überhaupt als Komponist der Opposition Stellung zu beziehen« (ebd.). Kann man mit Blick auf Komponisten wie Penderecki, Aharonián oder Yun davon sprechen, dass die Weltbezüge ihrer Werke  – auch jener ohne explizite Bezüge in Titeln und Kommentaren – vor allem in ihren Verweisen auf eigene Erfahrungen zu verstehen sind? Eine solche Deutung wäre zumindest heikel. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang vielleicht der Blick auf Aharoniáns Einschätzung der Frage, wie Musik sich, will sie über den zeitgeschichtlichen Bezug hinausgreifen, nach dem erhofften (und in seinem Fall erlebten) Ende einer Diktatur noch zu artikulieren vermag: »Kultureller Widerstand sollte für jeden bewussten Bürger eine historische Verpflichtung sein« (zit. nach Wilson 2005, 298). Ins Blickfeld gerät hier jener bewusst auf unterschiedliche Ebenen eines Kunstwerks sich erstreckende Begriff des Widerständigen, wie ihn namentlich der Schriftsteller Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands formuliert hat (Weiss 1975/78/81). Diese Schrift wurde eine Zeitlang auch im Feld der Neuen Musik stark rezipiert (Heister 1997, 1677; Hiekel 2011) und weist gerade darin Parallelen zu jenem Felde auf, auf dem es um den Aspekt der Wahrnehmung geht: Peter Weiss, der die Kunst als Medium der Hoffnung auf Befreiung kennzeichnet, lässt die zentrale Romanfigur Heilmann für einen Kunstbegriff plädieren, der mit neuen Formen neue Wahrnehmungsweisen hervorrufen möchte (Ä Wahrnehmung, 3.2). 7. Verwendung und Entgrenzung klassischer Gattungen Egal wie man die hier angedeutete Diskussion beurteilt: Die ästhetische Differenz sowohl der Ansätze von Stockhausen und Boulez als auch von Penderecki zu einem Werk wie Il canto sospeso (1955–56) von Luigi Nono liegt tatsächlich auf der Hand. Ist es doch offenkundig, dass Nono – für den eine Musik ohne Weltbezug unvorstellbar war – erstens das Inkommensurable der Hinrichtung von Widerstandskämpfern während des Zweiten Weltkriegs, von denen sein Stück handelt, in dessen Struktur einwandern lässt und zweitens die existenzielle Seite der Thematik auch durch die Präsenz der Texte – Abschiedsbriefe der zum Tod Verurteilten – und ihrer Aura reflektiert. Beim kompositorischen Umgang mit Texten freilich war er besonders in diesem Werk nachdrücklich darauf bedacht, dass das Resultat nicht als Beschönigung oder Verharmlosung dessen wirkte, wovon diese Texte handeln (Ä Nationalsozialismus, 2., Ä Sprache / Sprachkomposition, 3.). Nonos Musik kann insgesamt als ein besonders wichtiger  – und in der Forschung auch bevorzugter  – Referenzpunkt aller Diskussionen bezeichnet werden (vgl. 65 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik Nanni 2004 sowie dessen Hinweise auf weitere Literatur). Wie sehr gerade Nono danach trachtete, weltbezogene Aspekte in den Kontext des klassischen Komponierens hineinzutragen, um dieses dadurch zu verändern, wird am Entstehungsprozess seines Werkes Como una ola de fuerza y luz für Sopran, Klavier, Orchester und Tonband (1971–72) ersichtlich: Hatte er zunächst den Auftrag eines Klavierkonzertes für zwei hochberühmte Interpreten (Maurizio Pollini und Claudio Abbado) erhalten, so entschied er sich doch relativ kurzfristig, dieses Werk um eine aktuelle politische Perspektive – einen ausgedehnten Hinweis auf die Ermordung eines chilenischen Studentenführers  – zu erweitern. Da diese Perspektive sogar überaus dominant wurde, erwuchs daraus eine bemerkenswert widerspruchsvolle weltbezogene Öffnung oder sogar Sprengung des geschützten Raumes der klassischen Ä Gattung des Solokonzerts (konvergierend mit dem, was auch beide prominente Interpreten in jenen Jahren intendierten). Man könnte diese aus Nonos Planänderung erwachsene Tendenz zur Aktualität als Gefährdung der überzeitlichen Relevanz des Stückes interpretieren. Aber man würde damit dem Anliegen Nonos, das ja gerade das Aktuelle mit dem Überzeitlichen zu verschränken suchte, kaum gerecht werden. Auch die beiden ersten großen (jeweils als azione scenica bezeichneten) Musiktheaterwerke Nonos, nämlich Intolleranza 1960 (1960–61) und Al gran sole carico d ’ amore (1972–74/77) sind in diesem Sinne zu verstehen. Beide Werke, deren Grundkonzept wesentlich durch revolutionäre Ideen des politischen Theaters von Wsewolod Meyerhold beeinflusst wurde, sind (nicht anders als die stark politisch akzentuierte Oper Die Soldaten von Zimmermann) dazu angetan, bis heute die Institution Oper auch in ihrem Selbstverständnis herausfordern (Zenck 2014; Ä Musiktheater, 3.1). Das hier Anklingende, nämlich die von Nono geforderte Ablösung herkömmlicher Affekte und Figuren, schließt die oft mit der Philosophie Adornos in Zusammenhang gebrachte Frage ein, inwieweit die bloße Andersartigkeit von Musik in demonstrativer Weise dazu dienen könne oder sogar solle, die Schlechtheit der Welt zu beklagen oder sich zumindest kritisch gegenüber ihr zu artikulieren. Auch die zuweilen verwendete, viel zu kurz greifende Formel einer »negativistischen« Musik scheint in diese Richtung zu gehen. Sie ist kaum dazu angetan, dasjenige adäquat und hinreichend spezifisch zu beschreiben, was in Neuer Musik  – auch jener mit »kritischen« Ansätzen (vgl. 8.) – das Wesentliche ist, und reduziert sie schlicht auf ein Abweichen von den dominierenden Tendenzen der jeweiligen Gegenwartskultur (Borio 1993, 15– 22). Die Verwendung der Bezeichnung »negative Musik« (bzw. »negativistische Musik«) ist kaum zu trennen von der fast trivialen Erkenntnis, dass auch eine kritische und »negative« Haltung gegenüber vorherrschenden Usancen grundsätzlich nicht davor gefeit ist, von diesen gleichsam eingeholt zu werden (Domann 2005). Aber sie verweist zugleich auf das, was ein Komponist wie Hans Werner Henze in einer lebhaften Diskussion seinem Kollegen Helmut Lachenmann vorwarf (Lachenmann 1982/2004) – und was im vorliegenden Zusammenhang besonders deswegen interessant ist, da sich Henze ja seinerseits als gesellschaftskritischer und politischer Künstler verstand. Er vermochte jedoch in Lachenmanns Ansatz, den er als »musica negativa« einordnete, nicht genügend Anzeichen einer positiven Utopie zu entdecken, da er den darin verankerten Bezug zur Tradition offenbar nicht durchschaute. Es ist ein mehr als privates Ereignis, dass sich beide Komponisten vor Henzes Tod versöhnten und offenbar Missverständnisse an diesem Punkte auszuräumen vermochten (Mitteilung Lachenmanns an den Verfasser). Andererseits wird man aus heutiger Sicht gerade das Utopische – einschließlich der Suche nach einer spezifischen Ausprägung von Schönheit  – der Musik Lachenmanns kaum absprechen können. Sie hütet sich (dies durchaus in wachsendem Maße) vor jeder auftrumpfend »antibürgerlichen« Geste (Hiekel 2009). Wenn es um die Spezifizierung ästhetischer Differenzen geht, ist freilich auch in diesem Falle jene Frage nach der Deutlichkeit wesentlich, die den Umgang mit dem, was politische Musik ist oder sein kann, wie ein Leitmotiv durchzieht. Sind doch die politischen Akzente in Henzes eigener Musik, etwa in dem auf die Situation in Kuba bezogenen El Cimarrón, Rezital für vier Musiker (1969–70) so unmissverständlich klar (Henneberg 1971), wie dies für Lachenmann – oder wohl auch Nono – undenkbar gewesen wäre. Wichtige Aspekte von Henzes an vielen Stellen stark politisch grundierter Ästhetik, die der Komponist selbst und auch die Musikwissenschaft herausgearbeitet haben, sind erstens Ausformungen der Anklage, zweitens Trauerarbeit, aber drittens auch Räume »für utopische Visionen, und zwar auch in einem radikaleren, politischen Sinne, unabhängig vom Zeitgeist und von gesellschaftlichen Konjunkturen« (Brockmeier 2006, 25). Dabei würde man Henze zu Unrecht auf einen Propagandisten leichter Verständlichkeit reduzieren, übersähe man die Komplexität mancher seiner Werke  – wie etwa jene des stark an Zimmermanns Soldaten erinnernden Musiktheaters We come to the River (1976; Petersen 2005, 245–255). Und dabei ist wohl auch Henzes Ansatz von der Idee her grundsätzlich antiaffirmativ  – noch seine 1997 uraufgeführte Neunte Sinfonie (1995–97), dem Andenken des deutschen Antifaschismus gewidmet, verstand der Komponist als »eine Abrechnung mit einer willkürlichen, 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik unberechenbaren, uns überfallenden Welt. Statt die Freude, schönen Götterfunken zu besingen, sind in meiner Neunten den ganzen Abend Menschen damit beschäftigt, die immer noch nicht vergangene Welt des Grauens und der Verfolgung zu evozieren, die weiterhin ihre Schatten wirft« (zit. nach Brockmeier 2006, 14). Und doch ist die Ausfaltung der »utopischen Visionen«, die Henze leistet, versöhnlicher formuliert als dies bei Komponisten wie Lachenmann, Nono, Zimmermann oder Spahlinger (um hier nur einige wenige prominente Beispiele zu nennen) denkbar wäre. Letztlich wird man bei diesem Dissens auf Konflikte verwiesen, die es in jenem Teil von Kunst, der auf die »Welt« zu reagieren sucht, schon seit Jahrhunderten gibt. Zu denken ist hier etwa an die Kontroverse zwischen Friedrich Schiller und Johann Gottlieb Fichte, die sehr viel mit der Frage zu tun hatte, inwieweit Kunst, die auch scheinbar Unverständliches bietet, auf ihre ganz eigene Weise zu wirken vermag. Die Suche nach etwas Unverbrauchtem bildet gewiss ein Kernmotiv etlicher seit 1945 entstandener Werke mit politischem Bezug, gerade auch solcher, die sich im Kontext der gängigen Darstellungsformen des klassischen Musikbetriebs zu artikulieren suchten. Dies gilt natürlich besonders für Werke, die auch auf der textlichen Ebene entsprechende Elemente enthalten. Man mag hier außer an Nonos Il canto sospeso (sowie andere einschlägige Werke desselben Komponisten) auch an Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau (1947) denken. Denn gewiss kann gerade dieses Stück in besonderem Maße als paradigmatisch gelten, wenn es um die Frage geht, wie man auf der Basis von oratorischen Konzepten zu einem Ausdruck gelangt, der über Konventionelles deutlich hinaus reicht und damit auch die politische Funktionalisierbarkeit, die etwa in der Sowjetunion dieser Gattung einen erheblichen ideologischen Ballast bescherte (Lauer 1997), nachdrücklich negiert (Ä Nationalsozialismus, 2.). Zu den durchaus zahlreichen politischen Oratorien, die sich dieser Funktionalisierbarkeit zu entwinden suchten, können Dessaus Miserere (1944–47), die Gemeinschaftskomposition Jüdische Chronik (1960, Karl Amadeus Hartmann, Boris Blacher, Henze, Dessau), Wolfgang Hufschmidts Meissener Tedeum (nach dem Tedeum laudamus und einem antiphonischen, eminent politischen Text von Günter Grass, 1967) gezählt werden, aber auch Henzes Skandalstück Das Floß der Medusa (1968), das im Untertitel »Oratorio volgare e militare« heißt und Che Guevara gewidmet ist. Besondere Beachtung fanden die noch komplexeren Werke von Klaus Huber (vor allem Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet …, 1975–82), Toshio Hosokawas Voiceless Voice in Hiroshima (1989–2001) sowie vor allem das recht häufig aufgeführ- 66 te epochale Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) von Zimmermann, das als politisch-künstlerische Bilanz eines halben Jahrhunderts in eigenwilliger Weise eine erschütternde Kraft mit einer bemerkenswerten Vielfalt von (nicht nur politischen) Sinnsetzungen verbindet (Hiekel 1995). Typisch für Zimmermann ist zugleich, dass sich in seinen großen Werken zentrifugale Kräfte finden, die aus dem klassischen Konzertkontext sichtbar hinausführen und das Denken in Gattungen aufzusprengen scheinen. Was die weltbezogenen Aspekte seines Komponierens angeht, wird man bei Zimmermann an manchen Stellen einer plakativen Deutlichkeit habhaft, die über jene im Werk von Komponisten wie Gustav Mahler, Charles Ives oder Alban Berg noch deutlich hinaus geht – gerade das hat ihm zu Lebzeiten zuweilen das Misstrauen anderer Komponisten eingetragen. Doch zugleich schafft die Montagetechnik Inkohärenzen, die einen Gesamtgestus prägen, der insgesamt von erheblicher Unversöhnlichkeit zeugt (Ä Collage / Montage) und der dazu angetan ist, dem zu entsprechen, was Jan Mukařovský mit der Idee einer Orientierung durch Kunst wohl meinte. Unter den durchaus sehr unterschiedlichen Ansätzen der neueren Musik, mit Weltbezügen zu operieren, die – im bewussten Rekurs auf klassische Gattungen, aber eben zugleich durch deren bewusste Sprengung – immer wieder auch das Politische berühren, sei wenigstens kurz auch das Schaffen von Rolf Riehm herausgegriffen. Denn dieses wartet mit eigentümlich querständigen Konstellationen auf, die sich von jener Tendenz zur Verständlichkeit, die in mancher politischer Musik selbstverständlich ist, besonders weit entfernt. So werden, um nur ein Beispiel zu nennen, in dem Klavierkonzert Wer sind diese Kinder (2009) Ausschnitte aus Friedrich Hölderlins berühmtem Hyperions Schicksalslied in einer Version in arabischer Sprache (in einem Bagdader Dialekt) zitiert. Dem Ganzen wird so eine weltbezogene Pointierung verliehen, die auf eines der Hauptkrisengebiete der jüngeren Zeitgeschichte anspielt, aber doch zugleich eigentümlich verrätselt erscheint (Hiekel 2013). Auch und gerade Riehms Ansatz ist als Strategie der besonderen Wirksamkeit beschreibbar, die  – wie die Zimmermanns  – einerseits mitreißen möchte, aber andererseits auf Nachdenklichkeit und ein echtes Erkenntnisinteresse zielt und zu einem komplexen Verstehensbegriff aufruft. 8. »Kritische« Ansätze Will man die Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte nicht  – wie dies immer noch manchmal geschieht  – auf eine Geschichte des weltabgewandten Materialfortschritts reduzieren, ist zu akzeptieren, dass das Gesamtbild auch 67 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik unter jenen Komponisten, die dem »unvollendeten Projekt der Moderne« (Jürgen Habermas) verpflichtet waren oder sind, überaus facettenreich ist. Dafür liefert mit Blick auf die Frage nach den Weltbezügen in der Musik ganz besonders etwa das Schaffen von Nicolaus A. Huber Beispiele. Hubers Musik mit den Kriterien beschreiben zu wollen, wie sie anhand der Werke von Boulez oder Stockhausen gewonnen wurden, liefe an ihr ebenso vorbei wie ein Vergleich mit den gängigen Ausprägungen politischen Komponierens. Es hieße, den Einfluss von John Cage und vor allem von Marcel Duchamp auf Hubers Denken zu ignorieren – und wohl auch den der Ä Performance-Kunst. Eigentümlich querständig wird in der Musik Hubers  – bis hin zum bewussten Fehllesen – mit Musikgeschichte umgegangen und dabei immer wieder auch Alltägliches integriert. Ein Beispiel dafür, das mit bewusst befremdlichen Momenten aufwartet, ist die »Fresscoda« in Hubers Vokalstück Ach, das Erhabene … (G. Benn) betäubte Fragmente für zwei verschränkte Chöre à 36 Stimmen (1999) – in der tatsächlich eine Person im Publikum ein Butterbrot auspackt und isst. Um das Facettenreiche des Aspekts der Weltbezogenheit in Hubers Schaffen anzudeuten, ist allerdings noch etwas anderes wichtig. Mit einer im Musikbetrieb oft nicht akzeptierten bzw. schlicht ignorierten Selbstverständlichkeit gehören zu seinen Werken auch Titel und Werkkommentare. »Die Bush-amerikanische Kriegspolitik hat der Ruhe und Gemütlichkeit der Postmoderne einen entscheidenden Schlag versetzt«, heißt es im Kommentar zum Ensemblestück Werden Fische je das Wasser leid? (Huber 2004), das noch dazu den Untertitel Musik mit NEGLECT-SYNDROM trägt. Dabei ist Hubers Ansatz zumindest in zweifacher Weise gewissermaßen als Antwort auf die serielle Musik zu verstehen: erstens darin, dass sie – wie diese selbst – nach Gestaltungsformen jenseits der herkömmlichen Affekte und Gesten sucht (und das bedeutet im Falle Hubers nicht bloß deren Negation, sondern zugleich deren bewusste Übersteigerung), zweitens aber darin, dass sie den Weltbezug, der sich im Schaffen etwa von Boulez eher auf Andeutungen beschränkt, an manchen Stellen weitaus pointierter zum Zuge kommen lässt. Gerade dies geschieht auf der Basis jener Erfahrungshorizonte, die von jenem eindimensionalen Avantgardebegriff wegführen, der den Diskurs über Neue Musik zeitweise prägte (Ä Avantgarde). Kurz einzugehen ist hier nun auch auf das Schaffen des schon mehrfach erwähnten Helmut Lachenmann, zumal es für das Thema der Weltbezüge ebenfalls ein wichtiges Referenzbeispiel der heutigen Diskussionen darstellt. Das hat mehrere Gründe: erstens hat es mit der Tatsache zu tun, dass Lachenmann selbst früher – als er gerne vom »ästhetischen Apparat« (1976/2004, 107) oder zuweilen sogar von der »Verweigerung von Gewohnheit« (Lachenmann 1979/2004, 274) sprach (vor allem die letztgenannte Formel wurde als Slogan in der Lachenmann-Rezeption zuweilen überbetont), Weltbezüge deutlich benannt hat (dem ist auch Wellmer in seinem Buch Versuch über Musik und Sprache, das ein ausführliches Kapitel über Lachenmann enthält, gefolgt). Zweitens aber wird anhand von Lachenmanns Musik besonders deutlich, wie sehr die Verankerung eines Weltbezugs nicht mehr bloß mit zitierten oder assoziierten Materialien zu tun haben muss, sondern wirklich in die musikalische Sprache selbst einwandert – und dann, aus rezeptionsästhetischer Perspektive betrachtet, mit dem Aspekt einer veränderten (bzw. ständig in Veränderung begriffenen) Wahrnehmung von Musik zu tun hat. Dies gilt gerade dort, wo sich Musik abseits vertrauter Affekte artikuliert. An diesem Punkte liegt eine Konvergenz mit dem Ansatz nicht weniger anderer Komponisten auf der Hand – vor allem aber deutet es auf einen Aspekt, an dem der Einfluss Lachenmanns auf einen erheblichen Teil der nachfolgenden Komponistengenerationen besonders sichtbar wird. Man könnte natürlich darüber spekulieren, wie es dazu kam, dass Lachenmanns inzwischen oft diskutiertes Konzept einer »Musik mit Bildern« an manchen signifikanten Stellen auch konkrete Elemente eines gesellschaftskritischen Bezugs aufnimmt (Hiekel 1999, Nonnenmann 2005b; Nanni / Schmidt 2012). Dies ist etwa in drei der besonders häufig gespielten Werke des Komponisten der Fall: erstens in der Tanzsuite mit Deutschlandlied, Musik für Orchester mit Streichquartett (1979–80), wo zu Beginn in durchaus kritischer Weise das Deutschlandlied zitiert wird (um eine Skepsis gegenüber einer Massen-Begeisterung zu artikulieren); zweitens in Salut für Caudwell, Musik für zwei Gitarristen (1977), wo ein Text des im Titel genannten marxistischen Theoretikers in einer Weise rhythmisiert wird, die an geläufige politische Musik denken lässt (die nicht eindeutig kritisch, aber zumindest ambivalent akzentuiert wird, was eine Parallele zu dem erwähnten Werk Wolpes nahelegt); drittens schließlich im Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96), wo Texte der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin zitiert werden (womit gewiss keine Affirmation der terroristischen Haltung indiziert ist, wohl aber ein markanter Hinweis auf die Präsenz auch gesellschaftlich bedingter Kälte und deren Folgen). Jedoch bleiben diese Bezüge nie äußerlich, sondern werden integriert in eine erkennbare übergreifende Thematik. Und vor allem wird – das markiert eine deutliche Parallele etwa zu den genannten weltbezogenen Werken von Zimmermann oder Riehm, aber einen Unterschied zu Nono und Klaus Huber – keines der politischen Elemente in ungebrochener Weise präsentiert. Hilfreich zum Verständnis von La- 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik chenmanns Ästhetik ist die Formulierung in einem seiner Skizzenbücher, wo es heißt, seine eigene Musik sei wie die Beethovens »optimistisch, denn sie glaubt an einen neuen Menschen […], der bereit ist, hörend zu denken und sich zu sensibilisieren« (zit. nach Nonnenmann 2000, 31). Um dieses Kernziel zu verfolgen, bedürfte es kaum der expliziten Weltbezüge – diese sind in Lachenmanns Musik denn auch gewiss nicht das Primäre. Und trotz der in Lachenmanns eigenen Texten auftauchenden Bezüge zu den einschlägigen Diskussionen der 1960er Jahre wäre eine eindeutig weltbezogene Deutung seines kompositorischen Ansatzes – auch dem seiner zu seinem »Markenzeichen« gewordenen Ä musique concrète instrumentale  – problematisch. Es gibt Komponisten der nachfolgenden Generationen, die bei Lachenmann insofern in ganz spezifischer Weise anknüpfen, als sie das von ihm (im Rekurs auf Beethoven und Nono) ins Werk gesetzte Wechselspiel von impliziten und expliziten Weltbezügen weiterführen und in einer Weise zuspitzen, die sich nicht immer mit Lachenmanns eigenen Intentionen decken muss. Ein Beispiel hierfür ist das Schaffen von Clemens Gadenstätter, in dessen mit dem Begriff Semantical Investigations beschriebenem Konzept (Gadenstätter 2009) freilich stärker als bei Lachenmann auch Sphären des Alltäglichen zum Zuge kommen und dabei die Momente des bewussten Überreizens oder Überforcierens von banalen Elementen zuweilen so beschaffen sind, dass noch stärker die Parallelen zu Praktiken der heutigen Alltagskultur sichtbar werden. Um nicht missverstanden zu werden: All diese Akzente sind längst nicht so deutlich gesetzt wie innerhalb der von Mahler, Ives und Berg bis zu Zimmermann oder Klaus Huber reichenden Traditionslinie, die deutliche Anzeichen eines musikalischen Pluralismus aufweisen, und unterschieden erst recht auch von den Konzepten von Luc Ferrari (vgl. dessen Idee einer »anekdotischen Musik« etwa in Presque rien I, 1969–70) oder Nicolaus A. Huber mit ihren dezidierten Alltagsbezügen. Aber die Differenz zu dem, was ich oben (S. 63) mit Blick auf Boulez »homöopathische Dosierung« genannt habe, liegt doch ebenfalls auf der Hand. Für die Ansätze von Lachenmann und Huber, aber auch etwa für jene von Volker Heyn, Hans-Joachim Hespos oder Cornelius Schwehr (Hiekel 2012, 124–128) wurde zuweilen der Begriff des »kritischen Komponierens« verwendet (Huber 1972/2000; Hilberg 2000; Nonnenmann 2005a). Dieser Begriff (den gerade Lachenmann freilich zunehmend skeptisch sieht) geht davon aus, dass eine Konvergenz dieser Ansätze vor allem darin liegt, dass (wie mit Blick auf Lachenmann und Nono eben angedeutet) ein kritischer Weltbezug durch die Abkehr von 68 gewohnten Affekten und Gesten und das Konstituieren von ungewöhnlichen Situationen der musikalischen Wahrnehmung erfahrbar wird – um zur »Befreiung« von Konditionierungen und Konventionen der Wahrnehmung beizutragen (Lachenmann 1990/2004, 90). Huber schrieb hierzu: »Heute bedeutet kritisches Komponieren analytisches Komponieren, das nicht einfach Musik herstellt, sondern über Musik Auskunft gibt. Neue Musik sagt etwas über Musik. Das aber geht sinnvoll nur, wenn sie etwas über den Menschen aussagt […] Gemeint ist, das sei unmißverständlich gesagt, nicht Musik mit politischen Texten oder Widmungen an politischer Opfer – das tastet Musik nicht an […]. Kritisches Komponieren bedeutet […] also aufdecken und Bewusstsein schaffen dafür, womit in Musik eigentlich umgegangen wird« (1972/2000, 40 f.). Einer der Protagonisten dieses kritischen Ansatzes, bei dem die zuletzt genannten Aspekte des Weltbezugs besonders deutlich werden, aber gleichzeitig verschiedene andere Aspekte hinzutreten, ist Mathias Spahlinger. Sein Komponieren kann als ein »radikal erkenntniskritisches« (Wilson 2012) bezeichnet werden. Es verfolgt  – ähnlich wie das von Huber, aber mit anderen kompositorischen Strategien  – explizit die Absicht, »eingeschliffene HörWeisen durch kompositorische Versuchsanordnungen kritisch zu brechen« (ebd.). In Spahlingers Schaffen, für das die Figur der bestimmten Negation eine erhebliche Rolle spielt, kommt über alles bisher Dargestellte noch ein wichtiger anderer Aspekt zum Zuge: das kritische Hinterfragen und Reflektieren von musikalischen Ordnungsgefügen (das sich punktuell auch bei Lachenmann findet). Man begegnet innerhalb seines Schaffens bemerkenswert unterschiedlichen Ansätzen, dies kompositorisch auszuformulieren (Wilson 1988; Schick 2012). Leitend ist dabei die vom Komponisten als »Lieblingsvorstellung« bezeichnete Hoffnung, »dass ein bewusst gewordenes ästhetisches verhalten eben gleichzeitig ein politisches ist« (zit. nach Wilson 1988, 19). Besonders deutlich wird dies u. a. an verschiedenen Parallelen zum Phänomen des Free Jazz sichtbar – das (wie schon angedeutet) ja auch seinerseits als Ausdruck einer im engeren oder weiteren Sinne politischen Haltung von Widerständigkeit gedeutet werden kann (Ä Jazz). Die Parallele der Grundhaltung des Free Jazz zu einzelnen Werken Spahlingers besteht vor allem darin, dass auch in diesen (etwa im Orchesterwerk doppelt bejaht – etüden für orchester ohne dirigent, 2009) Modelle für eine offene, verantwortungsvolle Kommunikation der Mitwirkenden entworfen werden. 69 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik 9. Nicht-hierarchische (Gesellschafts-)Modelle in Musikwerken Hier sedimentiert sich ein künstlerischer Ausdruck gesellschaftspolitischer Utopien, zu dem es in der Musik der letzten Jahrzehnte auch andernorts einige Parallelen gibt. Zu denken ist hier einerseits an verschiedene Werke etwa von Dieter Schnebel und Vinko Globokar (hier namentlich an L ’ armonia drammatica für sieben Vokalisten, Doppelchor, Tenorsaxophon und Orchester, 1986–89, basierend auf Texten von Edoardo Sanguineti, welche die Aspekte Widerstand und Individualität thematisieren; Ä Musiktheater, 3.1), aber nicht zuletzt auch an die Modelle einer radikalen Demokratie im Kontext des Londoner Scratch-Orchestra, das 1969 von Cornelius Cardew, Michael Parsons und Howard Skempton gegründet wurde und sich zeitweise mit ungewöhnlicher Entschiedenheit politisch artikulierte (Ehrler 1998). Damit ist hier einer jener Aspekte der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte markiert, die mit den Ereignissen um 1968 in Zusammenhang gebracht werden können und zugleich zeigen, wie sehr Elemente der performativen Praxis Momente des Veränderungswillens in sich aufnehmen können. Es liegt auf der Hand, dass sich bestimmt Reflexe sozialer Praktiken auch in komponierter Musik wiederfinden können (Kutschke 2007) und es in diesem Rahmen oft darum ging, jene »Entfremdung« zu überwinden, die mit der Tätigkeit der Orchestermusiker assoziiert wurde (»Die Arbeit im Orchester ist ähnlich der Fabrik, nämlich entfremdet«, Lombardi 1971, 292). Auch Spahlingers schon erwähnte Komposition doppelt bejaht setzt hier an. Passend hierzu begegnet man zuweilen sogar Fällen, bei denen eigene Erfahrungen von Komponisten auf Demonstrationen in Strategien der musikalischen Darstellung transformiert wurden. Ein recht geläufiges ist das des schon erwähnten Heiner Goebbels, der einst Mitglied des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters war und dessen Werke mit Orchester sich fast selbstverständlich auf performative Praktiken einlassen, die als Opposition gegen das seit Jahrhunderten übliche Orchesterkollektiv verstanden werden können (vgl. 11.). Aber außer Goebbels suchten noch zahlreiche weitere Komponisten, die Praktiken, die sie »auf der Straße« kennengelernt hatten, in eine Musiksprache zu transformieren, die von einer heftigen Energieentfaltung getragen wird. In Deutschland gilt dies etwa für Gerhard Stäbler, der verschiedene Stücke mit starker Publikumseinbeziehung komponierte. Wichtige Impulse gaben zweifellos die Fluxus-Aktionen und Happenings vor allem der stark politisierten 1960er Jahre, kulminierend in den von Allan Kaprow und Wolf Vostell begründeten »participation happenings«. Namentlich durch Nam June Paik, der damals »aktuelle Positionen […] für reaktionär und elitär« hielt (Sanio 2008, 72) und eine deutlich stärkere politische Entschiedenheit forderte, wurden diese Impulse gerade in Mitteleuropa auch in den Musikbereich gebracht. Ein durchaus kontroverser Aspekt bei der Kreation und Entfaltung ungewöhnlicher, nicht-normierter performativer Praktiken liegt nun allerdings in der Frage, inwieweit Improvisatorisches als Ausdruck von Freiheit bzw. von nicht-hierarchischen Gesellschaftsmodellen zu integrieren ist (Ä Improvisation). Eine emphatisch politische Interpretation der improvisatorischen Darstellungsweise formulierte etwa der Komponist und Improvisationsmusiker Max E. Keller, der im Sinne der Idee einer Kunst als »verändernde Praxis« davon ausging, dass diese »die Arbeitsteilung Interpret-Komponist, die immer auch ein Herrschaftsverhältnis impliziert, tendenziell auf[heben]« könne (Keller 1973, 199). Bedenkt man solche und ähnliche Einschätzungen, dann überrascht es nicht, dass gerade in den politisch bewegten Zeiten um 1968 in verschiedenen Städten Europas, in denen politische Auseinandersetzungen auch und gerade auf der Straße ausgetragen wurden, Improvisationsensembles entstanden. Eines der prominentesten war das 1964 von Franco Evangelisti, Aldo Clementi und anderen Komponisten gegründete Ensemble Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza in Rom (Feißt 1997, 86–88; Wagner 2004). Doch andererseits gab es – und gibt es bis heute – in Europa wohl nur vergleichsweise wenige namhafte Komponisten (von den schon genannten etwa Zimmermann, Globokar, Stäbler und Goebbels), die der Improvisation solche dezidiert weltbezogenen Eigenschaften tatsächlich zutrauten und eine solche Auflösung eines »Herrschaftsverhältnisse« noch dazu politisch verstanden. 10. Das Konzert als Ort der Weltbezogenheit – und seine Infragestellung Man sollte sich mit Blick auf das Thema der Welt- und Gegenwartsbezüge bewusst machen, dass ein Oszillieren zwischen Weltbezogenem und Weltabgewandtem geradezu als Konstante der Musikgeschichte bezeichnet werden kann. Zu den markanten Positionen der Musikgeschichte des 20. Jh.s gehören neben allen bisher genannten natürlich auch jene von Komponisten wie Erik Satie und John Cage – der Einfluss des einen auf den anderen ist ja gerade unter dem Aspekt des Einbezugs von Banalem und Alltäglichem greifbar, manchmal mit ironischen Akzenten versehen. Cage, eben schon als Impulsgeber von Nicolaus A. Huber benannt (wobei er gewisse Anregungen wohl auch etlichen anderen der bisher erwähnten Komponisten gegeben haben dürfte), hat gegen Ende seines Lebens 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik vor allem Musik für den Konzertsaal und für klassische Besetzungen komponiert. Und trotzdem wurde er  – das ist weithin bekannt  – zum wichtigen Anreger erstens auch für jenes vom Konzertsaal und seinen Usancen weithin unabhängige Feld der Ä Klangkunst, zu deren situations- und ortsbezogenen Ansätzen es immer wieder in integraler Weise gehört, auf Alltag und Gegenwart des Menschen zu reagieren, und zweitens für eine Fülle von Ansätzen, die im Zwischenbereich von Installation und herkömmlichen performativen Praktiken operieren. Eine Zeitlang war es nicht unüblich, Cages eigenen Ansatz als Ausdruck eines vor allem politisch zu verstehenden anarchischen Bewusstseins und als Ausdruck einer emanzipierten Gesellschaft zu verstehen (Metzger 1978/90; Ä Themen-Beitrag 2, 3.). Doch hat es sich gezeigt, dass in einer solchen Deutung  – trotz der gewiss nicht grundsätzlich unpolitischen Haltung des Komponisten – gerade dann ein erhebliches Maß an Überzeichnung steckt, wenn man diesen Ansatz mit verschiedensten (im Vorliegenden schon erwähnten) Ansätzen von Generationsgenossen vergleicht. Auf den Satz »Ich sitze und schaue aus auf alle Plagen der Welt und auf alle Bedrängnis und Schmach«, bezog sich – um noch ein weiteres signifikantes Beispiel aus der Generation von Cage zu nennen  – der Komponist Karl Amadeus Hartmann in seiner Ersten Sinfonie. Man kann ihn als Credo des Komponisten in jener Phase bezeichnen, die man gemeinhin als »innere Emigration« bezeichnet (Hartmann 1965; Floros 2002; Heister 2005). Und Hartmann entwarf, um diesen Ausdruck von Weltbezogenheit zu akzentuieren, außer einem Werk mit dezidiert politischem Bezug (die auf das Arbeiterlied »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« bezogene Klaviersonate »27. April 1945«) auch sein Zweites Streichquartett (1945–46). Aus diesem spricht die emphatische Hoffnung, einer – wie Hartmann sich selbst ausdrückte – »besseren Menschheit dienlich« (Hartmann 1965, 12) zu sein. Es ging Hartmann letztlich wohl einerseits um eine aufrüttelnde, vielleicht sogar erschütternde Klangsprache, aber andererseits, nicht viel anders als später etwa auch Nono oder Lachenmann (wenn auch mit weniger ungewöhnlichen Mitteln), vor allem um eine Musik, die hellhörig macht gegenüber all jenen Desensibilisierungen und Normierungen des Lebens, die der Komponist selbst so schmerzlich und existenziell empfand. Dabei erscheint es im Vorliegenden nicht unwichtig, dass Hartmann gerade aus diesem Empfinden heraus nach dem Zweiten Weltkrieg einer der großen Förderer der Neuen Musik geworden ist – und zwar von Konzertmusik. Die musica viva in München wurde in den von einer Emphase des Aufbruchs bestimmten ersten Jahren der 70 Nachkriegszeit mit diesen explizit weltbezogenen Ambitionen zu einer Konzertreihe, die auf eine vergleichsweise große Öffentlichkeit zielte, also sich von einem Spezialistenfestival nach Maßgabe der Donaueschinger Musiktage oder der Wittener Tage für neue Kammermusik (den beiden einzigen Uraufführungsfestivals im deutschsprachigen Raum) eher abhob. Und sie war von der Überzeugung getragen, dass gerade das Konzert ein Ort ist, an dem sich die auf den Umgang mit der eigenen Gegenwart beziehbaren weltbezogenen Impulse von Musik entfalten können. Erwähnt sei dieser Gedanke freilich im Bewusstsein, dass eine solche Auffassung heute zumindest in Europa von einem weitaus geringeren Teil von Komponisten geteilt wird. Gehört zum Konzert und seiner rituellen Seite seit jeher eine Tendenz zur Abgeschiedenheit von Alltag und Lebenswirklichkeit, so ist dies für viele Jüngere heute wohl weniger eine Qualität, die für Kontemplation oder eine besondere Form der Kunsterfahrung steht, sondern eher ein Makel, der ein Ausblenden von Welt- und Gegenwartsbezügen bedeutet. Die steife Routine, die das Konzertwesen in weiten Teilen Europas – aber sicher auch darüber hinaus – weithin beherrscht, ist hierfür gewiss eine der Ursachen. Die Differenzen des klassischen Konzerts gegenüber anderen Kunstformen liegen dabei auf der Hand. In den bildenden Künsten hat man sich seit langer Zeit daran gewöhnt, dass Kunst auf die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit reagieren kann, zum Teil sogar in einer sehr direkten Weise – die Konzeptkunst ist eines der deutlichsten Beispiele hierfür. Und im Sprechtheater wird schon seit etwa Mitte des 18. Jh.s kontrovers darüber nachdacht, wie deutlich situationsbezogen Kunst sein darf oder sein soll. Dabei wird gerade auch in diesem Kunstbereich schon seit längerem mit einer erheblich größeren Deutlichkeit, als es bislang im Musikbetrieb (einschließlich dem Bereich des Musiktheaters) üblich ist, mit Alltagsbezügen operiert, zuweilen sogar so, dass die Grenzen von Theater und Wirklichkeit weithin außer Kraft gesetzt werden. Ist, so möchte man fragen, eine ähnlich markant kritische und dabei viel beachtete Tendenz zu einer dezidiert ins Politische eingebundenen Kunst auch im (klassischen) Musikbereich in naher Zukunft denkbar? Man muss diese Frage wohl verneinen, wenn es um den heutigen klassischen Konzertbetrieb geht. Daniel Barenboims 1999 gegründetes West-Eastern Divan Orchestra, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht, ist ein Indiz dafür, dass eine erhebliche öffentliche Präsenz politischer Aspekte von Musik, sofern sie überhaupt möglich ist, weniger mit den künstlerischen Inhalten und 71 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik dafür mehr mit bestimmten Anlässen oder mit der Seite der Ausführenden zu tun hat. Als eine der deutlichsten Konvergenzen zwischen jener »Szene« der Neuen Musik, in der in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Uraufführungen von Orchester-, Chor-, Kammer- oder Solowerken stattfanden, und dem weithin eher konservativen klassischen Konzertbetrieb, gilt die weitgehende Konzentration auf das seit Jahrhunderten übliche Konzertformat. Die meisten der bislang erwähnten Komponisten blieben und bleiben diesem Format weiterhin verpflichtet, wobei es freilich bei nicht wenigen der schon genannten Komponisten – so vor allem bei Cage, Kagel oder Goebbels, aber auch bei Zimmermann, Globokar, Spahlinger und vor allem Nicolaus A. Huber  – deutliche Tendenzen gibt, es gleichsam von innen her auszuhöhlen oder zu sprengen, dies mit jeweils unterschiedlichen künstlerischen Strategien. 11. Neue Formen des Gegenwarts- und Alltagsbezugs als Paradigmenwechsel? Vergleichbares gilt erst recht für verschiedene Komponisten der nachfolgenden Generationen. Ein besonders signifikantes Beispiel bietet das Schaffen von Manos Tsangaris, der  – in Fortsetzung und zum Teil Radikalisierung des Ansatzes seines einstigen Lehrers Mauricio Kagel  – immer wieder auf originelle Weise Gegenwarts- und sogar Alltagsbezüge in seine Musik integriert. Bisherige Kulminationspunkte sind sein 2013 in der Innenstadt von Witten uraufgeführtes Musiktheaterstück Mauersegler, das bis hin zur Befragung von Passanten und zum Einbezug einer städtischen Straßenbahn alles in diesem öffentlichen Raum Präsente sinnfällig integriert, sowie sein mehrteiliges Orchesterwerk Mistel-Album (2014). Der verblüffende Clou besteht in einem Satz des zuletzt genannten Werkes etwa darin, dass (nicht fingierte) Radionachrichten unmerklich und kontinuierlich in ein Musikstück transformiert werden. Hier wird eine Verbindung geschaffen, die tatsächlich beide Seiten – das Konzertpublikum wie auch die am Radio sitzenden Hörer – irritiert. Die Wirkung solcher und ähnlicher Werke hat natürlich damit zu tun, dass es in diesem Felde seit längerem eine große, vielfach unstillbare Sehnsucht nach stärkeren Gegenwarts- oder Alltagsbezügen gibt. Dies ist gewiss kein ganz neues Phänomen  – man kann einen Teil des zeitweise großen Erfolgs der auf Aktualität und Realistik der Inhalte zielenden »Zeitoper« der 1920er Jahre mit ihm erklären. Der direkte Schulterschluss zwischen Musik und Reportage erinnert überdies an Versuche um 1930, die eine Öffnung des Konzerts mithilfe radiophoner Darstellungen zu erzielen suchten (bekanntestes Beispiel ist Bertolt Brechts Stück Der Ozeanflug von 1929, zu dem Paul Hindemith und Kurt Weill die Musik beisteuerten), oder an jene Konzepte einer musique concrète (Ä Elektronische Musik, 2.) der Nachkriegszeit, in denen Aufnahmen aus der Alltagswelt zuweilen zum Zuge kamen – die schon erwähnten Komponisten Luc Ferrari (mit seinem Konzept einer »anekdotischen Musik«) und Coriún Aharonián sind ja hiervon inspiriert worden. Zu den substanziellen Versuchen, auf diese unstillbare Sehnsucht nach Weltbezügen in origineller Weise zu reagieren, gehören auch verschiedene Werke des tschechischen Komponisten Martin Smolka – nun aber wieder mit Werken für den Konzertsaal. Smolkas erstes Erfolgsstück mit dem Titel Rain, a Window, Roofs, Chimneys, Pigeons and so … and Railway-Bridges, too für Kammerensemble (1991–92) ist eine bemerkenswert bildhafte, zwischen Ironie und Sentimentalität oszillierende musikalische Schilderung seiner Heimatstadt Prag, mit Schiffssirenen und manchem anderen. Im Orchesterstück Observing the Clouds (2001) lässt der Komponist die Musiker auch Badminton spielen. Und besonderen Erfolg hatte er drei Jahre später mit seiner Eishockeyoper Nagano (2001–03), zu deren wichtigsten Kennzeichen die Integration originaler Fan-Sprechchöre gehört. Bei näherem Hinsehen ist dieses Stück, das auf den ersten Blick spektakulär klamaukartig erscheint, eine hellsichtige Reflexion über die nationalistische Sportbegeisterung und die Macht der Medien. Was Smolka von den Ansätzen etwa von Ferrari oder Nicolaus A. Huber unterscheidet, ist erstens der weitgehende Verzicht auf Ä Medien und auf Paratexte, aber zweitens auch eine poetische und zumindest stellenweise bewusst einfache Klangsprache – hier ist ein Einfluss der alltagsbezogenen Stücke von Satie und Cage unüberhörbar. Das zuletzt genannte Werk Smolkas steht wie die Arbeiten von Tsangaris dafür, dass die am stärksten greifbare Tendenz, von den üblichen Ritualen, Formaten und Repräsentationsgewohnheiten des Konzertbetriebs wegzukommen, seit längerem im Bereich des Musiktheaters zu beobachten ist. Es liegt auf der Hand, dass sich gerade hier in besonderem Maße – und natürlich auch in Opposition zu manchen alten Gewohnheiten des Opernbetriebs  – welt- und gegenwartsbezogene Konzepte entfalten. Zu denken ist hier etwa an das Musiktheaterschaffen von Heiner Goebbels, besonders an sein Erfolgsstück Schwarz auf Weiß (1996). Zu dessen postdramatischer Konzeption gehört, dass auf der Bühne auch Ballsportarten ausgeübt werden und Tee gekocht wird. Ein Oszillieren zwischen Beiläufigem und Philosophischem ist dabei von integraler Bedeutung. Jene klare Unterteilung in »Schwarz« und »Weiß«, die im Titel anklingt, bezeichnet genau das, was mit dieser Konzeption gerade überwunden oder zumindest in Frage gestellt wird. 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik Kennzeichnend für die Eindimensionalität des heutigen Konzertbetriebs ist es indes, dass ein steifes, repräsentatives Gehabe dominiert, das dazu angetan ist, die Dringlichkeit des Weltbezugs selbst einer Beethoven- oder einer Mahler-Sinfonie nahezu unkenntlich zu machen. Dazu passt es, dass die Neue Musik, wenn sie überhaupt vorkommt, oft so präsentiert wird, dass sie möglichst wenig verstört. Die Enge und Abgehobenheit dieses Betriebs werden dann besonders sichtbar, wenn man berücksichtigt, wie selbstverständlich im Bereich der bildenden Kunst oft die Kommentarebene zum Werk dazu gehört und mithin konzeptionelle Aspekte zur Geltung kommen – und wie fern solche Dimensionen, die den Weltbezug verankern können, bei der Aufführung und Wahrnehmung von Musik in aller Regel sind. Ein Konzert ist und bleibt gemeinhin schlicht eine Angelegenheit für die Ohren. Multidimensionale Musik, etwa nach Maßgabe der Kriterien von Cage, spielt in diesem Kontext ohnehin nur eine äußerst marginale Rolle. Gegenüber früher hat sich allerdings eines erheblich geändert, das eine Abkehr vom Gewohnten erkennbar beflügelt: Es gibt heute eine stark gewachsene Verfügbarkeit der digitalen Möglichkeiten. Und dies  – konkret etwa durch eine deutlich wachsende Zahl von Projekten mit Video-Elementen (Ä Film / Video)  – hat nicht nur die Seh- und Hörgewohnheiten immer weiter verändert, sondern es hat auch einen sehr aktiven Teil der jüngeren Komponistengeneration dazu ermutigt, jenes Unbehagen gegenüber der Institution des Konzerts, das gewiss auch schon einige in der Generation ihrer Väter oder sogar ihrer Großväter empfanden, noch weitaus umfassender als diese zu artikulieren. Das gemeinsame Ziel nicht weniger Ansätze liegt darin, mit diesem Unbehagen produktiv umzugehen, in dem man die Grenzen des Dispositivs Konzertmusik aushebelt oder zumindest stärker erweitert als ehedem möglich. Alles dies tangiert in wesentlichem Maße den Aspekt der Gegenwarts- und Weltbezüge. Nicht wenige Persönlichkeiten der mittleren und jüngeren Generation verankern diese Bezüge so, dass sie über alles bloß Assoziative und Andeutende klar hinausgehen und in den konzeptionellen Kern rücken. Kennzeichnend für diese Tendenz des heutigen Komponierens ist freilich auch noch etwas anderes: dass nicht allgemeine humanistische Botschaften und nur selten die »großen« Themen der Menschheit zur Diskussion gebracht werden, sondern aktuelle Fragen und Aspekte des Alltags. Nur vergleichsweise wenige würden heute, wie einst Beethoven, auf die Idee kommen, Texte vom Gewicht der Schillerschen Ode an die Freude ins Spiel zu bringen. Weit eher finden sich Themen, die in der Tradition etwa von Satie, Cage oder Nicolaus A. Huber, 72 aber auch inspiriert von Konzepten anderer Kunstbereiche, sehr gewöhnliche, nicht erhabene Momente zum Zuge kommen lassen (Ä Konzeptuelle Musik). Einstweilen reagiert die klassische Konzertszene auf die neuen Ideen, die dabei erfahrbar werden, eher zögerlich. Doch immerhin gibt es heute in manchen europäischen Städten spezielle Projekte oder Konzertreihen, in denen multimediale und zugleich stark gegenwartsbezogene Musikstücke bereits ihren festen Platz haben. Und immer mehr Festivals und Foren für Neue Musik reagieren darauf, in dem sie explizit gegenwartsbezogenen und multimedialen Konzepten von Komponistinnen und Komponisten wie etwa Ondřej Adámek, Annesley Black, Patrick Frank, Johannes Kreidler, Brigitta Muntendorf, Stefan Prins, Trond Reinholdtsen, Martin Schüttler, François Sarhan, Hannes Seidl, Alexander Schubert oder Jennifer Walshe wachsende Entfaltungsmöglichkeiten verschaffen. Flankiert oder gestützt werden diese mit einer erheblichen Zahl von Texten zu diesem Themenbereich  – diese reichen bis zu einer Anleitung zur künstlerischen Arbeit mit der Gegenwart (Muntendorf 2015) und zum Konzept einer Musik mit Musik (Kreidler 2011), in der eine in jüngster Zeit viel beachtete »Ästhetik des Aneignens und Veränderns bestehender Musik« (ebd., 7) zum Zuge kommt. Beide eben genannten Kennzeichen vieler heutiger Ansätze, das Multimediale und das Gegenwartsbezogene, meinen natürlich keineswegs dasselbe. Doch ist die ästhetische Seite von der technischen Machbarkeit keineswegs unabhängig, wie man besonders an den »konzeptuellen« Stücken von Johannes Kreidler oder Patrick Frank sehen kann. Harry Lehmann, auf dessen Ideen sich beide zuletzt Genannten ausdrücklich berufen, hat in seinem Buch Die digitale Revolution der Musik beschrieben, wie die digitalen Möglichkeiten neue kompositorische Ansätze zu beflügeln vermögen, die den klassischen Konzertsaal bewusst verlassen. Für Lehmann bezeichnen die Neuansätze der letzten Jahre geradezu einen Paradigmenwechsel (Lehmann 2012). Sein Buch, das von einer »gehaltsästhetischen Wende« spricht und sich gerade mit einer solchen Formel erkennbar weit von aller postmodernen Beliebigkeit wegbewegen möchte, löste in den letzten Jahren einige heftige Reaktionen und Polemiken aus  – und Ähnliches gilt für die von manchen Komponisten betriebene Propagierung von Formeln wie »Diesseitigkeit« und »Neuer Konzeptualismus«. Der Nachdruck, mit dem einige dieser Debatten zu solchen Fragen des Weltbezugs geführt wurde, hat gewiss mit manchen Verkürzungen, Überpointierungen und Einseitigkeiten zu tun – aber natürlich auch mit dem Beharrungsvermögen von Ä Institutionen und den ihnen verbundenen Musikschaffenden bzw. Funktionären. Gewiss aber werden darin auch Anzeichen für die Sehnsucht 73 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik kenntlich, dass sich im Musikbetrieb tatsächlich etwas ändern möge – etwas, das nicht bloß auf eine Abschaffung oder Reduzierung der einschlägigen Orte und Konzepte der Neuen Musik hinausläuft, sondern auf deren Reformbereitschaft setzt. Es gehört neuen künstlerische Richtungen wie diesen, dass manche Ideen mit einer Art Alleinvertretungsanspruch daher zu kommen scheinen. Doch ohne Momente der Übertreibung hat sich wohl noch nie Bewegung ergeben – gerade das kann man gut etwa an den Entwicklungen der 1950er Jahre studieren. Der Konzertsaal gilt mit seiner Tendenz zum Äußerlichen, Musealen und Repräsentativen als Reversbild der hier aufgezeigten Tendenzen. Aber zu fragen ist, ob das wirklich so sein muss. Schon die wenigstens punktuelle Integration von Stücken, die andere Formate und Ästhetiken favorisieren, könnte erhebliche Impulse auslösen. Einige der in diesem Beitrag genannten Beispiele sind sehr wohl dazu angetan, hier produktiv, stimulierend und in hilfreicher Weise irritierend zu wirken. Das stark Gegenwartsbezogene (das im »Diesseitigkeits«-Begriff eine plastische, wenn auch kaum wirklich tragfähige) Formel fand, gründet bezeichnenderweise gerade auch auf dem großen Unbehagen gegenüber der Randständigkeit der Ä Neuen Musik. Verständlicherweise möchte die Bezeichnung »diesseitig« auch weniger als ein Gegensatz zum »Jenseitigen«, sondern eher zum »Abseitigen« verstanden werden. Dieser Randständigkeit könne man, so die Überzeugung, am ehesten dann entkommen, wenn man nicht mehr Bezüge zu Hölderlin, Celan, Goethe oder Leonardo da Vinci oder Elemente verschiedener spiritueller Traditionen zum Zuge kommen lässt, sondern Alltagsbezüge setzt (vgl. etwa Seidl 2013) und wenn man auch im Konzertsaal Präsentationsformen wählt, die aus ganz anderen Kontexten geläufig sind – weltoffeneren und stärker alltagsbezogenen, aber auch humorvolleren und leichteren. Gerade an diesen beiden zuletzt genannten Punkten, Ä Humor und Leichtigkeit, wird die Differenz zu etlichen anderen hier diskutierten Komponistenpersönlichkeiten der älteren Generation deutlich. Eher liegt ein Bezug zu jenem Konzept von Ironie vor, dem man (wie erwähnt, vgl. 2.) in den politischen Akzenten bestimmter Werke von Mauricio Kagel begegnet. Es darf unterstellt werden, dass bei alledem die Absicht mitschwingt, eine Unangepasstheit gegenüber den Normen des Musikbetriebs künstlerisch auszugestalten und ein Moment von Widerständigkeit zu verankern. In der heutigen »postmodernen« Situation, in der prinzipiell alles möglich erscheint, ist dies jedoch gewiss nicht leicht. Angesichts der schon angesprochenen größeren Resonanzen verschiedener Nachbarbereiche  – Theater und bildende Kunst – ist die Sehnsucht gewachsen, dass der Musikbereich diesen doch endlich ein wenig ähnlicher werden könnte – möglichst auch in der Frage, wofür und wogegen er sich richten soll. Diese Sehnsucht geht wie selbstverständlich mit der Hoffnung einher, dass etwas einstmals Randständiges ins Zentrum des Interesses einer musikinteressierten Öffentlichkeit rückt. Doch welche kompositorischen Konsequenzen ergeben sich daraus für die hier in Rede stehende Tendenz des neueren Komponierens mit größeren Weltbezügen? In Lehmanns Schrift zur digitalen Revolution heißt es: »Die Künstler werden mehr und mehr dazu übergehen, das zu produzieren, was wirklich Erfolg verspricht: das schnell identifizierbare, tautologische Werk, das sich wie ein Markenprodukt öffentlich wirksam bewerben und verbreiten lässt« (Lehmann 2012, 247). Soll das, so ist zu fragen, tatsächlich schon alles sein und taugt eine solche Beschreibung, um die Ansätze und Strategien der jüngeren Generation zu subsumieren? Vermutlich bezeichnet sie allenfalls einen Teilbereich des zukünftigen Komponierens. Und gewiss sind manche Konzepte, die heute entstehen, in ihrem künstlerischen Profil komplexer als es auf den ersten Blick oft erscheint. Denn ob gewollt oder nicht, scheint eine solche Diagnose, die auf die Marktgängigkeit von Musik ausgerichtet ist und deren Weltbezug nicht zuletzt als Erfolgsstrategie ansieht, fast wie eine Drohung zu wirken. Dabei finden sich zweifellos auch im Bereich der jüngeren Komponistengenerationen vielerlei Werkkonzepte, deren expliziter Weltbezug von der ebenso emphatisch wie authentisch wirkenden Überzeugung getragen ist, in dieser Welt tatsächlich etwas ändern zu müssen. Überdies sollte man aber nicht vergessen, dass es in dieser Generation doch auch einige gibt, die von ganz anderen Überzeugungen ausgehen: etwa von jener, dass es weiterhin eine substanzielle welt- und gegenwartsbezogene Konzertmusik geben kann, die auf digitale Möglichkeiten oder direkt alltagsbezogene Elemente weithin verzichtet. Auch sie können dabei womöglich auf den Spuren im Komponieren Beethovens wandeln. Tragen doch dessen Weltbezüge, die sich gegen alle pure »Kunstbehaglichkeit« (Heinrich Heine) richten, unverkennbar die Aufforderung in sich, im Hier und Jetzt fortgeschrieben zu werden. Ä Themen-Beiträge 8, 9; Gattung; Globalisierung; Konzeptuelle Musik; Konzert; Lateinamerika; Musikästhetik; Musikhistoriographie; Musiktheater; Nationalsozialismus; Neue Musik; Osteuropa Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Engagement [1962], in: Noten zur Literatur (Gesammelte Schriften 11), Frankfurt a. M. 1974, 409–430 „ ders.: Vers une Literatur 4. Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16, 249–540), Frankfurt a. M. 1978, 493–540 „ ders.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1970 „ Blomann, Ulrich J.: Wie der Teufel das Weihwasser, in: Kultur und Musik nach 1945. Ästhetik im Zeichen des Kalten Kriegs, hrsg. v. Ulrich J. Blomann, Saarbrücken 2015, 9–15 „ Borio, Gianmario: Musikalische Avantgarde um 1960. 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Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert Inhalt: 1. Musik und Technik: Herausforderungen an historische und systematische Musikforschung „ 2. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung  „ 2.1 Originalität als uneinheitliches ästhetisches Konzept  „ 2.1.1 Originalgetreue Nachahmung: Imitative elektrische Musikinstrumente  „ 2.1.2 Innovative Originalität: Innovative elektrische Klangerzeugung als ästhetischer Entwurf „ 2.1.3 Experimentelle Originalität  „ 2.2 Akteur Maschine  „ 2.2.1 Mechanische Musik zu Beginn des 20. Jh.s „ 2.2.2 Produktive Aspekte der Reproduktion  „ 2.3 Die vielen Facetten von »Live« in der Elektronik  „ 2.3.1 Live-Elektronik als inszenierte Gegenüberstellung  „ 2.3.2 Live-Elektronik als raum-zeitliche Entgrenzung  „ 2.3.3 Live-Elektronik als Interaktion  „ 2.4 Akteur Sprache  „ 2.5 Akteur Raum  „ 2.5.1 Raumklangkomposition 1. Musik und Technik: Herausforderungen an historische und systematische Musikforschung Je weniger wir eine musikgeschichtliche Epoche exklusiv abzirkeln können, in der mithilfe analoger oder digitaler Elektronik komponiert wird, je mehr Generationen an Hardware und Software für jeden erreichbar sind und die Möglichkeiten des Komponierens ebenso verfeinern wie sie in immer schnelleren Rhythmen praktisches und konzeptuelles Wissen entwerten, je vielseitiger und breitbandiger die Nutzung digitaler Operationen und Speicherverfahren ausfällt, desto weniger sinnvoll erscheint eine Gattungsdiskussion. Heute von »Elektroakustischer Musik« oder »Computermusik« im Sinne klar unterscheidbarer Gattungen zu sprechen, ist zu pauschal und unendlich viele Subgattungen auszudifferenzieren zu beliebig (Ä Elektronische Musik). Die Lemmata in der Zweitauflage der Musik in Geschichte und Gegenwart von 1995 (Supper 1995; Supper / Ungeheuer 1995) erfüllten damals vor allem die Funktion, etwas bis dato Marginalisiertes in den Kanon der Musikgeschichtsschreibung einzuarbeiten, und sie sind in dieser Hinsicht immer noch gültig. Auf Basis der einschlägigen Monographien zu elektroakustischer und computergestützter Musik (Supper 1997; Ungeheuer 2002; Manning 2004; Wright 2010; Blumröder 2011; Fabian 2013) gilt es jetzt, der Elektronik endgültig das Image des »Anderen« in der Musik zu nehmen. Ein solches Postulat verträgt sich durchaus mit der Auffassung, dass die neuen Möglichkeiten zu Beginn der 1950er Jahre in einem Rundfunkstudio elektronisch zu komponieren, eine veritable Zäsur für die Musikgeschichte bedeutet haben. Die technologischen Optionen der fein skalierbaren Zuführung von Energie via Strom, welche auf gestalterischer Ebene (1) die Perpetuierung von Klang, (2) die Verstärkung des eigentlich Unhörbaren, (3) die Speicherung und (4) die vollständige Komponierbarkeit von Klang nach sich zogen, regten tatsächlich dazu an, Klänge neu zu hören, neu zu denken und neu zu machen (Frisius 1996; Ä Themen-Beitrag 3). Allerdings konterkariert ein Betrachtungsschema, das die Legitimation eines Werks in dessen Anteil an Elektronik sucht, eine wichtige musikwissenschaftliche Aufgabe, nämlich die Komplexität eines kompositorischen Vorgangs als Ganzes zu reflektieren und damit den künstlerischen Eigenarten und Freiheiten im Umgang mit Klang, mit Elektronik, mit Musik gerecht zu werden. Die Kategorien zur Beschreibung des Verhältnisses von Musik und Technik, werden im Folgenden durch einen Medien- und Musiktheorie verbindenden Exkurs erläutert. Daran anschließend werden charakteristische Problemstellungen und Szenarien elektrotechnischen und computergestützten Komponierens sowie die an sie gekoppelten kontroversen Diskurse mithilfe ausgewählter Fallbeispiele näher beleuchtet. Medienkritische Betrachtungen heben darauf ab, welche Medien auf welche Weise in welchen Kontexten und mit welchen Zielen in Erscheinung treten, inszeniert werden, genutzt werden oder schlicht funktionieren (Paech / Schröter 2007; Ä Medien). Zu unterscheiden sind dabei mediale Dispositionen im Sinne von Handlungsoder Wirkungspotenzialen von konkreten Abläufen, in welche die Medien involviert sind; die Medientheorie spricht überwiegend von »Dispositiven« (Großmann 2008b). In medialen Abläufen finden Vermittlungen statt, die immer auch Transformation verursachen, was in kultureller, operativer und epistemologischer Hinsicht zu bedeutsamen Veränderungen führt. Technik, Instrumente, Maschinen etc. werden konstruiert, um mediale Transformationen zu leisten. Nicht diese Geräte werden hier als Medium bezeichnet, sondern die ihnen innewohnenden übersetzenden Formungsbedingungen, die mediale Vermittlungen auslösen. Medientheoretisch betrachtet hat sich damit eine definitorische Verschiebung ereignet: weg von der Sache, hin zu ihrem funktionalen Potenzial, etwas J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_5, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung zu formen, etwas zu prägen und dabei eine Übersetzung zu vollziehen (Ungeheuer 2008a). Mediale Transformationen können verschiedene Funktionen übernehmen: Sie stellen dar, sie speichern, sie vermitteln und sie operieren in vielerlei Hinsicht. Es handelt sich um einen Übersetzungsakt, der stets einen Bruch in sich birgt. Das gilt z. B. wenn in der Musik klangliche Vorstellungen mithilfe des Mediums »Formungsbedingungen der Notenschrift« in Noten gesetzt werden (Ä Notation), und ebenso, wenn diese Noten mithilfe des Mediums »Musikinstrument« in etwas Hörbares übersetzt werden (Ä Interpretation). An diesen einfachen Beispielen zeigt sich unmittelbar, dass stets auch andere übersetzende Formungsbedingungen an musikalischen Prozessen beteiligt sind  – so z. B. diejenigen der individuellen Spielweise des Interpreten, diejenigen des Konzertsaals, in dem eine Aufführung stattfindet, oder diejenigen des Publikums, das eine Konzertatmosphäre mittels Applaushandlungen und Buhrufen prägt und in ein Meinungsbild übersetzt. Klang ist eine flüchtige Erscheinung. Das begründet zunächst einmal ganz elementar die zahlreichen medialen Inszenierungen, welche Musik ausmachen. Es bedarf der Medien, um Klang zu speichern, um ihn aufzurufen (»abzuspielen«), um ihn zu bearbeiten und um ihn zu verbreiten. Musik kann als intermediale Kunst aufgefasst werden, die von der besonderen Verschränkung generativer, darstellender und operativer Medien gekennzeichnet ist (Ungeheuer 2012b). Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen empfiehlt sich insbesondere für Musik die vorgeschlagene pragmatische Auffassung von Medium. Medien entstehen so gesehen erst im medialen Prozess, der ihr Potenzial als übersetzende Formungsbedingung aktiviert. Dieser mediale Prozess stellt eine Interaktion zwischen mehreren Akteuren dar. Jeder Akteur (Komponist, Technik, Raum etc.) prägt auf spezifische Weise die Interaktion und ist immer aktiv wie reaktiv beteiligt. Eine systematische Beschäftigung mit diesen Prozessen führt zu Mikroanalysen, die die Akte des Komponierens und Realisierens ebenso betreffen wie die Klangprozesse. 2. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung Die meisten Geschichtsschreibungen bedienen sich mittlerweile technologischer Merkmale zur Abgrenzung von Epochen. Im Sinne einer Fortschrittslogik etwa reden wir von einer Frühphase in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, die vom Bau elektrischer Musikinstrumente geprägt ist, und dann von der Phase analogen Komponierens abgelöst wird, als in den 1950er und 1960er Jahren mit Schallplatten und dann mit Tonband Klänge aufgenommen und 78 aneinandergeklebt wurden, um dann diversen Klangmodulationen (Verhallung, rückwärts Abspielen, Transposition, Ringmodulation, Zerhackung, Iteration) unterzogen zu werden. Bald darauf setzen erste Versuche mit der zeitverzögerten räumlichen Distribution der Klänge via Lautsprecher ein. Als nächste Etappe gilt ab den 1970er Jahren die Arbeit mit Steuerspannungen zur strukturierten und ökonomisierten Gleichbehandlung und Kombination der verschiedenen Klangmodulationsgeräte auf der Basis von Impulsfolgen. Das Prinzip der Steuerspannung erlaubte es, die Charakteristik eines Klangparameters (Frequenz, Hüllkurve, Dauer) einem beliebigen anderen Klangparameter aufzuprägen. Für das Anordnen von gespeicherten Klängen stellten Sequenzer schließlich verbesserte Arbeitsmöglichkeiten dar. Die elektrische Klangerzeugung war bereits seit den späten 1950er Jahren durch Synthesizer vereinfacht worden, die Geräte wie Schwebungssummer, Impulsgenerator und Hallgerät als Module in zunehmend auch portablen Multi-Instrumenten miteinander verschalteten. Insgesamt verbesserte sich Technik laufend, wurde schneller, effizienter, kleiner, leiser. Einen Sprung zur besseren Handhabbarkeit stellte die MIDITechnologie dar (1983), die den Datenaustausch zwischen den Einzelgeräten standardisierte. Als digitale Universalmaschinen führten die Computer die musiktechnologische Tendenz zur Multifunktionalität fort und erlauben die Verbindung von Partitursynthese, Klangsynthese und -bearbeitung, Steuerung, Klangspeicherung etc. unter wechselnden Bedingungen von Hard- und Software in Verfahren der Computer-aided Composition (CAC). 2.1 Originalität als uneinheitliches ästhetisches Konzept Originalität meint Ursprünglichkeit, Echtheit, Eigentümlichkeit. Originalität ist ein starker Wert, mit dem sich große Ansprüche verbinden. Seitdem Elektrizität dem Musikschaffen zur Verfügung steht, wird Originalität als Qualität gefordert (Krause 1998), allerdings in konträren Auffassungen: (1) Elektrotechnik soll dazu verhelfen, die (nicht-elektrische) Musik möglichst originalgetreu zu reproduzieren, zu imitieren oder zu übertragen (2.1.1). (2) Elektrotechnik soll nicht imitieren, sondern eine wirklich neue, originale Musik, Klanglichkeit und Ä Musikästhetik hervorbringen. Die zweitgenannte Auffassung verwirklichte sich entweder als geplante Innovativität (2.1.2) oder unter experimentellen Bedingungen mehr oder weniger zufällig (2.1.3). Diese drei Optionen einer nachahmenden, einer geplant innovativen und einer experimentellen Originalität adressieren drei Ebenen, auf denen Technik für ästhetische Prozesse relevant ist und im Sinne der obigen medientheoretischen Ausführungen einen Akteurstatus 79 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung einnimmt, nämlich (1) die Ebene als apparatives Ideal, das durch sein Design und durch die Gebrauchsanleitung definiert ist (E-Orgeln sehen Blas- und Zupfklänge vor, um eben jene zu imitieren), (2) die Ebene des technologischen Funktionierens (innovative Sinustonkompositionen setzen beim konkreten Leistungsvermögen der nachrichtentechnischen Apparate des Rundfunkstudios an) und (3) die Ebene des künstlerischen Umgangs mit der Technik, die den experimentellen Modus erst ermöglicht (das Tonbandgerät wird durch die experimentellen Versuche des Studiotechnikers zu einem Musikinstrument, reproduktive Technik wird zu produktiver Technik umgedeutet). 2.1.1 Originalgetreue Nachahmung: Imitative elektrische Musikinstrumente Die Rundfunkentwicklung und die Entwicklung elektrischer Musikinstrumente waren personell, technologisch und institutionell eng miteinander verknüpft, können aber nicht als identisch angesehen werden. Dass elektrische Musikinstrumente im besten Sinne Rundfunkgeräte seien, deren Klang ohne den Weg über die Luft direkt in die Funkübertragung eingespeist werden könne, hatte Friedrich Trautwein anlässlich seiner Erfindung des Trautoniums tatsächlich erwogen (Trautwein 1936). Der ihr Design prägende Auftrag zur originalgetreuen Nachahmung ging aber noch über den funkspezifischen Übertragungsmodus hinaus. Es sollte ein wertvolles Gut auf elektrischem Weg gefördert und im besten Fall durch elektrische Hausmusik noch weiter verbreitet werden: die klassisch-romantische Musik. Die elektrischen Musikinstrumente trugen die Signaturen ihrer Konstrukteure, also der mit einem traditionsbewussten Musikverstand ausgestatteten Ingenieure und Physiker (Ungeheuer 1992 und 2008b). Daraus resultierten überwiegend geschlossene Interfaces (z. B. Tastatur), welche vorkonfektionierte Klangfarben abzurufen erlaubten. Selbst Leon Theremins Ätherophon (1920) mit seinem tastenfreien Interface, das je eine Antenne für Tonhöhen und Lautstärke mit der als Widerstand fungierenden Hand des Spielers verband und somit ein stufenfreies Spiel in der Luft erlaubte, wurde durchweg als Melodieinstrument inszeniert und sogar mittels Zusatzvorrichtung (z. B. Fußpedal) zur Erreichung diskreter Tonhöhen modifiziert. Neoklassizistisch orientierte Komponisten (z. B. Harald Genzmer, 1909–2007) kamen dieser Aufforderung zur musikalischen Imitation in ihren Werken für Trautonium und Sphärophon nach. Die imitative Nutzung von Musiktechnologien ist bis heute gängig, das betrifft ebenso die Praxis der Konsumenten als auch die Designentwürfe der Ingenieure. Usability-Studien betonen den Wert des Vertrauten, der ein wichtiges Kriterium für die allseits geforderte intuitive Handhabbarkeit technologischer Produkte darstellt. Die Bedienoberfläche von Geräten ist zu einem bedeutenden Forschungsobjekt von Industrie aber auch Kunst der Gegenwart geworden (Harenberg / Weissberg 2010). 2.1.2 Innovative Originalität: Innovative elektrische Klangerzeugung als ästhetischer Entwurf Einer der heftigsten Kritiker der imitativen Tastaturmechanik elektrischer Musikinstrumente und einer der poetischsten Propheten einer neuen elektronischen Musik war der Kapellmeister und Tonmeister des frühen Tonfilms Robert Beyer (1928, 1929). Beyer hatte sich von Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/16) und insbesondere dem Satz über das drohende Scheitern einer Entfaltung der Tonkunst an den Musikinstrumenten beunruhigen lassen. Seine Phantasien zeigten sich außerdem angeregt durch Arnold Schönbergs Idee einer Klangfarbenmelodie (Ä Klangfarbe). Zu den wenigen Komponisten, die mit elektrischen Musikinstrumenten arbeiteten und sich auch musiktheoretisch äußerten, zählte auch Edgard Varèse. Ohne selbst Erfahrungen in einem elektronischen Studio sammeln zu dürfen, erkannte er das innovative Potenzial elektrischer Klangerzeugung darin, dass Komponisten keinen Interpreten mehr brauchen würden, um ihre Musik zu realisieren. Seine musikalische Idee, frei von der Fähigkeit und Willkür der Interpreten zu komponieren, formulierte er 1950 und war damit einer der Ersten, der schon in der ersten Hälfte des 20. Jh.s von einer ganz neuen Musik mit neuen Technologien träumte: »Diese elektrischen Instrumente sind der bedeutungsvolle erste Schritt zur Befreiung der Musik. Was die Zukunft betrifft […], so wird der Interpret verschwinden, wie der Geschichtenerzähler in der Dichtkunst verschwand, als der Buchdruck erfunden war. […] Zwischen Komponist und Hörer wird kein verzerrendes Prisma stehen; es wird dieselbe innige Verbindung da sein, wie sie  – durch das Buch  – zwischen Schreiber und Leser besteht« (Varèse 1950/97, 96 f.). Varèse hob vor allem das Mischpult der Radiotechnik als bedeutende Anlage hervor. Auch neue Verfahren, Klänge auf einer Filmspur aufzuzeichnen, regten seine musikalische Phantasie an. Der künstlerische Umgang mit Lichttonspuren rekurrierte zunächst auf die Montagetechnik, die Sergei Eisenstein schon Mitte der 1920er Jahre in seinen Filmen vorgeführt hatte. 1929 schnitt Walter Ruttmann in Berlin erstmals die auf Filmband gespeicherten Klänge auseinander und klebte sie neu aneinander; damit war der Tonbandschnitt der 1950er Jahren schon in der Welt. Beyer und Varèse suchten bei den elektroakustischen Apparaten einen möglichst breiten Eingriffsspielraum in das Innere der Klangstrukturen zu erhalten. Elek- 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung trische Klangerzeugung und Klangmodulation sollten für den musikalischen Kompositionsprozess identisch werden. Ihnen schwebten Forschungslaboratorien nach naturwissenschaftlicher Art als zukünftige Komponierstuben vor. Damit forderten sie die radikale Öffnung des instrumentellen Interfaces: Die Basismodule elektrischer Klangerzeugung (Oszillatoren, Filter, Modulatoren) sollten den Komponisten unmittelbar zugänglich sein. Ein im emphatischen Sinne innovatives Komponieren baut Vorrichtungen ein, um Rückfälle in tradierte Muster der Formgestaltung oder der Ausdruckswerte zu verhindern. So entwickelten Komponisten in den 1950er Jahren mit reihenbasierten Kompositionsregeln Vorrichtungen, um eine Musik zu realisieren, die der seriellen Weltanschauung entsprach (Ä Serielle Musik): Einheit in der Vielheit und Vielheit in der Einheit (Ungeheuer / Decroupet 1998). Seriell-elektronisches Komponieren setzte sich zwischen 1953 und 1956 systematisch mit Grundpfeilern elektroakustischer Klanggestaltung (additive Klangsynthese, Filterverfahren, Klangverlaufsgestaltung mittels kontinuierlicher Bedienung der apparativen Regelknöpfe, Verkettung verschiedener Klangtransformationen u. a.) auseinander, um zu der angestrebten Entsprechung von Mikro- und Makroform zu gelangen. Parallel zur verstärkten Hinwendung zu prozessorientierten Herangehensweisen im Kölner Studio für elektronische Musik ab 1956 hat sich das serielle Handwerk von einer anfänglich auf punktuelle Klangbestimmungen begrenzten Technik zu einem allgemeinen Denken weiterentwickelt, das nicht nur serielle Verteilungsstrategien vieldimensional entfaltet, sondern auch Prozesse der Veränderungen von Klängen, Klangkonstellationen, Formteilen oder musikalischen Charakteren seriell anordnet (Ungeheuer 1996; Ungeheuer / Decroupet 1996; Decroupet 1997). Die elektrotechnischen Möglichkeiten der verfeinerten Tongestaltung beförderten diese Dynamik bis hin zur Aufhebung des seriellen Systems durch seine Perfektionierung, Gottfried Michael Koenig sprach von der »Aufspaltung in immer kleinere Teile zu neuartigen Klangformen, die die serielle Substanz ganz in sich aufsaugten« (Koenig 1963/92, 127). 2.1.3 Experimentelle Originalität Es gibt zwei Auffassungen von Experiment, die einander diametral gegenüberstehen. Das naturwissenschaftliche Experiment gilt seit der frühen Neuzeit als durchstrukturierter Vorgang, der ein antizipiertes Ergebnis nachvollziehbar macht und damit neben einer explorativen auch eine Verifikations-, Beweis- und Demonstrationsfunktion übernimmt. Davon unterscheidet sich das geistes- und literaturwissenschaftliche Verständnis des Experimentellen im Sinne eines innovativen, einzigartigen und ergebnisof- 80 fenen Akts der Erfindung, Entdeckung oder Schöpfung, wie es sich im 19. Jh. etabliert hat (Berg 2009). Strukturierte, quasi naturwissenschaftliche Experimente ereignen sich häufig in elektronischen Studios oder an mobilen Rechnern, wenn Komponisten Baupläne zum Realisieren bzw. Komponieren von Klang Schritt für Schritt apparativ umsetzen und mit kritischem Ohr die Ergebnisse abhören. Gerade diese wichtige Phase des Komponierens macht das Studio trotz der Nutzung von Laptops als idealtypische Abhörsituation mit optimiertem Lautsprechersystemen und akustischer Isolierung vom Umweltlärm bis heute unverzichtbar. Aber auch für die offene Lesart von Experiment lassen sich bemerkenswert viele kompositorische Szenarien anführen, und fast immer spielen Technik bzw. technikdominierte Aktionsräume in ihnen eine zentrale Rolle. Vermittlungen zwischen Klang und Ä Form jenseits des seriellen Denkens suchten Komponisten im Mailänder Studio di Fonologia zu realisieren (Scaldaferri 1997; Decroupet 2002). Ihre Experimentierfreude im Entdecken und dem kompositorischen Folgen von interessanten Klängen erfüllte die Funktion einer Strategie der Ergebnisoffenheit und wirkte unmittelbar in den Prozess der Werkrealisierung ein. Bruno Madernas Tonbandkomposition Continuo (1958) leitet eine kontinuierlich crescendierende Form aus einem einzigen Ausgangsklang der Flöte ab. Die experimentell-empirische Haltung der Komponisten erlaubte es, sich in jedem Moment durch das unmittelbare auditive Feedback der Klangerscheinungen zu neuen Verfahren der Klangsynthese und Klangbearbeitung inspirieren zu lassen. Die gehörte Klangstruktur weist den Weg, dem die musikalische Form folgt. Vor allem an den Werken, die mit Material der menschlichen Ä Stimme arbeiten, wird erkennbar, wie die italienischen Komponisten Klangforschung durchaus auch im semiotischen Sinne betrieben, indem sie die expressive Charakteristik der Klänge intensivierten, sie auf ganze Abschnitte, Formteile ausdehnten und neu beleuchteten (Ungeheuer 2002). Der experimentelle Ansatz, Klangsysteme zu entwerfen und sie während eines Konzerts oder einer Spielphase mehr oder weniger sich selbst zu überlassen, durchzieht die Geschichte von Musik und Technik, wobei der Grad der Kontrolle oder auch des Abspielens vorher einstudierter Abläufe nicht immer ersichtlich wird, was z. B. in aktuellen Laptop-Performances als Spannungsmoment ausgereizt wird. In Rainforest für Elektronik (1968) gewann David Tudor die Klänge vom Resonanzverhalten heterogener Materialien. Hängende Klangobjekte waren mit Kontaktmikrophonen versehen und wurden elektronisch gefiltert und gemischt über Lautsprecher abgestrahlt, sodass ein »ecologically balanced sound system« 81 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung entstand, wie es Gordon Mumma nannte (Holzaepfel 2006). 1975–78 experimentierte das noch junge elektronische Studio an der Essener Folkwang-Hochschule mit dem Synlab, einer neuen multifunktionalen analogen Anlage der Firma Hofschneider. Es gehörte zu der Arbeit mit analogen Apparaten, sich selbst steuernde Schaltungen zu entwerfen. Eine kompositorische Idee lieferte das Konzept für die Startkonfiguration des Geräts. In dem dann folgenden, oft tagelangen Prozess wurden Erfahrungen gesammelt und das kompositorische Vorhaben verfeinert, ggf. aber auch verändert oder auch aus dem Auge verloren. Es entstand meist eine kaum noch durchschaubare Komplexität der klanglichen Interdependenzen. Neue Ziele wurden verfolgt und wieder verworfen. Die Möglichkeit, das Klangergebnis des sich selbst steuernden Synlabs zu speichern, erlaubte es schließlich, das Kompositionsziel zu verlagern, um von dem Ergebnis des autonomen Klangsystems bestmöglich zu profitieren. Komposition wurde fortan als Analyse betrieben, indem das Klangmaterial des Synlabs als vorgefundene Klänge katalogisiert und selektiert wurde, um auf dieser Basis neue ästhetische Ideen zu entwerfen, die darüber entschieden, welche Ausschnitte des Klangprozesses wie zu kombinieren und zu einer Tonbandmusik oder einem Zuspielband zusammen zu stellen waren (Gespräch der Autorin mit Dirk Reith, 15. 7. 2015). Wenn Interpreten Musikinstrumente oder Musiktechnologie ohne konkretes Ziel einfach ausprobieren, reagieren sie möglicherweise auf komplexe, nicht direkt durchschaubare Interfaces oder aber auf evidente Begrenzungen, die sie zu überwinden hoffen. Vielleicht haben sie auch einen bestimmten Klang im Ohr, den sie zu verwirklichen suchen. Musikgeschichtlich haben solche experimentellen Phasen vielfach eine Erweiterung bisheriger Verfahren von Klangerzeugung, Spielpraktiken oder der Klangästhetik nach sich gezogen. Dabei sind Interpreten selbst zu Komponisten oder zu Ko-Akteuren kompositorischer Prozesse geworden, womit ein Rollenunterschied bemüht wird, der in der Popmusik kaum noch Relevanz besitzt. Die elektrische Verstärkung der Gitarre erlaubte nicht nur neue Techniken wie das bending (gleichzeitiges Drücken und Ziehen einer Saite auf dem Griffbrett, wodurch sich die Saitenspannung vergrößert und der Ton erhöht wird) oder später tapping (die Saiten mit den Fingerkuppen der Anschlaghand auf das Griffbrett stoßen, sodass ein besonderer Schlagklang entsteht). Eine Spezialität des Gitarristen Jimi Hendrix lag darin, »hässliche«, unerwünschte Klänge bewusst anzusteuern, so in der distortion. Dabei entsteht ein sehr obertonreicher, klirrender und geräuschhafter »fuzzy« Sound als Ergebnis einer Übersteuerung des zu laut eingestellten Vorverstärkers. Besonders eindrucksvoll verwendete Hendrix diesen in seiner Instrumentalversion der Nationalhymne der USA The Star-Spangled Banner während des Woodstock Festivals 1969 (Clarke 2005). Er mischte die Melodie der Hymne mit übersteuertem Gitarrenlärm, deren semantische Konnotationen infolge des gleichzeitig stattfindenden Vietnamkriegs er bewusst wachrief. Weiterhin verhalf Hendrix dem Wah-Wah-Pedal, also einem Gerät, das einen Klangfiltereffekt mithilfe eines Bandpasses erzeugt, und der bewussten Verwendung von feedback (Rückkopplung) zu hoher Popularität (Moskowitz 2010). 2.2 Akteur Maschine Maschinen sind Apparate, die über ein Speicherreservoir verfügen und aus diesem Elemente oder Prozesse abrufen können. Als Automaten vereinten sie seit den frühen Spieluhren und anderen walzenbetriebenen Musikinstrumenten kulturelle Phantasien der Konstruierbarkeit selbsttätiger Homunculi in sich, was eine lange Tradition der analoge und digitale Verfahren implizierenden Robotik hervorbrachte. Die von Robotervisionen inspirierten auf Computer bezogenen Forschungen zur artificial intelligence verbanden sich insbesondere für Musik mit Vorstellungen, die Universalmaschine Computer könnte zu einem Interaktionspartner des Komponisten oder auch des Interpreten auf der Bühne werden, was sich seit den 1960er Jahren versuchsweise in den zahlreichen Ansätzen vermeintlich symmetrischer Austauschprozesse in der Mensch-Maschine-Interaktion niederschlug. Die andere Seite dieser Medaille zeigt die zunehmende Ausprägung komplexer Zusatz-Ausbildungsprofile von Komponisten als Informatiker, Programmierer, Toningenieur oder Kognitionswissenschaftler, was zur Beherrschung der hochentwickelten Computertechnologien auch unerlässlich erscheint. 2.2.1 Mechanische Musik zu Beginn des 20. Jh.s Kunstgeschichte wie Musikgeschichte verhalten sich widersprüchlich zur Maschine im Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Der Beginn des 20. Jh.s liefert im Vollzug einer umgreifenden Industrialisierung und zugespitzt durch die Technikerfahrungen des Ersten Weltkriegs einen anschauungsreichen Hintergrund für den engagierten Diskurs um die kulturelle Bedeutung der Maschine, der auch die Musik einbezieht (Stuckenschmidt 1925/76; La Motte-Haber 1984; Braun 1992; Wicke 2001). Die Futuristen der 1910er Jahre markierten die Extremposition, der Maschine radikal zu huldigen. Ihnen ging es weniger um Anthropomorphisierung des Technischen als darum, die Maschine in ihren Manifesten auf die Podeste zu stellen, von denen sie kurz zuvor die Nike von Samothrake herunter gestoßen hatten. Futuristische Ästhetisie- 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung rung meinte Lautheit, Abruptheit, Schnelligkeit, Grellheit des Technischen und des Industriellen als neue Farben der Kunst. Daneben gibt es futuristische Argumentationen für das Maschinelle, die quasi lebensklug und erzieherisch darauf abzielten, eine Faktizität anzuerkennen und zu lernen, diese mittels ästhetisch-analytischer Durchdringung zu domestizieren, wie Bruno Munaris postfuturistisches Maschinenmanifest von 1930 dokumentiert (Munari 1930/86, 335). Eine Zuspitzung erfährt die Gegenüberstellung Mensch–Maschine im Musikdiskurs der 1920er Jahre, und zwar in der Formulierung »Körper versus Mechanisierung«. Musik wirkte als Katalysator für diese Auseinandersetzung, weil die Notwendigkeit Klang zu produzieren immer schon die Unzulänglichkeiten der Musikdarbietung ins Bewusstsein rief. 2.2.2 Produktive Aspekte der Reproduktion Speichertechnologien versinnbildlichen auf eindrückliche Weise den Eigensinn medialer Formungsbedingungen, der alles affiziert, was mit ihnen in Berührung kommt. Schon Paul Hindemith experimentierte 1930 mit dem Grammophon, so wie in den elektronischen Studios der 1950er Jahre oder später im Turntablism mit den Abspielgeschwindigkeiten der Tonbandmaschinen gespielt wurde. In Russland prägte sich ebenfalls schon vor den 1930er Jahren eine Tradition aus, die Tonspur, auf welcher Klang auf dem Filmband gespeichert wurde, selbst graphisch zu gestalten (Moholy-Nagy 1922, 1926). Es verband sich in diesen Ansätzen ein starker kreativer Impuls mit dem immer wieder anzutreffenden urkreativen Gestus, Vorschriften, Gebrauchsregeln und normative Widerstände zu überschreiten. Ferner lässt sich beobachten, dass Speichertechnologien substanziell in den kreativen Prozess integriert werden und ihre Spuren im künstlerischen Tun ebenso wie in ästhetischen Konzepten hinterlassen (Straebel 2009; Großmann 2010). Jeder Akteur, der an einer kreativen Interaktion beteiligt ist, hinterlässt seine Spuren. Diese triviale Einsicht der Medientheorie verhilft musikalischer Analyse zur Verdeutlichung des facettenreichen Zusammenspiels der verschiedenen Kräfte. Die Kölner Band Can prägte die experimentelle, zwischen Avantgarde und Rock changierende Bewegung des Krautrock seit den späten 1960er Jahren (Zahn 2006). Mithilfe eines Set-Ups von mehreren Mikrofonen, zwei Hi-Fi-Verstärkern mit mehreren Inputs als Mischpult, die später durch einen 8-Kanal-Mixer ausgetauscht wurden, und zwei Revox-Tonbandgeräten nahm die Band ihre ersten sieben Alben auf (Czukay o. J.). Can sprach von Live-Kompositionen und setzte sich damit vom Konzept der Ä Improvisation ab. Gemeint 82 war das gemeinsame Spiel, bei dem musikalische Ideen entwickelt und kollektiv ausgearbeitet wurden. Häufig implizierte das ein kontinuierliches Musikmachen über mehrere Stunden. In naiver Interpretation könnte man annehmen, dass die Revox-Geräte den Flow des Zusammenspiels lediglich passiv, ohne Eigenprägung, förderten, indem sie Druck nahmen, sich besonders gute Passagen merken zu müssen oder das Spielen zu unterbrechen, um musikalische Ideen zu notieren. Im Anschluss an die Phasen der Live-Komposition wurden für gut befundene Parts aneinandergeschnitten, um Songs für die Plattenveröffentlichung zu kreieren. Angesichts der Endgültigkeit des Formats Schallplatte mochten für diesen Akt der medialen Transformation von Live zu Vinyl die verschiedenen ästhetischen Anschauungen der Musiker in einer anderen Weise aufeinanderprallen als während des LiveSpiels, zu denken ist an den Drang nach Unkonventionalität der Karlheinz Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt und Holger Czukay bzw. den Groove des Schlagzeugers Jaki Liebezeit. Nach dem letzten mit dem Zwei-Spur-Aufnahmegerät eingespielten Album Soon over Babaluma änderte sich der Stil der Band substanziell. Durch die neue mehrspurige Aufnahmetechnologie in einem professionellen Studio ließen sich die einzelnen Musiker deutlich besser aus dem Gesamtklang heraushören. Um mögliche Fehler zu minimieren, wurden fortan die Instrumente in einzelnen Sessions, auch unter Ausschluss der anderen Bandmitglieder, aufgenommen. Eine solche Art der Aufnahme erfordert eine strengere Organisation der Songstruktur z. B. hinsichtlich der Länge einzelner Parts. Es entstanden komplexere Strukturen mit deutlich abgesprochenen Wechseln zwischen verschiedenen Liedteilen. Der experimentelle Gestus trat dabei zurück und mit ihm ein musikalischer Stil, der zum Wesen der Gruppe Can gehörte. Anstelle der naiven Interpretation neutraler Speichertechnologien muss für die Analyse konzediert werden, dass ebenso die Begrenztheit einer mobilen Revox prägend auf den experimentellen Modus wie auch die Präzision der Studiotechnologie prägend auf den kontrollierten Modus der Songentstehung eingewirkt hat. Und auch die BandMitglieder lieferten sich nicht passiv diesen verschiedenen medialen Formungsbedingungen aus, sondern suchten sie auf und inszenierten sie für ihre kreativen Prozesse. 2.3 Die vielen Facetten von »Live« in der Elektronik Alles bislang Thematisierte wirkt in das Phänomen hinein, dass elektrotechnisches und computergestütztes Komponieren immer irgendeine Verbindung mit Aspekten von »Live« unterhält. Jedes Konzert findet in Echtzeit statt (selbst ein Automat, ein Speichergerät, das auf der 83 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung Bühne zum Einsatz kommt, spielt seine vorprogrammierten Klänge in Echtzeit ab). Auch gibt es zwischen beseelter Natur (sprich: den Interpreten) und unbeseelter Natur (sprich: den nicht-elektronischen oder elektronischen Instrumenten) laufend Interaktionen, infolge derer sich vielfältige Klangtransformationen ereignen. Erst die Thematisierung des Gegenübers oder des Miteinanders machen aber aus einem Konzert ein live-elektronisches Ereignis. Die beiden Welten werden von der Live-Elektronik auf dreierlei Arten in Beziehung gesetzt: inszenierte Gegenüberstellung, raumzeitliche Entgrenzung und Interaktion. Diese Konzeptionen vermischen sich durchaus in den Werken. Es geht um verschiedene Arten, mit dem Instrumentalen umzugehen: die Inszenierung des menschlichen Instruments gegenüber dem technischen Instrument – die Ausdehnung des Instrumentalen bis jenseits der Wahrnehmungsschwellen und die wechselnde Interaktion Spieler-Instrument. 2.3.1 Live-Elektronik als inszenierte Gegenüberstellung Wenn ein Instrumentalist sein Musikinstrument auf der Bühne betätigt und ein Zuspielband zuvor aufgenommene Klänge dazu spielt, findet eine explizite Gegenüberstellung des Live-Akts und des maschinellen Akts statt. Das Merkmal, das diesem Geschehen seine musikalische Besonderheit verleiht ist die Zeit als »Gleichzeitigkeit in Echtzeit«. Im Kontext live-elektronischer Varianten lässt sich von einer Form der inszenierten Live-Elektronik sprechen. Inszenieren heißt »sichtbar machen«; sichtbar gemacht wird der kulturell bedeutsame Gegensatz »Live versus Maschine«. Es geht also um ein dramatisches Konzept der Augenmusik, das den ästhetischen Diskurs um das Verhältnis von »présence« und »absence« herausfordert. Dabei wird nicht primär klanglich argumentiert. Der Hörer, der mit verschlossenen Augen etwa Bruno Madernas Musica su due dimensioni für Flöte, Becken und Tonband (1952) lauschte, nahm nicht das Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit wahr (Rizzardi / Scaldaferri 2007). Er nahm allerdings eine klangliche Inkompatibilität des Flötenklangs und der auf Tonband aufgenommenen synthetischen Klänge wahr, die der damaligen Tonbandtechnik und Lautsprechergüte geschuldet wurde. Dies erlebte der Komponist selbst als unbefriedigend, es mag sogar das Bild der zwei Dimensionen im Werktitel verursacht haben. Diese technische Unzulänglichkeit trug nicht unwesentlich zum Konzept der inszenierten Gegenüberstellung bei. Als die Technik schließlich ein unmerkliches Ineinandergreifen von Instrumentalklängen und synthetischen bzw. elektronisch transformierten Klängen erlaubte, ging es in den Werken kaum noch um die Gegenüberstellung von Live und Maschine. Musique mixte hat Stücke hervorgebracht, in denen Klangtransformationen ausschließlich auf der Seite des Instrumentalspiels (im Sinne der klassischen Bedienung des instrumentalen Interfaces) stattfinden und auf der Seite der Technik gespeicherte Klänge unmanipuliert abgespielt werden. Das Auslösen (Triggern) der gespeicherten Klänge wird entweder von einem auf der Bühne nicht anwesenden Techniker übernommen (was die Inszenierung der absence verdeutlicht) oder dann auch von der instrumentalen Geste des Spielers realisiert. Zu diesem Zwecke wurde viel Forschung investiert, damit die Musikinstrumente durch zusätzliche Vorrichtungen auch externe Klangspeicher anregen können (z. B. am IRCAM). Der Aspekt der Gleichzeitigkeit intensivierte sich, als die vom Instrumentalisten auf der Bühne realisierten Klänge unmittelbar aufgezeichnet und dann zeitverzögert abgespielt wurden (z. B. Transición II für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder [1958–59] von Mauricio Kagel). Die technologischen Optionen, einen Instrumentalisten auch elektronische Klangtransformationen steuern zu lassen, brachten weitere Konzepte der Live-Elektronik hervor (Vinet 1999). 2.3.2 Live-Elektronik als raum-zeitliche Entgrenzung In Luigi Nonos Prometeo (1981–85) gehen die Instrumentalisten an die äußersten Grenzen ihres Instrumentalspiels hinsichtlich der Hörbarkeit oder Unhörbarkeit. Was Klangtransformation, was originaler Instrumentalklang, was synthetischer Klang ist, bleibt für den Hörer nicht unterscheidbar. Klangtransformation dient der Vermischung des erzeugungstechnisch Getrennten; die Reichweite des Instrumentalisten wird in den Raum und in die Zeit hinein entgrenzt (Ä Themen-Beitrag 6). Ob der Instrumentalist die Klangtransformationen selbst per Pedal auslöst oder ein Toningenieur unsichtbar im Hintergrund agiert, ist für diese Musik irrelevant, wenngleich es sich um zentrale Herausforderungen für den Komponisten wie für Tonmeister Hans Peter Haller und sein Team vom Experimentalstudio des SWR handelte. Live-Elektronik der Entgrenzung ist keine Dramaturgie fürs Auge, sondern, so benannte Nono seinen Prometeo, eine »tragedia dell ’ ascolto«. Übergänge so zu komponieren, dass sie nicht als plötzlicher Wechsel wahrgenommen werden, ist ein beständiges Thema elektroakustischer Musik (Ungeheuer 1994). Die Erfahrung im Umgang mit analoger Technik, sprich: die gleitende Reglermanipulation hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Kontinuum und die kontinuierliche Verbindung zwischen verschiedenen Klangqualitäten im Fokus des Komponierens stand und bis heute steht: zwischen Rhythmus und Tonhöhe (Stockhausen, 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug, 1958–60), zwischen Unhörbarem und Hörbarem (Marco Stroppa, Zwielicht für Kontrabass, zwei Schlagzeuger und elektronische Klänge, 1994–99), zwischen verschiedenen Klangfarben (Jean-Claude Risset, Sud für Tonband, 1985). 2.3.3 Live-Elektronik als Interaktion Interaktion in Echt-Zeit nobilitiert Live-Elektronik: Hier scheinen Mensch und Maschine ein lebendiges Verhältnis miteinander einzugehen, sich wie gleichberechtigte Partner zu begegnen. Interaktion in diesem Sinne beginnt dort, wo nicht mehr die instrumentale Geste des Musikers einen Vorgang auf Seiten der Maschinen auslöst, sondern der Klang seines Instrumentalspiels vom Computer im Hinblick auf weitere musikalische Aktionen interpretiert wird (Winkler 2001). In musikalischer Live-Elektronik sind alle Varianten von Austausch denkbar zwischen der nachrichtentechnischen Informationsübertragung, bei der spezifische technisch generierte Signale durch passgenaue Decoder auf der anderen Seite entschlüsselt werden, bis hin zu kommunikativem Miteinander, das viele Freiheitsgrade der Raumgestaltung (sowohl auf Seiten des Instrumentalisten als auch auf Seiten des Computers) lässt. Der optimale Partiturverfolger bleibt seit den frühen 1980er Jahren das große Forschungsprojekt am IRCAM, Paris (vgl. den Überblick über die technologische und stilistische Entwicklung der Arbeiten im IRCAM, Vinet 1999). Direkte Interaktionen können zwischen dem Publikum und den maschinell generierten Klangereignissen vorgesehen sein, so wie es Rolf Gehlhaar mit David Johnson schon 1970 in Cybernet praktizierte, als mithilfe von akustischem Feedback die Position und die Bewegung des Publikums im Raum als Input-Signal genutzt wurde. 1979 arbeitete Gehlhaar am IRCAM eine akustische Umgebung mit stehenden Wellen aus, die jedem Hörer seine persönliche Hörperspektive mit unterschiedlichem Klangergebnis offerierte (Gehlhaar 1991). Interaktionsräume zwischen mehreren Instrumentalisten schrieb Nicolas Collins vor, als er 1977 »post-Christian Wolff Instrumente« entwarf. Digitale Schaltkreise und PCs wurden so programmiert, dass sie nach Koinzidenzen und Abweichungen zwischen der Art, wie die Tastaturen von verschiedenen Spielern bedient wurden, suchten, um den Ablauf dieser Ereignisse in Klängen zu reflektieren. So entstand Musik als Resultat der Interaktion instrumentaler Gesten (Collins 1991). Das wohl älteste Naturverfahren der vor-elektronischen Zeit, nach dem sich Klänge gegenseitig beeinflussen, ist das der Resonanz. 1981 brachte Collins Saiten 84 elektromagnetisch in Resonanz mit Klangquellen wie Radio, Tonband, elektronisches Spielzeug, Schaltkreise. Die Saiten agierten als komplexe mechanische Filter, die die originalen Klänge auf unerwartete Weise transformierten (Collins 1991). Klanginstallationen, die Umweltsituationen einbinden, bilden lokal gebundene Räume der Interaktion aus. Entweder werden Umweltsignale (inkl. Publikum) selbst zu Spielern, die vorbereitete und lokal installierte Instrumente zur Klangerzeugung veranlassen oder diese Signale verändern die Ist-Situation des Klanginstallationssystems, woraufhin dieses seine Instrumente aktiviert und u. a. Klänge produziert. Auf der Seite der vorinstallierten Technik reicht die Palette von elektrotechnischen Geräten wie Rundfunkempfänger, Schallplattenspieler über elektrische Musikinstrumente bis zu allen Arten elektrischer Geräte der Klangsynthese, Klangverstärkung und Klangmodulation und auf der anderen Seite der Skala zu Computern und Hybridgeräten, die analoge und digitale Technik verbinden. Ein Interaktionsraum kann auch zwischen dem Musiker und dem von ihm selbst produzierten Klang vorgesehen sein. Wenn der Klang eines Musikinstruments mit oder ohne Klangverfremdung zeitverzögert im Raum auf verschiedene Lautsprecher gelegt wird, kann ein musikalisches Spiel der Interaktion beginnen. Der Interpret kann auf die von seinem Spiel ausgegangenen und jetzt ihm erneut begegnenden Klänge reagieren, quasi mit einem verfremdeten Abbild seines musikalischen Ichs in Dialog treten (Stockhausen, Solo für Melodie-Instrument mit Rückkopplung, 1966). Die Partitur und ihre Freiheitsgrade entscheiden über die Spontaneität dieses Klangdialogs, der auch in Gruppe – also miteinander und mit den Klängen  – stattfindet, wenn etwa bei Laptopimprovisationen mehrere Interpreten jeweils einen Computer bedienen (Großmann 2008a). Biofeedback-Musik nutzt physiologische Vorgänge in Mensch oder Tier als primäre Signalerzeugung, die elektronisch verstärkt und / oder transformiert wird. Die meisten Versuche wurden bislang mit Hirnströmen gemacht; schon Mitte der 1970er Jahre publizierte David Rosenboom vom Aesthetic Research Centre of Canada eine Reihe von Werken und Konzepten (Teitelbaum 1974). Als Realisation der emphatischen Interaktion Mensch-Maschine sind Biofeedbackstücke exemplarisch, vor allem, wenn sie auf eine Rückkopplung abzielen, die denjenigen, dessen Hirnströme musikalisiert werden, trainiert, die eigene Befindlichkeit zu verändern und ein neues Selbstverhältnis zu erlangen, wie es neben Rosenboom auch Richard Teitelbaum und David Behrman faszinierte. Es resultiert ein Spiel mit elektronisch erweiterten Idiophonen (selbst- 85 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung klingenden Instrumenten), dessen Live-Aspekt durch den Typus des Instruments garantiert ist (ebd.). 2.4 Akteur Sprache Eine künstlerische Begegnung von elektronischer Musik und Sprache begann in der Mitte der 1950er Jahre. Es zeichnete sich ein starkes Interesse der Komponisten ab, neben Sinustönen, Impulsen und Geräuschen auch Sprache als Klangmaterial zu verwenden. Sprachklänge waren von einer ungeahnten Komplexität und Meyer-Epplers phonetische und phonologische Experimente waren als Hintergrundinformation sehr gefragt. Denn es ging den Komponisten nicht nur darum, das Sprachmaterial ganz seiner Bedeutungsdimensionen zu entledigen und im gewohnten Sinne musikalisch zu verarbeiten – Sprache löste sich also nicht einfach in Musik auf, wie es die musikhistorische Darstellung zu experimentellen Sprachkompositionen in dieser Zeit oftmals suggeriert. Vielmehr ging es den Komponisten um die Spezifik von Sprachklängen, so wie sie im elektronischen Studio schon die klanglichen Eigenheiten von Sinustönen, Impulsen, Geräuschen und einer Vielzahl modulierter Klänge kennengelernt hatten. Von Stockhausens Gesang der Jünglinge, dessen Komposition 1955/56 in jene Zeit fällt, als er am Bonner Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung zum Studium eingetragen war, bis zu Fa:m ’ Ahniesgwow (1960) von Hans G Helms, der ebenfalls mit Meyer-Eppler in Kontakt stand, einem literarisch-musikalischen Werk, das eine neue Sprache aus den Verwandtschaften von Worten, Wortbedeutungen, grammatikalischen Wendungen und phonemischen Einheiten aus insgesamt 36 Sprachen bildete, reicht eine weite Palette von Kompositionen, die hier zu betrachten wären. Dabei wurde nicht Sprache de-komponiert, um Musik aus dem Sprachklangmaterial werden zu lassen, wie viele Musikwissenschaftler herausgearbeitet haben. Vielmehr griffen die Komponisten auf die multiplen Bedeutungsebenen von Sprache in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu als abstrakte grammatikalische Struktur, als gesprochenes bzw. gesungenes Lautgebilde, als semantisches System, als Träger von Sprechmelodie, Sprechrhythmus, stimmlicher Klangfärbung (prosodische Merkmale), als mystisches Zeichengeflecht, als körperliche Ausdrucksform, als Pool unterschiedlichster Klänge etc. Diese Bedeutungsebenen wurden herausgelöst, in neue Kombinationen und Hierarchien gebracht, in die Vielsprachigkeit hin ausgedehnt und durch elektrotechnische Modulationen ergänzt. Sprache wurde also nicht nur in Musik im chemischen Sinne aufgelöst, sondern es wurde die der Sprache innewohnende Musikalität herausgearbeitet (Ä Sprache / Sprachkomposition). 2.5 Akteur Raum Raum ist heute eines der wichtigsten Themen von Musik, wenn nicht von Kunst überhaupt. Das betrifft Aufführungsorte (Tröndle 2009), Klanginstallationen, interaktives Publikumsverhalten (Kiefer 2010), Datentransfer (Hajdu 2012), virtuelle Raumakustik, mobile Abspielmodalitäten von Tonträger, Ästhetisierung der Umwelt (Werner 1995). Raum wird nicht nur komponiert, inszeniert und simuliert. Die komplexe Wirkmacht von Raum verdeutlicht, dass die Vorstellung vom Komponisten, der verschiedene Parameter des Klanglichen musikalisch anordnet, dem Wunsch nach einem Machtszenario entspringt. Raum ist Ko-Akteur musikalischer Prozesse, dessen auslösende, modifizierende, verhindernde und ermöglichende Eigenheit immer stärker ins ästhetische und philosophische Bewusstsein rückt und neue musikalische Praktiken hervorbringen. 2.5.1 Raumklangkomposition Alberto Giacometti war im wörtlichen Sinne ein Begründer virtueller Räume, der den Betrachter seiner Skulpturen dazu nötigte, dem realen Anschein der Raumwahrnehmung zu misstrauen (Ungeheuer 2012a). Seine dünnen, stets eine Fernsicht suggerierenden Skulpturen laden zur Exploration ein, ohne die Möglichkeit bereit zu stellen, diese Exploration realiter durchzuführen, denn sie verewigen mit ihrer gekerbten Oberfläche die Kontur der Nahsicht. Giacometti arbeitet konfrontativ und existenzialistisch mit Brüchen: In montageartigen harten Schnitten setzt er Raum gegen Raum, Leere Mehrkanaltechnologien ermöglichen virtuelle Raumkonstruktionen durch bewegten Klang, so in I_LAND von Gerriet K. Sharma (*1974), uraufgeführt 2009 im Cube des IEM Graz. Eine aus 24 Lautsprechern bestehende Kuppel für die Projektion ambisonischer Klangquellen wird durch ein Cluster aus 48 Lautsprechern überlagert, um die zwischen den ambisonischen frei beweglichen Klangquellen und den fixierten diskret angespielten Kanälen entstehenden akustischen Artefakte kompositorisch zu erforschen. Die Klangskulpturen, deren Materialität im ersten Schritt per Mikrophon aus dem Klanghorizont einer Insel »gehauen« wurden, entwickeln im virtuellen Raum ihre Narration in insgesamt zehn Szenarien. I_LAND fixiert den Hörer auf nur einen Hörort, von dem aus der akustische Sweetspot exklusiv zugänglich ist. Wenn Giacometti die körperliche Annäherung des Betrachters an die Skulptur im Prinzip der absoluten Distanz (Sartre 1948/2010) so konterkariert hat, dass sie ihren Sinn verliert, so verbietet sich beim Hören einer ambisonischen Komposition das Vorgehen, Zurückgehen, das Umkreisen der Klangskulpturen durch den Hörer nicht nur infolge unserer gängigen 5. Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung Konzertrituale, sondern infolge eines rigiden Zentralismus der Realisierungstechnologie, der gleichsam einen Solipsismus provoziert: Nur einer kann seinen Stuhl an den optimalen Platz stellen! In beiden Fällen, dem Betrachten von Giacomettis Skulpturen und dem Hören von Sharmas Klangskulpturen, hat der Rezipient damit umzugehen, dass ihm eine körperliche Distanz verordnet wird. Virtualität begegnet als ein in der Realität Unmögliches, dem die Kunst einen neuen Möglichkeitsraum gibt. In dieser Situation entwickeln wir unübliche Weisen des Explorierens, durch die wir in die künstlerisch inszenierte Virtualität eintauchen. Dieser Eindruck von Immersion unterscheidet sich vom gängigen Ideal des Immersiven als körperlicher Bewegtheit, wie es etwa die Interfaces von Computerspielen suggerieren. Bei Wii-Spielen geht es um Interaktivität als spielerisches Engagement des Computernutzers. Das Verhalten des Spielers wird auf das Verhalten eines Avatars übertragen, der den Gegenspieler zu bezwingen sucht. Virtualität versteht sich als eine Verlängerung von Alltagsmodalitäten auf die Konfiguration eines Monitors. Giacomettis Rigidität, mit der er in den 1950er Jahren den Betrachtern seiner Skulpturen Ruhe verordnet, teilt den Gestus einer radikalen Raummusik, die das Hören selbst in die Pflicht nimmt, sich am Entstehen des Raumes substanziell zu beteiligen, indem es die irrealen Brüche wahrnehmend realisiert. Ä Themen-Beiträge 3, 6; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Intermedialität; Medien Berg, Gunhild: Zur Konjunktur des Begriffs »Experiment« in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, in Wissenschaftsgeschichte des 17. und 18. Jh.s als Begriffsgeschichte, hrsg. v. Michael Eggers und Matthias Rothe, Bielefeld 2009, 51–82 „ Beyer, Robert: Das Problem der »kommenden« Musik, in: Die Musik 9 (1928), 861–866 „ ders.: Zur Frage der elektrischen Tonerzeugung, in: Die Musik 2/5 (1929), 358 f. „ Blumröder, Christoph von: Musique concrète – Elektronische Musik – Akusmatik. 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Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen Inhalt: 1. Musik als Raumkunst  „ 2. Erweiterung durch elektroakustische Medien  „ 3. Spatial Music  „ 4. Raumkompositionen  „ 5. Raumprojektionen  „ 6. Environment, Happening, Fluxus  „ 7. Sichtbare Bewegungen auf dem Konzertpodium  „ 8. Hör-Räume  „ 9. Live-Elektronik und Raum  „ 10. Klangkunst  „ 11. Soundscape  „ 12. Klanginstallationen und Klangskulpturen  „ 13. Ortsspezifik und Raumspezifik „ 14. Klang und Situation „ 15. Konzertinstallation 1. Musik als Raumkunst Musik ist auch Raumkunst, obwohl in ästhetischen Abhandlungen seit dem 18. Jh. Musik als Zeitkunst hervorgehoben wurde. Dabei war eine Differenzierung der einzelnen Künste von großem Interesse. Im 20. und 21. Jh. haben sich diese Bestrebungen umgekehrt. In den letzten Jahrzehnten wurde hauptsächlich diskutiert, wie die »multimodale Wahrnehmung« funktioniert, wie die »Verfransung der Künste« erklärt werden kann und welche Konsequenzen sich aus der Fusion oder Überlagerung der Künste ergeben (Adorno 1967/78; Fischer-Lichte 2004; Hiekel 2010). Bei einem Rückblick auf Musik als Raumkunst ist nicht nur auf die Ä Akustik hinzuweisen, die erklingende Musik immer mit dem Aufführungsraum und mit der Architektur gebauter Räume verbindet, sondern es ist auch darauf aufmerksam zu machen, dass Musik selbst Räumlichkeit evozieren kann. Bei einem dynamischen Kontrast stellt sich der Eindruck von Nähe und Ferne ein. Wechselt der wiederholte Teil in eine andere Instrumenten- oder Chorgruppe, so sind Richtungswechsel im Raum wahrzunehmen, die auch als Gegenüber gestaltet sein können (La Motte-Haber 1986). Ein weiterer Aspekt von Musik als Raumkunst liegt darin begründet, dass Musik ein traditionelles Element der Inszenierung von Räumen darstellt, seien es Naturräume oder Gärten, Opern- oder Theaterbühnen oder Konzertsäle, wobei letztere auch die aufgeführte Musik in Szene setzen (Gilles 2000; Salmen 2006). Ein vierter Gesichtspunkt der Thematik von Musik als Raumkunst ergibt sich aus dem 2. Erweiterung durch elektroakustische Medien Musik als Raumkunst ist im 20. Jh. durch die Erfindung und den Einsatz elektroakustischer Medien erweitert worden. So hat etwa die Übertragungstechnik dafür gesorgt, dass beim Musikhören zwei oder mehrere weit voneinander entfernt liegende Räume verknüpft werden konnten, in denen qualitätsabhängig annähernd dasselbe zu erleben war. Es gab bspw. bei der Pariser Elektrizitätsausstellung 1881, bei der opulente Beleuchtungsspiele und neue elektrische Erfindungen präsentiert wurden, auch bereits eine telefonische Übertragung aus der Oper. Mit der Aufzeichnung und Wiedergabe von Musik einerseits und der Optimierung der Übertragungstechnik andererseits ergaben sich dann vor allem neue Möglichkeiten, Musik oder Klang im Raum zu präsentieren, ohne auf anwesende spielende Musikerinnen und Musiker angewiesen zu sein. Zunächst kam es jedoch in erster Linie darauf an, den Live-Eindruck möglichst authentisch wiederzugeben. Die Anfänge dieser Optimierung galten der Entwicklung der Stereophonie, die in den 1930er Jahren in den USA sowie in Frankreich von der Film- und Schallplattenindustrie forciert wurde (Cordonnier 1957). Im Rahmen der Wiedergabe von musique concrète (Ä Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik, 2.) entstanden in Paris einige Jahre später Experimente zur räumlichen Projektion von Kompositionen. »On July 6th [1951], an experimental performance at the Théâtre de l’Empire offered in a ›spatialized‹ form due to the ›relief stand‹ designed by Jacques Poullin, the Symphonie pour un homme seul as well as another joint composition by Pierre Henry and Pierre Schaeffer, Toute la Lyre, a ›concrete opera‹ derived from the Orpheus myth« (Dallet 1996, 48; vgl. Poullin 1955). 3. Spatial Music Während in der musique concrète in der Aufführung wieder ein »menschliches Wesen« zur räumlichen Vermittlung der Musik einbezogen wurde, schrieb ungefähr zeitgleich der kanadische Komponist Henry Brant neue Musik, in der die Verteilung der Musiker im Raum von vornherein Bestandteil der Kompositionen war. Brants »spatial music« steht in der Nachfolge von Charles Ives, geht also nicht nur von einer räumlichen Projektion der Musik aus, sondern bspw. auch von einer Überlagerung J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_6, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 89 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen verschiedener Musikrichtungen oder von einer Schichtung unterschiedlicher Tempi oder Tonarten. Sein Werk Antiphony One, For Symphony Orchestra (1953) markierte für ihn den Beginn seiner Raumkompositionen (Drennan 1975; Harley 1994). Durch die Verteilung der Musiker im Raum sollten die komplexen musikalischen Strukturen transparent bleiben, wie Brant erläuterte: »The spatial procedure, however, permits a greatly expanded overall complexity, since separated and contrasting textures may be superimposed freely over the same octave range, irrespective of passing unisons thus formed, with no loss of clarity« (Brant 1967/78, 224; vgl. Stone 1986). In weiteren Stücken integrierte Brant auch Bewegungen der Musiker im Raum und verteilte sie zum Teil horizontal und vertikal. Dadurch sollten für das Publikum Eindrücke von Nähe und Ferne sowie eine Verstärkung bzw. Intensivierung des Erlebnisses von absteigenden oder aufsteigenden Ton- oder Klangfolgen oder Registern entstehen (Brant 1967/78). In vielen nachfolgenden Werken, nicht nur im Konzertsaal, sondern auch im öffentlichen Raum, hat Brant diese Konzepte experimentell variiert, ausgeweitet und weiter entwickelt. 4. Raumkompositionen Die Komposition von Raummusik mit elektronischen Mitteln und als Erweiterung der seriellen Musik wurde zwischen 1956 und 1958 von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen in den Mittelpunkt gerückt. In Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955–56) und in den Gruppen für drei Orchester (1955–57), die entstehungsgeschichtlich miteinander verschränkt sind, wurden Möglichkeiten einer »funktionellen Raummusik« entwickelt (Decroupet 1997). Seine elektronische Komposition Gesang der Jünglinge kommentierte Stockhausen so: »In dieser Komposition wird die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum erstmalig vom Musiker gestaltet und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis erschlossen. Der ›Gesang der Jünglinge‹ ist nämlich für 5 Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wievielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden, das alles wird für dieses Werk maßgeblich« (Stockhausen 1956/75, 49 f.; vgl. auch Gesang der Jünglinge. FaksimileEdition 2001). Klangbewegung im Raum bedeutet hier in erster Linie einen Wechsel von Raumeindrücken und die imaginäre Hör-Erfahrung von Nähe und Ferne bzw. von Annäherung und Entfernung sowie von deutlichem bis undeutlichem (oder undeutlichem bis deutlichem) Sprachverständnis als prozessuale Verläufe. Der Wechsel von einem Lautsprecher zum anderen, d. h. die Erzeugung von gelenkten horizontalen Klangbewegungen konnte solche Raumeindrücke durch sequenzielle Verläufe unterstützen. Letztere stellen Verbindungen her (etwa zwischen »Impulsschwärmen«, Frequenzbändern oder Lautartikulationen) und unterstützen daher auch die Polyphonie der verschiedenen Gestalt-, Tempo- und Klangschichten (Decroupet / Ungeheuer 1998). Da der Faktor der Entfernung sowohl auf die Lautstärke als auch auf die Klangfarbe zurückgeht, wurde Stockhausen klar, dass der »Tonort«, gemessen an der Entfernung, »keinen eigenen Kompositionsparameter« beanspruchen kann (Stockhausen 1958/63, 166; vgl. Lippman 1963). Anders verhielt es sich mit der Wahrnehmung von Klängen aus verschiedenen Richtungen. Durch die Möglichkeit der Skalierung von Richtungen (von links nach rechts, von vorn nach hinten, von kontinuierlichen Richtungsänderungen im Kreis) hat der Komponist schließlich einen Weg gefunden, »den Tonort als selbständigen Parameter in die Komposition« einzubeziehen. Über die Gruppen für drei Orchester hinaus gelang dies in ausgearbeiteter Form in Kontakte (1958–60), in denen Stockhausen mit einem eigens dafür entwickelten Rotationswiedergabe- und aufnahmeverfahren arbeitete (Stockhausen 1958/63, 172 f.; vgl. Nauck 1997). Eine zweite Begründung für die Einführung der Verteilung von Klangquellen im Raum war auch hier die Möglichkeit, verschiedene kompositorische Schichten transparent zu machen. Dies betrifft im Gesang der Jünglinge Gruppen von Tönen und Geräuschen (u. a. Sinustonkomplexe, Impulskomplexe, Laute und Silben, Rauschen, einzelne Impulse und Impulsscharen, Akkorde; Stockhausen 1957/63, 64 f.), aber zugleich auch »Zeitspektren«. »Die Einbindung seriell organisierter Zeitschichten in die kompositorische Struktur sollte für ihn [Stockhausen] zur wichtigsten Voraussetzung für die Entwicklung einer Konzeption des musikalisches Raumes werden« (Nauck 1997, 209; vgl. Mowitz 2010). Dies galt nun insbesondere auch in den Gruppen für drei Orchester, in denen vor allem die Überlagerung verschiedener Tempi instrumental umzusetzen war. Klangbewegungen im Raum bildeten im Kontrast zur räumlichen Separierung hier wiederum Kohärenzen aus, sie trugen in Gruppen gleichzeitig zu einer Dynamisierung des Geschehens bei, vor allem in den sog. »Einschüben«, wenn alle drei Orchester gemeinsame Tempi annehmen, und wenn Beschleunigungen und Verlangsamungen als gerichtete »Massenbewegungen« erscheinen (Nauck 1997; Misch 1999). Am Ende seines Textes über Musik im Raum hat Stockhausen festgehalten: »Über die Einbeziehung des dreidimensionalen Raumes mit den Orientierungen ›oben‹ und ›unten‹ lassen sich 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen zur Zeit noch keine Angaben machen, da wir keinerlei Erfahrungen auf musikalischem Gebiet innerhalb dieser Dimensionen machen konnten. Es müsste für solche Versuche ein rundum mit Lautsprechern versehener Kugelraum vorhanden sein, von dem schon mehrfach die Rede war« (Stockhausen 1958/63, 175). Bekanntlich konnte Stockhausen erst im Kugelauditorium der Weltausstellung in Osaka 1970 seine Vorstellungen realisieren. Der Berliner Architekt Fritz Bornemann hat diesen Aufführungsraum als Konstruktion aus Stahlrohren realisiert (Sigel 2000). Boulez hat seine (zurückgezogene) Komposition Poésie pour pouvoir für Tonband und drei Orchester (1958) ebenfalls als Raummusik konzipiert, in der drei Orchester im Raum verteilt wurden, die von Lautsprechern umringt waren (Text / Sprache bildet den Part des Zuspielbandes, das Gedicht Je rame von Henri Michaux aus dessen Poèmes pour pouvoir; Nauck 1997; Boulez 1974/86). Boulez hat in Poésie pour pouvoir die »Raumfigur« der Spirale als Ausgangspunkt genommen, um sowohl die grundlegenden Reihen (Tonhöhe, Dauer, Dynamik) zu erstellen als auch den permutativen Umgang mit diesem »Material« zu steuern. Zuletzt wird auch die klangliche Projektion in den Aufführungsraum spiralartig angelegt, die Orchester sollen gestaffelt in verschiedenen Höhen (30 cm, 60 cm, 1 m) auf Podien sitzen, und die Klangbewegungen sollen in der Drehung des mittigen, zentral über dem Publikum angebrachten Lautsprechers gipfeln. Gisela Nauck zufolge gestaltete sich jedoch die Realisierung dieser Idee weitaus komplexer, so »sind zum einen die Beziehungen zwischen den drei Orchestergruppen entschieden vielfältiger, werden auch von innerstrukturellen und mikrodramaturgischen Beziehungen gesteuert. Andererseits übernimmt das Tonband keineswegs die Spiralform vom Orchester und vollendet sie durch jene sich über dem Orchester drehende Lautsprecherzeile, sondern der über die Lautsprecher gesteuerte Tonbandpart ist von Anfang an präsent« (Nauck 1997, 105). Mit der zugrunde liegenden »Spiralidee« – die das Auf- und Absteigen im Aufführungsraum (also die vertikalen Richtungen) einbezieht  – hat Boulez den Versuch unternommen, in den dreidimensionalen Raum vorzustoßen: »The spiral started from the floor, with the orchestra, and at the same level as the upper orchestra there were the first loudspeakers, the remainder continuing up into the roof immediately above the upper orchestra. That is to say, there was also an attempt to make use of ›spazialisation‹ and the relay principle, consisting of a kind of visual refusal / visual acceptance. I had been trying […] to ensure continuity between orchestra and tape – something that still interests me … Right from the start I had been continually struck, in all attempts to combine instruments with taped music, by the heterogeneous 90 character of the two media and the break dividing them« (Boulez 1974/86, 201). 5. Raumprojektionen Zwischen den genannten Werken von Stockhausen und Boulez lag die Weltausstellung in Brüssel von April bis Oktober 1958 mit der Installation von Edgard Varèses Poème électronique (1957–58) im Philips-Pavillon von Le Corbusier (und Iannis Xenakis). Offenbar hat sich mit dem Poème électronique nicht nur die Klangverteilung im Raum verwirklichen lassen, sondern auch die Erzeugung von Klangbewegungen im Aufführungsraum, kombiniert mit wechselnden Bildelementen einer Diainstallation: »Four hundred twenty five loudspeakers were mounted in groups which formed different ›sound routes‹ around the Pavilion, allowing for the creation of different spatial effects, e.g. echoes, sound movement along the various paths and dispersion in many points of space at once […] The sound routes mirror the outline of the Pavilion, both in the horizontal plane and along the complex shape of the roof, which was structured from two intersecting conoids [hyperbolische Paraboloide A.d.V.] with three peaks« (Harley 1994, 123; vgl. Lukes 1996; Treib / Felciano 1996). Im August 1958 wurde auch die Nirvana Symphony (1958) des japanischen Komponisten Toshirō Mayuzumi uraufgeführt, der sich nach seinem Studienaufenthalt 1951–52 in Paris und seinen frühen elektroakustischen Arbeiten mit dem Klang von japanischen Tempelglocken beschäftigt hatte (Ä Themen-Beitrag 9, 3.1) Die Nirvana Symphony besteht aus drei Orchestergruppen, sechs Solisten und zwölfstimmigem Männerchor, die um das Publikum herum aufgestellt werden. 1958/59 entstanden ferner zwei erste Konzeptionen von Raummusik bei Dieter Schnebel. Zum einen das Projekt raum  – zeit y für drehbare Schallquellen (1958), in dem geplant war, die Musiker auf Drehstühle zu setzen, »die mit parabolischen Schallspiegeln nach hinten abgeschirmt sind, so daß der Klang gebündelt nach vorn abgestrahlt wird« (Schnebel / Rudolf 1980, 122). Dadurch sollten unterschiedliche Verteilungsformen von Klang im Raum ermöglicht werden. 1958–59 entstand die Konzeption von Schnebels Raummusik Das Urteil (nach F. Kafka) für denaturierte Instrumente, naturierte Singstimmen, sonstige Schallquellen und Publikum, in der die Interpreten nach bestimmten Kriterien im Raum aufgestellt sind und »Schallfelder« ausbilden. Zugleich sind die Hörer in diesem Konzept aktiv einbezogen worden. »Sie können sich variabel plazieren, innerhalb des Stückes ihren Platz auch wechseln und in Interaktionen mit den Musikern wiederum eigene, interne Raumstrukturen ausbilden« (Nauck 1997, 163). Beide Konzepte konnten damals aller- 91 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen dings nicht realisiert werden und sind erst in den 1990er Jahren kompositorisch ausgearbeitet und aufgeführt worden (ebd., 155 f.). Mit einer unkonventionellen Aufstellung von Musikern auf dem Konzertpodium und mit einer zentralen Situierung und Platzierung des Publikums beschäftigte sich um 1960 auch Bernd Alois Zimmermann. In den Dialogen für zwei Klaviere und Orchester (1960–61) sollte die veränderte Sitzordnung im Orchester die solistische Behandlung der Mitwirkenden unterstreichen, um die zeitlichen Strukturen transparent werden zu lassen (Gruhn 1989; Paland 2012). In den Antiphonen für Viola und kleines Orchester (1961–62) wurde die Aufstellung im Orchester ebenfalls spezifisch danach ausgerichtet, die »Wechselgespräche« strukturell zu verdeutlichen. Diese Raumdisposition wurde im Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) weiterentwickelt. Gleichzeitig wird hier eine Raumauffächerung der Klangquellen verfolgt, vor allem durch eine »Gruppe von – auf acht Raumrichtungen symmetrisch gestaffelten – Lautsprechern« sowie durch eine räumliche Aufteilung von drei Chören (Hiekel 1995, 86 f.). Das Publikum wird damit ins Zentrum gerückt, wobei diese Konzeption auch in Zimmermanns Oper Die Soldaten eine wichtige Rolle spielt. Hier sollte die Opernbühne zu einem multidimensionalen und -medialen Hörraum ausgeweitet werden. »Der Zuschauer / Hörer befindet sich in der Mitte des ihn – im Idealfall kugelförmig – umgebenden Seh- und Hörraumes. Die Aussage des Komponisten richtet sich nicht mehr an ein Publikum, vielmehr errichtet der Komponist um den einzelnen Zuschauer / Hörer eine akustisch-optische Landschaft, die die Möglichkeit der Distanz nicht mehr kennt« (Ebbeke 1998, 69). 6. Environment, Happening, Fluxus Während in den erläuterten Raumkompositionen der neuen Musik die Dimension des Raums sowie Klangbewegungen im Raum als integrale kompositorische Bestandteile entdeckt und behandelt wurden, gab es in anderen künstlerischen Zusammenhängen ebenfalls neue Umgangsweisen mit Räumen, in denen zum Teil auch Musik oder Klang eine Rolle spielten. Die installative Präsentationsform von Musik oder Klang, die verbunden wurde mit der Inszenierung einer Konzert- oder Wahrnehmungssituation im Sinne einer Gestaltung bzw. besonderen Positionierung von Klang oder Musik in Räumen, gehört in das breitgefächerte Spektrum der »Installation Art«. Diese Kunstform umfasst bspw. eine komplette Einrichtung und Gestaltung von Räumen, die der Besucher beim Betreten als »anderen Ort«, Phantasie- oder Traumwelt erlebt (ein frühes Beispiel ist Kurt Schwitters ’ Merzbau, 1919–1937), die Ausstellung von Alltagsgegenständen oder Naturmaterial im Museum (vergleichbar den »ready-mades« von Marcel Duchamp), sie umfasst dazuhin künstlerische Interventionen in Räumen, die den Raum erweitern, zerstören oder abbauen, d. h. die »innocence of space« hauptsächlich im Museum unterlaufen (ein Hauptvertreter ist Daniel Buren), und sie schließt künstlerische Interventionen in Räumen ein, die Merkmale und Besonderheiten der Architektur unterstreichen, dabei oft fast unbemerkt bleiben. Musik- oder Klanginstallationen gehören häufig in diese Kategorie (Rosenthal 2003; Oliveira u. a. 1994, 2003). Man kann den Ursprung der Installation von Klang in Räumen und damit die klangliche Gestaltung eines Raums auf verschiedene Weise herleiten. Oft ist auf Erik Saties musique d ’ ameublement (1917/20/23) hingewiesen worden. Das Publikum wurde hier darüber informiert, dass die Musik aufzunehmen sei »wie eine gelegentliche Unterhaltung, ein Bild in einer Galerie oder wie ein Sessel, in dem man sitzt oder nicht sitzt« (Wehmeyer 1974/97, 223). Satie hatte jedoch nicht die Absicht, eine besondere ästhetische Wahrnehmung von Klang in einem bestimmten Raum anzubieten, sondern er konzipierte mit seiner musique d ’ ameublement offenbar Hintergrundmusik, heute würde man vielleicht sagen: klangliches oder musikalisches Ambiente. Dies kann mit dem Begriff »Environment« in Verbindung gebracht werden, der zunächst in den 1960er Jahren für Rauminstallationen stand, die als grenzüberschreitende künstlerische Projekte zwischen Architektur und bildender Kunst erklärt wurden (Kaprow 1966; Henri 1974). Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die japanische Gruppe Gutai, die sich bereits 1954 formiert hatte. Die Gründer der Gruppe, die Maler Jiro Yoshihara und Shozo Shimamoto, beschäftigten sich allerdings zunächst damit, das Material der Kunst (Farbe, Erde, Papier etc.) als ungeformtes Materielles einer neuen ästhetischen Wahrnehmung zu öffnen (Wagner 2001, 114–116). Shimamoto hat infolgedessen auch mit Geräuschen gearbeitet, die beim Umgang mit bestimmten Materialien entstanden sind. »Breaking Open the Object brought his practice of painting with explosions  – with paint-filled glass bottles […] and with cannons  – to the stage« (Tiampo 2011, 31). Zu den Performances und Environments von Gutai gehörten zum Teil auch Aufnahmen von Umweltklängen. Bei der etwas später in Düsseldorf gegründeten ZERO-Gruppe (Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker) standen ebenfalls erweiterte Raumerfahrungen durch neue Materialbearbeitungen im Vordergrund. Klang oder Sound gehörte auch zu den Gestaltungskomponenten von »Environments«. »The noise of rain and the wind swinging through the branches, the clanging of the constructions, cries of birds, and rasping of 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen crickets  – all could be picked up by tiny microphones and amplified earsplittingly over hidden loudspeakers« (Kaprow 1966, 172). Happenings können ebenfalls als Rauminstallationen bezeichnet werden, obwohl bei Happenings der Schwerpunkt auf der Zusammenkunft von Akteuren liegt, die unabhängig voneinander verschiedene Tätigkeiten ausführen. »Fundamentally, Environments and Happenings are similar. They are the passive and active sides of a single coin, whose principle is extension« (Kaprow 1966, 184; vgl. Kirby 1965). John Cages Untitled Event im Sommer 1952 kann als Beispiel angeführt werden, obwohl es damals kaum Beachtung fand (Fetterman 1996). Erst als Cage 1956 seine Kurse an der New School for Social Research in New York begonnen hat, wurden seine ungewöhnlichen Ideen und Aktivitäten allmählich aufgegriffen. Allan Kaprow war bspw. unter den Kursbesuchern, und seine 18 Happenings in 6 parts (1959) in der Reuben Gallery in New York wurden als solche von der Presse betitelt und bekannt gemacht, sie markieren den eigentlichen Beginn von Happenings (Goldberg 2001, 128–132). In New York hat sich mit den Aktivitäten von La Monte Young seit den frühen 1960er Jahren hierzu auch ein Gegenmodell entwickelt, das die Erfahrung von Klang im Raum auf wenige, minimalistische Ereignisse reduzierte. Dabei gehörten die Konzeptstücke von La Monte Young zunächst in den Kontext der Fluxusbewegung, in der ebenfalls einzelne »Events« im Vordergrund standen. Darin traf er sich mit Künstlern und Künstlerinnen wie etwa Dick Higgins, George Brecht oder Yoko Ono, wobei Yoko Ono und La Monte Young 1960/61 eine eigene Veranstaltungsreihe organisierten (Brüstle 2010). Da in diesem Kontext bereits fließende Übergänge zwischen den Künsten bemerkbar wurden, hat sich Dick Higgins mit einer Publikation diesen Phänomenen gewidmet und den Begriff »Intermedia« eingebracht (Higgins 1984, 18–28). Im Gegensatz zu Happenings handelt es sich bei Konzeptstücken der Fluxuskunst um klare Handlungsanweisungen oder Partituren, deren einzelne Umsetzung in Konzerten oder bei Aufführungen in konzentrierter Form stattfinden sollte. Dick Higgins sprach von »›concerts‹ of everyday living« (ebd., 87; vgl. La Monte Young 1963; Becker / Vostell 1965; Kesting 1969; Peters / Schwarzbauer 1981; Noller 1985; Friedman 1998). Dabei konnte jedoch die Textgrundlage unbekannt oder die Realisierung des Konzepts völlig offen bleiben, weil die »Realität« im Aufführungsraum mehrdimensional wurde (Brüstle 2012a). Der Raum erhielt im Kontext der Fluxuskunst eine weitere, neue Bedeutung hauptsächlich durch die Betonung des Vorstellungsraums oder der imaginierten, nicht real umzusetzenden Raumaspekte. 92 Mit La Monte Youngs und Marian Zazeelas Klangund Lichtinstallationen als Dream House ab circa 1969 waren längerfristige Einrichtungen von Klängen in Räumen verbunden, die zeitweise variiert oder ergänzt werden konnten (Potter 2000; Grimshaw 2012). Während im Dream House und weiteren vergleichbaren Einrichtungen oder Veranstaltungen demnach musikalische Interaktionsräume verändert wurden, die eine starke Tendenz zur Improvisation zeigten, ergaben sich bei anderen Komponisten wiederum Wandlungen der Aufführungssituation von Musik, die eine stärkere Festlegung der Handlungen auf dem Konzertpodium bis hin zur Komposition von Musik als Theater bedingten. Dabei ist nicht nur an Dieter Schnebels »gestische Musik« oder Mauricio Kagels »instrumentales Theater« zu denken, sondern bspw. auch an Musik als Theater bei Luciano Berio, an Konzerttheaterstücke von Bogusław Schaeffer oder an szenische Kompositionen von George Crumb, Rolf Riehm, Georg Katzer oder Jürg Wyttenbach. Auf diese szenischen Kompositionen wird an anderer Stelle näher eingegangen, im vorliegenden Kontext soll daher nur die Bedeutung einer erweiterten Raumperspektive durch Theater oder theatrale Elemente im Konzert erörtert werden. 7. Sichtbare Bewegungen auf dem Konzertpodium Sichtbare Bewegungen auf dem Konzertpodium etwa wurden bei Berio, Boulez, Reynolds oder Schnebel als raumschaffende und -einnehmende, raumgreifende Prozesse, Gänge, Wanderungen konzipiert, die u. a. gewissermaßen die Ordnung und das »Labyrinth« eines Raums, im übertragenen Sinne auch des Raums eines künstlerischen Werks, konstituieren und darstellen sollten. In der Regel wurden dabei auch Kontaktaufnahmen, Begegnungen oder Handlungen, die Reaktionen herausfordern und Interaktionen anstoßen, mit musikalischen Interaktionen verknüpft (Gebauer / Wulf 1998; Gebauer 2004). Luciano Berios Circles (uraufgeführt 1960 in Tanglewood) gehört zu den prominentesten Stücken, die diesen Ansatz verdeutlichen. Hier stehen sich auf dem Konzertpodium eine weibliche Singstimme und zwei Schlagzeugbatterien gegenüber. Die Mitte wird durch eine Harfe vertreten. Die Sängerin befindet sich zunächst vorn in der Mitte des Konzertpodiums, während die beiden Schlagzeuggruppen hinten rechts und links aufgestellt sind, zwischen ihnen ist die Harfe positioniert. In einem Akt des »spacing« (Löw 2001) wird ein musikalischer und zugleich sozialer Handlungsraum geschaffen, der zunächst in erster Linie durch die Nähe / Ferne der Beteiligten strukturiert ist. Die Sängerin bewegt sich im Verlauf des Stücks nach hinten und gelangt an die Seite der Harfe. Scheinbar hat man es mit einer einfachen Anordnung zu tun, doch der unspektaku- 93 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen läre zweimalige Ortswechsel der Sängerin ist funktional mit einem musikalischen Prozess verbunden, der aus der Sängerin / Stimme ein Element des Schlagzeugs werden lässt. Das Schlagzeug seinerseits nimmt auch Qualitäten der Stimme auf. Durch die räumliche Annäherung der Interpreten auf dem Podium werden demnach auch die einzelnen »Klangräume« der Mitwirkenden überlagert und erweitert. In seinem Werk The Emperor of Ice-Cream (1961–62) hat Roger Reynolds ebenfalls die Stimmen auf dem Konzertpodium in Bewegung versetzt. Eine Fortsetzung fand das Stück in der Serie Voicespace (1975–86), in der er elektroakustische Musik mit theatralen Elementen verbunden hat (Reynolds 1978). Weitere Formen der Raumnutzung auf dem Podium zeigen die unterschiedlichen Versionen des Werks Domaines (Beginn der Komposition 1959/60) von Boulez, die ebenfalls mit Bewegungen und Gängen von Musikern verbunden sind. Dabei wird die in der Partitur nur bedingt festgelegte Durchquerung einer Werkfassung zur sichtbaren Begehung eines komplexen »Werkraums«. Die »Verräumlichung der Lektüre«, ein Vorgehen, das Boulez vor allem aus der Rezeption Mallarmés abgeleitet hat, wird in Domaines auf den Aufführungsraum übertragen bzw. in den Aufführungsraum ausgedehnt. Am Beginn der Präsentationen von Domaines stand eine Solo-Fassung für Klarinette, die im September 1968 in Ulm aufgeführt wurde. Die »Großform« des Stücks bzw. der Solo-Klarinettenstimme (und später auch der Fassung mit Ensembles) besteht aus sechs sog. »Cahiers« oder Strukturen (A, B, C, D, E, F), denen jeweils zwei Teile zugeordnet sind (Original, Miroir). Bei einer Aufführung werden sechs Notenpulte auf dem Podium verteilt, auf denen die Cahiers A–F abgelegt sind. Die Interpreten können sich frei für die Reihenfolge ihrer Ausführung entscheiden, man spielt zuerst alle sechs »Original«-Teile und setzt dann mit den Spiegelungen, ebenfalls in freier Reihenfolge, fort (Boulez 1977; Mitchell 2005). Eine Fassung von Domaines für Klarinette und 21 Instrumente (aufgeteilt in sechs Gruppen) fand im Dezember 1968 in Brüssel statt. Die Solopartie wird dabei in einen akustischen und visuell wahrnehmbaren Dialog mit einem Ensemble gebracht, wobei die Zwiesprache streng geregelt wird. Der nicht nur akustisch, sondern auch visuell verfolgbare Dialog zwischen Klarinette und den verschiedenen Instrumentalgruppen hat die Solofassung des Stücks variiert und zugleich ausgeweitet. Das Soloinstrument findet bei seinen Wanderungen nicht mehr nur sich selbst und die eigene Spiegelung vor, sondern trifft an verschiedenen Orten auf mehr oder weniger »Fremdes«, das Antwort gibt oder Antworten verlangt, in dem sich die Klarinette spiegelt oder in dem sie gespiegelt wird. Die Gänge des Solisten oder der Solistin auf der Konzertbühne haben damit nicht mehr nur quasi an der Oberfläche angedeutet, dass das Werk verschiedene Pfade bietet, die in der Aufführung durchquert werden (können), sie haben vielmehr auch aufgezeigt, dass unterschiedliche Wege mit jeweils anderen Umgebungen und anderen Zielen verbunden sind. Mit Dieter Schnebels großformatiger Raummusik ΟΡΧΕΣΤΡΑ (Orchestra) für mobile Musiker von 1974– 1977 (uraufgeführt am 20. Januar 1978 in Köln) kann die Thematik der sichtbaren Bewegung von Musikern auf dem Konzertpodium nochmals aus einer anderen Perspektive erläutert werden (Nauck 2001). Es werden musikalische mit sozialen Prozessen verknüpft, die die Gemeinschaft »Orchester« betreffen. »Diese ›Symphonische Utopie für mobile Musiker‹ intendiert einen sinfonischen Aufführungsprozess in Entfaltung emotionaler Gehalte und unter Einbeziehung des Raums, wobei das organische Zusammenspiel des Klangkörpers Orchester zum Zuge kommen sollte« (Schnebel / Rudolf 1980, 129). Im Vordergrund steht der ganze »Klangkörper« eines Orchesters. Dessen sichtbare Bewegungen im Raum betreffen sowohl die kommunikativen »inneren« Vorgänge der Musiker und unter den Musikern (als Orchestergemeinschaft) als auch das Ritual eines Konzerts bzw. das rituelle Handeln eines Orchesters. Zugleich geschehen räumliche Ausdehnungen und Kontraktionen dieser Klangeinheit, die das Orchester tatsächlich als (elastischen) »Körper« explizit werden lassen. Die »Einnahme« und Nutzung des Aufführungsraums als ein integraler kompositorischer Bestandteil bezieht sich nicht nur auf kompositorischmusikalische, sondern ganz besonders auch auf orchesterspezifische Handlungsspielräume. Die Konstellationen der Instrumenten- oder Klangfarbengruppen zueinander, die Verhältnisse einzelner Instrumente zueinander, zwischen kleinem und großem Ensemble, zwischen Dirigent und Orchester oder zwischen Publikum und Orchester werden mitkomponiert, aber nicht in allen Fällen exakt festgelegt. Weitere Aspekte von Raummusik bei Schnebel im Zeitraum der 1970er Jahre betreffen einerseits eine Visualisierung von traditionellen musikalischen Strukturen wie etwa in den Bearbeitungen der Bach-Contrapuncti (1972– 76) oder die Kombination von stilistisch unterschiedlichen Stücken sowie unterschiedlichen Musikensembles wie in Drei-Klang (1976–77), die Bezüge zu Charles Ives oder Henry Brant aufscheinen lassen. Daneben widmete sich der Komponist in ki-no (1963–67) und MO-NO (1969) der Vorstellung von Musik oder der »optischen Musik«, bei der sich nach graphischen Vorlagen oder schriftlichen Anweisungen bei den Zuschauern oder Lesern eine 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen imaginäre Musik oder imaginäre Klangräume einstellen konnten. Das Buch MO-NO sollte »den lesenden Hörer (den hörenden Leser) zur Musik der Klänge führen, die uns umgibt, aber auch ihn auf die Spur jener imaginären Musik setzen, welche sich ständig in uns bildet, nämlich aus realen wie irrealen Klängen hervorwächst« (Schnebel 1972, 354). 8. Hör-Räume Unter anderen Voraussetzungen kam auch Luigi Nono in seinen Spätwerken zu einer imaginären Musik, in der für ihn zudem der Raum eine neue Bedeutung erlangte. Seine Ausgangspunkte lagen für Nono im Musiktheater und im Tanz, obwohl er sich in seinem Diario polacco ’58 für Orchester zunächst auch mit der Verräumlichung von Klang befasst hat. Offenbar wurde das Diario polacco ’58 jedoch nicht in seiner geplanten Form aufgeführt: »Die bereits 1959 zur Darmstädter Uraufführung im Ars Viva Verlag (Hermann Scherchen) gedruckte Partitur liegt als normale Orchesterkomposition vor, die sich allerdings durch eine unkonventionelle Anordnung und Mischung der Instrumente auf der Bühne auszeichnet. Nono hatte […] ursprünglich, wie die Skizzen zeigen, eine größer dimensionierte, instrumental-elektronische Raumkomposition im Sinn. Das Werk war zunächst für vier Orchestergruppen auf der Bühne, zwei vor dem Orchester in deutlichem Abstand plazierte Soloflöten und fünf im Halbkreis hinter dem Publikum angeordnete Lautsprecher konzipiert« (Nauck 1997, 18). Dabei waren sicherlich die Verbindungen zu Stockhausen und Boulez richtungweisend, doch Nono hatte sich auch mit den Vorstellungen einer räumlichen Projizierung von Musik im Sinne von Edgard Varèse beschäftigt. Zudem galt sein Interesse einer neuen Behandlung von Sprache und Texten, in denen die Verteilung ihrer Komponenten eine große Rolle spielte (Josefowicz 2012). Raumgreifende Klänge, die durch Lautsprecher vermittelt wurden, setzte Nono dann in seiner »azione scenica« Intolleranza 1960 ein, als Element der umfassenden Theatermittel, mit denen dieses »Gesamtkunstwerk« inszeniert wurde. Auch La fabbrica illuminata für Tonband und Gesangsstimme (1964) wurde durch verteilte Lautsprecher als Raummusik aufgeführt. Ab 1979 begann Nono aus seiner Suche nach neuen kompositorischen Wegen heraus auch mit der Entwicklung neuer Konzeptionen für Musik im Raum, im Umfeld der Entstehung von Fragmente  – Stille, An Diotima für Streichquartett (1979–80). Ab 1980 arbeitete er im Experimentalstudio Freiburg und konnte hier diese neuen Ansätze mit elektronischen Mitteln weiter verfolgen. Klangbewegungen im Raum erhielten für Nono in diesem Zusammenhang die Bedeutung von zentralen komposi- 94 torischen Mitteln. Der Raum wurde für Nono »formale Funktion seiner Komposition« (Haller 1991, 35). Hans Peter Haller, der damalige Leiter des Experimentalstudios in Freiburg, erklärte ferner: »Luigi Nono orientierte sich am geometrischen Raum und versuchte, in dessen erkennbaren Grenzen einen ebenfalls erkennbaren, d. h. erhörbaren Klangraum zu schaffen. Dieser Klangraum kann dem geometrischen Raum entsprechen, er muß es nicht. […] Der Komponist entwirft einen Klangweg, eine Klangbewegung, bezogen auf einen bestimmten geometrischen Raum. Er wird diesen Klangraum nie so hören, denn der Standort des Hörers, Schallreflexion und Schallabsorption beeinflussen den gedachten Klangweg. Für Nono aber war gerade dieses Ungewisse, das wir alle, Komponisten, Interpreten und Techniker, in unserer Arbeit von Konzertraum zu Konzertraum erfahren, Ansporn zu neuer Kreativität: nämlich neue Klang- und Zeiträume in der Musik zu erschließen, zu erhören« (ebd., 37). Zentrales Werk dieser Orientierung ist Prometeo (1981–85), eine »tragedia dell ’ ascolto«, eine »Tragödie des Hörens«, uraufgeführt 1984 in Venedig. Aus dem ursprünglich geplanten Bühnenwerk hat Nono ein letztlich neunteiliges Theater des Hörens oder ein Hör-Drama entwickelt, komponiert für Vokalsolisten, zwei Sprecher, Chor, Solo-Streicher und -Bläser, Gläser, vier Orchestergruppen und Live-Elektronik. Der gesungene Text, die gespielte Musik wird in der Aufführung nicht nur im Raum verteilt und in Bewegung versetzt, sondern auch klanglich bearbeitet und verändert. Die Zuhörer befinden sich in einem während der Aufführung geschaffenen »Klangraum«, den sie ebenso wie den durchlebten »Zeitraum« als Prozess wahrnehmen können. Dabei sind keine Zusammenhänge angelegt, sondern einzelne Teile oder Inseln werden angesteuert, die auch formal einen »Bewegungsraum« nahe legen. »Mehrere Klangquellen im Raum verwenden zu können, bedeutet für Nono die Möglichkeit, die eindeutige Ausrichtung der Musik – auf eine Bühne, auf einen Dirigenten hin – aufzubrechen. Stattdessen können die Klänge nun in allen Ecken des Raumes entstehen und viele verschiedene Richtungen haben. Dem eindimensional-teleologischen Geschichtsbewußtsein stellt Nono damit die Verschiedenheit der Perspektiven gegenüber« (Jeschke 1997, 46). Mit den Mitteln der Live-Elektronik (u. a. geringe Veränderung von Tonhöhen, langer Nachhall, Klangverzögerung, Vervielfältigung von Stimmen, Klangbewegungen im Raum, virtuelle Klang-Räume) war es Nono möglich, die »Verschiedenheit der Perspektiven« der Wahrnehmung zu erweitern. Damit waren auch Irritationen und Verunsicherungen des Hörens verbunden, weil die Ortung von Klangquellen erschwert wurde. »Diese Verun- 95 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen sicherung und Varianz der räumlichen Zuordnung von Klängen gehören zu den grundsätzlichen Überlegungen in Nonos Raumdisposition« (ebd., 199; vgl. auch 197–200, 221–223). Mit Adriana Hölszkys Tragödia (Der unsichtbare Raum) (1996–97), Beat Furrers Fama (2004–05) oder Bühnenwerken von Klaus Lang sind in den letzten Jahren weitere Kompositionen entstanden, in denen das Hören bzw. der Hör-Raum inszeniert wurde (Ä Musiktheater, 3.2). In Hölszkys Tragödia beruht die Struktur des abstrakten Hörtheaters auf einem Text, der verborgen bleibt (Houben 2000; Gratzer / Hiekel 2007; Tadday 2013). In Furrers Fama ist ein speziell gebauter Raum mit variabel zu öffnenden Paneelen und unterschiedlichen Reflexionsflächen als Instrument eingesetzt worden, mit dem es möglich war, die Hörsituationen des Publikums in diesem Raum flexibel zu gestalten (Ender 2006; Furrer 2010). 9. Live-Elektronik und Raum Live-Elektronik, also die Kombination von Aufnahmen oder von elektronischer Klangtransformation mit dem Live-Spiel oder mit der Live-Stimme in einer Aufführungssituation, ermöglichte nicht nur die Ausbildung eines eigenen »Klangraums« im Sinne einer Spazialisierung innermusikalischer, komponierter Strukturen, sondern auch die Exploration von anderen Innenräumen, z. B. Innenräume von Körpern, Instrumenten oder anderen Objekten. In der Performance Art der 1970er Jahre war damit häufig eine Selbstbezüglichkeit verbunden, die jedoch keine Verdopplung oder Kopie zur Folge hatte, sondern eher eine Distanzierung und Entfremdung vom eigenen Körper oder vom eigenen Tun. Der eigene Körper bzw. Funktionen des menschlichen Körpers oder andere Körper wurden zu Klangquellen, die überhaupt als zu präsentierende oder als (künstlerisch) manipulierbare Objekte neu ins Bewusstsein geholt wurden. Hinzuweisen ist auf so unterschiedliche Projekte wie die Performances oder Kompositionen von Alvin Lucier (Music for Solo Performer, 1965), Laurie Anderson (United States, 1983, Home of the Brave, 1986), Stelarc (Stomach Sculpture, 1993, oder Amplified Body, 1994) oder Agostino Di Scipio (Audible EcoSystemics, 2002–2005). In Luciers Music for Solo Performer vermitteln Klänge im Raum im Grunde genommen die »Live-Elektronik« des Gehirns. Das Stück ist die Vorführung eines Experiments, die sich gleichzeitig zu einer wie von Geisterhand angeregten Raummusik entwickelt. Gehirnströme (Alphawellen) des Aufführenden werden verstärkt und als elektrische Impulse beweglichen Mittlern zugeleitet, die ein Instrument oder einen Gegenstand in Schwingungen versetzen. Dabei ergibt allein der in der Mitte des Kon- zertpodiums auf einem Stuhl sitzende, mit Elektroden am Kopf versehene Performer ein befremdendes Bild, das an Probanden medizinischer Versuchsstationen erinnert (Lucier 1995). Die Besonderheit der Aufführungssituation wird betont durch den Umstand, dass sich die Erzeugung von Alpha-Gehirnwellen nur in einem körperlich wie mental absolut ruhigen Zustand ergibt (Lucier 1979). Hirnströme, Herzfrequenzen oder Atmung sowie weitere Körperrhythmen oder Körpersignale wurden in den 1960er Jahren auch in Ensembles als Ausgangspunkte für zum Teil improvisatorische »Spielräume« genutzt, etwa in Biofeedback-Stücken von Richard Teitelbaum oder David Rosenboom (Feißt 1997, 141–145). Stelarcs Projekte haben zunächst keinen akustischen oder musikalischen Hintergrund, sondern sie gehören in die Geschichte der Performance Art und Body Art. Doch Klänge von Körpern und Körperbewegungen waren immer grundlegende Elemente seiner Aufführungen (Evert 1999). Klänge und Klangstrukturen, z. B. bestimmte Rhythmen, die vom Körper ausgehen und auf dessen Funktionen zurückgeführt werden können, werden sodann durch Feedback oder Klangbearbeitungsverfahren über den Computer transformiert. Dadurch entsteht eine vom Körper abgelöste klangliche Ebene, mit der separat gearbeitet werden kann. In einigen Aktionen führen Klangkaskaden den Körper (inklusive die inneren Organe) und seine künstlichen Extensionen als Maschinen vor. Stomach Sculpture bspw. ist eine Nutzung der inneren Körper-Räume, um eine besondere Klangskulptur zu schaffen. »Erreicht wird dies mittels einer endoskopisch in den Magen eingeführten Sonde aus Edelmetall, die neben blitzartigem Licht auch ein Klangsignal aussendet. Bild und Ton lassen den Körper als ›Klang-Körper‹ und ›Container für ein Kunstereignis‹ erscheinen« (Drees 2011, 89). Mit Stelarcs Amplified Body hat der Künstler auch die Rückkopplung zwischen Körper und Umwelt thematisiert. Bei der Nutzung von Körper-Räumen wird demnach deutlich, dass der Raum nicht mehr als abstrakter Behälter oder als berechenbares und bespielbares Koordinatensystem gelten und gedacht werden kann, sondern als mehrdimensionale und beziehungsreiche Kategorie. Ist es bei Stelarc das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine sowie die Frage der Künstlichkeit des Menschen, die als Matrix aufgerufen werden, so ist es bei Laurie Anderson eine Verschränkung von Popkultur und Avantgarde, Bildwelten und Sprache aus Alltag und Kunst. Dabei benutzt Laurie Anderson den Körper als Medium, das zwischen diesen Bereichen vermittelt. Sie benutzt ihn zum Teil als Musikinstrument, das elektronisch verfremdet wird, und das dadurch auch roboterhafte Züge erhält. Ihre manipulierte Stimme wechselt bspw. auch den Raum der Gen- 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen derzuschreibung. »Laurie Anderson ’ s performance art, through its use of electronic media and corporate sponsors, creates an electric body that cuts across the stratum, recombining elements from the languages games of cultural, technological, and bureaucratic performance« (McKenzie 1997, 39). Der italienische Komponist und Klangkünstler Agostino Di Scipio benutzt in der Serie Audible EcoSystemics zum Teil Körperräume (z. B. die Mundhöhle), um seine elektro-akustischen »system interactions« bzw. interaktiven »ecosystems« zu variieren, die er als Verkoppelungen von »man / ambience / machine« beschreibt (Di Scipio 2003, 272). »The task is not to evoke existing environmental phenomena, but to create small audible ecosystems that can be coherent in their internal structure and temporal unfolding, and that can develop in close relationship to the space hosting the music and the audience« (ebd.). Der Raum bzw. die Raumakustik oder die klangliche Umgebung ist demnach in das System von Klangerzeugung und Klangveränderung eingebunden, das mit bestimmten digital gesteuerten Routinen oder Prozessen verkoppelt ist. »In some works of mine, the room is part of the network of performance components. Some sound source elicits the room resonances, which are analyzed by the computer, and the analysis data is used to drive the computer transformations of the sound source itself. What is implemented is a recursive relationship between human performer(s), machine(s), and the surrounding environment« (Anderson 2005, 16). Lautsprecher und Mikrophone werden dabei als Klangmedien (Wiedergabe und Aufnahme) verwendet, aber auch als Instrumente, die Klang erzeugen und verändern können. »Just like the microphone, the loudspeaker is not an element foreign to the process; it ’ s part of it, something used to generate the music, not to play it back« (ebd., 17). In Audible EcoSystemics Nr. 3b: Background Noise Study, with Mouth Performer oder Background Noise Study, in the Vocal Tract (2004–05) wird das Mikrophon in die Mundhöhle eingebracht oder am Mund gehalten, um dort Klänge abzunehmen, die bei bestimmten Aktionen oder in bestimmten Positionen des Interpreten oder der Interpretin entstehen. »For the most part, the performer stays rather still, doing nothing except holding the miniature microphone in the mouth, with the fingers, and changing mouth postures (causing changes in the resonant structure of the feedback loop). Sometimes she or he […] takes a rest, and takes the small microphone out of the mouth. Then, the microphone gets the room sound, too, so the room sound unfiltered by the mouth will eventually overlap with the vocal resonances in the delayed feedback loop output. […] The body (mouth, lips, tongue) of the 96 human performer constitu[t]es, in such a context, an integral part of the ecosystem dynamics« (Di Scipio 2011, 106 f.). Es ist nicht erstaunlich, dass Di Scipio seine Projekte auch im Format von Klanginstallationen präsentiert hat und präsentiert. So existiert bspw. Audible EcoSystemics Nr. 2. Feedback Study auch als eine Installation mit zwei oder drei Mitwirkenden, die ebenfalls die Mundhöhle als Resonanzraum benutzen sollen: Feedback Study, with Vocal Resonances. 10. Klangkunst Klanginstallationen oder Klangkunstprojekte zeigen in den letzten Jahren häufig Überschneidungen mit Konzertsituationen, obwohl sie weiterhin primär mit der akustischen »Einrichtung« von Räumen, d. h. auch mit Aspekten der bildenden Kunst Querverbindungen aufweisen. Bei der Kombination von Klangkunst und Objektkunst sowie bei der Einbeziehung von Film, Video oder Licht als inszenatorische Gestaltungselemente sind intermediale Bezüge grundlegend (Rajewsky 2002). Ferner gilt für Projekte der Klangkunst als Installationskunst nach wie vor eine spezifische Situation für die Besucher, denn sie können sich in der Regel frei im Raum (oder in Räumen) bewegen und die Dauer ihrer Anwesenheit selbst bestimmen. Das Publikum ist demnach nicht mehr fokussiert auf das Hören, sondern ist multisensorial bzw. multimodal in der ganzheitlichen Wahrnehmung gefordert. Ausgehend von dieser prinzipiellen Offenheit und Freiheit der Rezeption haben nun Klangkünstler und Klangkünstlerinnen in den letzten Jahrzehnten vielfältige Möglichkeiten ergriffen und ganz unterschiedliche Konzepte entwickelt, die menschlichen, sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten und Leistungen anzusprechen, um die grundlegende Wahrnehmung von Räumen und Orten, Architektur, öffentlichen Plätzen oder städtischen Bereichen in eine besondere ästhetische Erfahrung umzuwandeln. Die Bandbreite der Projekte im Bereich der Klangkunst reicht von Erforschungen und Darstellungen der akustischen Umwelt, die damit dem alltäglichen Empfinden enthoben wird, bis hin zu kompletten Inszenierungen von artifiziellen oder künstlichen Räumen in Räumen, in denen Klang oder Musik die Szene komplettiert. Dazwischen liegen Projekte, bei denen bspw. »nur« eine subtile Verstärkung von Geräuschen angelegt ist, um bestimmte Orte zu markieren, oder Klanginstallationen mit einem hochtechnologischen Aufbau zur Übertragung von Signalen, die zu klanglichen Ereignissen umgewandelt werden (Block 1980; La MotteHaber 1996; La Motte-Haber u. a. 2006; Ä Klangkunst). 97 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen 11. Soundscape Bei der Beschäftigung mit der akustischen Umwelt ist an die klangökologische Bewegung zu erinnern, die R. Murray Schafer mit dem World Soundcape Project (Schafer, Bruce Davis, Peter Huse, Barry Truax und Howard Broomfield) in Kanada begründet hat. »The World Soundscape Project (WSP) was established as an educational and research group by R. Murray Schafer at Simon Fraser University during the late 1960s and early 1970s. It grew out of Schafer ’ s initial attempt to draw attention to the sonic environment through a course in noise pollution, as well as from his personal distaste for the more raucous aspects of Vancouver ’ s rapidly changing soundscape« (Truax o. J.; vgl. Truax 1996). Mit den Klangaufnahmen der Stadt Vancouver und ihren Arrangements (The Vancouver Soundscape 1973, aktualisiert Soundscape Vancouver 1996) war eine Analyse und eine gestaltete Darbietung der Klangumgebung des Hafens mit den unterschiedlichen Schiffshörnern und Klangsignalen der Stadt an der Westküste Kanadas verbunden (Werner 2004). Für Schafer und seine Mitarbeiterinnen (v. a. Hildegard Westerkamp) und Mitarbeiter war es zunächst wichtig, die klangliche Umwelt als »soundscape« zu verstehen, zu beschreiben und zu analysieren, um die unterschiedlichen Klänge der Natur oder einer Stadt in ihren historischen Entwicklungen und in ihren aktuellen Erscheinungsformen bestimmen zu können. Schafer definierte »soundscape« als: »The sonic environment. Technically, any portion of the sonic environment regarded as a field for study. The term may refer to actual environments, or to abstract constructions such as musical compositions and tape montages, particularly when considered as an environment« (Schafer 1977/94, 274 f.). Die Zusammensetzung der klanglichen Umwelt hat Schafer eingeteilt in Grundtöne oder Grundtonlaute (»keynote sounds«), Signallaute (»sound signals«) und Orientierungslaute (»sound marks«) (ebd., 9 f.). »Keynote sounds« einer Umgebung werden aufgefasst als »created by its geography and climate: water, wind, forests, plains, birds, insects and animals. Many of these sounds may possess archetypal significance; that is, they may have imprinted themselves so deeply on the people hearing them that life without them would be sensed as a distinct impoverishment« (ebd.). Signallaute werden den Grundtonlauten gegenübergestellt wie Figur und Grund bei der visuellen Wahrnehmung. Signallaute waren bspw. Posthörner oder Jagdhörner, sind bis heute etwa das Läuten von Kirchenglocken und Glockenschläge von lokalen Kirchen- bzw. Uhrtürmen (Rathäuser u. ä.), Pausenglocken, Fabriksirenen usw. Während nun Signallaute zu bestimmten Zeiten allgemein verbreitet waren, beziehen sich »sound marks« Schafer zufolge auf besondere, einmalige und schützenswerte, charakteristische Klänge einer Gemeinde oder sozialen Gemeinschaft. »The term is derived from landmark to refer to a community sound which is unique or possesses qualities which make it specially regarded or noticed by the people in that community« (ebd., 274). Konsequenzen aus den Forschungen und Erkenntnissen der klangökologischen Bewegung sind einerseits verschiedene Richtungen von »Acoustic Design«, zum Teil verbunden mit der Gestaltung von (akustischen) Landschaften oder angewandt bei Planungen in der Architektur. Zu nennen sind bspw. die Projekte des Centre de recherche sur l ’ espace sonore et l ’ environnement urbain in Grenoble oder der Forschungsschwerpunkt »Auditive Architektur« an der Universität der Künste und der Hochschule der Musik »Hanns Eisler« in Berlin. Ansätze von »Acoustic Design« aus der Analyse von Umweltklängen werden jedoch auch bei Klanginstallationen im öffentlichen Raum umgesetzt, z. B. in Projekten von Bill Fontana, Max Neuhaus, Alvin Curran, Andres Bosshard oder bei Klanginstallationen von Robin Minard oder Sam Auinger und Bruce Odland. Darüber hinaus sind Ideen von »Acoustic Design«, die sich bei Schafer auf den Klang von Alltagsobjekten oder von Signalen der Kommunikation bezogen haben, inszwischen zum Teil in den Bereich von »Sound Design« mäandert, der nicht nur artifiziell ausgelotet wird, sondern der zum Teil auch bei der klanglichen Gestaltung von Industrieprodukten eine Rolle spielt (Schulze 2008). Andererseits sind aus der Beschäftigung mit Klangökologie in den letzten Jahrzehnten viele elektroakustische Kompositionen (»Soundcape Compositions«) hervorgegangen, bei denen aufgenommene Umweltklänge die Grundlage bilden, bei denen also der Rückbezug auf ihre Herkunft ein wichtiges kompositorisches Element darstellt (Westerkamp 1999). Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Komponisten und Komponistinnen bzw. Klangkünstler und Klangkünstlerinnen wie bspw. Luc Ferrari, Barry Truax, Hildegard Westerkamp, Ros Bandt, Annea Lockwood, Thomas Gerwin, Claude Schryer oder Claudia Pellegrini, um nur einige Namen aus diesem weiten künstlerischen Feld herauszugreifen. 12. Klanginstallationen und Klangskulpturen Klangkunst wird häufig mit Klanginstallation gleichgesetzt, wobei in diesem Bereich die Querverbindungen zur bildenden Kunst sicherlich am deutlichsten hervortreten, vor allem bei der Arbeit mit Objekten, die Klänge produzieren, vermitteln oder Kontexte einer Installation von Klängen bilden. Dabei werden Arbeiten der bildenden Kunst häufig nicht nur »klingende Kunst«, sondern 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen auch Kunst in Bewegung oder »kinetische Kunst« (Popper 1968; Brett 1968; Baecker 1975; La Motte-Haber 1990; Buderer 1992). Diese Entwicklungen versetzten auch Rezeptionshaltungen in Bewegung, im Museum, in anderen Ausstellungsräumen ebenso wie im öffentlichen Raum. »Klanginstallationen und Klangräume, die den architektonischen Raum als musikalische Partitur auffassen, gehören spätestens seit den achtziger Jahren zum festen Bestandteil der bildenden Kunst. In diesen Räumen bekommen Klänge skulpturale, d. h. gestaltbare Qualität und erscheinen entweder als physikalische Eigenschaft des Raumes oder aber als subjektive Eigenschaft der Bewegung des Besuchers« (Dinkla 1997, 164). Jean Tinguely hat bspw. mit seinen Klangreliefs »méta-mécanique sonore« Mitte der 1950er Jahre bewegte Bilder geschaffen, in denen sich bei den Drehungen der abstrakten Figuren im Relief in unregelmäßigen Abständen auch Klänge ergeben. Es ist kein zentrierter und fester Standpunkt der Betrachter vorhanden, aber auch keine festgelegte Klangstruktur und damit auch keine klare Ausrichtung des Hörens. Während die kinetischen Reliefs die Erfahrung im Museumsraum verändert haben, hat Tinguely mit seinen größer dimensionierten Skulpturen auch die Erwartungen an Plastiken im öffentlichen Raum gewandelt, bei denen ebenfalls zum Teil Klang eine Rolle spielte (Gertich 1999). Während Klangskulpturen oder Plastiken aus klingendem Material, z. B. auch Arbeiten der Brüder Bernard und François Baschet, Klangskulpturen von Paul Fuchs oder Klangtürme von Gunter Demnig als Klangobjekte oder aber auch die inszenierten Musikkammern wie etwa bei Janet Cardiff einen eigenen Raum im Raum beanspruchen, steht bei einer Vielzahl von Klanginstallationen eher die raum- und ortsspezifische Wirkung von unterschiedlichen Klängen im Vordergrund. 13. Ortsspezifik und Raumspezifik Viele Klangkünstler und Klangkünstlerinnen beschäftigen sich im Vorfeld einer Installation in erster Linie mit dem Raum, mit der Architektur, mit der Geschichte oder mit spezifischen Situationen in Räumen, um ihre Akustik zu erforschen und ihre Atmosphäre in Erfahrung zu bringen. Die Orte von Klangkunst werden daher in der Regel erst für ein künstlerisches Projekt erschlossen, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum. »Klanginstallationen sind bestimmt oder beeinflusst von den akustischen Eigenschaften der Räume ihrer Präsentation. Sie sind orts- und situationsspezifisch, wenn sie diese oder andere architektonische Abhängigkeiten thematisieren oder sich  – als intermediale Installationen  – inhaltlich auf die historischen oder sonstigen kulturellen Implikationen des Raumes beziehen. Oft werden Klanginstallationen außerhalb 98 der traditionellen (und absichtsvoll neutralen) Orte der Kunstvermittlung eingerichtet, um mit den Eigenschaften eines vorgefundenen Raumes in Beziehung zu treten, der so als Ort etabliert wird« (Straebel 2008, 43). Licht und Farbe können die Ortsspezifik einer Klanginstallation unterstreichen, wie bspw. in den Installationen von Christina Kubisch oder von Hans Peter Kuhn. Während Christina Kubisch Klang häufig mit UV- oder Schwarzlicht und mit Farbpigmenten oder fluoreszierenden Pigmenten kombiniert, strukturiert Hans Peter Kuhn Räume oft durch Klang ebenso wie durch farbige Projektionen oder Neonröhren. Dabei sind in der Regel Kabel und Lautsprecher elementare Teile der Installationen, sie werden als Medien von Klang, aber auch als visuelle Komponenten einer Raumgestaltung genutzt (Tittel 2008). Bei Hans Peter Kuhn bildet »die Positionierung der Lautsprecher […] eine Art räumliches Koordinatensystem. Lautsprecher markieren konkrete Orte im Raum. Sie definieren ein Tableau für Bewegungsstrukturen, die in einen Raum hineinprojiziert werden. Hans Peter Kuhn ist es nicht um künstliche Klangräume zu tun, sondern um Bewegungsformen, die sich im Raum abspielen. Durch Lokationsänderungen der Klänge lassen sich wie in einem imaginären Theater Figuren und Formen komponieren« (Steffens 2005, 78; vgl. Kuhn 2000). Audiovisuelle Klangkunst unter Einbezug von Lautsprechern und ihrer Verkabelung, aber auch von Naturmaterialien wie Steinen, Wasser oder Erde, ferner unter Einbezug von Farbe, Glas oder Metall prägte auch die Installationen von Rolf Julius. Seine künstlerischen Interventionen in Räumen oder Landschaften blieben jedoch immer subtil, nicht darauf angelegt, eine Klanginstallation als inszenierte Situation zu bemerken. »Die Musik, die er für einen Stein, einen Kaktus, eine Fensterscheibe oder einen ganzen Raum spielt, hebt Vorhandenes ins Bewußtsein, so wie es ist, aber gewöhnlich nicht wahrgenommen wird. Julius intendiert jene Unmittelbarkeit sensorischer Eindrücke, in der Haptisch-Skulpturales, Akustisch-Musikalisches und Visuell-Fotografisches noch eine Einheit bilden. […] Die künstlerischen Setzungen von Julius, die von so großer Klarheit sind, daß ein Gewirr von Verbindungskabeln wie eine ziselierte Zeichnung wirkt, dialogisieren mit ihrer Umgebung. Berührungen und Übergänge, Kommunikationen zwischen den Materialien spielen dabei eine Rolle. Und Klänge können auch ihre Oberflächencharakteristika, ihren rhythmischen Puls und ihre Dynamik stofflich sichtbar werden lassen, indem sie farbige, schwarze oder graue Farbpigmente auf der Lautsprechermembran in Bewegung versetzen« (La Motte-Haber 1999, 269). Die Visualisierung von Klang kann auch dadurch zustande kommen, dass aktive, klingende Lautsprecher an- 99 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen dere Objekte in Bewegung versetzen. Diese Tendenz zur »Materialisierung« von Klang zeigt eine Nähe zur Klangforschung, wie sie bspw. auch in der langjährigen Arbeit von Lucier erkennbar ist (Sanio 2008; Lucier 1995). 14. Klang und Situation Beeinflussen Klanginstallationen die Atmosphäre und Wahrnehmung von Räumen, indem sie bereits bestehende (akustische) Eigenschaften von Räumen hervorheben oder bestimmte Charakteristika verändern bzw. neu installieren, wirken sich umgekehrt die ausgewählten Orte und Räume von Installationen auch auf die eingebrachten Klänge aus. Es ist klar, dass alte Industrieanlagen oder ungenutzte städtische Gebäude, ein historisches Schwimmbad oder die mannigfaltigen Orte und Plätze im öffentlichen Raum jeweils eigene Geschichten, eigene situative Dispositionen oder Umgebungen bereit halten, die sich – intendiert oder nicht – mit den Klanginstallationen oder Klangskulpturen in der Wahrnehmung und Rezeption verbinden. Der Klangkünstler Georg Klein hat daher für seine Projekte den Begriff »Klangsituationen« geprägt, in denen er bewusst die Geschichte eines Ortes aufarbeitet, die Alltagserfahrungen an einem Ort oder in einem Raum einbezieht und die sozialen Kontexte seiner Klanginstallationen berücksichtigt (Klein 2003, 2004). Aktuelle Entwicklungen in der Klangkunst, bezogen auf den Umgang mit Räumen, stehen vor allem in Verbindung mit neuen Technologien und neuen Medien, die nicht zuletzt andere, zeitgenössische Erfahrungen von Raum und Zeit hervorgebracht haben. Zu verzeichnen ist bspw. eine zunehmende globale Mobilität, die jedoch nicht immer mit realen Bewegungen verbunden ist, sondern durch die Anwendung von neuen Kommunikationstechnologien häufig virtuell stattfindet. Die Zunahme von medial erstellten und im Internet zugänglichen »sound maps« mit Aufnahmen aus einer Stadt oder aus einer Region ist dafür signifikant; sie haben nicht nur eine (virtuelle) räumliche, sondern auch eine historische Dimension, wenn die Aufnahmen unterschiedlich datiert sind oder aus der Vergangenheit stammen (Brüstle 2013). In ähnlicher Weise muss eine Orientierung im Raum, z. B. im Stadtraum, heute nicht mehr unbedingt mit einer Wanderung bzw. mit einer körperlichen Er-Wanderung der Stadt zusammenhängen, sondern GPS (Global Positioning Systems) oder Google Earth weisen den Weg (Gartner 2012). Darüber hinaus können weit auseinander liegende Orte durch moderne Übertragungstechnologien verbunden werden, sodass Ereignisse in »Echtzeit« übermittelt werden. Zudem ist es möglich, unterschiedliche Informationsebenen zu kombinieren: »Ein Spezialfall des Datenmapping und der hybriden technisch-kulturellen Aneignung von auditiven Räumen sind Arbeiten, in denen sich Realräume und Datenräume zur augmented reality verbinden. Sie zeigen das Ausmaß der informationstechnologischen Durchdringung der Lebenswelt und reflektieren – im besten Falle – ihre Gefahren und Potenziale. Gleichzeitig stellen sie auf der unmittelbaren Ebene ästhetischer Erfahrung die selbstverständliche Konstruktion eines unberührten ›natürlichen‹ Raums infrage, der sich nun in der irritierenden Wahrnehmung seiner informatorischen Vermessung als ein auditiv gestaltbarer und gestalteter Raum offenbart« (Großmann 2006, 317). »Augmented Reality« zielt »auf eine Anreicherung der bestehenden realen Welt um computergenerierte Zusatzobjekte. Im Gegensatz zu Virtual Reality werden keine gänzlich neuen Welten erschaffen, sondern die vorhandene Realität mit einer virtuellen Realität ergänzt« (MehlerBicher / Reiß / Steiger 2011, 1). 15. Konzertinstallation In der Klangkunst oder Audio Art bzw. bei Klanginstallationen wurde demnach längst die Fokussierung auf ein neues Hörerlebnis in Räumen oder an bestimmten Orten, auf das »Material« Klang sowie auf inszenierte Wahrnehmungsangebote für Augen und Ohren erweitert. Heute werden auch Verbindungen zum Theater, zum Tanz, zur Performance Art oder zur Land Art hergestellt, vor allem aber gibt es viele Bezüge zur Medienkunst. Insofern kommt Klangkunst manchmal auch wieder in die Nähe von Konzerten, wenn Klangkünstler oder Klangkünstlerinnen z. B. als Composer-Performer auftreten und ihre Installationen »bespielen«. Die gegenseitigen Annäherungen oder Überschneidungen von Kunstrichtungen sind jedoch nicht einseitig, sondern im Theater oder Tanz, selbst in der Oper und im Konzert mit komponierter Musik für Interpreten oder Ensembles wurden in den letzten Jahren auch installative Aufführungsformate integriert. Die Raummusikprojekte von Benedict Mason etwa, die er seit 1993 als eine Werkreihe unter dem Titel »Music for Concert Halls« (ursprünglich »Music for European Concert Halls«) entwickelte, sind großdimensionierte Aufführungen, in denen Konzerträume im Prinzip als Instrumente betrachtet werden. Bei Mason geht es um den »Einsatz von Klang zur Artikulation der strukturellen und akustischen Eigenschaften des Gebäudes, in dem eine Aufführung stattfindet, in der Weise, dass sowohl die Künstler als auch das Gebäude an der ›Klanginstallation‹ beteiligt sind« (Toop 2004, 58 f.). Bei Manos Tsangaris hingegen sind die Räume häufig inszenierte Stationen, die das Publikum zu erwandern hat. Ausgangspunkte waren bei ihm Konzertinstallationen, etwa Tafel 1 (Wiesers Werdetraum) von 1989, bei denen 6. Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen das Spiel mit Geräuschobjekten kombiniert wurde mit mobilen Klang- und Lichtquellen. In seinen Musiktheaterminiaturen winzig (1993) für ein Haus wurden bewegliche Objekte auf kleinen Bühnen und inszenierte Klangsituationen mit Solisten oder Ensembles in ausgewählten Räumen eines Gebäudes installiert. Die Weiterentwicklung seiner Konzertinstallationen in Projekten wie Orpheus. Zwischenspiele (2002) mit drei U-Bahnzügen oder Die Döner Schaltung (2004) nannte Tsangaris »Stationentheater« (Hiekel 2009, 2012). Sie ersteckte sich bis zur »installation opera« Batsheba. Eat the history! (2009), in der zwar eine Geschichte erzählt wird, die sich das Publikum jedoch auf unterschiedlichen Pfaden und in nicht-narrativer Anordnung an vereinzelten Haltestellen erschließen kann. In den Arbeiten von Janet Cardiff und George Bures Miller verschränken sich Klangkunst, Radio- oder Hörkunst, Film und Theater mit dem Genre der Installationskunst, weil im Ausstellungsraum ein zweiter räumlicher Einbau wie ein Bühnenbild hergestellt wird. Die Projekte von Cardiff und Miller »bilden ihre eigene räumliche Konfiguration in den vorhandenen räumlichen Verhältnissen, in denen sie installiert werden« (Marí 2007, 32). Die Besucher werden akustisch und optisch in eine Szene versetzt, in der sie nicht nur distanzierte Beobachter sein dürfen, sondern in denen ihnen Virtualität als Realität ausgegeben wird. Eine Stimme aus dem Kopfhörer ist häufig das ideale Medium für die Wechsel der Ebenen. Die Konzertinstallation Dark Matter (1990–2002) entstand aus einer Kooperation des norwegischen Installationskünstlers Per Inge Bjørlo und des Komponisten Richard Barrett. Sie wurde in ihrer Endversion als Erstaufführung bei der MaerzMusik 2003 in Berlin präsentiert (ein Auftragswerk von Elision Ensemble, Cikada Ensemble unter Leitung von Christian Eggen und DAAD). Die Ästhetik der Skulpturen von Per Inge Bjørlo sind bestimmt von Stahl und Metall, es sind raumgreifende und zum Teil aggressiv wirkende Objekte, die zu einer begehbaren Installation gestaltet wurden. Auch die Raumelemente zur Aufstellung und Platzierung der Musiker und Musikerinnen und des Dirigenten sowie der Sängerin gehörten zur Installation, ebenso wie die eingebauten Sitzgelegenheiten für das Publikum. Die Zuhörer bzw. Zuschauer konnten sich für eine individuelle Hör- und Sichtperspektive entscheiden, dabei gab es völlig unterschiedliche Angebote. Barretts komponierte und aufgeführte Musik, bestehend aus einer großen Vielfalt von Textvertonungen, kam ebenfalls einem nicht zeitlich gerichteten Kosmos gleich (Barrett 2003). Auch Daniel Otts Landschaftskomposition Blick Richtung Süden für die Wittener Tage für neue Kammermusik 2009 war eine Konzertinstallation, allerdings nicht 100 für den Innenraum, sondern für einen weiten Raum in der Natur, durchzogen von Linien der Zivilisation (Straße und Eisenbahn). »Geräusche werden eingefangen und abgestrahlt, vier Trompeter und zwei Posaunisten senden von einer fernen Wiese, auch von der Plattform eines Flusswehrs […] ihre Klangsignale in Richtung Berger-Turm, in dem ein fünfter Trompeter auf die Signale antwortet. Tonbandzuspielungen verstärken die Klanggeräusche der Landschaft. Das Klang-Bild gewinnt eine lebhafte Gestik aus fernen und nahen Spielaktionen, zu letzteren gehört auch eine Kanutenstaffel, die sich von weitem dem Wehr nähert« (Rohde 2009; vgl. Brüstle 2012b). 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Mikrotonale Musik in den 1980er Jahren  „ 8. Spektralmusik  „ 9. Mikrotonalität, Modalität und alternative Tonsysteme  „ 10. Zur Wahrnehmung mikrotonaler Musik 1. Einleitung Mikrotonalität, Spektralmusik und Modalität: Diese Begriffe bzw. Tendenzen stehen – so scheint es zunächst – in keinerlei zwingendem Zusammenhang (abgesehen davon, dass eine »spektrale« Musik im Regelfall wohl stets auch mikrotonal konzipiert ist). Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass es hier enge Verflechtungen gibt, denen im Folgenden nachgespürt werden soll. Die gleichstufig-temperierte Stimmung, die in Europa vielfach als Leitmodell angesehen wurde (und mancherorts auch heute noch angesehen wird), war nie unumstritten: Unter Bezugnahme auf den Gregorianischen Choral, die Entwicklung von Tonsystemen mit mehr als zwölf Stufen in der Musiktheorie des 16. Jh.s (Lang 1999) oder Experimente im Instrumentenbau (wie Nicola Vicentinos archicembalo; Kirnbauer 2014, 91) ließe sich darstellen, dass sie keineswegs als logisches Resultat musikhistorischer Prozesse betrachtet werden kann. Im Gegenteil: An Alternativen bestand nie ein Mangel. Im Blick auf die europäische Musikgeschichte der vergangenen 2000 Jahre  – zum einen hinsichtlich des Aspekts der musikalischen Praxis und Interpretation (Walter 2014, 13), zum anderen unter Berücksichtigung globaler Zusammenhänge – ist demnach keineswegs von der Vorherrschaft einer privilegierten Tonordnung auszugehen. Eine Dominanz der gleichstufigen Temperierung ist am ehesten in Bezug auf die dur-moll-tonale Musik des späten 18. und des 19. Jh.s zu konstatieren. Im 20. Jh. geriet diese Vorherrschaft nach und nach ins Wanken. Dies hatte innere und äußere Gründe: Auf das vollständige Ausloten der Zwölfteilung der Oktave folgte konsequenterweise die Erforschung neuer Tonrelationen. Daneben wuchs das Interesse an Kompositions- und Improvisationshaltungen der asiatischen bzw. arabischen Musik (maqām in Nordafrika, dastgāh im Iran, rāga in Südasien, pathet auf Java, chōshi in Japan und diao in China), die in der Folge viele Strömungen der neuen Musik nachhaltig beeinflussten. Diese »Systeme« und die ihnen eingeschriebenen »mikrotonalen« Melodiemodelle wurden häufig als »modal« bezeichnet. Dabei ist zu bedenken, dass sich der Spielraum dieser »Modalität« nicht nur (wie in Europa häufig vermutet) zwischen Tonleiter und melodischem Resultat verorten lässt, sondern neben typisierten Melodiemodellen auch andere Aspekte (wie z. B. eine spezifische tonräumliche Organisation) umfasst (Simon 1997, 355). Auch ihre gesellschaftliche Funktion entspricht meist nicht jener der europäischen Musik. All dies schließt aber eine gegenseitige Einflussnahme keineswegs aus. Dies zeigen bereits »modale« Tendenzen in der europäischen Kompositionsgeschichte des frühen 20. Jh.s: Bei Komponisten wie Claude Debussy, Béla Bartók, Paul Hindemith u. a. besteht aufgrund des Verlassens der funktionalen Tonalität (Meidung der Leittönigkeit) eine Tendenz zur Suspendierung der Zielgerichtetheit des Zeitverlaufs (Ä Zeit). Da sich auch in außereuropäischer Musik ein »anderes Zeitgefühl« (ebd., 356) äußert, mag sie für Komponisten wie Debussy zwar anders- und fremdartig, zugleich aber in gewissem Sinne auch vertraut geklungen haben. Auffallend ist ferner, dass Komponisten der neuen Musik nach 1945 (wie etwa Giacinto Scelsi) zuweilen über modale Anfänge zu einem neuartigen, von außereuropäischer Musik geprägten Umgang mit der Mikrotonalität fanden. Wenn man von Mikrotonalität spricht, sind also neuartige Konzeptionen musikalischer Zeit und damit einhergehende latente Beziehungen zwischen modaler und mikrotonaler Musik inner- und außerhalb Europas mit zu bedenken. Hier könnte man allerdings einwenden, ob es überhaupt angebracht sei von einer »mikrotonalen« bzw. einer »außereuropäischen« Musik zu sprechen. Der Begriff »mikrotonal« ist aus mehreren Gründen fragwürdig: Erstens kann ein Einzelton nicht als »Mikroton« definiert werden  – treffender wäre daher der Begriff »Mikrointervallik« (Gieseler 1996, 41). Zweitens unterstellt dieser Begriff eine Abhängigkeit von einem privilegierten Standardsystem (Knipper / Kreutz 2013, 377): Ohne Bezugspunkt, d. h. ohne eine Art »Norm«, von der sich alle anderen Stimmungssysteme im Sinne von Abweichungen unterscheiden, bleibt dieser Begriff unverständlich (denn die bloße Feststellung von »Mikro«-Tonschritten ist zur Definition einer mikrotonalen Musik keineswegs ausreichend). Wählt man die gleichstufige Temperierung als Norm, so lässt sich dies allenfalls im Hinblick auf die europäische J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_7, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren Musik des späten 18. und 19. Jh.s begründen. Ein Blick auf die arabische oder indische Musiktheorie zeigt, welche Absurdität darin läge, die Dichotomie tonal / mikrotonal auf globale Zusammenhänge auszudehnen (ähnliche, aus eurozentristischen Haltungen resultierende Probleme betreffen auch den Begriff »außereuropäisch«). Es liegt daher nahe, den Versuch zu unternehmen, mikrotonale Phänomene nicht vor dem Hintergrund einer Norm, sondern autonom zu definieren. Dies ist allerdings nicht einfach. Zum einen zeigt die strukturelle Anlage experimenteller Stimmungssysteme zuweilen überraschende Analogien zur Tonalität. So ist das Vorhandensein bestimmter Repetitionsintervalle, also von Intervallen, die den Tonraum durch ihre Wiederkehr gliedern (etwa bei Ivan Wyschnegradsky, Georg Friedrich Haas, Manfred Stahnke oder Georg Hajdu; vgl. Knipper 2010, 169) auch für die dur-moll-tonale Musik kennzeichnend (Oktave und Quint). Auch äquidistante Teilungen von Referenzintervallen (meist der Oktav), die mikrotonale Traditionen wie z. B. die Drittel- oder Vierteltonmusik kennzeichnen, finden sich in der Tonalität (die Zwölfteilung der Oktave). Zum anderen sind – wenig überraschend – auch die strukturellen Analogien zur Tonalität kein Definitionsmerkmal mikrotonaler Musik: Wer sagt, dass eine »mikrotonale« Musik durch exakt definierte Tonorte bestimmt sein müsse? Ist nicht auch eine Musik, die durch Mikrotoncluster, Ä Multiphonics oder Ä Geräusche gekennzeichnet ist, oder in der sich  – ähnlich wie in der Sprache  – kontinuierliche Durchquerungen des Tonraums, also Glissandi ereignen, mikrotonal? Manche würden eine solche Musik mithilfe von Begriffen wie »Klangkomposition«, musique concrète etc. beschreiben. Dennoch ist es kaum möglich, eine Trennlinie zu einer mit exakt definierten Tonorten operierenden Musik zu ziehen. Aufgrund dieser Unschärfen ist die Skepsis mancher Komponisten gegenüber dem Begriff »Mikrotonalität« (ebd., 170) durchaus nachzuvollziehen. Ist es somit überhaupt möglich, strukturelle Grundlagen einer »mikrotonalen« Musik zu definieren? Dies ist zweifelhaft, gab es in der Erforschung unterschiedlicher Stimmungs- und Tonsysteme doch nie eine nachvollziehbare Kontinuität. Obwohl das Interesse an Mikrotonalität im 20. Jh. deutlich zunahm, liegt daher der Eindruck nahe, die Individualität der Lösungsansätze stehe auch heute noch über den Gemeinsamkeiten. 2. Mikrotonales Komponieren im frühen 20. Jh. Vor diesem komplexen Hintergrund soll nun die Geschichte des mikrotonalen Komponierens im 20. Jh. näher erörtert werden. Eine »mikrotonale Kompositionsgeschichte«, die sich als historischer Ablauf schlüssig darle- 104 gen ließe, gibt es mit Sicherheit nicht. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, wie unterschiedlichste Neuansätze, fragmentarische Entwicklungsstränge und punktuelle Querbeziehungen sich im Sinne einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« vielschichtig überlagern (Leonard 2011). Dabei soll der Begriff »Mikrotonalität« – trotz der erörterten Vorbehalte – beibehalten werden, da er als Terminus allgemein eingeführt und im wissenschaftlichen Diskurs stark präsent ist. Erste Versuche, mikrotonale Aspekte theoretisch zu fassen, zeigen sich bereits gegen Ende des 19. Jh.s, so etwa bei Shōhei Tanaka, der 1890 ein »Enharmonicum« mit 20 Tasten und 26 Tonhöhen in jeder Oktave erfand, das ein Musizieren in reiner Stimmung ermöglichen sollte, und bei Georg August Behrens-Senegalden, der 1892 eine Schrift über Vierteltöne verfasste und ein zweimanualiges »achromatisches« Klavier konstruierte. Ähnlich wie später bei John Foulds (Streichquartett mit Vierteltönen, 1898), Richard Heinrich Stein (tonale vierteltönige Harmonielehre, 1906/09), Jörg Mager (Vierteltonharmonium, 1912; vgl. auch Mager 1915) und Willi Möllendorff (theoretische Schrift über Vierteltöne, vgl. Möllendorff 1917) findet sich hier ein enger Zusammenhang mit theoretischen Überlegungen zur Dur-Moll-Tonalität im Sinne eines Weiterdenkens und Verdichtens tonaler Stimmführungsmuster bzw. der Zielvorstellung einer nahtlosen Verschmelzung von Tönen und Akkorden. So intensivieren z. B. in Steins Zwei Konzertstücken für Violoncello und Klavier op. 26 (1906) mikrotonale Gleittöne die tonale Leittönigkeit (Schneider 1975, 112). Insgesamt dokumentieren bereits diese frühen Versuche – auch in der jeweiligen Unterschiedlichkeit der Notationsvarianten  – die Diskontinuität der Geschichte mikrotonalen Komponierens. Ansätze zu einem mikrotonalen Komponieren abseits dur-moll-tonaler Prägungen finden sich in jener Zeit zunächst ausschließlich im Bereich der Theorie. So stellte Ferruccio Busoni in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/16) u. a. Überlegungen zur Dritteltonmusik an, der im Verhältnis zur Tradition eine besondere Sprengkraft innewohnt (der Referenzrahmen der DurMoll-Tonalität wird hier unterminiert; Intervalle wie die kleine Sekund, kleine Terz und reine Quint sind nicht darstellbar), und Arnold Schönberg nahm auf die Ideen Robert Neumanns zur Teilung der Oktave in 53 Töne Bezug (Schönberg 1911, 23 f.). Von beiden sind zwar keine mikrotonalen Werke überliefert – Busoni fungierte allerdings als Anreger mikrotonaler Experimente. Die ersten Kompositionen, in denen sich Ansätze einer »autonomen« mikrotonalen Musik herausbildeten, entstanden bezeichnenderweise abseits der großen Musikzentren und wurden in Europa erst spät rezipiert. Ein 105 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren Beispiel ist der Mexikaner Julián Carrillo (1875–1965), der nach einer Ausbildung und Berufstätigkeit als Geiger in Leipzig und Gent nach Mexiko und in die USA zurückkehrte und 1916 die Ergebnisse seiner Experimente mit Sechzehntelton-Systemen publizierte (Teoría del Sonido 13; Carrillo 1916; Brotbeck 2014). 1930 gründete er die Sinfónica del Sonido 13, ein Orchester, in dem alle Instrumente mikrotonal spielbar waren. In seinen Kompositionen versuchte Carrillo, die Mikrotonalität nachvollziehbar zu gestalten, indem er bestimmte Tonschritte spezifischen Klangfarben zuordnete. So werden z. B. im Preludio a Colón (1920) die Sechzehnteltöne der mikrotonal gestimmten Harfe, die Achteltöne der Bratsche und dem Violoncello, die Vierteltöne der als Vokalise komponierten Singstimme, der Flöte, den Streichern, der Harfe und der Gitarre zugeteilt (Zeller 2003, 231). Darüber hinaus ist eine Technik erkennbar, »quasi in Zoom-Effekten gleiche melodisch-gestische Gestalten in unterschiedlichen Tonsystemen zu komponieren« (Haas 2003, 60). Dadurch ist die Gestalthaftigkeit dieser Elemente trotz mikrotonaler Schwankungen erkennbar. Auch die mikrotonalen Experimente von Charles Ives (1874–1954) waren in Europa zunächst wenig bekannt. Für Ives war die Vierteltonmusik, anders als für Stein, Mager oder Möllendorf, in ihrem Wesen von der Diatonik grundverschieden (Schneider 1975, 128). Gemäß der Philosophie des Transzendentalismus sollten diese extremen Gegensätze jedoch einander nicht ausschließen: Tonales und Vierteltöniges, Konkretes und Abstraktes fanden in seiner Musik gleichermaßen Platz. Dies dokomentieren Entwürfe zur unvollendet gebliebenen Universe Symphony (1911–28), die Vierteltonakkorde enthalten sollte (Hitchcock 1987, 28). Auf gänzlich andere, aber letztlich doch vergleichbare Art und Weise offenbart sich auch in den 1923–24 entstandenen Three Quarter-Tone Pieces für zwei (vierteltönig gegeneinander verstimmte) Klaviere  – obwohl Ives ’ theoretische Überlegungen zur Vierteltonharmonik (»fundamental« und »secondary chords« sowie vierteltönige Clusterbildungen; vgl. Schneider 1975, 130, 133 f.) dies zunächst nicht nahelegen – eine grundlegende Ambivalenz zwischen Tonalität und Vierteltonmusik (Skinner 2006, 128). Ein weiterer Pionier der mikrotonalen Musik, Ivan Wyschnegradsky (1893–1979), war im Wesentlichen autodidaktisch ausgebildet und wurde zunächst durch das Werk Alexander Skrjabins beeinflusst (überhaupt lässt sich das frühe mikrotonale Komponieren in Russland  – z. B. auch die Werke von Arthur Lourié, der 1915 ein Prélude für Vierteltonklavier schrieb – auf eine SkrjabinNachfolge zurückführen). Bereits um 1916/17 lotete er das temperierte System bis an seine Grenzen aus (am Ende des Oratoriums La Journée de l’Existence erklingt ein zwölftöniger Cluster). Im Pariser Exil entstanden in der Folge zahlreiche mikrotonale Kompositionen, die aber erst viel später außerhalb Frankreichs rezipiert wurden, sowie eine musiktheoretische »Konzeption, die er zwischen 1924 und Mitte der fünfziger Jahre in verschiedenen Stufen ausarbeitete. Sie entfaltet ein eigenständiges System mikrotonaler Teilungen vom Viertel- bis zum Zwölftelton und führt zur ›rhythmischen Ultrachromatik‹ und zur ›zyklischen Harmonik‹« (Poldiaeva 2004, 5). Der Begriff »Ultrachromatik« leitet sich von der Überzeugung her, das Zusammenklingen aller Töne stelle ein »absolutes Kontinuum« dar, das nur ideell vorstellbar sei, und aus der Musik als »relatives Kontinuum« einen Ausschnitt bilde. Unter zyklischer Harmonik versteht Wyschnegradsky das Herausfiltern zyklischer Systeme aus diesem »Kontinuum aller möglichen Tonhöhen« (Haas 2003, 60). Diesen Versuch der Systematisierung des mikrotonalen Klangraums könnte man in gewisser Weise analog zu Skalen- oder Modusrelationen interpretieren. Wie bei Messiaens Modi bestehen auch innerhalb von Wyschnegradskys Zyklen Verwandtschaftsverhältnisse. Daraus resultiert die Möglichkeit, zwischen bestimmten Bereichen des Klangraums im weitesten Sinne zu »modulieren«. Wyschnegradsky hatte im Zuge der Oktoberrevolution seine Heimat Russland verlassen. Trotz aller politischen Verwerfungen wurden aber auch in der Sowjetunion die Bemühungen um die Mikrotonalität in den 1920er Jahren intensiviert (die sowjetische Politik förderte damals noch jene Bewegungen, die sich im Umfeld des Futurismus herausgebildet hatten, ehe dies mit Stalin ein Ende fand). Im Leningrader Kreis traten vor allem Arseni Michailowitsch Awraamow (1886–1944), der ein 48-stufiges Tonsystem entwickelte, und Georgi Michailowitsch Rimski-Korsakow (1901–1965) mit neuen Konzeptionen hervor. Anders als bei Wyschnegradsky, dessen Ultrachromatik und zyklische Harmonik die Tonalität radikal in Frage stellen, besteht beim Vítězslav Novák- und Franz Schreker-Schüler Alois Hába (1893–1973)  – ähnlich wie bei Ives – ein Spannungsverhältnis zwischen seinen theoretischen Ausführungen zur mikrotonalen Harmonik und der Praxis seines Komponierens, in dem die Bezogenheit auf ein quasi-tonales Zentrum nie aufgegeben wurde (Schneider 1975, 200 f.; Skinner 2006, 87). In seiner Harmonielehre (1927) forderte Hába für die mikrotonale Musik – ähnlich wie Max Reger innerhalb des bis zu äußersten Grenzen ausgeloteten dur-moll-tonalen Systems –, es müsse möglich sein, Töne, Zwei- oder Mehrklänge jedes Tonsystems (also auch des tonalen) in Beziehung zu bringen (Hába 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren 1927, VIf.) sowie die thematische Gestalthaftigkeit in athematische Konstellationen aufzulösen (Hába 1971/2001, 22). Zugleich ist sein mikrotonales Komponieren allerdings stets durch eine mehr oder minder stabile »Tonzentralität« (Hába 1927, 29, 156; vgl. auch Skinner 2006, 82) geprägt. Weitere Einflüsse verweisen auf die mährische Volksmusik und den Duktus der tschechischen Sprache. Da der Sprachduktus nicht durch fixierte Sprechlagen, sondern durch ein stets flexibles Auf- und Abwärtsgleiten bestimmt ist, wurde und wird (Haas 2007, 129) er in der Geschichte des Komponierens immer wieder als Modell herangezogen, um Tonhöhenraster zu hinterfragen. Hábas erstes mikrotonales Werk, das 1920 entstandene Erste Streichquartett op.  7 im Vierteltonsystem steht formal dem einsätzigen Formtypus von Liszts Klaviersonate h-Moll und Schönbergs Erstem Streichquartett dMoll op. 7 nahe. Durch eine Begegnung mit Busoni (Hába 1986, 42 f.) angeregt, folgten darauf ein weiteres Streichquartett op. 15 (1923) im Sechsteltonsystem und zahlreiche weitere mikrotonale Kompositionen. Später gründete er am Prager Konservatorium eine Abteilung für mikrotonale Musik, die nach dem Februarputsch 1948 geschlossen wurde. 3. Neue Instrumente Als eines der Grundprobleme mikrotonalen Komponierens erwies sich bereits in dieser frühen Zeit die Notwendigkeit der Konstruktion neuer Instrumente (Schönberg 1911, 26: »Jedenfalls erscheinen Versuche, in Viertel- oder Dritteltönen zu komponieren, wie sie hie und da unternommen werden, mindestens solange zwecklos, als es zu wenig Instrumente gibt, die sie spielen könnten«). Hába, Wyschnegradsky und andere regten in den 1920er Jahren den Bau mikrotonal gestimmter Tasteninstrumente an, mussten dabei aber zahlreiche Rückschläge in Kauf nehmen, die vor allem aus der ablehnenden Haltung der Interpreten gegenüber diesen Neuerungen resultierten. Aufgrund der fortwährenden Dominanz des traditionellen Musikbetriebs blieb dieses Problem lange Zeit bestehen. Zunächst griff man daher häufig zu praktikablen Lösungen. So entschied sich etwa Wyschnegradsky, seine Werke für im mikrotonalen Abstand zueinander gestimmte Klaviere umzuarbeiten. Später wurde die Problematik durch die Entwicklung der Computer und anderer technischer Hilfsmittel nach und nach relativiert. Heutzutage ist so gut wie jede mikrotonale Facette mithilfe unterschiedlichster Technologien darstellbar. Diese Möglichkeit der fehlerlosen Wiedergabe selbst der komplexesten Ton- und Geräuschschattierungen wird von den meisten Komponisten zweifellos begrüßt – häufig wird aber dennoch auf die Ausführung durch Interpreten nicht verzichtet, da In- 106 tonationsschwankungen und technische Unsicherheiten eine interessante Vieldeutigkeit mit sich bringen, die beim Hören eine Spannung erzeugen und auch kompositorische Möglichkeiten nach sich ziehen. Bei Berücksichtigung eines erweiterten Begriffs von Mikrotonalität, der nicht nur auf fixierte Tonorte, sondern auch auf klangliche Übergänge bis hin zu Geräuschhaftem Bezug nimmt, erweitern sich auch die Möglichkeiten der Instrumentierung beträchtlich. So haben etwa die Schlaginstrumente, die zwar integraler Bestandteil des Orchesterklanges sind, aber zum Teil keine standardisierten Stimmungssysteme aufweisen, bei der Auslotung der Grenze zwischen Ton und Geräusch seit jeher eine zentrale Funktion inne. Dieses Potenzial des Schlagzeugklangs erkannten Komponisten wie Edgard Varèse bereits sehr früh (Ionisation für Schlagzeugensemble, 1929–31). Als vielversprechend erwies sich auch die Verfremdung und mikrotonale Färbung des Klanges gleichstufig-temperierter Instrumente durch Präparation (z. B. John Cage, Bacchanale für präpariertes Klavier, 1938/40). 4. Just Intonation Einer der produktivsten Instrumentenerfinder des 20. Jh.s, der (parallel zu den erörterten Entwicklungen bei Carrillo, Hába und Wyschnegradsky) in den 1930er Jahren seine originellen Ideen entfaltete, war ohne Zweifel auch Harry Partch (1901–74)  – erneut ein »Außenseiter« der mikrotonalen Musik, dessen theoretische und kompositorische Ansätze in Europa erst spät rezipiert wurden. Im Zentrum seines Denkens steht die »reine« Stimmung (just intonation). An dieser Stelle könnte man erwähnen, dass Facetten der reinen Stimmung einzelner Intervalle im Zusammenhang mit vielstufigen Teilungen der Oktave bereits zu Beginn des 20. Jh.s mancherorts diskutiert worden waren (bei Tanaka, Neumann, Mager, Avraamov etc.). Partch bezog sich aber nicht darauf, sondern vielmehr auf Hermann von Helmholtz’ Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik (1863). Die Konsequenzen dieser Lektüre waren ein Prozess des Nachdenkens und erste Versuche im Bereich der Mikrotonalität, die – ähnlich wie auch bei Hába – im Zusammenhang mit der Melodik der Sprechstimme standen. Zur Darstellung neuartiger mikrotonaler Konstellationen konstruierte er eine eigene Variante der Bratsche, die sog. Adapted Viola, die er in den Seventeen Lyrics (1930–33) nach Li Bo-Texten einsetzte (Gilmore 1992). Ein Studium der altgriechischen Tonsysteme sorgte für eine weitere Bereicherung seiner kompositorischen Ansätze. Nach 1935, während der »Great Depression«, wurde Partch zusehends in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle gedrängt. Dies färbte auch auf seine Einstellung zu 107 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren überlieferten Traditionen der Musikgeschichte und auf sein kompositorisches Selbstverständnis ab. Partchs musiktheoretisches Denken und seine Einsichten zum Instrumentenbau sind in Genesis of a Music (1949) zusammengefasst. Sein 43-stufiges Tonsystem, dessen Intervalle ausschließlich aus Zahlenverhältnissen von 2, 3, 5, 7, 9, 11 und deren Vielfachen bestehen, gründet sich auf eine spezifische und individuell geprägte HelmholtzRezeption: Das dualistische Denken des 19. Jh.s (Moll als Umkehrung von Dur) regte Partch zur Gegenüberstellung von »Otonalities« und »Utonalities« – Otonalitäten (o = »over«, oder Dur) und Utonalitäten (u = »under«, oder Moll)  – an, wobei diese »tonalities« aber auch den siebten, neunten und elften Teilton mit einschließen. Ben Johnston (*1926) erweiterte dieses System später um die Zahl 13 (Johnston 1984). Dass mit der Tendenz zu reinen Stimmungen auch eine gleichsam »meditative« Hörhaltung einhergehen kann, zeigt sich bei La Monte Young (*1935), der die Setzung von exakten Proportionen als »mystischen« Akt verstand, den er mit Aspekten des Ä Minimalismus und der Ä Improvisation koppelte. Young, der Klarinette, Saxophon und Komposition studiert hatte, wurde in den 1950er Jahren auf John Cage aufmerksam und trat in der Folge auch mit Karlheinz Stockhausen in Kontakt. Dazu kam seine Auseinandersetzung mit der indischen und japanischen Musik sowie der Fluxus-Bewegung. Seit etwa 1964 entstanden die The Well-Tuned Piano-Kompositionen, die auf reinen Stimmungssystemen und daraus abgeleiteten mathematischen Berechnungen basieren (Gann 1993). Die Aufführungen dieser Werke konnten mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Hier fällt also erneut der Zusammenhang zwischen mikrotonalen Konstellationen und neuen Hörhaltungen bzw. Zeitkonzeptionen (eine Musik, die scheinbar »nie endet«) auf. Wie bereits erwähnt, gab es neben Partch weitere Versuche, Stimmungssysteme zu entwickeln, die die Darstellung reiner Intervalle ermöglichen  – z. B. das 31-tönige System von Adriaan Daniel Fokker (1887–1972), das auf den Astronomen und Physiker Christiaan Huygens (1629–95) zurückgeht. Fokker entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Orgel in diesem Stimmungssystem, die im Teyler-Museum in Haarlem zu besichtigen ist und für die zahlreiche Werke komponiert wurden. Das Fokker-Huygens-System beinhaltet reine Terzen, Sexten und Septimen, aber keine Quinten. Auch die von Franz Richter-Herf begründete Ekmelische Musik (eine 72-stufige Temperatur aus Zwölfteltönen) ermöglicht Annäherungswerte an die reine Stimmung. 5. Serielle Mikrotonalität Dass die erörterten Experimente zur reinen Stimmung im Darmstädter Kreis der seriellen Komponisten auf wenig Interesse stießen, ist keineswegs überraschend. Allerdings wurde in Darmstadt die Frage diskutiert, ob es eine vierteltönige Ä serielle Musik geben könne, wobei zunächst unklar war, auf welche Vorüberlegungen man sich hier stützen könne. Bei der Wiener Schule wurde man in dieser Hinsicht kaum fündig. Schönberg deutete lediglich in seiner Harmonielehre an, dass die Musikentwicklung gemäß einer »evolutionären« Ausdifferenzierung unvermeidlich auf eine weitere Unterteilung des Halbtons hinauslaufe (Schönberg 1911, 26). In diesem Sinne – so ließe sich ergänzen – müssten auf die Emanzipation der Dissonanz in der freien Ä Atonalität und auf das dodekaphone Reihenprinzip (Ä Zwölftontechnik), das (zumindest in der Theorie) eine einheitliche Darstellung der Dimension der Tonhöhe ermöglichte, als nächster Schritt Tonreihen mit 24 oder 36 Tonhöhen folgen. In der Tat gab es nach 1945 Versuche, eine konsequent serielle mikrotonale Musik zu komponieren, wobei allerdings erhebliche aufführungspraktische Probleme zu bewältigen waren. Als einziges mikrotonal-serielles Werk, das aber nach der Uraufführung 1957 wieder zurückgezogen wurde, ist die erste, vierteltönige Fassung von Boulez ’ Kantate Le Visage Nuptial für Sopran, Alt, Frauenchor und Orchester (1946/50–51) in Partiturform überliefert. Der dodekaphone Ansatz bleibt in diesem Werk durch Komprimierung des Zwölftonraums auf eine Halboktave erhalten. Daraus resultiert eine enorme harmonische Dichte, die in einem Vierundzwanzigklang kulminiert. In der Endfassung (1988–89) wurden die Vierteltöne eliminiert. Letztlich wurden zahlreiche jener mikrotonalen Ansätze, die im Rahmen des herkömmlichen Musikbetriebs nicht mehr realisiert werden konnten, in der Ä elektronischen Musik konsequent erforscht. So sind etwa Karlheinz Stockhausens Studie I (1953) und II (1954) durch seriell strukturierte Intervallproportionen bestimmt, wobei eine an der Oktav orientierte Temperierung gemieden wird (Studie II: zwei Oktaven + große Terz werden in 25 gleiche Stufen geteilt; vgl. Fritsch 2007, 118), und auch im Gesang der Jünglinge (1955–56) experimentierte Stockhausen mit Skalen in neuartigen Tonsystemen, die als Tonmaterial für gesungene und elektronische Klänge dienten. Später wurden solche Ansätze auch auf Geräuschhaftes ausgedehnt (z. B. Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug, 1958–60; vgl. auch Gottfried Michael Koenig, Klangfiguren II, 1955–56; Essay, 1957–58). Diese mikrotonalen Experimente hinterließen ihre Spuren auch noch 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren im 1977 begonnenen, ursprünglich zwölftönig-chromatisch konzipierten Opernzyklus Licht sowie in Intervallstauchungen und mikrotonalen Skalen-Unterteilungen in Kompositionen wie Ave für Bassetthorn und Altflöte (1984–85), Xi (1986) und Ypsilon (1989), beide für ein (beliebiges) Melodieinstrument mit Mikro-Tönen. 6. Postserielle Mikrotonalität und Klangforschung Bereits in den 1950er Jahren wurde das serielle Denken kritisch hinterfragt – nicht zuletzt auch durch die Vertreter der Ä seriellen Musik selbst. Dies führte auch zu neuen Tendenzen im Bereich der Mikrotonalität. So erwiesen sich z. B. Glissandi als eine effektive Möglichkeit, das an Tonhöhen und -dauern orientierte Ä Parameter-Denken nachhaltig zu unterminieren. Während sich in seriellen Werken der 1950er und frühen 1960er Jahre äußerst selten Glissandi finden (z. B. in Stockhausens Carré für vier Orchester und vier Chöre, 1959–60; häufiger sind sie in serieller Tonbandmusik), führte sie Iannis Xenakis (1922– 2001) neben partiell noch vorhandenen seriellen Tonhöhenstrukturen im Orchesterwerk Metastaseis (1953–54) als dominierendes Gestaltungsprinzip ein. In diesem Werk sind die Glissandi infolge der konsequenten Ausdifferenzierung der Streichergruppe in Divisi-Technik im gesamten Tonraum präsent. Ähnliche Ansätze realisierte Xenakis in der Folge auch in elektroakustischen Kompositionen wie Diamorphoses für Zweikanal-Tonband (1957) sowie in weiteren vokalen, instrumentalen und elektroakustischen Werken. Ein weiterer Aspekt von Xenakis ’ Schaffen ist die Synthese von Mikrotonalität und Modalität, die auf die Auseinandersetzung mit den altgriechischen Modi zurückgeht. Dieser Rückgriff auf die Anfänge der europäischen Musikgeschichte bewog ihn (neben gruppentheoretischen Ansätzen), den Versuch einer grundlegenden Axiomatik von Tonleitern in Angriff zu nehmen. Dabei übten die Ideen einer »Ur-Tonleiter«, die der Musik zugrunde liegt und aus der alle Skalen abgeleitet werden können, und jene der Versöhnung des Reihen- und des Tonleiterprinzips eine starke Faszination auf Xenakis aus. Mikrotonale Ansätze, die aus derartigen Ideen resultierten, finden sich z. B. in Nomos alpha (1965) für Violoncello solo (Xenakis 1963/92, 219–236). Wie Xenakis präsentierte auch Giacinto Scelsi (1905– 88) bereits in den 1950er Jahren Alternativen zur seriellen Musik. In seinen frühen Werken ermöglichte die Modalität eine Abkehr vom motivisch-thematischen Denken. Als nächster Schritt folgte in Werken wie dem Trio à cordes (1958) oder Quattro pezzi (su una nota sola) für Orchester (1959) die Konzentration auf subtile Nuancen der Tonerzeugung, die in den Folgewerken (wie z. B. im Vierten 108 Streichquartett, 1964, oder im Violinkonzert Anahit, 1965) verfeinert wurden. Dabei stehen die Strategien, die der spezifischen Klangdramaturgie (Helbing 2010) dieser Werke dienen, einerseits mit den häufig kontrovers diskutierten, improvisatorisch geprägten Entstehungsprozessen, andererseits mit Einflüssen der außereuropäischen Musik in unmittelbarem Zusammenhang. Zu Scelsis vielfältigen Gestaltungsprinzipien zählen Vibrati, Glissandi, Spaltklänge (mikrotonale Färbungen des Unisonos) sowie Stricharten bzw. Spieltechniken, die Abstufungen der Klangtextur zwischen Glätte und Rauigkeit mit sich bringen. Wie die Glissando-Strukturen Xenakis’ , so hat auch die mikrotonale Klangdramaturgie Scelsis eine neue Zeitraumgestaltung zur Folge. In beiden Fällen handelt es sich um ein Abweichen von definierten Tonorten und um eine Bevorzugung kontinuierlicher Bewegungen, die nicht mehr notwendigerweise durch Zäsuren (Tonhöhenraster und Kadenzen im weitesten Sinne) gegliedert sind, sondern sich glatt und ohne »rhetorische« Einschnitte erstrecken und dadurch das Gefühl eines »Eintauchens« in musikalische Zeit vermitteln. Damit kann auch die Vorstellung einer neuen Räumlichkeit (eines Naturraums oder künstlichen, leeren Raums) einhergehen. Eine im weitesten Sinne vergleichbare »globale« Perspektive findet sich auch bei Komponisten wie Krzysztof Penderecki, György Ligeti oder Friedrich Cerha, die sich in den späten 1950er und 1960er Jahren – ähnlich wie Xenakis bereits einige Jahre davor – im Sinne eines Auswegs aus den Aporien der seriellen Musik der Klangflächenmusik zugewandt hatten. In einigen dieser Werke – z. B. Pendereckis Anaklasis für Streicher und Schlagzeuggruppen (1959–60), Cerhas Spiegel II für 55 Streicher (1960–61, vgl. Urbanek 2005, 88) und Ligetis Ramifications für Streichorchester (1968–69)  – werden Mikrotöne zur zusätzlichen Einfärbung und Verdichtung der Flächen eingesetzt, sodass im Extremfall der gesamte Tonraum mikrotonal aufgefüllt wird. In Ramifications verbinden sich diese Ansätze mit einer »chorischen« Staffelung des Orchesters in mikrotonal gegeneinander versetzte Klanggruppen (Wieschollek 2007, 33), die bei unterschiedlichsten Komponisten bis heute häufig Verwendung findet (vgl. z. B. Bernhard Lang, Monadologie XIII: The Saucy Maid für zwei Orchestergruppen im Vierteltonabstand nach Bruckners Erster Sinfonie, 2011–12). Bei Ligeti werden die daraus resultierenden verschwommenen Konturen mit einem spezifischen musikalischen Ausdruck assoziiert: Mit Augenzwinkern spricht der Komponist von »Verwesung«, die in die Musik eingezogen sei, von »dekadenter Kunst« (Nordwall 1971, 113). Diese Bemerkung Ligetis legt nahe, dass im Zusammenhang mit mikrotonalen Tendenzen nicht nur struktu- 109 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren relle Aspekte, sondern auch neue Facetten musikalischen Ausdrucks mitzubedenken sind, die in der postseriellen Musik vermehrt diskutiert wurden. Neben Ligetis »mikrointervallisch eingefärbte[r] Diatonik« (Wieschollek 2007, 40; z. B. in Clocks and Clouds für 12-stimmigen Frauenchor und Orchester, 1972–73) könnte man hier mikrointervallische Intonationsvarianten bei Mauricio Kagel (Sexteto de Cuerdas für zwei Klaviere, zwei Violinen und zwei Celli, 1953–57, oder Heterophonie für Orchester, 1959–61), Sylvano Bussotti oder Krzysztof Penderecki (Emanationen für zwei Streichorchester, 1958) sowie die Intensivierung des Ausdrucks durch Mikrointervalle z. B. in Bernd Alois Zimmermanns Ekklesiastischer Aktion Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester (1970) erwähnen. Zugleich wurden die Möglichkeiten mikrotonalen Denkens auch von einer gänzlich anderen Perspektive her grundsätzlich neu durchdacht. Seit den 1950er und 1960er Jahren nahmen die Bestrebungen, klangliche Innovationen durch gezielte Forschung voranzutreiben und zu systematisieren, beständig zu (Klangforschung, recherche musicale). Zu jenen Komponisten, die zugleich auch Klangforscher waren, zählte James Tenney (1934–2006), der bereits in den frühen 1960er Jahren in den Bell [Telephone] Laboratories, New Jersey an der Entwicklung von Programmen zur computergesteuerten Klangsynthese arbeitete. Er komponierte sowohl für Instrumente als auch für Elektronik, häufig unter Verwendung neuer Stimmungssysteme. Seine Erkenntnisse im Bereich der Klangforschung und Analyse sowie zur mikrotonalen Harmonik und Akustik fasste er in seiner theoretischen Schrift Meta / Hodos (1961) zusammen, in der sich Einflüsse sowohl von Partchs Proportionensystem als auch von Cages Kompositions- und Notationsmethoden finden. Partchs Theorien zur mikrotonalen Musik fanden in den 1970er Jahren schließlich auch ihren Weg nach Europa: Hier sind insbesondere Ligetis Schüler Manfred Stahnke, Benedict Mason und Wolfgang von Schweinitz sowie nicht zuletzt auch Ligeti selbst zu erwähnen, der 1972 Partch in Kalifornien besuchte. Einflüsse Partchs zeigen sich in mehreren Werken Ligetis, insbesondere in seiner Sonate für Viola solo (1991–94) und im Hamburgischen Konzert für Horn solo und Kammerorchester (zwei Bassetthörner und vier obligate Naturhörner, 1998–99/2002). Die Lösungsansätze Partchs und Ligetis sind aber zugleich höchst unterschiedlich: Anstatt neue Instrumente zu bauen, war Ligeti Kompromissen gegenüber dem traditionellen Musikbetrieb nicht abgeneigt. So ist z. B. die zwölftönig-temperierte Stimmung des Klaviers ein Faktum, das die Darstellung von Mikrotönen (ausgenommen bei einem Spiel im Instrumentenkorpus) ausschließt. Ligeti akzeptiert dies, indem er den Klavierklang in seinem Konzert für Klavier und Orchester (1985–88) dem mikrotonal gefärbten Orchesterklang gegenüberstellt. Dadurch wird eine mehrdimensionale Darstellung unter Einbeziehung unterschiedlicher Tonsysteme erreicht. Im ersten Satz des Violinkonzerts (1990/92) werden  – wie ansatzweise schon im Trio für Violine, Horn und Klavier (1982) – parallel zum temperiert gestimmten Instrumentarium Naturhorn und Naturposaune, Violin- und ViolaSkordaturen eingesetzt. Auch hier wählt Ligeti einen praxisbezogenen Ansatz und entscheidet sich nur dort für Skordaturen, wo die Abweichung der reinen von der temperierten Stimmung ein bestimmtes Mindestmaß überschreitet (etwa bei der großen Terz oder reinen Septime). Auf diese Weise können bei Einkalkulierung minimaler Abweichungen reine Intervalle bis zum zwölften Teilton dargestellt werden (Ligeti / Stahnke 2003, 76–78). Instrumente wie Okarina und Lotosflöten sowie Mikrotöne in den Holzbläsern steuern weitere Facetten bei. Darüber hinaus finden sich im Violinkonzert Obertonmixturen, deren Ausdrucksskala von Skurrilität über Fremdartigkeit bis hin zu Momenten der Verstörung reicht. Ligetis Schüler Stahnke präsentierte 1978 sein erstes mikrotonales Orchesterwerk Metallic Spaces für Orchester, dem ein 72-Ton-System zugrunde liegt. In Der Mandelbrotbaum für Orchester (1987–88/91) werden die mikrotonalen Ansätze mit einer fraktalen Konzeption verbunden, während in den musiktheatralen Kompositionen Der Untergang des Hauses Usher (1979–80) und Heinrich IV (1983–86) den handelnden Personen unterschiedliche Tonsysteme zugeordnet werden. Dies mag aus der Ferne an Alban Bergs Oper Lulu (1928–35) erinnern, in der die Gesangslinien jeder Opernfigur auf unterschiedlichen Reihenvarianten basieren. Im mikrotonalen Kontext gewinnt diese Idee eine neue Dimension. 7. Mikrotonale Musik in den 1980er Jahren Von Beginn des 20. Jh.s an waren, wie bereits erörtert, die unterschiedlichen Erscheinungsformen mikrotonalen Komponierens durch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geprägt: Tonzentralität steht neben Ultrachromatik, vierteltönige Serialität neben der Suche nach einer reinen Stimmung. Nach 1980 wurde es immer schwieriger, diese vielfältig verzweigten Entwicklungsstränge im Blick zu behalten: Dadurch, dass die bisherigen Ansätze größere Verbreitung fanden, wurden Mikrotöne gewissermaßen »zum selbstverständlich gewordenen Material der neuen Musik« (Haas 2007, 123). Zudem kamen weiterhin neue Ideen scheinbar historisch voraussetzungslos hinzu. Dies resultierte in einer Simultaneität radikal unterschiedlicher 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren Ansätze. Als Beispiel können etwa John Cages 30 pieces for string quartet (1983) oder seine Freeman Etudes (1977–80) angeführt werden, deren stupende, an die Grenzen des Spielbaren reichende Virtuosität mit anderen mikrotonalen Werken jener Jahre nur bedingt vergleichbar ist. Etwa zur gleichen Zeit unternahm der Messiaen-, Hindemith- und Nadia Boulanger-Schüler Easley Blackwood (*1933) Versuche einer Synthese von Mikrotonalität und Tonalität. 1980 setzte er sich in seinen Twelve Microtonal Etudes for Electronic Music Media mit den Möglichkeiten mikrotonaler Teilungen der Oktave (13–24 Töne) auseinander, wobei die Syntax der Musik des späten 19. Jh.s (Giuseppe Verdi, Maurice Ravel, César Franck) und das Zurechthören dur-moll-tonaler Klänge eine zentrale Rolle spielen (Skinner 2006, 45). Ebenfalls zur gleichen Zeit widmeten sich Komponisten wie Nono und Stockhausen der Mikrotonalität, wobei die ursprünglichen Versuche eines übergreifenden seriellmikrotonalen Gesamtkonzepts einer äußerst vielfältigen Anwendung mikrotonaler Konstellationen Platz machten. Nono arbeitete seit den frühen 1980er Jahren – so etwa im Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979–80) oder im Orchesterwerk A Carlo Scarpa (1984; vgl. Zillhardt 2003, 141) – mit »reduzierten, aber mikrointervallisch differenzierten Ton- und Intervallkonstellationen im Orchestersatz und in (häufig live-elektronisch modulierten) kleineren vokal / instrumentalen Besetzungen« (Frisius 1998, 1340). Ein Einfluss des seriellen Denkens auf die mikrotonale Musik ist hier kaum noch auszumachen. Bei Nono, bei Stockhausen, in der Ä musique concrète instrumentale von Helmut Lachenmann, der new complexity (Ä Komplexität / Einfachheit) von Brian Ferneyhough (Pätzold 2014) oder der achteltönigen Musik von Claus Steffen Mahnkopf finden sich in den 1980er Jahren allenfalls Spurenelemente einer – von Grund auf neu durchgearbeiteten und »reformierten« – »seriellen Mikrotonalität«. In diese Vielfalt mikrotonalen Komponierens in den 1980er Jahren fügt sich auch die Musik von Salvatore Sciarrino, in der die Erforschung von Mikrotonbereichen unter Betonung von Flageolettwirkungen sowie nuancierter Geräuschabstufungen im Mittelpunkt steht. Dies schließt einfache formale Pläne und eine auf der Transformation von Zellen basierende Variabilität aber keineswegs aus. Sciarrino erforscht in seiner Musik unterschiedlichste Schwellen der Wahrnehmung. Das Ergebnis ist gleichsam eine »Stille, die keine Stille ist« (Sciarrino 1979/94, 12). 8. Spektralmusik Im Zusammenhang mit mikrotonalen Tendenzen ist häufig auch von der sog. Ä »Spektralmusik« (der Begriff wurde kontrovers diskutiert; vgl. Haselböck 2009, 10) die 110 Rede, die in den 1970er Jahren – basierend auf Einflüssen von Komponisten wie Scelsi und Xenakis – ihre Wirkung entfaltete. Ein wichtiger Faktor waren auch die Einflüsse durch die recherche musicale (vgl. 6.): Gérard Grisey und Tristan Murail, die wohl wichtigsten Spektralisten der ersten Generation, interessierten sich bereits früh für Forschungen von Jean-Claude Risset und John Chowning sowie für Abraham Moles ’ informationstheoretischen Ansatz (Ä Akustik / Psychoakustik). Erste künstlerische Resultate waren die »Pionierwerke« jener Bewegung, die Hugues Dufourt später als musique spectrale bezeichnete: Dérives für zwei Orchestergruppen (1973–74), Périodes für sieben Musiker (1974) und Partiels für 16 oder 18 Musiker (1975). In diesen Werken resultiert die mikrotonale Harmonik wesentlich aus Erkenntnissen zur Mikrostruktur des Klanglichen, die in ein prozesshaft-dynamisches Denken umgesetzt wird. Letztlich wird in spektraler Musik aber der gesamte Bereich zwischen Spektrum und Geräusch, zwischen Harmonizität und Inharmonizität ausgelotet. Eine auf die Konsonanz ausgerichtete Hierarchie wird dadurch vermieden. Beim Versuch, dieser Klanglichkeit auf den Grund zu gehen, kommt auch die menschliche Ä Wahrnehmung ins Spiel. Wird ein Spektrum analysiert und in der Folge instrumentiert, entsteht ein Hybrid: Da die Töne des resultierenden Klanges ihre eigenen Teiltöne aufweisen, erklingt ein gleichsam »verschmutztes« Spektrum, ein Mittelding zwischen Ton und Akkord, Ä Harmonik und Ä Klangfarbe (harmonie-timbre, vgl. Haselböck 2009, 89). Dadurch ist der Hörer in den Prozess der Herausbildung der endgültigen Gestalt eines Werkes von Beginn an involviert. Ein weiterer Aspekt der mikrotonalen Melodie- und Harmoniebildung in der Spektralmusik ist auf Grundlage von Differenz- und Summationstönen, also von Ringmodulationsprozessen erklärbar. Dies war in den 1970er Jahren im Grunde nichts Neues: Bereits Stockhausen hatte im Gesang der Jünglinge (1955–56), in Mixtur für fünf Orchestergruppen, Sinuswellengeneratoren und vier Ringmodulatoren (1964), Mikrophonie II für zwölf Sänger, Hammondorgel oder Synthesizer, vier Ringmodulatoren und Tonband (1965), Telemusik (1966) sowie in Mantra für zwei Pianisten mit Holzblöcken, cymbales antiques, Sinustongeneratoren und Ringmodulatoren (1970) die Ringmodulation kompositorisch eingesetzt. Von den Spektralisten wird dieses Verfahren jedoch im Sinne einer »imaginären Ringmodulation« auf die Instrumentalmusik übertragen, so z. B. in Murails Treize couleurs du soleil couchant für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (Elektronik ad lib., 1978). Jeder der 13 Abschnitte dieses Werkes basiert auf strukturtragenden Intervallen, die sich durch Differenz- und Summationstonbildung 111 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren prozessual verändern. Weitere klangliche und formale Analogien zu akustischen Modellen, die neue mikrotonale Tendenzen ermöglichen, sind die Technik der Bandschleife (Mémoire / Érosion für Horn und neun Instrumente, 1975–76), das Modellieren des klanglichen Nachhalls (Territoires de l ’ oubli für Klavier, 1976–77) sowie die Filterung von Klängen. Bei der Umsetzung solcher prozessualen Klangveränderungen kamen den Komponisten immer mehr auch die ständig verbesserten technischen Hilfsmittel (z. B. das am IRCAM entwickelte Computerprogramm Audiosculpt) zugute (Haselböck 2011). Untersucht man die Auswirkungen, die das spektrale Denken auf die nachfolgenden Generationen hatte, so wird man in unterschiedlichster Weise fündig. Einschränkend sei angemerkt, dass Komponisten wie Georg Friedrich Haas, Jonathan Harvey oder Kaija Saariaho wohl kaum darauf Wert legen (bzw. legten), sich als »Spektralisten« klassifizieren zu lassen (dies gilt allerdings bereits auch für Grisey und Murail). Dennoch fördert ein Vergleich mit der Generationen unterschiedlichste Mechanismen der Aneignung zutage. So benennt z. B. Haas konkret spektrale Einflüsse auf die Obertonharmonik und Logik der Kombinationstöne in Nacht-Schatten für Kammerensemble (1991) und nimmt darüber hinaus auf die Musik von Wyschnegradsky, Hába und anderen Bezug (Haas 2003, 2007). Eine solche Vielfalt an Anregungen legt nahe, dass Ende des 20. und Anfang des 21. Jh.s – auch im Bereich der Mikrotonalität  – ein Reservoir an Wissen verfügbar geworden ist, aus dem sich kompositorische Strategien wie ein Puzzle zusammensetzen lassen. Auch die Werke von Hans Zender werden häufig mit spektralen Einflüssen in Verbindung gebracht. In gewisser Weise ist (trotz der höchst unterschiedlichen klanglichen Ergebnisse) die Prozessualität seiner Werke mit jener in Murails Treize Couleurs durchaus zu vergleichen: Auch in der Musik Zenders entstehen durch spektrale Ableitung Klänge, aus denen durch Ringmodulation wiederum andere Klänge abgeleitet werden. Auf diese Weise erschließt sich – so etwa in Mnemosyne. Hölderlin lesen IV für Frauenstimme, Streichquartett, Textprojektionen und Zuspielband (2000) – ein komplexes Gewebe. Zugleich ist auf Differenzen zur Musik der Spektralisten hinzuweisen: Zenders Harmonik ist – so z. B. in der Kantate Shir Hashirim für Soli, Chor, Orchester und LiveElektronik (1993/96) – durch Analogiebildungen zwischen einer fraktalen und einer spektralen Harmonik geprägt. Diesen Ansatz beschrieb er auch mithilfe des Begriffs »gegenstrebige Harmonik« (Zender 2003). In Music to hear für Sopran, Soloflöte, Echoflöte und Ensemble (1998), in den Kalligraphien I–V für Orchester (1997–99/2004) und in Bardo für Violoncello und Orchester (1999) verwendet er – wie auch die im Übrigen völlig anders konzipierte Ekmelische Musik (Hesse 1990, 1991) – eine 72-stufige Skala, für die er eine eigene Notationsweise entwickelte. Ziel ist es, die reine Stimmung mithilfe von Zusatzzeichen zur herkömmlichen Notation möglichst genau abzubilden, wobei Abweichungen ab 10 Cent in unterschiedliche Klassen aufgeteilt werden (Mosch 2008, 64 f.). Zenders Auseinandersetzung mit Aspekten der Mikrotonalität geht letztlich auf Anregungen der außereuropäischen Musik (insbesondere auf die Auseinandersetzung mit altchinesischen Stimmungstheorien) zurück. Das Ergebnis ist ein neuartiges Tonsystem, das aber zugleich in einen Dialog mit der europäischen Musikgeschichte treten kann: So verweist z. B. die mikrotonale Differenz zwischen den Klangblöcken im Dialog mit Haydn für zwei Klaviere und drei Orchestergruppen (1982–83; die Gruppen sind um jeweils ein syntonisches Komma versetzt) auf den Unterschied zwischen temperierter und reiner Stimmung. Gleichsam radikalisiert und auf die Spitze getrieben erscheint diese Strategie, ein historisches »Problem« künstlerisch fruchtbar zu machen, in Klaus Hubers Streichquintett Ecce Homines (1998): Hier handelt es sich um die Rückprojektion einer erweitert mitteltönigen Stimmung auf Mozarts Streichquintett g-Moll KV 516. Eine Diskussion, die im Zusammenhang mit spektralen Kompositionsstrategien oft geführt wird, ist die Verortung dieser Ansätze im Spannungsfeld von Ä »Natur« und »Zivilisation«. Dabei gilt es zuweilen einem Missverständnis vorzubeugen: Eine kompositorische Auseinandersetzung mit der Obertonreihe kann grundsätzlich nie eine unverstellte Transformation von Natur in Musik zur Folge haben. Dass solche Anliegen als Fiktion entlarvt werden, ist keineswegs überraschend, und auch das Problem als solches ist nicht neu: Bereits Komponisten wie Debussy war klar, dass jede künstlerische Auseinandersetzung mit »Natur« notwendigerweise in kulturelle Leistungen mündet. Dies wird z. B. auch in der Musik von Enno Poppe deutlich, der im Zusammenhang mit seiner Ästhetik von einer »verbeulten Natur« spricht (Gottstein 2008). Ähnlich wie Murail und Zender kombiniert auch Poppe Ansätze der musique spectrale mit der Technik der Ringmodulation. Im Endresultat klingt seine virtuose und effektvolle Musik aber ganz anders als z. B. jene Murails, und auch das Vorurteil, dass Mikrotonalität nur in langsamen Tempi realisierbar sei, wird durch seine Musik weitgehend entkräftet: »Dass die Mikrotonalität in Rad so überzeugend und auch in hohen Tempi beredt daherkommt, liegt […] daran, dass Poppe Klang und Ton amalgamiert, dass die mikrotonalen Figuren und Akkorde im Rahmen einer höheren Einheit verschmelzen« (ebd.). 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren 9. Mikrotonalität, Modalität und alternative Tonsysteme Zu Beginn dieses Beitrages wurde bereits angedeutet, dass zwischen (außereuropäischer und europäischer) Modalität und Mikrotonalität Wechselwirkungen bestehen, denen bereits früh nachgegangen wurde – so z. B. im Rahmen der Internationalen Konferenz in Kairo (1932), bei der unter Beteiligung von bedeutenden Komponisten wie Hindemith, Bartók oder Hába erstmals eine breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit außereuropäischer Mikrotonalität stattfand. In den folgenden Jahrzehnten zeigten zahlreiche europäische Komponisten ein nachhaltiges Interesse für außereuropäische Stimmungs- und Skalensysteme, so etwa Messiaen, Scelsi und Ligeti. Wichtig ist der Hinweis, dass es sich hier zumeist um eine sehr spezifische Art der Rezeption handelt. Ähnlich wie Messiaen löst Ligeti Aspekte der außereuropäischen Musik aus ihrem geschichtlichen und sozialen Umfeld und integriert sie in das eigene Komponieren – die Elemente gewinnen dadurch eine andere Wertigkeit. Wenn Ligeti sagt, er verwende »die aus Afrika oder Südostasien bekannten äquidistanten Skalen mit neutralen Terzen, kleineren großen Sekunden« (Ligeti / Stahnke 2003, 78), so bedeutet dies die Trennung der Skalenbildungen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und die Nutzung des Potenzials dieser Gebilde zur hybriden Wucherung. Daraus ergibt sich eine Suche nach »alternative[n] Stimmungen, in einem ungesicherten Feld« (ebd., 91), wobei die funktionale Tonalität des wohltemperierten Systems durch ein »hybrides Gebilde« (ebd., 79) ohne festgelegte Temperatur abgelöst wird. Mikrotonale Aspekte der arabischen Musik waren und sind für europäische Komponisten ebenfalls häufig ein Feld der intensiven Auseinandersetzung. Beispiele dafür sind Friedrich Cerhas Erstes Streichquartett (maqām, 1989), aber vor allem auch die jüngeren Werke Klaus Hubers, in die sowohl Aspekte des dritteltönigen als auch des Maqām-Systems einflossen. Nachdem in Hubers Streichquartett Von Zeit zu Zeit (1984–85) »die Auflösung des Panchromatismus von dessen Rückseite her, einer generativen Grammatik (Chomsky) aus Viertelton-Intervallen« (Kunkel 2005, 58) im Mittelpunkt gestanden war, rückten seit Des Dichters Pflug für Streichtrio (1989) auch die Dritteltönigkeit bzw. Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Systemen verstärkt ins Zentrum seines Komponierens. Besonders deutlich wird dies in Werken wie Die Seele muss vom Reittier steigen … für Violoncello, Baryton, Contratenor und zwei Orchestergruppen (2002) oder Miserere hominibus für sieben Stimmen und sieben Instrumente (2006; Utz 2013, 153 f.). 112 Ähnlich wie bei anderen mikrotonalen Konzeptionen liegt auch in der Musik Hubers die Frage nach der Gliederung des Tonraums in verwandte Gruppen, in »Modi« nahe: Welche Töne bilden gemeinsam harmonische Familien oder Felder? Wie kann eine »Modulation« von einem Modus in einen anderen erfolgen? Welche Modi sind miteinander verwandt? Diese Problemstellungen zeigen, dass mit der Entscheidung für ein mikrotonales Komponieren grundlegende, aus der Tradition bekannte Fragen der Strukturierung des Tonraums keineswegs obsolet sind. Unter dieser Perspektive kann auch das spektrale Denken erneut unter die Lupe genommen werden: So lassen sich z. B. in Griseys letztem vollendeten Werk, den Quatre chants pour franchir le seuil für Sopran und 15 Instrumente (1996–98) signifikante Wandlungen des Spektralismus beobachten, die eine Berücksichtigung von »modalen« Aspekten nahelegen. Anders als in den 1970er Jahren setzt Grisey die Spektren nicht in ihrem originalen Obertonaufbau ein, sondern bevorzugt eine durch variable Handhabung der Oktavlagen gewährleistete Verformung spektraler Modi (Haselböck 2009, 282). Eine Kombination von Spektralismus und Modalität zeigt sich auch bei Michaël Levinas (Haselböck 2010). In Werken wie Rebonds für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und drei Klaviere (1993) oder Par-delà für Orchester (1994) entwickelte Levinas das Konzept einer mikrointervallischen Polymodalität (Levinas 2002, 117 f.). Diese Idee, analog zu Igor Strawinskys Le sacre du printemps oder Messiaens Turangalîla-Symphonie modale Schichtungen zu komponieren, die allerdings in den Bereich des Mikrotonalen verlagert wurden, hatte, so Levinas, Auswirkungen auf die Form seiner neueren Werke: Hier entfalte sich Form nicht (wie im Spektralismus der 1970er Jahre) als akustischer Prozess, sondern die Idee der Überlagerung von Stimmen bringe ein akustisches Phänomen hervor, das auf dem Prinzip der Alterationen von Skalen und paradoxen Bewegungen (»falschen« Glissandi auf der Grundlage von Resonanzgerüsten) beruhe. So basiert der Zyklus Les lettres enlacées für vier Stimmen (2000–06) auf polyphonen Spiralbewegungen, die durch stete Transposition modaler Gerüste in einem System asymmetrischer Alterationen und Oktavierungen entstehen. Diese »Modulation« eines Tonhöhengerüsts wird durch einander überlagernde und überkreuzende Linienführungen ausdifferenziert und intensiviert (Ansätze zu einem solchen Denken, das unterschiedliche mikrotonale Systeme übereinanderlegt, finden sich in der französischen Tradition allerdings auch bereits früher, z. B. bei Jean-Étienne Marie, 1917–89). 113 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren 10. Zur Wahrnehmung mikrotonaler Musik Insgesamt dokumentiert der in diesem Essay unternommene Versuch eines synchronen Überblicks über die Geschichte der Mikrotonalität im 20. und 21. Jh. die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens. Zwar lassen sich Bruchstücke von Ansätzen, Einflüssen und Traditionen mikrotonalen Komponierens über die Jahrzehnte verfolgen. Die nähere Untersuchung offenbart allerdings, dass es sich hier um zersplitterte, vielfach unterbrochene, mosaikartige Entwicklungslinien handelt. Diese Vorstellung von einem offenen mikrotonalen Experimentierfeld gewinnt gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jh.s weiter an Aktualität. Eine Vielzahl an divergenten Entwürfen mikrotonaler Musik ist heute verfügbar geworden, die sich frei zu neuen Konzepten kombinieren lassen (eines von vielen möglichen Beispielen: Bernhard Lang verwendet in DW17 Doubles / Schatten II für E-Viola, ECello und Sourroundorchester, 2004, Systeme aus Kombinations- bzw. Differenztönen, ohne dass ein unmittelbarer Bezug auf die serielle oder spektrale Musik ersichtlich wäre). Obwohl die Situation der mikrotonalen Musik heute somit unübersichtlich und schwer zu fassen ist, gewinnen immer wieder einzelne Traditionslinien punktuell an Relevanz. So fällt etwa in den letzten Jahren die steigende Bedeutung der Scelsi-Rezeption für das mikrotonale Komponieren auf. Exemplarisch ließe sich hier neben Georg Friedrich Haas (*1953) und Martin Smolka (*1959) auch Caspar Johannes Walter (*1964) erwähnen, der sich an Scelsis quasi ganzheitlichem Klangdenken orientierte: »Bei Scelsi tritt sehr klar zu Tage was ich an Musik besonders liebe: die Ununterscheidbarkeit der verschiedenen Parameter. Das bei ihm typische Vibrieren des Klanges ist ein Phänomen, das gleichzeitig zum Bereich der Tonhöhen gehört, wie zum Rhythmus; die Klangfarben sind ebenso wenig weg zu denken wie die genaue dynamische Disposition der einzelnen Töne und Klänge, die sich zu einem faszinierend fließenden Ganzen zusammen fügen« (zit. nach Hiekel i.V.). Abseits der Frage nach historischen Zusammenhängen sei aber auch auf eine gemeinsame Eigenschaft (nicht nur, aber vor allem auch) mikrotonaler Werke hingewiesen: die Öffnung des kompositorischen Prozesses gegenüber performativen und perzeptiven Aspekten, denen in neuer Musik generell eine zunehmende Bedeutung für das Zustandekommen der Werkgestalt zugeschrieben werden kann. Dies gilt in erhöhtem Maße für die mikrotonale Musik, in der dem Hörer eine aktive Rolle zugewiesen wird: Dadurch, dass er mikrotonale Zusammenhänge »zurechthört«, schafft er ein neues, individuelles Netzwerk an Beziehungen. Zunächst scheint es, als ob dies nichts grundsätzlich Neues sei: Auch in der Dur-Moll-Tonalität gibt es bekanntlich unterschiedlichste Facetten der Intonation. Transkribiert man eine beliebige Interpretation eines durmoll-tonalen Stücks auf Cent genau, so sind zum Teil erhebliche Abweichungen von den temperierten Tonorten festzustellen (Knipper / Kreutz 2013), die wir innerhalb des dur-moll-tonalen Systems zurechthören. In mikrotonalen Werken findet das Zurechthören zwar auch statt, es erfolgt aber nun unter geänderten Voraussetzungen: Da es keine normierte Tonordnung mehr gibt, sondern sich der jeweilige Tonhöhenraster erst innerhalb eines Improvisationskontexts, eines Werkausschnitts, eines Werks oder einer Werkgruppe konstituiert, festigen sich die Bedingungen für das Zurechthören erst während des Hörprozesses (im Extremfall ändern sie sich von einem Moment zum nächsten). Dadurch wird der Rezipient indirekt zum aktiven Mithören aufgefordert. In diesem Sinne äußern Komponisten mikrotonaler Musik häufig Interesse für ambivalente oder sogar paradoxe Klangsituationen, in denen dem Hörer mehrere Möglichkeiten des Zurechthörens angeboten werden (z. B. im spektralen Konzept harmonie-timbre, siehe oben, oder bei der Suche nach einer »reinen« Stimmung; so spricht Haas von einer »›Verschmutzung‹ als Konsequenz der ›Reinheit‹«; Haas 2003, 61). Verschärft wird diese Ambivalenz dadurch, dass auch in der Ä Interpretation mikrotonaler Musik erhebliche Unschärfen der Intonation festzustellen sind (Knipper / Kreutz 2013 haben an Hand unterschiedlicher Aufnahmen von Klaus Hubers … Plainte … für Viola d ’ amore in Dritteltonstimmung (1990) Messungen durchgeführt, denen zufolge bei der Ausführung große Abweichungen von den notierten Tonorten auftreten). Durch all diese Unwägbarkeiten wird die Anzahl jener Wege, auf denen sich die Zeitlichkeit des Werks entfaltet, zusätzlich erhöht, und das Hören wird so zu einem Lauschen, zu einem Einlassen auf unterschiedliche, auch mit der Erfahrung des Hörers und gestaltpsychologischen Fragen korrelierenden Wahrnehmungshaltungen. Diese in jedem Moment des Erklingens mikrotonaler Musik gegebene Multiplizität möglicher Hörweisen ist wohl eine der größten Herausforderungen, die die gegenwärtige Musik zu bieten hat. Ä Themen-Beiträge 3, 5; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie; Neue Musik und Mathematik; Spektralmusik Avraamov, Arsenij: Jenseits von Temperierung und Tonalität, in: Melos 1 (1920), 131–134, 160–166, 184–188 „ Barbera, André: Review of Corpus Microtonale, Adriaan Daniël Fokker (1887–1972). Selected Musical Compositions (1948–1972), Literatur 7. Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren in: JMT 33/2 (1989), 393–399 „ Barbour, J. 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Dieses Spektrum reicht, grob gesagt, von Kompositionen, die den Ritualen innerhalb der christlichen Kirchen verpflichtet sind, bis hin zu Musik, in der solche Rituale noch nicht einmal von Ferne anzuklingen scheinen, die aber dennoch in spezifischer Weise spirituelle Dimensionen aufweist. Der vorliegende Beitrag versucht, im Bewusstsein der oft fließenden Grenzen zwischen diesen hier zunächst nur grob benannten Feldern auf das Gesamtgefüge von solcherart Prägungen umfassender einzugehen und den Akzent gerade auf ihre Differenzierbarkeit zu legen. Einer der Ausgangspunkte dabei ist jedoch die Einsicht, dass in Zeiten, in denen die Verbindung von Kunst und Religion längst nicht mehr selbstverständlich ist, eine nachdrückliche Neigung erwuchs, das Geistliche, Spirituelle oder Religiöse pauschal als etwas Unzeitgemäßes oder sogar als pure Privatsache abzutun. Beflügelt wurde dies im Kontext der Diskurse zur Neuen Musik durch die eine Zeitlang übliche Konzentration auf strukturelle Gegebenheiten und Entwicklungen des musikalischen Ä Materials  – was oft auf Kosten der Betrachtung semantischer, weltanschaulicher und ästhetischer Dimensionen des Komponierten ging. Umso mehr liegt es auf der Hand, dass auch der nachfolgende Blick auf einige wichtige Ansätze nicht einmal annähernd alle substanziellen Werke des in Rede stehenden Themenbereichs erfassen kann. Dies hat erstens damit zu tun, dass gerade dieser Themenbereich (aufgrund des zunächst privaten Charakters religiöser Haltungen) nicht unbedingt dazu angetan ist, mit wortreichen Erklärungen expliziert zu werden, sodass man spirituelle Dimensionen von Musikwerken selbst dann übersehen kann, wenn sie mit gewissem Nachdruck intendiert sind. Aber es hat zweitens auch damit zu tun, dass es im Spektrum der weltweiten Neuen Musik des 20. und 21. Jh.s schlichtweg eine unübersehbare Fülle von Ansätzen gibt, die dieses Themenfeld berühren bzw. für die es sogar das zentrale ist, dies nicht selten im Rekurs auf spezifische nationale oder regionale Erfahrungshorizonte. Gerade außerhalb des europäischen Kontextes gibt es eine schier unendliche Vielfalt von spirituell grundierten Bezugspunkten namentlich etwa zu religiösen Ritualen und Praktiken, die mit sehr unterschiedlicher Deutlichkeit Zusammenhangbildungen evozieren und eine vertiefende Betrachtung erfordern würden. Mit der eben erwähnten, nicht immer wertend gemeinten Rubrizierung des Religiösen als bloße Privatsache dürfte es überdies zusammenhängen, dass ein unübersehbar von einer explizit religiösen Haltung bestimmter Komponist wie Olivier Messiaen, dessen Rang heute wohl unbestritten ist, lange Zeit eher als Sonderling oder Außenseiter  – oder aber als bloßer Impulsgeber seriellen Komponierens  – angesehen und damit marginalisiert wurde. Und damit hängt es wohl auch zusammen, dass die signifikanten spirituellen Elemente im Schaffen von Messiaens zeitweiligem Schüler Karlheinz Stockhausen oder auch jene im Werk von John Cage eher als Eskapismus denn als integrales Moment gewertet wurden. Überblickt man jedoch aus heutiger Perspektive die Musik seit 1950 insgesamt, dann wird mehr und mehr offenkundig, dass es eine stattliche Riege von bedeutenden Persönlichkeiten gibt, aus deren Schaffen spirituelle oder religiöse Dimensionen nicht wegzudenken sind. Und das Geistliche, Spirituelle und Religiöse sind schon deshalb nicht als bloße Privatsache anzusehen, da sie jeweils auf entscheidende ästhetische Aspekte wichtiger Werke verweisen, ohne deren Berücksichtigung Interpretationen zu kurz greifen würden. Dies lässt sich für Komponistinnen und Komponisten aus unterschiedlichen geographischen wie stilistischen Kontexten sagen. Zu ihnen gehören – um neben den schon Erwähnten zunächst nur wenige weitere Beispiele zu nennen – Giacinto Scelsi, Bernd Alois Zimmermann, Arvo Pärt, Sofia Gubaidulina, Jani Christou, Dieter Schnebel, Hans Zender, Klaus Huber, Toshio Hosokawa, Galina Ustwolskaja und Mark Andre. Dabei sind, wie in der folgenden Darstellung zu spezifizieren sein wird, unterschiedliche Absichten und ästhetische Grundausrichtungen unüberhörbar. Diese Differenzen haben dabei besonders mit der Frage zu tun, J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_8, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 117 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 bis zu welchem Grade von einem Musikwerk mit geistlichen bzw. spirituellen Tönungen eine gemeinschaftsbildende Dimension zu erwarten ist – bis hin zu dem, was man einen Anspruch auf Breitenwirkung nennen kann. Damit ist ein für explizit religiöse Musik höchst geläufiger und doch zugleich ein heikler Aspekt berührt. Dieser Anspruch auf Breitenwirkung spielte in manchen Diskussionen der letzten Jahrzehnte eine Rolle, meist wohl in solchen, die in kirchlichem Zusammenhang geführt werden. Doch andererseits – und das ist gleich zu Beginn mit Nachdruck hervorzuheben – liegt er für nicht wenige Komponisten deutlich außerhalb dessen, was sie beabsichtigen. Hierzu ist erstens anzumerken, dass viele der wichtigen religiösen Werke früherer Zeiten  – um hier nur etwa die großen Passionen Johann Sebastian Bachs oder die Messen Ludwig van Beethovens zu nennen  – keineswegs auf diese intendierte Breitenwirkung reduziert werden können, sondern jeweils ein komplexes, höchst anspruchsvolles und zum Teil sogar verstörendes Gepräge aufweisen. Zweitens jedoch ist nicht zu übersehen, dass es immer wieder Komponisten gab, die angesichts der Erwartungshaltung im Kontext der Kirche – oder in jenem der einschlägigen Rituale des Konzertlebens – den Grad der Komplexität bei religiösen Werken bewusst reduzierten und eingängigere Mittel als in ihrem sonstigen Schaffen verwendeten. Drittens und vor allem gehört es zur Entwicklung der Ä Moderne bereits etwa seit Beethoven, dass es selbstverständlich wurde, eine Abweichung von den Gepflogenheiten der in kirchlichen Kreisen hauptsächlich gepflegten Sakralmusik zuzulassen oder sogar bewusst zu intendieren. Funktionalität jedenfalls, die als Erfüllung strenger Normen in Erscheinung tritt, wurde zum Problem – und im weiten Feld der Neuen Musik eher zur Ausnahme. Dazu passt es, dass gerade Messiaen, der oft als bekanntester Exponent einer stark vom Katholizismus geprägten Musik des 20. Jh.s bezeichnet wird, darauf bedacht war, in seinen Werken dem engeren Bereich der Kirchenmusik nicht zu nahe zu kommen und gleichzeitig auch stets die mit kirchenmusikalischen Gepflogenheiten nur zu einem kleinen Teil kompatiblen innovativen Ansätze seiner Musik betonte. Dennoch darf man, da Messiaens Musik explizit der Verkündigung christlicher Glaubensgewissheiten diente und dafür auch etwa eine Sakralisierung der japanischen Gagaku-Musik ins Werk setzte (Guignard 2007, 339), für sie den Begriff »religiöse Musik« verwenden. Obschon Messiaen überwiegend auf die Vertonung von Texten verzichtet, ist mit dem Hinweis auf die explizite Verkündigung von Glaubensgewissheiten auch bereits eine Definition formuliert, durch die der Sonderfall der religiösen Musik von dem offeneren Begriff der »geistlichen Musik« und schon gar von dem noch umfassenderen Begriff einer »spirituellen Musik« abgegrenzt werden kann. Anknüpfend an das bisher Ausgeführte ist zugleich allerdings zu betonen, dass bei Verwendungen aller drei hier in Rede stehender Begriffe oft eine terminologische Unschärfe mit im Spiel ist. Man mag, um diese plausibel zu machen, daran erinnern, dass das deutsche Wort »geistlich« eine Übersetzung des lateinischen »spiritualis« ist und beide Begriffe oft synonym gebraucht werden (ähnlich wie »religiosity« und »spirituality« in der englischen Sprache). Allerdings schwingt bei Verwendungen des Ausdrucks »spirituell« im Feld der Musik nicht selten eine bewusste Distanznahme gegenüber klassischer geistlicher Musik mit – zumal diese im europäischen Kontext selbstverständlich religiöse, christliche Musik meinte und diese Selbstverständlichkeit im Bewusstsein vieler Musikschaffender gewiss noch fest verankert ist. Dabei ist jedoch zu konzedieren, dass die Rede von Spiritualität auch im Zusammenhang mit Musik oft etwas Modisches besitzt, gerade dann, wenn diese pauschal als bloßer Gegenentwurf zu Rationalität und Technizität der fortschrittsgläubigen Moderne aufgefasst wird. Umso mehr liegt es auf der Hand, dass die Verwendung des Begriffs »spirituelle Musik« nicht automatisch an den Bereich der Neuen Musik denken lässt (Zender 2014). Gleiches gilt gewiss für jenen Teilbereich des vorliegenden Themas, den man manchmal als »meditative Musik« bezeichnet (Saxer 2000). Die Unterhaltungsindustrie hat auf diesen – ebenfalls durchaus unscharfen  – Terminus besonders erbarmungslos zugegriffen. Dennoch sind verschiedene Ansätze der neueren Musik plausibel anhand ihrer meditativen oder quasi-rituellen Dimension zu beschreiben. Im Folgenden sei der Begriff der (explizit) geistlichen Musik vornehmlich für jene Musik verwendet, die mit geistlichen Texten operiert. Dabei wird es in den nachfolgenden Darlegungen teilweise um Ansätze gehen, die das Wissen um traditionelle Spielarten religiösen Komponierens in sich tragen, und punktuell sogar um Versuche, oratorische Traditionen mit Strategien der Neuen Musik zu verschränken, um diesen Bereich zu verlebendigen. Aber es werden auch unterschiedlichste musikalische Konzepte ins Blickfeld gerückt, die sich bewusst weit außerhalb kirchlicher Traditionen entfalten, bei denen aber doch eine spirituelle oder sogar eine meditative Dimension sehr wesentlich ist. Dabei darf man insgesamt konstatieren, dass eine Skepsis gegenüber dem, was manchmal abfällig »Kirchenkomposition« heißt, zu den gemeinsamen Grundannahmen fast aller bedeutenden Komponisten des 20. und 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 21. Jh.s zählt, die sich bewusst mit Ansätzen einer geistlichen bzw. spirituellen Musik beschäftigen. Stellvertretend sei hierfür eine Einschätzung Paul Hindemiths zitiert, also eines Komponisten, der ja heute keineswegs als radikaler Neuerer gilt: »Heutige kath. Kirchenkomposition: niedriger Stand. Guter Wille, Berufung auf frommen Zweck. Schlechte Technik. Komponisten dritten Ranges. Fast: nicht gut genug für anderes, dann Kirchenkomp.  – Kirchenkitsch, fast Unterhaltungsmusik.  – Kirchenbehörden anscheinend keinen Sinn für Qualität« (Hindemith, Handschriftliche Notizen auf Karteikarten, vermutlich 1949, Hindemith-Institut, Frankfurt am Main, zitiert nach Heidlberger 2004, 113). Zu den Ausgangspunkten des vorliegenden Themenfeldes gehört neben dieser Skepsis nun aber zugleich die Beobachtung, dass sich in den letzten Jahrzehnten in weiten Teilen Europas  – und gewiss auch deutlich darüber hinaus  – in vielen Bereichen der Kultur ein wachsendes Interesse für spirituelle Dimensionen abzeichnete. Es überrascht nicht, dass dies auch für die Musik gilt, ist sie doch seit jeher jener Kunstbereich, der dem Ausdruck solcher Dimensionen in besonderem Maße dient. Dass dies heute, da sich das Zusammenspiel von Musik und Spiritualität längst zu einem erheblichen Teil außerhalb der kirchlichen Räume ereignet, nicht mehr mit einer einfachen Funktionalisierung gleichzusetzen ist, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Hierzu gehört der halbherzige oder ganz geschwundene Einsatz der Kirchen für das Unbekannte und Neue, aber gewiss auch ihr – von einzelnen signifikanten Ausnahmen wie vor allem dem Islam abgesehen – fast überall zu bemerkender politisch-gesellschaftlicher Bedeutungsverlust. In manchen Regionen dieser Welt, und so auch im europäischen und nordamerikanischen Kontext, scheint es indes, dass die in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsene Abwendung von den großen christlichen Kirchen das Interesse für geistliche oder spirituelle Tönungen in anderen Bereichen nicht reduziert, sondern sogar eher vergrößert hat. Die Spiritualitätsforschung spricht von einem insgesamt zunehmenden Bedürfnis nach der Kraft religiöser oder spiritueller Erfahrungen in Zeiten, in denen es einen starken Glaubensverlust und einen »Entzug sinngebender Letzthorizonte« (Baier 2006, 13) gibt. Ein Teilaspekt der sich an diese Diagnose anschließenden Beschäftigung mit neuerer Musik richtet sich darauf, ob und in welcher Weise Musikwerke etwas von jener Orientierung vermitteln können (oder überhaupt wollen), die durch den Glaubensverlust einen neuen Stellenwert gewinnt. Bei der Beschäftigung mit religiösen und spirituellen Fragen der Gegenwartsmusik geht es nicht selten um Aspekte, die zwar keineswegs neu sind, heute 118 aber stärker hervortreten und auch anders wahrgenommen werden. Hierzu gehört, insbesondere bei spirituellen bzw. geistlichen Tönungen, die weit außerhalb kirchenmusikalischer Traditionen stehen, die Entdeckung lange übersehener Potenziale. Die Musik seit 1950 ist keineswegs ein homogenes Ganzes, sondern ein höchst widerspruchsvolles und facettenreiches Gefüge (Ä Neue Musik). Die darin sich abzeichnenden Wandlungen haben mit unterschiedlichen Faktoren zu tun: mit regionalen Besonderheiten und Identitätsbildungen (einschließlich der spezifischen Erfahrungen religiöser Praktiken), aber zum Teil wohl auch mit einem Wechselspiel von fortschreitender Säkularisierung und der Suche nach neuer Spiritualität. Ein neues Stadium der Betrachtung ist in den letzten Jahrzehnten zumindest bei einem Teilaspekt des vorliegenden Themas markiert: bei der interkulturellen Dimension spiritueller Akzente. Fragen nach der Spiritualität und auch schon Versuche zu definieren, was diese überhaupt ausmacht, lassen sich heute kaum mehr ohne einen breiten, interreligiösen Horizont beantworten. In diesem Zusammenhang wird über jene Einflüsse zu sprechen sein, die oft etwas nebulös als »Inspirationen aus dem Osten« bezeichnet werden. Damit begibt man sich in ein Feld, in das die seit den 1960er Jahren virulenten Diskussionen zum »New Age«, zur Lebenshilfe und zur »neureligiösen Szene« gehören (vgl. 8.). Um das breite Spektrum spezifischer Ansätze von Neuer Musik mit geistlichen und spirituellen Akzentuierungen angemessen zu beschreiben, ist der Blick mithin auf sehr unterschiedliche Bereiche und ästhetische Ansätze zu richten. Einerseits ist das zu gewärtigen, was heute allen schon von Hindemith festgestellten konservativen Tendenzen zum Trotz noch direkt im Kontext mancher kirchlicher Konzertveranstaltungen erklingt oder auf diesen Kontext zumindest durch die Wahl von Besetzungen, Anklänge an traditionelle Gattungen oder Titelgebungen reagiert; andererseits aber ist das zu registrieren, was sich im Rahmen jener musikalischen Konzepte künstlerisch ereignet, deren spirituelle Potenziale weithin unabhängig von kirchlichen Kontexten in Erscheinung treten. Und nicht unergiebig ist dabei die Beobachtung, dass es im Schaffen vieler Komponisten auch Anhaltspunkte für beide Tendenzen gibt – zum Teil werden sie sogar in einem Werkganzen miteinander verschränkt. 2. Zwischen Innovation und Breitenwirkung: Musik im kirchlichen Kontext »Singet dem Herrn ein neues Lied«, heißt es in der Bibel (Ps. 33,3; 96,1; 98,1; 149,1; Jes. 42,10; vgl. auch Ps. 40,4, Hervorhebung JPH). Vor allem Johann Sebastian Bach hat diese Worte wunderbar vertont, mit jener für ihn kenn- 119 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 zeichnenden Mischung aus Elementen der Tradition und solchen der Innovation. Aus ihr resultiert ein erhebliches Maß an künstlerischem Anspruch, welches sich keineswegs immer leicht erschließt. Die Kraft des Neuen gehört, das wurde oft betont, zum Wesen des christlichen Denkens eigentlich hinzu. Doch die Kirche war nicht nur Auftraggeber vieler innovativer und anspruchsvoller Kompositionen, sondern sie provozierte andererseits durch ihr immenses Beharrungsvermögen, das zuweilen sogar als reaktionär bezeichnet werden muss, immer wieder auch Konflikte mit Künstlern. Es scheint manchmal, als wolle sie der These von Karl Barth widersprechen, dass Kirche »immer schon Abfall von der Kirche« (zit. nach Gottwald 1998, 220) gewesen sei. Neue Musik in der Kirche profitiert jedoch namentlich im deutschsprachigen Bereich – und hier in besonderem Maße bei den evangelischen Kirchen – von manchen wichtigen Impulsgebern, für die hoher Kunstanspruch und religiöse Verkündigung keine Widersprüche sind und die gerade dem Experimentellen gegenüber aufgeschlossen sind. So entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene Initiativen (in Deutschland etwa in Kassel, Stuttgart, Mühlheim an der Ruhr oder Schwäbisch Gmünd), bei denen erstens die Förderung neuester geistlicher Musikwerke eine hervorgehobene Bedeutung besitzt und zweitens ganz bewusst auch Diskussionsforen zu Fragen der ästhetischen Wandlung von Kunst stimuliert. Zuweilen wurden dabei, wie etwa in der katholischen »Kunststation St. Peter« in Köln, auch Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Künsten zum Thema. Musik kann sich, so lautet eine der entscheidenden Einsichten in die Möglichkeiten solcher Wechselwirkungen, denkbar weit von aller stereotypen Funktionalität entfernen und zum Teil eines »Gesamtkunstwerks« werden (allerdings nicht unbedingt an das angelehnt, was dieser Begriff im Zusammenhang mit Wagners Musik meint), das zu einer spezifischen intensiven Wahrnehmung anregt. Weit abseits davon konnten sich jahrzehntelang im Schoße der Kirche gerade trivialere Töne entfalten. Dies geschah wohl insbesondere da, wo Verständlichkeit zum Fetisch und die Anpassung an die Usancen der »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1993) machtvoll vorangetrieben wurde. Eines der Kernmotive für die Forderung nach Konvergenz von kirchlicher Musik mit den Bedürfnissen einfachster Hörerkreise ist oft die Angst, »die Breite ihres Wirkungskreises […] einzuschränken« (Herbst 1997, 726). Dass die Mitgliederzahlen der großen christlichen Kirchen seit langem stark rückläufig sind, dient vielen als Argument für die Steigerung populistischer Tendenzen – hier kann man in Zeiten des allzu starren Blicks auf Einschaltquoten in den Medien mühelos eine Parallele zum wachsenden Populismus verschiedenster Kulturträger (wie etwa den meisten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) und zur daraus resultierenden allmählichen Zurückdrängung der Neuen Musik oder des Kulturauftrags insgesamt sehen. Clytus Gottwald, viele Jahre als Chorleiter wie als kritischer Autor einer der wichtigsten Exponenten einer avancierten Chormusik, hat die populistischen Tendenzen im Umgang der Kirche mit der anspruchsvollen Kunst besonders scharfsinnig analysiert. Er hat in diesem Zusammenhang Fluchtbewegungen benannt, die durchaus noch in einzelnen Musikwerken der Gegenwart Nachklänge besitzen – und hat damit zugleich das angedeutet, was durch traditionalistische Musikwerke erzeugt wird: »Die immer wieder aufflackernde Kunstfeindlichkeit der Theologen hat es im Laufe der Jahrhunderte vermocht, Kunst, zumal die musikalische, aus der Kirche zu vertreiben. Die Flucht in den Historismus, welche die katholische Kirchenmusik im 19. Jh. (Caecilianismus), die evangelische Kirchenmusik im 20. Jh. (Schütz-Renaissance) unternahm, schlug, auf Dauer gesehen, den Kirchen nicht zum Segen an. Verstärkte sich doch auf diese Weise der Eindruck, die kirchlichen Institutionen seien so überständig wie die Musik, die sie favorisieren. So entdeckte man schließlich in der Pop-Musik die angemessene Sprache, die Aktualität, Inklusivität und Kommunikation gewährleistete. Für die neue Musik bedeutete dies, dass sie, wo sie Religiöses thematisierte, solches außerhalb der Kirche zu leisten hatte« (Gottwald 2003, 14). Gottwald verglich die in den 1980er Jahren formulierte Kritik an Neuer Musik, die sich etwa auf Konzepte Schnebels richtete, sogar mit jener stark an Nazi-Jargon erinnernden Polemik der 1930er Jahre, in der von »der gemeinschaftsgebundenen Kraft aller Kirchenmusik« und fast im selben Atemzug vom »Kampfe gegen die zersetzenden Kräfte des Liberalismus und Individualismus« die Rede war (ebd., Auszug aus einer Erklärung der deutschen Kirchenmusiker vom Mai 1933). Allerdings machte Gottwald zugleich  – am Beispiel des bedeutenden, auch für den Diskurs über Neue Musik durchaus einflussreichen Soziologen Niklas Luhmann – anschaulich, dass auch in manchen Kreisen, die in politischer oder soziologischer Hinsicht fortschrittlich gestimmt sind, Ressentiments gegenüber einer Entfaltung künstlerischer Individualität formuliert wurden (ebd., 15 f.). 3. Belebung von Traditionen In zumindest einem Teilbereich des neueren Komponierens ist bis in die Gegenwart hinein ein Rekurs auf christliche Traditionen und auf die mit dieser Tradition verbundenen künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 überaus wichtig: im Rahmen jener Konzeptionen, die auf kodifizierte Textmodelle Bezug nehmen, vor allem auf jene der lateinischen Messe und des Requiems. Der Rekurs auf beide signalisiert nicht unbedingt eine Bindung an die Intentionen der katholischen Kirche, sondern eher einen Anspruch auf Überzeitlichkeit  – der dann freilich in vielen Fällen als bloße Folie angesehen wird und mit gegenläufigen Elementen kontrastiert wird. Die NichtFunktionalität neu entstehender Werke ist dabei seit langem weithin selbstverständlich. Sie kann sich ohnehin berufen auf eine bis in die Anfänge der Gattungsgeschichte zurückreichende Entwicklung. Nicht zufällig betonte etwa Bernd Alois Zimmermann, Schöpfer einer der wichtigsten und ungewöhnlichsten im 20. Jh. entstandenen RequiemKompositionen (des im Wesentlichen 1967–1969 entstandenen Requiem für einen jungen Dichter), dass bereits die berühmte Messe von Guillaume de Machaut aus dem Jahre 1364 seinen eigentlichen Aufführungsort nicht im Gottesdienst habe (Zimmermann 1988, 21). Dieser durchaus plausiblen Auffassung zufolge führte geistliche Kunstmusik schon in diesem frühen musikgeschichtlichen Stadium über die Grenzen der durch die Kirche vorgegebenen Räume hinaus – Räume im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne verstanden. Dies war gewiss auch Hindemith bewusst, als er im Jahr 1963 seine Messe für Chor a cappella komponierte. Dieses Werk ist zu komplex und zu wenig eingängig, als dass es auf eine Breitenwirkung hoffen könnte  – wohl aber plante Hindemith offenbar zur Zeit der Entstehung des Werkes, also gegen Ende seines Lebens, die Komposition von »Gebrauchsmessen« für kirchliche Laienensemble (Heidlberger 2004, 112). Die Verwendung des Lateinischen konvergiert in diesem Falle mit einer an der alten Vokalpolyphonie  – und ihren künstlerischen Feinheiten – orientierten Strenge des Satzes. Zugleich wird der in Hindemiths Spätwerk herausgebildete Ethos-Begriff, der keineswegs auf konkrete Weltbezüge zielte, in der Gestaltung dieses Werkes auf besonders nachdrückliche Weise realisiert. Dies geschieht, ohne jedes übertriebene Pathos, mit großer Klarheit und einer Klangsprache, deren Bezug zur frühen Vokalpolyphonie gleichsam als Aufgabenstellung an die Zuhörer erscheint. Die schon erwähnten kritischen Gedanken Hindemiths zur Situation der »Kirchenkomposition« erhalten die Formulierung »müßte von vornherein ganz aufs Geistige ausgerichtet sein« (zit. nach Heidlberger 2004, 113). Hier klingt ein ethisch fundierter Begriff des Geistigen an, der dem von Wassily Kandinsky nicht unverwandt ist und zugleich an die etymologische Verwandtschaft von »geistlich« und »geistig« erinnert – und der bei alledem auf eine entscheidende Motivation von Hindemiths Messe 120 deutet. Die Kritik, dass dem Komponisten in seinen letzten Lebensjahren »die schöpferisch formende Sensibilität für das kulturelle Jetzt abhanden gekommen« war (ebd., 111), mag zutreffend sein. Aber es ist vorstellbar, dass ihm dies selbst sehr wohl bewusst war und dass dieses Wissen ein Konzept von »zeitloser« Musik zu fundieren half, das durchaus eine spezifische eigene Intensität besitzt. Gerade darin, so scheint es, ist Hindemiths Messe den großen geistlichen Werken verwandt, die sich im Spätwerk von Igor Strawinsky finden. Ähnliches gilt wohl auch für György Ligetis fast zeitgleich entstandenes Requiem (1963–65) und dessen Weg einer Verlebendigung von polyphonen Traditionen. Höchst eindringlich ist dieses Werk, das zu den Hauptwerken des Komponisten zu rechnen ist, wohl gerade darin, dass ihm eine Gegentendenz zu jeder Art des akademischen Umgangs mit Alter Musik eingeschrieben ist. Dies hat wohl mit »Ligetis Sinn für übertreibende Zuspitzung« (Dibelius 1994, 85) zu tun und beschert dem Ganzen einen unverkennbar »emanzipatorischen Geist« (ebd.). Letzterer kommt darin zum Ausdruck, dass der traditionelle Text in ein Spannungsverhältnis zu den ebenso eigenwilligen wie scharf pointierten musikalischen Farbgebungen des Stückes gerät: diese können mal tief schwarz, aber auch raunend, irisierend, ätherisch oder diffus sein und bilden zum bildkräftigen Text einen Gegenpol mit nicht minder großer Sogwirkung. Selbstverständlich erscheint, dass ein Werk wie dieses, das darauf verzichtet, deutliche Weltbezüge zu integrieren, nicht in harmonischer Friedfertigkeit landet – dies würde eine Eindeutigkeit des Ausdrucks evozieren, die Ligeti (der Eindeutigkeiten des Ausdrucks vor 1956 in Ungarn in nicht geringem Maße ausgesetzt war) gerade fremd ist. Dasselbe lässt sich auch über das als Epilog zum Requiem verstehbare Vokalstück Lux aeterna sagen, bei dem Ligetis berühmte, von Asymmetrien durchzogene Kanontechnik für einen faszinierenden Schwebezustand sorgt. Zeitenthoben und vergeistigt wirkt solche Musik gleich in mehrfacher Hinsicht: in ihrer Distanz gegenüber Konkretionen ebenso wie in ihrer von jeglichem nostalgischen Gefühl abweichenden Grundhaltung. 4. Weltbezüge Von den Konzepten etwa von Hindemith, Strawinsky und Ligeti deutlich abweichend gibt es in der Musik seit 1950 einzelne wichtige Beispiele von Musikwerken, in denen gerade der Weltbezug erheblich deutlicher akzentuiert ist. Explizit oder unausgesprochen bewegen sich alle diese Werke, so kann behauptet werden, auf den Spuren von Arnold Schönbergs epochalem Werk Ein Überlebender aus Warschau für Sprecher, Männerchor und Orchester 121 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 (1947) (Ä Themen-Beitrag 4, 6.). Dieses Werk weist in der Verknüpfung eines geistlichen Kontext  – dem jüdischen Gebet Schma Israel – und der geschilderten Situation der Ermordung jüdischer Gefangener etwas Inkommensurables auf und ist eine der eindringlichsten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust überhaupt. Vorbildlich für manche spätere Werke ist sie dabei in ihrer sinnfälligen Verschränkung von zeittypischen – namentlich politischen  – mit überzeitlichen Perspektiven. Und man sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass Ein Überlebender aus Warschau im kirchenmusikalischen Kontext zuweilen mit großen oratorischen Werken kontrastierend verschränkt wird. Zu den wichtigsten Werken mit expliziten Bezügen zur christlichen Tradition, die der hier ausgeformten Grundidee einer Verknüpfung von zeitlosen mit dezidiert politischen Akzenten folgen, gehören Zimmermanns schon erwähntes Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) sowie Benjamin Brittens War Requiem (1961–62). Während Zimmermanns Werk ein umfassendes und höchst vielschichtiges zeitgeschichtliches Panorama entfaltet, das wie die künstlerische Summe dieses Komponisten erscheint (Hiekel 1995), konzentriert sich das War Requiem darauf, ein Wechselspiel zwischen dem lateinischen Requiem-Text und Anti-Kriegsgedichte von Wilfred Owen (1893–1918) zu entfalten. Brittens Komposition ist so angelegt, dass sie für größere Laienchöre realisierbar erscheint – die damit zusammenhängende Breitenwirkung ist für den Ansatz von Britten und auch für seine »Strategie der emotionalen Überwältigung« (Schüssler-Bach 2015, 41) in gewissem Maße selbstverständlich. Im Falle von Zimmermanns oratorischem Werk ist der Abstand gegenüber der christlichen Überlieferung, der sich auch bei Britten bereits manifestiert, noch um einiges größer  – bis dahin, dass die zu dieser Überlieferung unauflöslich gehörende Zuversicht weithin suspendiert wird. Dies geschieht im Requiem für einen jungen Dichter vor allem dadurch, dass explizit der Erfahrungshorizont des Zweiten Weltkriegs ins Spiel gebracht wird. Doch die in diesem Werk sich manifestierende skeptische Grundhaltung wird in Zimmermanns letztem, kurz vor dem Freitod des Komponisten entstandenem Werk Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne für zwei Sprecher, Bass solo und Orchester (1970) sogar noch zugespitzt. Und noch entschiedener als zuvor lässt der Komponist hier die oratorische Tradition hinter sich, schafft stattdessen eine Grundkonstellation, die an die Kunstform des Hörspiels erinnert. Konfrontiert und in einen Dialog gebracht werden Verse aus dem vierten Kapitel des Prediger Salomo sowie Passagen aus Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Novelle Der Großinquisitor aus dem berühmten Roman Die Brüder Karamasow. Letztere entstammen einem Ausschnitt, in dem der greise Großinquisitor den wiedergeborenen und als Aufrührer inhaftierten Christus in nachdrücklichen Worten mit den Folgen seiner Lehre zu konfrontieren sucht. Hilfreich für das Verständnis dieses recht häufig gespielten Werkes ist der Blick auf dessen Untertitel »Ekklesiastische Aktion«: Das kaum geläufige Wort »ekklesiastisch« bezieht sich auf den Kontext der biblischen Texte, und der Begriff »Aktion« darauf, dass Zimmermann sich verschiedener höchst ungewöhnlicher Mittel bedient, um Unfassliches zu vergegenwärtigen und die Auflösung aller diskursiven Möglichkeiten, also die Begrenztheit jeder Konzentration aufs Wort anzuzeigen. Es sind Mittel, welche die Sprengung der üblichen Konzertform bedeuten, einschließlich der Suspendierung des üblichen Textvortrags: »Die beiden Sprecher schreien durcheinander: Reichtum, Selbstvernichtung, sich gegenseitig ausrotten. Dazu gestikulieren sie und führen akrobatische Aktionen aus. Das gesamte Schlagzeug schlägt wild und chaotisch auf beliebige Schlagzeuginstrumente ein«, heißt es in der Partitur am ersten Kulminationspunkt des Steigerungsprozesses. Nach dieser Eruption folgen ein plötzlicher Abbruch, ein Lamentoso des Basses sowie schließlich eine Aktion von besonderer Nachdrücklichkeit: während sich der Dirigent auf den Boden zu setzen hat, artikulieren die Sprecher (und später auch der Sänger) beliebige Sätze aus dem Prediger Salomo (Kapitel 2–4) sowie aus dem Großinquisitor. Sie werden begleitet von einem eisern durchgezogenen Blues-Rhythmus. Was folgt, ist ein Zitat aus Bachs Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort BWV 60: jene sechs Takte mit den Verszeilen »Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus …«, die 35 Jahre zuvor schon Alban Berg in seinem Violinkonzert (1935) zitiert hatte. Eine Harmonisierung aller im Stück exponierten Düsterkeit und Klage ist jedoch nicht intendiert. Eine wesentliche Tendenz der genannten groß besetzten Werke Schönbergs und Zimmermanns sind erschütternde Momente. Erschütterung kann mit Blick auf beide Komponisten als Inbegriff des Nicht-Verstehbaren und Irritierenden gelten, das aufhorchen lässt, also in sich den Impuls zur Auseinandersetzung trägt. Freilich stellt sich bei allen Werken, die mit starken oratorischen Momenten aufwarten, die Frage, wie dieser Impuls  – der ja zum Grundanliegen vieler Musik mit religiösen Bezügen zählt – zu erreichen ist, ohne dass das Komponierte affirmativ erscheint oder zur hohlen äußeren, von einer Überbietungsattitüde durchdrungenen Geste gerät. Gewiss gelingt dies am ehesten in Werkkonzepten, die in besonderem Maße auch Konfliktpotenziale enthalten, welche 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 über die im kirchenmusikalischen Kontext üblichen Formen der musikalischen Darstellung deutlich hinausgreifen, in denen also die von Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie beschriebene Idee der »Mimesis am Gegenstand« erfahrbar ist (Adorno 1970, 424). Weit eher an Zimmermann als etwa an Britten scheint, entsprechend dieser Idee, der Schweizer Komponist Klaus Huber in seinen oft groß dimensionierten geistlichen Werken orientiert zu sein. Das gilt einerseits für die Integration älterer Musik sowie von literarischen oder politischen Texten, aber andererseits auch für den auf Erschütterung ausgerichteten Grundgestus des Ganzen. Ein bekanntes Beispiel für letzteres ist die oratorische Komposition Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet … (1975–82), die eine stark politische Akzentuierung aufweist und in ihrer nachdrücklichen Entschiedenheit die Formel »Klaus Huber als Fürsprecher einer christlichen Linken« (Halbreich 2008) berechtigt erscheinen lässt. Andererseits vermag man gerade im Falle von Hubers Schaffen, das über Jahrzehnte (und bis heute) bemerkenswert beharrlich um geistliche Themen kreist, eine wirkliche Vielfalt von Ansätzen zu registrieren. Enorm groß ist dabei auch die Zahl der Bezugspunkte. Zu den wichtigsten gehören (1) geistliche Werke der Vergangenheit, die  – wie etwa die Musik Gesualdo da Venosas in Hubers Komposition Lamentationes sacrae et profanae ad Responsoria Iesualdi für sechs Solostimmen, Theorbe, Gitarre, Bassetthorn und Bassklarinette (1993–97)  – als Bezugspunkte zeitgenössischer Werkkonzepte fungieren (was auf Anregung des Komponisten sogar dazu geführt hat, dass man dieses Werk im Wechsel mit Responsorien Gesualdos aufgeführt hat), (2) christliche Mystiker und (3) spirituelle Elemente aus der arabischen Kultur. Mit der zuletzt genannten Tendenz geht es Huber darum, die Tradition emphatisch geistlichen Komponierens in Europa in Richtung auf einen dezidiert interkulturellen Kontext hin zu weiten (Nyffeler 2008). Konkret kommt dies durch melodische wie rhythmische Bezüge zu arabischer Musik, aber auch etwa durch den Rekurs auf Texte von Octavio Paz und Mahmoud Darwisch zum Ausdruck. Der Versuch, Traditionen zu verlebendigen und damit zugleich zu entgrenzen, erstreckt sich in einem Werk wie Miserere hominibus für sieben Stimmen und sieben Instrumente (2006), mit erkennbarem Bezug zu Vokalpolyphonie etwa eines Josquin Desprez, in erster Linie auf den Bereich der Zeitstrukturierung, der bis zu einem Umkehrungskanon in Vergrößerung reicht  – auch dies eine Parallele zu bestimmten Ansätzen im Schaffen von Zimmermann. Die Tendenz zu Gestaltungen, die an klassische oratorische Traditionen gemahnen, aber doch auch deutlich über diese hinausgehen, verbindet Hubers Schaffen mit 122 dem von Hans Zender. Und bei beiden ist die Suche nach ungewöhnlichen Themen und Kontextbildungen durch die Überzeugung motiviert, dass die religiöse Dimension gerade in der europäischen Kultur an den Rand gedrängt wurde bzw. verloren gegangen sei. Zender verzichtet zwar in seinen groß angelegten und auf allen Ebenen komplexen Werken Shir hashirim für Soli, Chor, großes Orchester und Live-Elektronik (1993/96) und Logos-Fragmente für 32 Singstimmen und vier Orchestergruppen (2006–07) auf explizit aktualisierende Bezüge mit politischer Stoßrichtung, aber er macht dafür auf die Vielfalt und zugleich auf die eindrückliche literarische Kraft verschiedenster Elemente der christlichen Überlieferungen aufmerksam. Er liefert vor allem in dem zuletzt genannten Werk einen Beleg für jene Reichhaltigkeit der europäischen Kultur, die  – wie die Textauswahl zeigt  – über alle kultur- bzw. religionsgeschichtlich bedingten Kanonisierungen explizit hinausführt. Man kann davon ausgehen, dass Zender an diesem Punkte in gewissem Maße von Messiaen geprägt wurde, zu dessen Universalismus ja gerade ein tiefer Sinn für den spezifischen Nachdruck der jenseits von (nicht nur musikalischer) Logik waltenden Kräfte gehört. Noch beharrlicher allerdings als Messiaen kreist Zenders Schaffen um die grundsätzliche Frage, wie Texte  – auch jene der christlichen Überlieferung – und klangliche Setzungen in ein Wechselverhältnis gebracht werden können und dabei Sinnmomente kenntlich werden. Seine LogosFragmente weisen an diesem Punkte ein bemerkenswert breites Spektrum auf, das von klarer Deutlichkeit bis hin zu tiefer Verrätselung reicht und dabei gerade die Differenzen unterschiedlicher Ansätze musikalisch reflektiert. In Zenders geistlichen Musikwerken rückt dabei immer wieder die Frage des Verstehens ins Blickfeld. Dies freilich verbindet sie mit den anderen Teilen von Zenders Gesamtschaffen  – namentlich mit der Grundidee einer Cantos genannten Werkreihe, zu der auch die Logos-Fragmente zählen (vgl. Hahn 2013). Der Grundduktus der Werke von Messiaen kennt natürlich ebenfalls tief verrätselte – in diesem Falle nicht selten »mystische«, auf das in der christlichen Tradition so wichtige Geheimnis des Glaubens anspielende – Momente. Und es wurde oft betont, dass diese Dimension gerade im Falle Messiaens mit einem spezifischen Interesse am Surrealismus konvergierte. An einem anderen Punkte jedoch ist Messiaen – mit Ausnahme von Richard Wagner oder vielleicht Jani Christou  – wohl mit kaum einem anderen Komponisten der Vergangenheit oder der ihm nachfolgenden Generationen zu vergleichen: in dem Nachdruck, mit dem er »auf die Überwältigung durch seine Musik auf allen Ebenen der Struktur, des Klangs und des theologischen Gehalts setzte« (Rathert 2010, 23). Viel- 123 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 leicht kann man zugespitzt sogar sagen, dass sich Messiaens Musik in besonderer Weise stets im Spannungsfeld zwischen ihren rätselhaft-mystischen und ihren zuversichtlich verkündenden Momenten bewegt. Für den tiefen, bis zur geistigen Zerrissenheit reichenden Zweifel, der die geistlichen Bezüge in Zimmermanns Musik bestimmt (darin ist sie im Kontext der Neuen Musik nahezu singulär), ist bei Messiaen allerdings selbst dann kein Platz, wenn auf höchst eindringliche Weise apokalyptische Dimensionen kenntlich werden – wie etwa im eindrucksvollen Ensemblewerk Couleurs de la cité céleste für Klavier, Bläser und Schlagzeug (1963). Eine nicht zu unterschätzende Dimension der Musikkultur, der auch religiös oder spirituell ausgerichtete Musik unweigerlich ausgesetzt ist, liegt in der repräsentativen Haltung und Ausrichtung des Ganzen. Man kann behaupten, dass die metaphysische Dimension von Kunst, die besonders seit der Frühromantik zum Kernaspekt musikalischer Gestaltung erhoben wurde und einen wesentlichen Teil ihrer Dignität ausmachte, sich in vielen Musikwerken gleichsam in einem Wettstreit mit dieser repräsentativen Seite befindet. Jedoch gehört es zum Verbindenden von Komponisten wie etwa Zimmermann, Messiaen, Zender oder Huber, dass es eine deutliche Tendenz gibt, jede mit der Konzertsituation und deren Ritual zusammenhängende repräsentative Geste als bloße Äußerlichkeit zu entlarven oder zumindest zu unterlaufen und dadurch vergessen zu machen. Die Mittel, die dabei zum Zuge kommen, sind komplex und sehr unterschiedlich, aber dabei stets erheblich entfernt von der Erfüllung jener oratorischen Gattungsnorm, mit der ein Repräsentationsbedürfnis spätestens seit Aufkommen des bürgerlichen Musikbetriebs im 18. / 19. Jh. einhergeht. Ähnliches lässt sich gewiss auch für etliche andere seit 1950 entstandene Werke sagen, so etwa – um nur zwei Beispiele zu nennen  – für Wolfgang Rihms Deus Passus für Soli, gemischten Chor und Orchester (1999–2000) und Sofia Gubaidulinas Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes für Sopran, Tenor, Bariton, Bass, zwei gemischte Chöre, Orgel und großes Orchester (2000). Sie deuten auf den Bereich der Oratorienpflege, der – in Avantgardekreisen kaum wahrgenommen – in den letzten Jahrzehnten an manchen Orten (innerhalb Deutschlands ist hier etwa die Gächinger Kantorei in Stuttgart zu nennen) nach Alternativen zum immer gleichen Repertoire gesucht hat. Zu den anspruchsvolleren und komplexeren Werken des 20. Jh.s, die Laienchöre gelegentlich aufführen, gehören die großen Oratorien Frank Martins (vor allem In terra pax, 1944, Golgotha, 1945–48, und Requiem, 1971–72) Doch einer etwas größeren Verbreitung bei Laienchören erfreuen sich meist eher solche Werke, die – wie etwa Leonard Bernsteins Chichester Psalms für Countertenor, Chor und Orchester (1965) – in ihrer mitreißenden Eingängigkeit von den durch traditionelle Werke geweckten Erwartungen nicht allzu weit abweichen. 5. Zwischen Komplexität und Einfachheit Es ist in vielen Fällen nicht leicht, in Musikwerken mit einer deutlich konturierten religiösen Orientierung die Grenze zwischen einer ausdrücklich intendierten Zeitlosigkeit einerseits (ein Aspekt, der in der Neuen Musik von besonderer Wichtigkeit ist und fast immer dazu angetan ist, spirituelle Erfahrungsmöglichkeiten aufzurufen, vgl. Rathert 2000) und einer Gegenwartsbezogenheit andererseits zu bestimmen. Bei einem plastisch modellierten Werk wie Ligetis bereits erwähntem Requiem etwa erscheint es auch dann durchaus legitim, den Nachdruck des außerordentlich bildkräftigen Dies irae auf die Schreckenserfahrungen des 20. Jh.s zu beziehen, wenn im Gegensatz zu den Werken Zimmermanns oder Brittens auf eine Erweiterung des lateinischen Textes verzichtet wird. Andererseits steht es außer Frage, dass bestimmte Komponisten, wie namentlich Arvo Pärt, sich so weit wie möglich von jedem Weltbezug abkoppeln. Wohl nicht zufällig gelingt es Pärt damit auch in besonderem Maße, den Neigungen unterschiedlichster Hörerkreise zu einer meditativen und von Einfachheit geprägten Form der Kunstwahrnehmung zu entsprechen. Dies geschieht im Falle seines Tintinnabuli-Stils mit einer Musik von erheblicher Schlichtheit, die dem Aufwand des seit Jahrhunderten im Kontext der europäischen Kunstmusik Üblichen bewusst entsagt (Pärt 1990). In welchem Maße die damit angesprochenen Neigungen im Sinne einer viel beachteten Schrift von Peter Niklas Wilson als »sakrale Sehnsüchte« (Wilson 2003) bezeichnet oder sogar kritisiert werden können, kann diskutiert werden (darauf wird noch zurückzukommen sein). Darf man geistlicher Musik wie dieser, die einen Hang zur Askese besitzt, vorwerfen, dass sie – wohl auch finanziell – erfolgreich ist? Ist sie damit schon, wie dies zuweilen geschieht, mit bestimmten sakral getönten Popmusik-Modeprodukten gleichzusetzen? Wichtig für Pärt selbst ist indes gerade der Bezug zu mittelalterlichen Praktiken. »Der gregorianische Gesang hat mir gezeigt, daß hinter der Kunst, zwei, drei Noten zu kombinieren, ein kosmisches Geheimnis verborgen liegt« (Pärt 1990). Angesichts der Tatsache, dass gerade Pärt sich stark auf Bezüge zur katholischen Tradition einließ  – zu seinem Werkkatalog zählen ein Stabat Mater für Sopran, Countertenor (Alt), Tenor, Violine, Viola und Violoncello (1985), ein Te Deum für drei Chöre, Klavier, Streichorchester und Tonband (1984–85 / 92) und die Berliner Messe für gemischten Chor (1990–92) –, wird es durchaus verständ- 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 lich, dass sein Stil, der Einfachheit mit Gefälligkeit zu verschränken sucht, heute für viele sogar als Inbegriff eines christlichen Komponierens gesehen wird. Ähnliches gilt wohl auch für einzelne jener Komponisten polnischer Provenienz, die in den letzten Jahrzehnten mit religiös motivierten Werken hervortraten. Erwähnt seien an dieser Stelle vor allem Krzysztof Penderecki und Henryk Mikołaj Górecki, wobei nicht verschwiegen sei, dass gerade im Schaffen von Penderecki durch die im Vergleich zur Musik Pärts erheblich repräsentativeren und oft monumentaleren Gesten eine dezidiert konservative Haltung zum Tragen kommt. (Selbst in Polen wurde ihm dies zu Beginn des 21. Jh.s zuweilen vorgeworfen  – und löste sogar eine Kontroverse über die Frage aus, in welcher Weise ästhetische Vorlieben katholischen Komponierens mit jenen des Sozialistischen Realismus konvergieren können bzw. dürfen.) Pendereckis geistliche Musik, die oft widersprüchliche Reaktionen hervorruft (Schwinger 1979, 214 f.; Gottwald 2003, 127–132), ist gewiss zumindest vor 1989 für viele Gläubige ein starkes Zeichen der Ermutigung gewesen. Dies gilt ganz besonders für sein auf die polnische Geschichte bezogenes Polnisches Requiem für vier Soli, zwei gemischte Chöre und Orchester (1980–84). Bemerkenswert und wohl auch kennzeichnend für die repräsentative Seite des Ganzen ist schon die Entstehungsgeschichte dieses Werkes: Ist das Lacrimosa Anfang der 1980er Jahre als Auftrag der legendären polnischen Gewerkschaft Solidarność entstanden, so sind die inzwischen 16 weiteren Sätze wichtigen Persönlichkeiten und Ereignissen der polnischen Geschichte gewidmet – bis hin zum 2005 verstorbenen polnischen Papst Johannes Paul II. Als Zeichen der Ermutigung und Identitätsstiftung wurde in vergleichbarer Weise auch die geistliche Musik von Górecki empfunden (Skrzypczak 2006). Dies gilt etwa für seine Komposition Beatus Vir für Bariton, Chor und Orchester (1979), die bei der Uraufführung im Jahr 1979 als denkbar tiefster Ausdruck von Solidarität und wahrer Menschlichkeit empfunden wurde und die in ihrem Kontrast zu den atheistischen Doktrinen der staatlich verordneten Weltanschauungen sogar als Stärkung der politischen Oppositionsbewegung figurieren konnte. Dabei ist dieses Oratorium, nicht anders als die meisten anderen Werke dieses Komponisten, weit davon entfernt, äußere Konfliktpotenziale in der Musik selbst kenntlich werden zu lassen. Unter den eben Genannten ist es wohl vor allem Pärt, der einen Einfluss auf verschiedenste Komponisten der nachfolgenden Generationen ausübt, insbesondere Komponisten aus Staaten des ehemaligen Ostblocks (Ä Osteuropa). Einen solchen Einfluss kann man etwa im Schaffen des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür (* 1959) 124 beobachten, der in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der musikinteressierten Öffentlichkeit gerückt ist. Eine gewisse Nähe zur dezidierten Einfachheit bei Pärt spürt man in einem der jüngsten geistlichen Werke von Tüür, in Salve Regina für Männerchor und Ensemble (2005). Kennzeichen dieser und vieler anderer Kompositionen von Tüür ist der weitgehende Verzicht auf jede Form der Monumentalisierung, aber auch auf platte Affirmation. Die Bevorzugung des Lateinischen kann dabei als Tendenz zum Archaischen erscheinen, ist aber vielleicht noch mehr Ausdruck einer Zeitlosigkeit oder sogar Gelassenheit. In den oratorischen Werken des Komponisten, etwa im 1994 entstandenen Requiem für Kammerchor, zwei Soli, Klavier und Streicher, werden jedoch auf der Folie des lateinischen Textes auch konfliktartige Momente artikuliert, die in solcher Weise wohl bei Pärt undenkbar wären. Hinzu kommen ungewöhnliche klangliche Eigentümlichkeiten, bedingt durch die Instrumentation, in diesem Falle namentlich durch die von der Tradition der europäischen Kirchenmusik dezidiert abweichende Verwendung eines Klaviers. Und seine Musik vermeidet die Suggestion, Übergänge zwischen Mittelalter und Gegenwart könnten bruchlos vollzogen werden. In welcher Weise die substanzielle Anknüpfung an mittelalterliches Denken zur Basis eines äußerst vielschichtigen Gesamtkonzepts werden kann, zeigt das Werk eines anderen Komponisten aus einem Land des ehemaligen Ostblocks: die im Frühjahr 2001 in Prag uraufgeführte Komposition Lux Mirandae Sanctitatis (Licht einer wunderlichen Heiligkeit) von Marek Kopelent (*1932), dem neben Petr Eben (1929–2007) wohl bekanntesten tschechischen Komponisten der letzten Jahrzehnte. Es gelingt Kopelent in diesem halbszenischen Oratorium, mit der Intensität pseudomittelalterlichen Singens Akzente zu verschränken, die auf politische Konflikte der Gegenwart verweisen, namentlich durch Bezüge auf den von den Kommunisten verfolgten tschechischen Lyriker Jan Zahradníček. Ausgangspunkt für diese Verknüpfung ist die Einsicht, dass »auch schon in den Texten des 13. Jh.s von Gefolterten die Rede ist« (Kopelent im Gespräch mit dem Verfasser im Februar 2001 in Prag, vgl. Hiekel 2003). Insgesamt wird das im lateinischen Titel benannte wunderliche Licht so komplex reflektiert, dass jede nostalgische Verklärung fern liegt. Dabei ist es typisch für die neueren Werke von Kopelent, dass die Konflikte, die seine Werke austragen, auch mancherlei hoffnungsvollere Deutungen erlauben. Insgesamt ist zu konstatieren, dass seit 1989 die Bedeutung geistlicher Musik gerade in Osteuropa und in den östlichen Teilen Mitteleuropas signifikant gewachsen ist. Diese Tendenz, die sich auf alle Generationen von 125 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 Komponisten erstreckt, hat im katholischen Polen zwar ihr Kernland, führt aber längst über dieses Land deutlich hinaus. Im Kontext der ehemaligen Sowjetunion ist hier, mit Blick auf die Generationen nach Schostakowitsch, auch Galina Ustwolskaja zu nennen. Sie schrieb im Jahr 1983, noch vor den entscheidenden politischen Veränderungen in ihrem Lande, ihre Sinfonie Nr. 3 mit dem Untertitel Jesus, Messias, errette uns für Stimme und Ensemble, ein stark von Ostinato-Bildungen geprägtes Werk, in dem der im Titel indizierte eigenwillige Bezug zur Tradition der Sinfonik (namentlich jener von Beethoven und Schostakowitsch) vor allem ideengeschichtlicher Art ist. Und sie hatte bereits lange zuvor einige ähnlich kompromisslos sperrige, teilweise gar spröde Instrumentalwerke vorgelegt und ihnen Titel wie etwa Dona nobis pacem für Piccoloflöte, Tuba und Klavier (1970–71), Dies irae für acht Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier (1972–73) und Benedictus, qui venit für vier Flöten, vier Fagotte und Klavier (1974–75) gegeben, die in seltsam direkter, wie ein Moment der unerfüllten Sehnsucht erscheinender Weise auf die Tradition europäischer Kirchenmusik verweisen, um dann jedoch zu einem Klangbild zu gelangen, das in seiner Mischung aus Kargheit und glühender Leidenschaftlichkeit nahezu inkommensurabel ist. Zur Rezeption der Musik von Ustwolskaja gehört einerseits, dass die religiösen Titel zu sowjetischen Zeiten verschwiegen werden mussten (Redepenning 2007), aber andererseits auch, dass die Komponistin zu einer Art Mythos wurde – und man sogar konstatieren kann, dass ihre Musik »gewissermaßen per Dekret der Ratio entzogen« (Weiss 2009, 21) ist. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch der Komponist Alfred Schnittke, in dessen Schaffen es sowohl einfachere als auch komplexere Werkkonzeptionen gibt. Für die eine Seite steht etwa sein auf eine Sammlung orthodoxer liturgischer Gesänge bezogenes Werk Hymnen (1974–79), für die andere etwa seine unvollendete, erst postum im Jahr 2007 (in der Ergänzung durch Alexander Raskatow) uraufgeführte Neunte Sinfonie. Veritable Sakralwerke wären wohl für Schnittke undenkbar gewesen – doch gleichsam als Gegengewicht zu manchen leichtgängig-postmodernen Werken, die im Musikbetrieb vergleichsweise stark wahrgenommen werden, ist die geistliche Dimension seines Komponierens nicht zu unterschätzen. Komponisten wie die eben genannten stehen für die Tatsache, dass geistliche Perspektiven von Musikwerken  – wie mit Blick auf Penderecki und Górecki bereits angedeutet  – insbesondere im Kontext von politischen Diktaturen widerständige Potenziale besitzen können. Im Falle von Kopelent war eine geistliche Dimension, die heute in seiner Musik vergleichsweise offen zutage tritt, vor 1989 in der Tschechoslowakei meist nur in verdeckter Weise präsent. Daher übertreibt man nicht, wenn man die geistlichen Momente – etwa die Zitate eines Agnus DeiSatzes von Palestrina in seinem Quintett für Blechbläser (1972) – als subversiv gegenüber dem staatlich Verordneten bezeichnet. Subversion, von der Wortbedeutung (lat.: subversio) her auf Umkehren und Umwälzung zielend und begriffsgeschichtlich mit religiösen Quellen verbunden (Röttgers 1998, 567 f.), ist mit einer emanzipatorischen Tendenz zu fassen, die als das Aufkündigen oder Umgehen von geltenden (gesellschaftlichen) Übereinkünften beschrieben werden kann. Subversive Strategien, auch jene der Neuen Musik, manifestieren sich tendenziell weniger direkt als explizit provokative Setzungen, zumeist sind sie – wie schon das Beispiel der religiösen Titel im Werk von Ustwolskaja zeigte – eher im Verborgenen wirksam. Im Falle der 1931 geborenen Sofia Gubaidulina war eine spirituelle Kraft der Musik zwar seit ihrer Jugend eine conditio sine qua non, aber erst in den 1980er Jahren war es allmählich möglich, diese Momente so zu entfalten, dass sie (auch im Westen) wahrgenommen werden konnten. Dies gilt namentlich für ihr bis heute wohl bekanntestes Werk, das für Gidon Kremer entstandene Violinkonzert Offertorium (1980–86), das auf Anton Weberns Bearbeitung von Bachs berühmtem Ricercar aus dem Musikalischen Opfer rekurriert. Aus Gubaidulinas heutiger Sicht ist die Frage nach Religiosität und Spiritualität in der Musik eines der dringlichsten gegenwärtigen Anliegen überhaupt: »Mir scheint, dass das 20. Jh. die Tendenz zum Religiösen fast völlig eingebüßt hat. So wurde der Mensch allmählich eindimensional, nur noch auf Ursache und Wirkung konzentriert. Und ich glaube, es ist sozusagen unsere Aufgabe für das 21. Jh.: unsere Verantwortung für die künftigen Generationen« (Gespräch mit dem Verfasser, 9. 2. 2007). Das Spektrum der Werke, durch die Gubaidulina dieser Verantwortung gerecht zu werden versucht, ist bemerkenswert groß – es reicht von reinen Instrumentalkompositionen, die als Reflexionen christlicher Glaubensgewissheiten angelegt sind, bis hin zu bildkräftigen oratorischen Werken. Eine vergleichbare Verantwortlichkeit spricht auch etwa aus der Musik von Jörg Herchet, unter den namhaften ostdeutschen Komponisten einer der ganz wenigen, deren Schaffen bereits zu DDR-Zeiten und dann auch nach 1989 in umfassender Weise geistliche Perspektiven aufweist. Dafür stehen insbesondere zwei seiner Werkzyklen: ein Orgelzyklus mit dem Titel namen gottes, vor allem aber eine mittlerweile 17-teilige, ökumenisch ausgerichtete Folge von geistlichen Vokalwerken mit dem Titel Das geistliche Jahr, die sich auf die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres bezieht und auf Texten von Jörg Mil- 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 bradt basiert. Mit großer Variabilität werden in den Stücken dieses Zyklus religiöse Botschaften mit Fragen an die (politische) Gegenwart verschränkt. Dies geschieht mit einem Tonfall, der etwas Kritisches, zuweilen auch  – in der Brecht-Tradition – etwas Mahnendes oder Belehrendes besitzt, aber stets von einer kompositorischen Reichhaltigkeit aufgefangen wird. Widerständigkeit meint – auf Herchet bezogen – in heutigen Zeiten auch: das Reagieren auf Konsumgewohnheiten und auf die Denkfaulheit innerhalb der Erlebnisgesellschaft. Eine unbewusste oder ausdrückliche Gegentendenz zu diesen Gewohnheiten darf man freilich bei einem erheblichen Teil von religiös orientierter Musik der Gegenwart annehmen – sogar auch etwa im Falle der Kompositionen von Pärt, dessen vor der Zeitenwende 1989 artikulierter »Widerstand gegen [die] verordnete Kultur des damaligen Ostens« (Schatt 2001, 49) offenbar weithin bruchlos in einen nach dieser Zeitenwende notwendig gewordenen »Widerstand gegen die Vereinnahmung durch zeitgenössische Zivilisation« (ebd., 50) übergehen konnte. Zu unterscheiden sind nun allerdings prinzipiell jene Formen von impliziter Widerständigkeit, die aus dem bewussten Abstand gegenüber bestimmten Gewohnheiten resultieren, sowie jene etwa durch Texte artikulierte Momente, die  – wie im Falle mancher Werke von Herchet, Kopelent oder vor allem Huber  – deutlichere Zeichen enthalten. Momente von Widerständigkeit, die sich durch das kompositorische Unterlaufen von Kommunikationsbedingungen auszeichnen und dabei durch religiöse Bezüge untermauert werden, lassen sich gewiss auch bei verschiedensten anderen Komponisten der Gegenwart finden. Und dies gilt auch für jene, die sich von jeder oratorischen Geste noch erheblich weiter entfernen als alle bisher vorgestellten Konzepte. Erwähnt sei an dieser Stelle Helmut Lachenmann, für dessen Ansatz insgesamt eine spirituelle Dimension nicht unterschätzt werden sollte, der aber in einzelnen seiner Werke zudem auch in spezifischer Weise auf geistliche Traditionen rekurriert. So bezieht sich Lachenmanns Vokalwerk Consolation II für 16 Stimmen (1967–68) auf das Wessobrunner Gebet – und tut dies mit einer Klangsprache, die die Erfahrung des Staunens über das Verschwinden von Gewissheiten selbst thematisiert. Lachenmann deutete in seinem Kommentar zu diesem Stück die gewandelte, verglichen mit früher offenere, Bedeutung dessen an, was geistliche Musik heute sein kann: »Ein geistliches Werk? Vielleicht, aber nicht von Schuld und Erlösung ist die Rede, sondern von jener Erfahrung, die jeglichem Denken zugrunde liegt: der Sterblichen Staunen« (Lachenmann 1968/2004, 377). 126 6. Verbreiterungen des Bezugsrahmens Im bisher Ausgeführten wurde schon sichtbar, dass der Bezugsrahmen von Neuer Musik mit spirituellen oder sogar explizit religiösen Perspektiven sehr unterschiedlich ist. Auf geistliche Traditionen kompositorisch Bezug zu nehmen, kann heißen, einen an repräsentative oratorische Traditionen erinnernden Grundgestus zumindest zeitweise zuzulassen. Es kann aber auch heißen, diesen weitgehend zu eliminieren oder ganz auszuklammern. Wichtig ist nun mit Blick auf einige der bislang schon erwähnten Komponistinnen und Komponisten, dass sie in ihren Werkkonzepten unterschiedliche Formen des Ausdrucks von Spiritualität gestalteten. Man begegnet dabei, pointiert gesagt, dem Erbe Beethovens – für das es ja typisch ist, im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Werkkonzeptionen und kompositorische Aufgabenstellungen zu erproben. So gehören etwa zu Gubaidulinas, Klaus Hubers oder Zenders Œuvre Werke geringer Besetzung, die im weitesten Sinne als Meditationen verstanden werden können – und mithin auf eine andere Hörhaltung zielen als die jeweils schon erwähnten großen oratorischen Konzeptionen, in denen der Aspekt des Überredens oder womöglich auch der eines Gemeinschaftsgefühls ungleich präsenter sind. Besonders substanziell und vielgestaltig ließ sich auch der schon mehrfach erwähnte Dieter Schnebel auf Traditionen geistlicher Musik ein. Schnebel, der sich in seiner Doppelexistenz als Theologe und Komponist seit den 1960er Jahren nachdrücklich an den Diskussionen zum Verhältnis zwischen Neuer Musik und Kirche beteiligte, vollzog dabei eine Wandlung, die zu denken gibt. In den 1950er Jahren komponierte er mit dt 31,6 für räumliche Stimmen (1956–58) eines der ungewöhnlichsten Werke neuerer geistlicher Musik, eine Komposition, in der ein Bibeltext (5. Mose, 31, 6) in Laute zerlegt und das Dekomponierte dann zu Sprach- oder Musikzusammenhängen zusammengeschlossen wird (Schnebel 1966/93, 225). Verglichen damit ist Schnebels Dahlemer Messe für Soli, Chor, Orchester, Orgel (1984–97), entstanden für die 750-Jahrfeier der Stadt Berlin und mithin von repräsentativen konzeptionellen Erwägungen zumindest tangiert, weitaus stärker auf die Tradition geistlicher Musik bezogen. »Die in den fünfziger und sechziger Jahren betriebene Materialerweiterung hatte ihr Ziel erreicht« (Schnebel 2008, 91), merkte der Komponist selbst in lapidarer Weise an – und charakterisierte die Dahlemer Messe als »Synthese Avantgarde  – Tradition: Fortführung der Messkompositionen von Machaut bis Strawinsky; Festmusik universal« (ebd.). Die Komposition Ekstasis für Sopran, SchlagzeugSolo, fünf Chöre, Orchester und Orgel (1996–2002) mar- 127 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 kiert dann das dritte Stadium von Schnebels geistlichem Komponieren und in gewisser Weise ebenfalls den Versuch einer Zusammenfassung. In diesem Werk allerdings findet sich ein noch breiteres Spektrum von Äußerungen, überwölbt von einer geradezu universalistischen Tendenz. Für den Komponisten selbst signalisiert dies, dass Ekstasis ein »in Musik transponierter Überblick über alle möglichen Ekstaseformen, religiöse (auch außerchristliche) und weltliche, archaische und moderne [ist], und am Ende erweist sich Musik selbst als Ekstase« (ebd., 93). Erhellend, weit über Schnebels eigenes Schaffen hinaus, ist sein Versuch, die Werke aus drei sehr verschiedenen Schaffensphasen als Repräsentanten der jeweiligen Entstehungszeit zu sehen: Der Komponist unterscheidet »die kirchenkritische Aufbruchsstimmung der fünfziger und sechziger Jahre, die der Konsolidierung in den mittleren siebziger bis neunziger Jahren und das Erwachen einer neuen Religiosität danach« (ebd.). Das in solcher Weise skizzierte jüngste Stadium der »neuen Religiosität« zeichnet sich unverkennbar durch eine Verbreiterung des Bezugsrahmens aus. Das, was Schnebel »Aufbruchsstimmung« nennt, bezieht sich gewiss auch auf den Kontext der Ä seriellen Musik in den 1950er Jahren, innerhalb derer die antirepräsentative Tendenz der Neuen Musik erstmals kulminierte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang nun aber zweierlei: erstens die Einsicht, dass offenbar bei verschiedenen Komponisten der antitraditionelle Impuls des neuen Denkens spirituell grundiert war, und zweitens die Tatsache, dass innerhalb dieser so folgenreichen Musikrichtung seit ungefähr Mitte der 1950er Jahre ein ausgeprägtes Interesse an Vokalmusik zu beobachten war. Dieses Interesse gründete offenbar vor allem auf der Überzeugung, dass das Vokale als Repräsentation von auratischen und expressiven Momenten angesehen werden konnte. Dies bedeutete einerseits etwas zu den seriellen Verknüpfungen Gegenläufiges, vielleicht sogar etwas ihnen gegenüber Widerständiges und gleichsam Unbeherrschbares. Aber es eröffnete andererseits auch neue Sprachmöglichkeiten, aus der neue, andere Formen des Ausdrucks von Spiritualität erwuchsen. Das macht die ebenso paradoxe wie faszinierende Grundsituation von bekannten Vokalwerken der 1950er und 1960er Jahre mit explizit oder implizit spiritueller Ausrichtung aus. Als berühmtes Beispiel sei hier zunächst Stockhausens elektronische Komposition Gesang der Jünglinge (1955–56) genannt  – das erste bedeutende einer Kette von Werken des Komponisten mit vergleichsweise klaren geistlichen Bezügen (Blumröder 1993; Ulrich 2006, 12). Kennzeichen speziell dieses Werkes ist, dass sich die auratische Seite des Singens gegenüber strengen Struktur- momenten gleichsam zu behaupten hat. Und dabei geht es um etwas, das auch Lachenmanns Consolation II oder Schnebels dt 31,6 kennzeichnet: um eine strikte Vermeidung der Reproduktion von Ausdrucksklischees, wie sie auch in den Entstehungszeiten der Werke (nicht anders als heute) durch die klassisch-romantische Tradition  – und erst recht deren unreflektierte Fortschreibungen – allgegenwärtig waren. Vor allem aber ging es ihnen darum, eine im tiefsten Sinne eigene Sprache zu finden, um Momente des inkommensurablen Ausdrucks. Die Exaltationen dieser und ähnlicher anderer Werke sind zwar manchen Sonderformen des Madrigals früherer Zeiten nicht unverwandt, doch die in ihnen zur Geltung kommende Tendenz zur Entsemantisierung (Klüppelholz 1995) ist erheblich radikaler. 7. Musik als Ritual Es scheint an dieser Stelle wichtig hervorzuheben, dass durch die Tendenz zur Auflösung – oder Ausblendung – jeder klar greifbaren Semantik in der neuen mitteleuropäischen Vokalmusik eine Dimension stark hervortritt, die in der musikwissenschaftlichen Literatur zur Musik dieser Zeit bisweilen zu wenig beachtet wird: nämlich die rituelle Seite von Musik, die keinesfalls bloß die Erfüllung des jahrhundertelang eingeübten Konzertrituals meint, sondern eine Fortschreibung oder Reflexion jener magischen oder metaphysischen Momente, die man in rituellen Situationen weit außerhalb der Konstellationen eines Konzerts erleben kann. Es liegt auf der Hand, dass mit dieser Tendenz zur Überschreitung des im Konzert Üblichen auch ein Teil der Resonanz des Ä Minimalismus zusammenhängt. Vor allem die Musik von La Monte Young, Terry Riley und Steve Reich steht dafür, dass sich dabei der Charakter des Rituals manifestiert, getragen vom Konzept einer spezifischen Entfaltung von Zeit, das weithin als Ausprägung einer meditativen Musik rezipiert wurde (Ä Zeit, 2.3). Für La Monte Young, der meist als Vaterfigur der Minimal Music bezeichnet wurde und bekannt wurde für Musik mit extrem lang gehaltenen Tönen, waren private Meditationserfahrungen offenbar ähnlich wichtig wie eine Verbindung zu asiatischem Denken (Saxer 2000). Mit Kriterien nach Maßgabe des alten europäischen Kunstprinzips der Varietas würde man seiner Musik am wenigsten entsprechen. Im Falle von Reich ist es dagegen typisch, dass dieser im Laufe seines Schaffens sein 1968 formuliertes Prinzip einer »Music as a gradual process« (Reich 1968/2002) immer wieder auch variiert und kontrastierenden Elementen ausgesetzt hat, die dann auch eine gewisse Nähe zu europäischen Musikformen evozieren. Die mit Blick auf Cage 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 oder La Monte Young zu reklamierende Idee einer »Aufhebung der Zeit« (Ä Zeit), die den Ritualcharakter besonders stark zu fundamentieren vermag, besitzt hier weniger Relevanz. Zum Teil, wie im Vokalwerk Tehillim (1981, der Titel kommt vom hebräischen Wort für »Psalm«) und in der Video-Oper The Cave (1989–93, gemeinsam mit Beryl Korot, im Untertitel als »dokumentarisches Musik-VideoTheater« bezeichnet), hat Reich sogar auch explizit religiöse und weltbezogene Elemente verankert. Es steht außer Frage, dass der Minimalismus viele Komponisten der nachfolgenden Generationen gerade in ihrer Suche nach einer spirituellen Musik beflügelt hat. Insbesondere in Osteuropa war (und ist teilweise bis heute) seine Rezeption überaus groß. Beispielhaft genannt sei der in jüngerer Zeit recht erfolgreiche ukrainische Komponist Walentyn Sylwestrow (*1937). Aber auch in Westeuropa sind vielerlei Spuren greifbar. Auch Stockhausen etwa erhielt eine Zeitlang von der US-amerikanischen Musik und deren Neigung zur Kreation nicht-traditioneller Musikpraktiken wichtige Impulse (dies gilt etwa für Stimmung für Vokalsextett, 1968). Und gerade bei ihm war die Sensibilität für das Herausführen aus den üblichen Konzertritualen besonders stark religiös motiviert. In der »intuitiven« Phase seines Komponierens ging diese Tendenz so weit, dass er sogar Bet-Gesten unterschiedlicher Kulturen zu adaptieren suchte. Was sich hier bei Stockhausen abzeichnet, lässt sich auch auf etliche andere Komponisten übertragen: die Begegnung mit nicht-europäischen Kulturen hat in vielen Fällen einen Sinn für jene dezidiert nicht-linearen und nicht-teleologischen Darstellungsformen von Musik beflügelt, die einen starken Ritualcharakter hervorrufen oder zumindest unterstreichen. Hier sind als Kristallisationspunkte einerseits die Begegnungen mit verschiedenen fernöstlichen Musikauffassungen und Philosophien sowie andererseits das – bekanntlich stark vom Zen-Buddhismus inspirierte – Denken von John Cage zu nennen (auf Cage wird noch zurückzukommen sein). Alles dies verhalf vielen Komponisten dazu, eine Musik zu kreieren, die jenseits gewohnter Funktionalisierungen und jenseits der Rituale des bürgerlichen Konzertsaals alternative musikalische Darstellungen auf den Weg bringt. Im Schaffen von Boulez  – der gegenüber einem erheblichen Teil der amerikanischen Neuen Musik ebenso skeptisch blieb wie gegenüber einer Transformation von kultischen Ritualen in ein Musikwerk – gibt es ein Interesse für das Entgrenzen der üblichen Konzertsituation zwar ebenfalls. Doch war sie eher durch die intensive Erfahrung des Umgangs mit dem Theater von Antonin Artaud (Zenck 2003) beeinflusst – das freilich ja auch seine spirituellen Dimensionen besitzt. 128 Musik hat, wie man weiß, im Grunde immer auch eine rituelle Dimension, doch kommt diese in manchen seit etwa 1960 entstandenen Werken Neuer Musik besonders nachdrücklich zum Ausdruck. Wenn man dies mit damals weit verbreiteten Ansinnen in Verbindung bringt, sich von den Gepflogenheiten und Klischees des Konzertrituals zu entfernen und zu einer von tiefer Konzentration geprägten Hörhaltung (bzw. die Interpreten zu einer entsprechenden Aufführungshaltung) zu animieren, ist erneut der überaus vielfältige Bereich der neueren Vokalmusik zu nennen. So stark in den 1950er und 1960er Jahren in Europa der Impuls war, nach Möglichkeiten von Vokalmusik jenseits der europäischen Tradition einer Textvertonung zu suchen, so unterschiedlich waren doch die Ansätze, auch jene, die sich weit in das Feld des Nicht-Semantischen begaben. Ein besonders signifikantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Sammlung Canti del Capricorno (Gesänge des Steinbocks, 1962–72) für Frauenstimme von Giacinto Scelsi. Dieses Werk steht in exemplarischer Weise für den Versuch, die Dispositive der Vokalmusik – auch jene der Neuen Musik – zu weiten und im Rekurs auf Praktiken nicht-europäischer Musik und ihrer rituellen Praktiken neue Gestaltungsräume zu erschließen (Hiekel 2013). Scelsi, der in Mitteleuropa in den 1980er Jahren wohl gerade dank dieser Orientierung in emphatischer Weise als Alternative zur europäischen Avantgardemusik entdeckt wurde, zog aus der Beschäftigung mit nicht-europäischem Denken eine wesentliche Konsequenz für sein eigenes Komponieren: Er suchte seine eigenen Improvisationen am Klavier und an der Ondiola möglichst ungefiltert, d. h. in rein intuitiver Weise zur Entfaltung zu bringen. Und so besteht ein erheblicher Teil seiner Werke aus Transkriptionen und Instrumentationen seiner zuvor auf Tonband aufgenommenen Improvisationen. Zum Gesamtbild eines stark von östlichem Denken geprägten Komponisten gehört es, dass Scelsi bereits 1953 in seiner Komposition Quattro Illustrazioni für Klavier vier »Erleuchtungen« über verschiedene Gestalten Vishnus komponierte und darauf hinwies, dass für ihn Musik vor allem »Projektion von Bewusstseinsbildern und -zuständen ist« (Scelsi 1983, 3). Und zu alledem passt es, dass sich Scelsi mit großem Nachdruck nicht als Komponist, sondern als Vermittler einer spirituellen Botschaft verstand und damit – ähnlich wie dies auch für Ustwolskaja gelten kann  – wesentliche Maximen abendländischen Komponierens bewusst unterlief. Man könnte durchaus behaupten, dass in der Figur Scelsi und in seinem kompositorischen Ansatz ein erhebliches Maß an Selbststilisierung zu finden ist. Denn die Rolle des »Nonkonformisten« (Zeller 1983, 66), dessen Ästhetik etwas ausprägt, das gleichsam 129 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 nicht von dieser Welt – oder zumindest nicht europäisch geprägt  – ist, war in jenen Jahren wohl etwas durchaus Modisches. Andererseits sollte man nicht vergessen, dass die kompositorischen Resultate eine spezifische Intensität besitzen und vielleicht auch jenseits interkultureller »Korrektheit« Bestand haben. Für die Canti del Capricorno gilt dies ganz besonders: Sie können als Zwitterwesen zwischen östlichem Denken und westlicher Musiktradition bezeichnet werden und besitzten insofern – mehr als die orchestralen Werke des Komponisten – eine eigentümlich hybride Identität. Denn einerseits sind sie stark von der Aura einer rituellen Aktivität geprägt, bei der freilich eine genaue Lokalisierung – oder die Distinktion auf einen bestimmten Anlass hin – im Dunkeln bleibt. Und andererseits berühren sich die Techniken dieser Stücke durchaus an einigen Punkten mit jenen der avancierten Vokalmusik der 1950er Jahre (Ä Stimme / Vokalmusik, 4.). Wie diese weist sie eine sehr große Differenzierungsvielfalt auf: es gibt sehr raue, fast abweisende Gesänge, es gibt werbendevokative Gesänge, manche steigern gar bis zu einem fast ekstatischen Ausdruck. Der entscheidende Unterschied liegt in dem improvisatorischen Gestus, der Scelsis Musik eigen ist. »Konzentriere dich nicht darauf, was in den Noten steht. Mach ’ s, wie du es fühlst« (Hirayama / Polzer 2005, 239) hat der Komponist der Sängerin Michiko Hirayama ausdrücklich empfohlen, der bislang nahezu einzigen Interpretin dieses Stückes. Der Ausdruck der Canti hat dabei fast durchgehend etwas Beschwörendes. Das Hinzuziehen von Schlaginstrumenten bei einzelnen Liedern bekräftigt diese Tendenz. Die Komposition als Ganze wirkt gleichzeitig archaisch und verstörend neuartig. Bei alledem ist das Werk jenen Ansätzen der abendländischen Musik nicht unverwandt, die Rituale aus religiösen Zusammenhängen – bis hin zu besonders gängigen wie etwa Messe oder Requiem – in Konzertsituationen zu transformieren suchen. Welcher Art die Rituale bei dem in Rede stehenden Stück sein könnten und was sich hinter dem geheimnisvollen Steinbock verbindet, muss – zumindest einstweilen – allerdings offen bleiben. Und man kann wohl annehmen, dass diese Offenheit auch bewusst intendiert ist, dass es also Scelsi explizit darauf ankam, das – recht diffuse, aber dadurch nicht unbedingt falsche – Bild einer nicht europäischen Ritual-Situation in ein allgemeines, auch europäischen Hörern verständliches Gepräge zu transformieren. Solche Stilisierungen sind bei Musik mit interkulturellen Perspektiven durchaus geläufig. Dass für Entfaltung spiritueller Akzente in der Neuen Musik interkulturelle Perspektiven wichtig geworden sind, zeichnet sich bei sehr unterschiedlichen Komponisten der letzten Jahrzehnte ab. Beispielhaft erwähnt sei hier Toshio Hosokawa, der heute international als einer der bekanntesten Komponisten ostasiatischer Provenienz gilt und für dessen Ästhetik ein buddhistisch geprägter Erfahrungshorizont von besonderer Wichtigkeit ist. Hosokawa schuf eine Reihe von Werken, die  – wie der Komponist selbst immer wieder betont hat  – nicht ausschließlich mit den Kriterien gängiger (abendländischer) Musikgeschichtsschreibung zu fassen sind. Namentlich die japanische Kyoto-Schule hat den Komponisten ausdrücklich in seiner Musikanschauung geprägt. Entscheidende Referenzpunkte zu ostasiatischen Denktraditionen liegen dabei wohl einerseits in der Grundstimmung des Staunens als Element buddhistischer Zeitauffassung (Elberfeld 2004) und andererseits im dem schon von Tōru Takemitsu in den Vordergrund gerückten Konzept eines unbegrenzten, ziellosen »Klangstroms« (oto no kawa) (Takemitsu 1971/95, 79; Ä Zeit 2.3). Der zuerst genannte Aspekt gilt im Falle Hosokawas für fast alle Bereiche seines Schaffens. Doch andererseits fächert sich dieses in unterschiedliche Werkkonzepte auf: Auf der einen Seite stehen oratorische Werke, die in ihrem Duktus an die europäische Tradition denken lassen und dabei in engagierter Weise Themen wie die Naturzerstörung bzw. den Abwurf der Atombombe zum Thema haben. Auf der anderen Seite gibt es auch einzelne stark an die japanische Hofmusik-Tradition angelehnte Werke, in denen die Nähe zur authentischen buddhistischen Tradition bemerkenswert eng ist und die rituelle Dimension um so klarer hervortritt. Doch auch jener weite Bereich von Werken Hosokawas, die weder oratorisch ausgerichtet sind noch sich im Kraftfeld eines buddhistischen Rituals bewegen, ist weithin durchdrungen von spirituellen Dimensionen und verschiedenen Anknüpfungen an ostasiatisches Denken. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, selbst in einem als Klavierkonzert angelegten Werk (Ans Meer, 1999) die Grundidee, den Prozess der Erleuchtung zu vergegenwärtigen. Durch die eben benannte Konvergenz zwischen der spezifischen Intensität einer Kunstausübung und dem Buddhismus wird das immer noch wachsende Interesse unterschiedlichster Komponistinnen und Komponisten aller Generationen für dieses Denken verstehbar. Auch Teile des kompositorischen Schaffens von Younghi PaghPaan sind an dieser Stelle zu nennen – wobei es auch für die spirituellen Dimensionen der Komponistin kennzeichnend ist, dass diese außer Momenten der Kontemplation auch vielfach Entfaltungen der Trauer aufweisen (Schalz 2012)  – die Weltbezüge sind dabei insgesamt deutlicher als bei den zuvor genannten ostasiatischen Komponisten. Auch unabhängig von den zuletzt genannten Referenzpunkten lässt sich konstatieren, dass zu den wesent- 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 lichen Tendenzen der Neuen Musik ein tiefes Bewusstsein für deren rituelle Dimension gehört. Dies geht oft mit einer antidramatischen oder nicht-teleologischen Ausrichtung einher, die zuweilen unter dem Aspekt der »Zuständlichkeit« gefasst wird, mit dem Heraustreten aus dem üblichen Zeitfluss – und dies in verschiedensten Varianten – beschrieben werden kann (Ä Zeit). Es liegt nun aber nahe, den Begriff des Rituals bewusst weit zu fassen und mit Schnebel zu diagnostizieren, dass im 20. Jh. »das Ritual wachsende inhaltliche und formale Bedeutung« gewann (Schnebel 1999). Und entsprechend dem schon Angedeuteten kann in diesem Zusammenhang das von geistlichen Dimensionen bestimmte Rituelle als Gegentendenz zu den Usancen des bürgerlichen Musiklebens und seiner von dessen »Warencharakter« (Metzger 1999) bestimmten Konzertrituale gedeutet werden. Doch darüber hinaus ist es plausibel, so unterschiedliche Ansätze wie die von Igor Strawinsky, Erik Satie oder die Konzepte der Minimal Music, aber auch die diversen Konzepte von Körpermusik (Ä Körper) mit Blick auf ihre jeweilige rituelle Dimension zu beschreiben (Schnebel 1999) und dabei gewisse Bezüge zu religiösen Praktiken selbst dort zu identifizieren, wo sie weniger klar auf der Hand liegen als bei Stücken mit bestimmten Paratexten oder Werktiteln. An diesem Punkte gelangt man auch fast zwangsläufig zu Cage und zu möglichen Deutungen seiner Ästhetik, einschließlich der Frage, inwieweit deren Abweichungen von den Usancen des Konzertrituals vor dem Hintergrund von spirituellen Erfahrungen gesehen werden können oder sogar müssen. »Tatsächlich sind viele seiner Werke sicher unter dem Einfluß östlichen bzw. zenbuddhistischen Denkens gewissermaßen religiöse Rituale  – Heiligungen des Alltags«, schrieb Schnebel zu diesem Aspekt (ebd., 12) und bezeichnete die berühmte Komposition 4'33" als »quasi buddhistisches Schweigestück« (ebd.). Mit Blick auf Cage sollte man nicht übersehen, wie prägend für ihn neben dem Huayan-Buddhismus, der seine spezifische, von europäischem Denken stark abweichende Auffassung von Zeit prägte, auch die spezifisch amerikanische Tradition des (auch schon für das Denken von Charles Ives außerordentlich wichtigen) Transzendentalismus gewesen ist. Dieser ist in besonders nachhaltiger Weise eklektizistisch angelegt. Das hat die Möglichkeit einer Verknüpfung unterschiedlichster geistiger Traditionen, einschließlich buddhistischen Gedankenguts gewiss begünstigt (Rathert 2003; Ä Themen-Beitrag 2, 5., 12.)  – aber zugleich auch dazu beigetragen, dass Cage seinerseits einen tiefen Einfluss auf verschiedene ostasiatische Komponisten (wie etwa den Japaner Jō Kondō) ausüben konnte. 130 8. Reduktionen Es markiert im Reden über spirituelle Potenziale von Musik, und nicht zuletzt jene der Neuen Musik, eine längst geläufige Einsicht, dass es zu ihrer Entfaltung nicht unbedingt der vertonten Texte bedarf. Das Wesentliche ist zweifellos die Musik selbst. Von einer solchen Einsicht aus lässt sich eine Verbindung zu jenen Diskussionen des 19. Jh.s über das Wesen der Instrumentalmusik herstellen, in denen diese als das eigentliche ästhetische Ideal angesehen wurde. Im Gegensatz dazu wurde an der Vokalmusik, besonders der religiösen, kritisiert, dass sie Halt an Texten suche. In avancierter Vokalmusik des 20. und 21. Jh.s wird, wie es scheint, an diese Kritik oft implizit angeknüpft, indem dieser Halt aufgelöst wird oder zumindest nicht unreflektiert bleibt. Ein besonders eindringliches Beispiel dafür, dass daraus nicht zwingend der völlige Verzicht auf Textbezüge resultieren muss, ist das im Jahr 2004 uraufgeführte Musiktheaterwerk … 22,13 … (1999–2004) von Mark Andre, das sich explizit auf die Offenbarung des Johannes bezieht – und diese Texte meist in geflüsterter Form präsentiert. Der »Ich bin das A und das O« lautende 13. Vers aus dem 22. Kapitel der Offenbarung des Johannes, auf den auch der enigmatische Titel der Oper verweist, ist der entscheidende Bezugspunkt. Zugleich gibt es andere semantische Ebenen, etwa Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel und weitere Bibeltexte (auf Andre wird noch zurückzukommen sein). Bereits im Laufe der 1960er und 70er Jahre, als das Thema Spiritualität erheblich an Relevanz gewann, verbreitete sich ein Bewusstsein für die spezifische Kraft von Musik, die der Deutlichkeit einer wortgebundenen Verkündigung bewusst enträt. Die mit dieser Tendenz einhergehende Entdeckung spiritueller Potenziale in östlichen Religionen, insbesondere im Zen-Buddhismus, und die Entwicklungen im Rahmen der »neureligiösen Szene«  – Stichworte der oft kontroversen Diskussionen sind »New Age«, »unsichtbare Religion« oder »Esoterik« – finden seit dieser Zeit vermehrt auch im Bereich der anspruchsvollen Kunstmusik ihren Niederschlag, denken wir etwa an das Schaffen von Stockhausen in seiner »intuitiven« Phase. Es war jene Phase seines Schaffens, in der er die ethische Dimension seines Schaffens besonders deutlich hervorkehrte, dies im expliziten Rekurs auf Praktiken indischer Musik (Stockhausen 1974/78, 140; Lehnert 2008, 209). In philosophischen und religionswissenschaftlichen Zusammenhängen wird vielfach darauf hingewiesen, dass die Besetzung des Themas durch die Diskussionen um die »neureligiöse Szene« eine erhebliche Verengung der Frage der Spiritualität bedeutet, die der ernsthaften Auseinandersetzung mit ihr schaden kann (Baier 2006). Für den 131 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 Musikbereich gilt gewiss dasselbe. Diese Einsicht führt zu der Notwendigkeit, Spiritualität auch dort zu entdecken, wo sie zu einer ernsthaften geistigen Auseinandersetzung aufruft – und ggf. auch nennenswerte künstlerische Qualitäten aufweist. Eine der Fragen, die sich daran anschließen, richtet sich auf den Zuschnitt der reduktiven Momente in Musik: Wo beginnt Musik, die ihre spirituelle Seite jenseits der lärmenden Welt sucht, vielleicht sogar in einer Art Klang-Oase, auftrumpfend simpel zu werden? Und inwieweit können wir von Musik verlangen, dass sie, indem sie auf eine starke sinnlich-körperliche Erfahrung zielt, zugleich auch den Geist, auch das Denken anspricht – ohne also dem ähnlich zu werden, was Hegel einst als »warme Nebelerfüllung« (Lasson 1930, 74) verspottete? Wir sind damit inmitten der Diskussion über die Kriterien einer Musik, die gleichsam aus sich selbst heraus spirituelle Dimensionen aufweist und zu Meditation aufruft. Nicht selten wird dies heute mit einem reduktionistischen Ansatz gleichgesetzt. Dieser Ansatz meint nicht zuletzt das Ziel, in konzentrierter, elementarer Weise dem »Klang an sich« zu lauschen, als eine »wichtige, in einem speziellen Sinne auch experimentelle Erfahrungen vermittelnde Möglichkeit der Musik, die man durchaus nicht ohne Interesse, innere Hingabe und auch Übung erlangt« (Stiebler 2008, 169, 175). Es geht dabei um eine Musik jenseits »der Esoterik säuselnder Klangschalen« (ebd.). Hier kristallisiert sich, wesentlich angeregt von Cage, aber gleichfalls von Morton Feldman oder La Monte Young, eine spirituelle Musik heraus, die sich im intensiven Zusammenspiel von Klängen und Momenten der Stille artikuliert. Durch einzelne Publikationen und Diskussionen der letzten Jahre ist immer stärker ins Blickfeld gerückt, wie sehr verschiedene Komponisten der europäischen und amerikanischen Avantgarde in ihren kompositorischen Ansätzen von Impulsen geprägt wurden, die weithin außerhalb des Horizonts der christlichen Religionen liegen oder diesen Horizont zumindest übersteigen. Auch das Reden über Stockhausen hat sich, wie eingangs angedeutet, in diesem Zusammenhang in der letzten Zeit etwas gewandelt und verfeinert. Es ist heute evidenter als früher, wie wichtig für den Komponisten auch schon in der Aufbruchsphase der Neuen Musik Anfang der 1950er Jahre religiöse Dimensionen gewesen sind. Doch diese Perspektive lässt sich erheblich erweitern  – etwa mit Blick auf die Einsicht, dass der Verzicht auf traditionellen Ausdruck in der Nachkriegsavantgarde mit dem Versuch einherging, durch musikalische Ordnungen mit strenger Logik eine »sinnliche Erfahrung des Transzendenten« (La Motte-Haber 2003) zu gestalten. Zu dieser Erfahrung kann insbesondere auch eine bewusst komponierte Distanz gegenüber den Ritualen der gewöhnlichen Konzertdarbietung gehören. Zender hat Teile der Musik Weberns und deren Abweichen von den tradierten Formen der musikalischen Kommunikation als »reine Introversion« gedeutet – und sah darin ein Kriterium für »geistliche Musik«, die eigentlich untauglich sei für die üblichen öffentlichen Konzerte (Zender 1990/2004, 169). Er verwies in seinem wichtigen Beitrag Spirituelle Musik  – was ist das? (2014) auf Momente der Reduktion, nicht zuletzt auf jene in der Malerei von Barnett Newman. Und er hat sich dabei ebenfalls von allen modisch-esoterischen Tendenzen abzugrenzen versucht. »Spirituelle Kunst«, heißt es in diesem Zusammenhang, habe, »stets den Charakter eines Vexierbildes, auf der einen Seite vertieft sie sich in den Zustand kontemplativer Ruhe und Unbewegtheit und strebt nach Entleerung des Geistes von aller vorgegebenen Symbolik  – auf der anderen Seite erzeugt gerade das Erlebnis der Leere einen schöpferischen Schub, der wiederum neue Bilder erzeugt oder alte neu deutet« (Zender 2014, 51). Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang allerdings auch, dass Zender die historische Verwurzelung solcher Kunst nicht bloß (wie dies zuweilen geschieht) im ostasiatischen Raum angesetzt hat – für ihn ist Spiritualität in der Musik durchaus auch dort zu verorten, aber überdies als ein »Erbstück der mystischen Tradition Europas« zu kennzeichnen (ebd., 53). 9. Präsenz und Zweifel Wilson hat in dem schon erwähnten Beitrag Sakrale Sehnsüchte auf einen »unstillbaren ontologischen Durst« (2003, 323) verwiesen, der – so seine These – nicht allein in der neureligiösen Szene zum Vorschein komme, sondern auch im Kontext der Neuen Musik. In den 1980er Jahren habe sich ein Kult um Komponisten wie Scelsi, Feldman und Luigi Nono entwickelt, der deutlich über die Intentionen dieser Komponisten hinaus als eine von ideologischer Tendenz getragene »Artikulation holistischer New-Age-Bedürfnisse« (ebd., 333) zu verstehen sei. Sie bediene sich bequem bei den Momenten der Einfachheit ihrer Werke, um eben »sakrale Sehnsüchte« zu befriedigen und einer »neuen Innerlichkeit« zu huldigen. Was Wilson in seiner viel beachteten Polemik anspricht, die sich kritisch vor allem auf Feldman-Deutungen u. a. durch Heinz-Klaus Metzger einlässt (ebd., 335 f.) und eine »metaphysische Aufladung [von Feldmans Musik] durch ihre Apologeten« (ebd.) feststellt, sollte bei allen Erörterungen von spirituellen oder geistlichen Momenten in Musikwerken in jedem Einzelfall mit bedacht werden. Es geht dabei nicht zuletzt um die Frage, ob die »religiöse Disponibilität« (Gottwald 2003, 17) von Musik bloß die Folie für 8. Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945 Spekulationen und für eher persönliche Projektionen ist, jenen Tendenzen entsprechend, die auch in der Gegenwartsphilosophie schon zum Thema wurden (vgl. Sloterdijk 2009, 12 – wo von »mißverstandene[n] spirituelle[n] Übungssysteme[n]« die Rede ist), oder ob sie tatsächlich auf das Wesen der Werke verweist und mit künstlerischer Substanz zu tun hat. Grundsätzlich mag ja auch die Haltung plausibel sein, dass Musik sich selbst dann als Gegenstand der Erfahrung von Spiritualität oder Metaphysik eignet, wenn dies nicht durch den Kontext, in dem sie entstand, ausdrücklich unterstrichen oder von den Komponisten ausdrücklich intendiert ist. Dies verweist auf den Unfassbarkeitstopos – und letztlich natürlich auch auf die Kategorie des Erhabenen. Vielleicht ist heute, nach der Jahrtausendwende, die Zeit günstig für eine wirklich substanzielle und zugleich gelassene Beantwortung solcher Fragen  – ohne dass die spirituelle Dimension selbst schon für eine sensationelle Entdeckung gehalten wird und daher zu Verklärungen verführt oder zu polemischer Ablehnung reizt. Dabei können und sollten wir heute auch eine unpolemische Auseinandersetzung mit der Sehnsuchtshaltung jener Künstler führen, die in bestimmten Elementen »östlichen« Denkens einen antirationalen und spirituellen Gegenentwurf zum »westlichen« Denken sehen. Und dabei darf zudem die Frage gestellt werden, bis zu welchem Grade interkulturelle Konzepte und die mit diesen verbundenen spirituellen Tönungen modischen Simplifizierungen unterliegen, wie man sie in postkolonialen Zeiten eigentlich überwunden haben sollte. Denn es dürfte stimmen, dass »die Sehnsucht nach einer authentischen östlichen Spiritualität, die frei vom ideologischen ›Ballast‹ westlicher politischer und religiöser Institutionen wäre, […] mit jahrhundertealten kolonialistischen Konstruktionen des ›Orients‹« konvergiert (Lehnert 2008, 194). Wie, so ist jeweils von Neuem zu bedenken, sehen religiös fundierte interkulturelle Werke aus, die tatsächlich entschieden mehr sind als eine oberflächliche Berührung von Elementen einer Kultur mit denen einer anderen? Wie können Musikwerke einen echten Dialog auch der spirituellen Dimensionen von Kulturen inaugurieren? Dies in substanzieller Weise zu leisten, würde mit der Tatsache konvergieren, dass es in der letzten Zeit auch in anderen Bereichen ein neues Stadium der Verknüpfung von Christentum und Buddhismus gibt, bis hin zu christlichen Einrichtungen, in denen Zen-Meditation angeboten wird (Brück 2004, 122; Brück / Whalen 1997). In Zeiten, in denen eine erkennbar gewachsene Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungsmöglichkeiten einer entschiedenen Ablehnung alles Religiösen und Spirituellen gegenübersteht, stellt man sich immer wieder die 132 Frage, wie Musik, die keine der beiden Seiten einfach bedienen möchte, aussehen kann. Zu den viel beachteten künstlerischen Antworten auf diese Frage zählt Mark Andres Musiktheaterwerk wunderzaichen (2014)  – eine Komposition, die erstens im Rekurs auf das Leben und Denken des bedeutenden Humanisten Johannes Reuchlin eine religiöse Thematik besitzt, zweitens eine stark auratische Seite mit Anspielungen auf die Lebenswelt von Jesus Christus, drittens aber einen Grundgestus, der sich von einfachen Überredungsstrategien oder gar religiösem Eifer fernhält und sich auf die Bewusstmachung dessen richtet, was jenseits des Eingängigen liegt. Aus alledem spricht das Bewusstsein dafür, dass Hören etwas Existenzielles ist, aber zugleich wohl auch die Einsicht, dass Glauben etwas Instabiles ist. Auf beiden so eng miteinander verwobenen Ebenen ist dieses Werk charakterisierbar als eine Art permanente Suchbewegung. Es öffnet dabei aber auch, das ist entscheidend, andere Räume des Erlebens  – Räume, die man als »metaphysisch« zu bezeichnen geneigt ist, obschon – oder weil – sich wunderzaichen überwiegend weit jenseits gewohnter Prägungen religiöser Musik hält (Hiekel 2015). Im allgemeinen Bewusstsein in heutiger Zeit ist spirituelle Musik wohl gerade das, was nicht nur auf funktionale Bindungen, sondern auch auf eine ausdrückliche Nähe zu einer bestimmten Religion und ihren Ritualen verzichtet. Vielleicht ist das Spirituelle mancher Musik gerade in dieser überkonfessionellen Perspektive in heutigen Zeiten, die stark von religiös grundierten Auseinandersetzungen mit oft sogar weltpolitischem Gewicht geprägt sind, von besonderem Wert. Und sei es bloß in jenem Sinne, den Friedrich Schiller im Jahr 1804 gegenüber dem Komponisten Friedrich Zelter hervorhob: »Daß es heute hohe Zeit ist, etwas für die Kunst zu tun, fühlen wenige, aber daß es mit der Religion so nicht bleiben kann, wie es ist, läßt sich allen begreiflich machen. Und da man sich schämt, selbst Religion zu haben und für aufgeklärt passieren will, so muß man sehr froh sein, der Religion von der Kunst aus zu Hülfe kommen zu können« (Brief Friedrich Schillers an Friedrich Zelter vom 16. 7. 1804, Schiller 1892–96, Bd. 32, 165 f.). Ä Themen-Beiträge 2, 3, 4, 9; Komplexität / Einfachheit; Minimalismus / Minimal Music; Musikästhetik; Neue Musik; Stimme / Vokalmusik; Zeit Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1970 „ Baier, Karl: Spiritualitätsforschung heute, in: Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen, interreligiöse Prozesse, hrsg. v. 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Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, 166– 176 „ ders.: Spirituelle Musik. Was ist das?, in: Waches Hören. Texte zur Musik, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel München 2014, 74– 92 „ Zimmermann, Bernd Alois: Sechs Jahrhunderte Ars Nova. Über die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der »bösen neuen« und der »guten alten« Musik. Ein Streitgespräch unter Musikstudenten über ein gestern wie heute aktuelles Thema abendländischer Musik, in: MusikTexte 24 (1988), 19–27 Jörn Peter Hiekel 135 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 Inhalt: 1. Musikhistorische Verflechtungen „ 1.1 Neue Musik im globalen Kontext  „ 1.2 Blinde Flecken des Transkulturalitätskonzepts  „ 1.3 Konstruktionen musikalischer Identität  „ 1.4 Methodologische Konsequenzen  „ 2. Potenziale der westlichen Moderne „ 3. Globale Verflechtungen im Zeitalter des Kalten Krieges und danach: Fallbeispiel Ostasien  „ 3.1 Japan  „ 3.2 Korea  „ 3.3 China  „ 4. Situation und Ausblick: neue Musik als contact zone 1. Musikhistorische Verflechtungen 1.1 Neue Musik im globalen Kontext Keine Eigenschaft der neuen Musik scheint heute so selbstverständlich wie ihre Internationalität und »Globalität«. Dabei ist sicher jene oft beklagte Tendenz, dass auf internationalen Festivals und Zusammenkünften sich ein »Allerweltsidiom« der neuen Musik etabliert habe, also eine gewisse Standardisierung und Normierung zu erkennen sei, das am wenigsten verblüffende. Diese Tendenz hängt nicht zuletzt mit der verbreiteten »Akademisierung« der Kompositionsausbildung zusammen und dem fortbestehenden Ausbildungsmonopol europäischer und nordamerikanischer Bildungseinrichtungen. In dieselbe Richtung hin wirkt die diskursbestimmende Prägung durch westliche kulturelle Ä Zentren, die weiterhin für Komponierende aus allen Teilen der Welt einen höchst attraktiven Anziehungspunkt darstellen. Zum anderen aber hat die Orientierung an der Idee des Musikalisch-Neuen ebenso wie an anderen Formen gesellschaftlichen Wandels historisch ihre Wurzeln in Bestrebungen der postkolonialen Welt, jene Mischung aus Traditionalismus, Autoritarismus und Nepotismus zu überwinden, die von vielen Reformern als Hindernis für eine Selbstbestimmung der ehemals kolonialisierten Nationen gesehen wurde (Mishra 2012/14). Eine Auseinandersetzung mit den »fortschrittlichsten« Tendenzen des Westens in diesen Gesellschaften musste, so betrachtet, auch in der Musik keineswegs immer Anzeichen einer unkritischen Übernahme von Mechanismen kolonialer Herrschaftsstruktur sein, sondern war oft genug Aus- druck einer rigorosen Kritik an jenen Kräften, die vor Ort Identitätsdiskurse zur Festigung etablierter Machtstrukturen missbrauchten. In den Abstoßungsbewegungen und im Impuls zu Befreiung und Emanzipation der Avantgarde war also für viele Künstler außerhalb des Westens ein Versprechen enthalten, eine Hoffnung auf die Überwindung verkrusteter Strukturen. Deutlich ist freilich, dass bei aller Internationalisierung und Standardisierung eine schlichte »Verpflanzung« kompositorischer Konzepte oder Diskurse nicht gelingen konnte und wohl kaum je in rigoroser Form angestrebt wurde. Gewiss forderten manche Reformer in China und anderen mit der westlichen Übermacht ringenden Nationen bisweilen eine »totale Verwestlichung«, um der Persistenz modernefeindlicher Traditionen im eigenen Land entgegenzuwirken (in China wurde diese Position etwa ab 1933 durch den in den USA ausgebildeten Soziologen Chen Xujing vertreten, vgl. Geist 1996, 14). Dennoch ist in der Rückschau längst die Erkenntnis gewachsen, dass die Eigendynamik, mit der Modernisierungsprozesse und lokale bzw. nationale Voraussetzungen interagierten, es notwendig erscheinen lässt, »alternative« (Gaonkar 2001) oder »multiple Modernen« (Eisenstadt 2000; Conrad / Eckert 2007) zu differenzieren, wenn nicht überhaupt das Konzept der »Moderne« als Epochenbegriff angezweifelt wird (Osterhammel 2009, 88 f.; diskutiert in Janz 2014, 53–58). Festgehalten werden kann jedenfalls, dass es, nicht zuletzt auch als Folge von Exil und ausgreifenden Migrationsbewegungen zu einer engen Verflechtung lokaler und globaler Tendenzen auch in der neuen Musik kam. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass bis heute lokale und nationale Politik und gesellschaftliche Bedingungen wesentlich die vor Ort entstehende aktuelle Musik prägen. Es genügt, sich zu vergegenwärtigen unter welchen divergierenden Bedingungen heutige Kunstmusik etwa – um bewusst sehr unterschiedliche Länder zu nennen – in Deutschland, den USA, Brasilien, Korea oder Indonesien gedacht, gespielt und aufgefasst wird (Ä Nordamerika, Ä Lateinamerika, Ä Korea, Ä Südostasien). Aber schon die »kulturellen« Voraussetzungen etwa in Frankreich einerseits und den deutschsprachigen Ländern andererseits scheinen bis in die Gegenwart manchmal bis an die Grenze des Unverständnisses auseinander zu klaffen, allen Bestrebungen der im politischen Diskurs so präsenten europäischen »Integration« zum Trotz. Der kulturelle Essenzialismus, Erbe des ideologischen, politisch-militärischen Nationalismus des 19. Jh.s, gehört auch in Europa keineswegs der Vergangenheit an. J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_9, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 1.2 Blinde Flecken des Transkulturalitätskonzepts Eine Kritik des Kulturessenzialismus ist angesichts des eben Ausgeführten Grundvoraussetzung einer globalen Betrachtung der jüngeren Musikgeschichte, ebenso freilich wie die Erkenntnis seiner unter Umständen produktiven und emanzipatorischen Funktion jenseits eines aggressiven Nationalismus. Zunächst ist gegenüber den im heutigen Diskurs häufig antipodisch gebrauchten Begriffen von »Kultur«, »Religion« oder »Zivilisation« auf der inneren Komplexität und Pluralität dieser Begriffe zu bestehen. Dies wird üblicherweise durch das Aufzeigen der Geschichtlichkeit und der Konstruiertheit von Kulturen erläutert. So haben sozial- und kulturwissenschaftliche Konstruktivismustheorien bereits seit mehreren Jahrzehnten wesentliche Angelpunkte von »Kulturen« als »erfundene Traditionen« (Hobsbawm 1983) offengelegt und ein »selektives und bewusstes Verfügen über Vergangenheit« als Basis kultureller Gedächtniskonstitution festgestellt (Assmann 1992/2005, 123). Seit langem wird, vor allem im Kontext einer Grundsatzkritik des Multikulturalismuskonzepts, eine »Kontextualisierung und Historisierung der Sinnmuster« gefordert, auf denen Kulturbegriffe basieren (Reckwitz 2000, 534). In Wolfgang Welschs Neuformulierung des Begriffs »Transkulturalität« hatten solche Theorien schon in den frühen 1990er Jahren eine scheinbar gültige Formel gefunden, mit der die hybride, permeable Verfassung heutiger Kulturen und damit zugleich die interne Transkulturalität ihrer Individuen gefasst werden sollte (Welsch 1992, 1994). Welschs Kritik an der Tendenz zu einem »kulturellen Rassismus«, wie er aus Multi- und Interkulturalitätstheorien resultiere (Welsch 1994 mit Bezug auf Lévi-Strauss 1952/2002), entspricht eine nachhaltige Abwehrhaltung vieler Künstler gegenüber kulturalistischen »Verortungen«, wie sie etwa in den Tübinger Poetik-Vorlesungen 2007/2008 von Feridun Zaimoğlu und Ilija Trojanow dokumentiert ist (Zaimoğlu / Trojanow 2008). Allerdings greift dieses vermeintliche »Überwinden« eines »kugelförmigen« Kulturbegriffs, den Welsch einseitig Herders Kulturtheorie zuschreibt (Welsch 1994; vgl. Löchte 2005, 128–139), zu kurz: Die fortschreitende kulturelle Fragmentierung, von der Welschs Theorie ausgeht, und wie sie in anderer Weise in Arjun Appadurais Konzept der »grassroots globalization« (Appadurai 2001, 3) oder in Stephen Vertovecs Begriff »Super-Diversität« (2007) gefasst ist, ist zwar eine gesellschaftliche Realität, sie muss aber keineswegs immer »transkulturelle« Überwindungen kulturalistischen Denkens implizieren – im Gegenteil: Sie führt vielerorts zum Wunsch nach Re-Territorialisierung und (Re-)Ethnisierung von Identität bis hin zu einer »Ausbreitung und Konkretion von Grenzziehungen«, seien sie 136 geographischer oder geistiger Natur (Dirlik 2010). Der akademische Wunsch, den Kulturbegriff zu verabschieden (vgl. auch Han 2005), erweist sich als idealisierendes Konstrukt: Das Fortwirken kultureller Signifikation selbst in den scheinbar »hybridesten« Kontexten kann kaum bestritten werden. Hierzu ein knapp skizziertes Beispiel aus der aktuellen Kunstmusik: Wenn Unsuk Chins Konzert Šu für die chinesische Mundorgel sheng und Orchester (2009) als »blending of highly localized aesthetics and broad transcultural possibilities« (Lee 2013) gepriesen wird, so wird übersehen, dass der vom in Berlin lebenden chinesischen Sheng-Solisten Wu Wei gespielte Solopart dieses Werkes kaum mehr ist als eine zeitgemäß inszenierte Variante jenes Konservatoriumsstils, der im China der 1930er Jahre von westlich orientierten Reformern als neues »nationales« Idiom »erfunden« wurde, orientiert am europäischen Virtuosenstil des 19. Jh.s (Utz 2014, 124 f.). Die chinesische Mundorgel, die in ihren Konventionen von der Komponistin kaum in Frage gestellte Ä Gattung des Solokonzertes, die Kombination von asiatischem Soloinstrument und europäischem Orchester sowie die medial wirksame multikulturelle Besetzung der Ausführenden sind hier also ganz gewiss keine »defaktisierten« Objekte (Han 2005, 13), sondern quellen geradezu über vor kulturell kodierten Signifikanten. Auch die Komponistin übersieht diese Dimensionen ganz gezielt, indem sie erklärt: »neither the tradition of Chinese music nor the history of the sheng was important to me«, und daneben unhinterfragt an der Notwendigkeit eines entsprechend versierten Interpreten festhält, der die Ideen der Komponistin umsetzen könne (Seo 2014, 115). 1.3 Konstruktionen musikalischer Identität Es stellt sich demnach die Frage, wie Musikwissenschaft, -analyse und -historiographie mit konstruierten »Identitäten« umgehen sollen, wie sie in musikalischen Werken, in deren Konzeption, Aufführung und Rezeption, verhandelt werden. Zweifellos finden sich zahlreiche »strategische Erfindungen« von Identität nicht nur in der Pop-Musik, wo die marktorientierte Konstruktion von images systemimmanent ist, sondern auch (und in den Grundzügen seit jeher) in der Kunstmusik. Frederick Lau ging so weit, die musikalische Konstruktion von Chineseness bei chinesischen Komponisten der New-Wave-Generation in den USA seit den späten 1980er Jahren wie Tan Dun (*1957), Chen Yi (*1953), Zhou Long (*1953) oder Bright Sheng (*1955) als Symptom eines der Popindustrie analogen »Superstar-Syndroms« zu fassen  – Identitätskonstruktion als Karrierestrategie (Lau 2004, 332 f.; Ä China / Taiwan / Hong Kong, 1.2). Ohne Zweifel dokumentiert sich in 137 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 solchen strategischen Verhaltensweisen ein beträchtlicher sozialer und ökonomischer Druck von Seiten eines ständig wachsenden und internationalisierten Marktes, auch im vermeintlich marginalen Bereich neuer Kunstmusik (Sandeep Bhagwati ironisiert solche Strategien in unterhaltsamer Weise in einer kurzen »Parabel«, in der sichtbar wird, dass die akademische Ausbildung dazu unter Umständen in nicht unwesentlicher Weise beiträgt, 2013b, 13 f.). Die Banalisierung solcher Identitätskonstrukte in Texten von Musikjournalisten und Konzertdramaturgen repetiert, etwa im Falle deutschsprachiger Darstellungen der Musik Toshio Hosokawas, die so verfestigten kulturalistischen Stereotypen mit einer gewissen Hilflosigkeit. Manche Forscher haben als Konsequenz aus dieser Situation eine radikale »Ent-Ethnisierung« der Diskussion gefordert (Mittler 2012). Nach dieser Auffassung sollten etwa chinesische Komponisten ausschließlich als chinesische Komponisten, d. h. auf Grundlage ihrer künstlerischen Konzepte und ihrer Werke diskutiert und beurteilt werden, und nicht aufgrund ihrer ethnischen Herkunft. So sinnfällig diese Forderung erscheinen mag, so ist es doch kurzsichtig, die Identitätsdiskussion einfach über Bord werfen bzw. sie gegen den – seinerseits keineswegs »kulturfreien« – Topos ästhetischer Autonomie ausspielen zu wollen. Denn es ist ein simples Faktum, dass – nicht nur im interkulturellen Kontext  – kulturell informierte und transformierte Diskurse, Wertvorstellungen und Muster in vielfältiger Weise jene ökonomischen und politischen Realitäten prägen, in denen sich Komponisten bewegen (Ä Musiksoziologie). Das »kritische Komponieren« der 1970er Jahre etwa versuchte im Zuge der Studentenbewegung und der gesellschaftlichen Umbrüche um 1968 gerade durch ein Insistieren auf einem modernen »Projekt« der neuen Musik auf solche Interdependenzen hinzuweisen (Ä Themen-Beitrag 4, 7.). Es ist wenig verwunderlich, dass kompositorische Reflexionen globaler Konstellationen in neueren Werken im Gegensatz dazu eher den Charakter von leicht didaktischen Kabarettstücken annehmen, wie etwa in Johannes Kreidlers Fremdarbeit für Ensemble, Sampler und Moderator (2009), in dem Kreidler den eigenen Stil gegen geringfügige Entlohnung von einem chinesischen Komponisten imitieren und einem indischen Programmierer formalisieren ließ (Schröder 2014, 190 f.). Gefragt werden muss aber auch generell, auf welcher Ebene man denn eine »Befreiung« von Identitätskonzepten erreichen will. Auf der Ebene kompositorischer Poetik, auf der Ebene des Diskurses, der Ä Vermittlung von Musik oder der Ä Wahrnehmung? Zumindest in letzterer Hinsicht scheint die Forderung einer gänzlichen »Neutralisierung« kultureller Prägungen und Konnotationen im Sinne eines »global ear« weder einlösbar noch wünschenswert. Der australische Komponist Samson Young (*1979) machte deutlich, dass die Möglichkeit eines »kulturfreien« Hörens begrenzt ist und dass »kulturelle Identitäten« weiterhin durch entsprechend aufgeladene Signifikanten immer wieder, von Komponisten wie von ihren Interpreten und Hörern, gezielt evoziert werden (2007, 607). Zudem hat Young die Notwendigkeit hervorgehoben, dass gerade die Forderung eines kontinuierlichen Wirkens gegen Kulturessenzialismus und kulturalistische Stereotypisierung es notwendig mache, Fragen von »Rasse, Ethnizität, Kultur und Politik« immer wieder konsequent zu thematisieren: »Artists do not operate in vacuums. Works of art circulate, generating real cultural, social and political consequences […]. The age [of ] globalization demands an intensified level of communicative nuance. In times of conflicts, turbulence and confusion, we need to say more, not less, about issues of race, ethnicity, culture and politics« (Young 2013, 89 f.). 1.4 Methodologische Konsequenzen Für eine musikhistoriographische Methodik bedeutet dies nicht zuletzt, konsequent von einer globalen Verflechtung unterschiedlicher Diskurse, Überlieferungen, Idiome, Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen ausgehen zu müssen, wie sie durch Prozesse des Exils, der Migration, der reflexiven Globalisierung (Beck / Zolo 1999, vgl. Utz 2014, 25–30) und der Digitalisierung provoziert werden. Eine solche konsequent transnational akzentuierte Historiographie kann gewiss nur als »Polylog unterschiedlicher Erzählungen, Themen und Theorien« und durch eine »konsequente Dezentrierung der Perspektive […] nicht mehr vom Zentrum Europa, sondern von einem Ensemble unterschiedlicher Zentren aus erzählt« werden (Janz 2009, 313 f.), wie es etwa Jürgen Osterhammel in seiner breit ausgreifenden Geschichte des 19. Jh.s unternommen hat (Osterhammel 2009). In der Tat scheint es besonders wichtig, nicht nur mit der herkömmlichen geographischen Fixierung auf den Westen, wie sie Richard Taruskins monumentale Oxford History of Western Music noch unterstreicht (Taruksin 2005/2010), zu brechen, sondern vor allem auch nicht immer reflexhaft alle Entwicklungen außerhalb des Westens auf Einflüsse durch oder Abwehrreaktionen gegen die europäische Moderne zu interpretieren. In diesem Sinn kann Dipesh Chakrabartys Devise »Provincializing Europe« (Chakrabarty 2000) als uneingelöste Aufforderung gerade auch an die neuere Musikgeschichtsschreibung gelten. Mehr ins Positive gewendet kann gefordert werden, durch eine Verflechtungsgeschichte, eine histoire croisée »die Aufmerksamkeit systematisch auf die Verschränkung der Untersuchungs- 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 ebenen und auf ihre wechselseitige Bedingtheit« zu lenken (Werner / Zimmermann 2002, 630): Die Interdependenzen von kompositorischen Entscheidungen, institutionellen Entwicklungen (Ä Institutionen / Organisationen), (kultur-)politischen Bedingungen und Bedingtheiten (Ä Kulturpolitik), Konventionen und Neuerungen in musikalischer Ä Interpretation, Ä Intermedialität, Ä Rezeption und Ä Wahrnehmung werden erst dann in ihrer Komplexität erkennbar, wenn sie mit einer überlagerten Dimension aus lokalen, nationalen und transnationalen Diskursen quergelesen werden – eine zweifellos anspruchsvolle Forderung, der für die neuere Musikgeschichte noch kaum ein musikhistoriographischer Ansatz gerecht geworden ist. Die Ansätze dazu, die etwa Reinhard Strohms 2013 initiiertes Balzan Research Projekt »Towards a Global History of Music« (Strohm 2013) bislang zusammengetragen hat, zeigen deutlich die unausweichliche Zersplitterung der hierfür relevant erscheinenden Forschungsansätze, wie sie vor allem markiert wird durch die arbeitsteilige Ausdifferenzierung in eine durch die Ethnomusikologie erforschte »World Music«, die traditionelle und populäre Musik umfasst (Taylor 1997; Stokes 2004; Bohlman 2013; Siebert 2014), und eine globalisierte »Western Music« (Taruskin 2005/2010, vgl. auch Born / Hesmondhalgh 2000; Osterhammel 2012), für die sich die Historische Musikwissenschaft zuständig erklärt. Nur wenige Ansätze versuchen diese scheinbar unumkehrbare Tendenz zur Spezialisierung zu überbrücken, so etwa der von Georgina Born und Nicholas Cook mit unterschiedlichen Akzenten vertretene Gedanke einer »relational musicology« (Born 2010; Cook 2012). Eine wesentliche Rolle dabei spielt, zum einen sowohl »Western Music« als auch »World Music« als sich historisch wandelnde Diskurse zu begreifen, die vor allem seit dem 20. Jh. in vielfältiger Weise aufeinander eingewirkt haben, zum anderen, die Entstehung von »Bedeutungen« durch Musik weniger durch kategoriale Zuordnung, sondern grundsätzlich relational zu fassen, durch die Interaktionen zwischen Texten, Aufführungen, Medien, Milieus, Personen und Praktiken der Rezeption (Cook 2012). 2. Potenziale der westlichen Moderne Kultureller Essenzialismus  – im Sinne eines dezidierten Gegenmodells zu einer als bedrohlich und hegemonial empfundenen westlichen »Kultur-Macht«, aber auch im Sinne einer pragmatischen, oft verkürzend-utilitaristischen Übernahme des so »erfolgreichen« Modells eines europäischen nation-building  – ist in die ästhetischen Figuren zahlreicher Komponisten außerhalb Europas spätestens seit den 1930er Jahren eingeflossen. Zwar ist hier grundsätzlich zu unterscheiden zwischen »orthopho- 138 nen« Konstruktionen nationaler Identität, die meist auf schlichten Formen der Dur-Moll-Tonalität mit jeweils unterschiedlichen »nationalen« Ingredienzien basieren, und jenen Formen des Kulturessenzialismus, die sich an der europäischen oder nordamerikanischen Moderne bzw. Avantgarde orientieren. Im Sinne der geforderten »Verflechtungsgeschichte« muss jedoch betont werden, dass die Übergänge zwischen diesen beiden Kategorien stets fließend sein konnten bzw. können, und dies ganz speziell vor dem Hintergrund politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen. Hierzu seien einige knappe Beispiele skizziert. Die Rezeption der musikalischen Moderne erfolgte wie erwähnt häufig im Sinne einer Emanzipation von innergesellschaftlichen Blockaden und Konflikten. Nach vereinzelten, zum Teil isolierten Auseinandersetzungen mit Folklorismus, Dodekaphonie oder lokalen Transformationen der musikalischen Moderne in der ersten Jahrhunderthälfte konsolidierte sich diese Entwicklung in den späten 1950er und 1960er Jahren. So versuchten Isang Yun (1917–95, Korea / Deutschland), José Maceda (1918–2004, Philippinen), Chou Wen-Chung (*1923, China / USA) und Tōru Takemitsu (1930–95, Japan)  – mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung  – einen Diskurs über »Charakteristika« asiatischer Musik zu begründen, der nicht zuletzt eine durch den Zweiten Weltkrieg besonders fragwürdig gewordene Dominanz westlicher Ästhetiken gezielt zu überwinden, diese Ästhetiken aber zugleich auch zu integrieren suchte. Vergleichbare Ansätze verfolgten Schlüsselfiguren wie Alberto Ginastera (1916–83, Argentinien / Schweiz) und Gilberto Mendes (1922–2016, Brasilien) in Ä Lateinamerika oder J.H. Kwabena Nketia (*1921, Ghana) und Akin Euba (*1935, Nigeria) im postkolonialen Ä Afrika. Wenn in solchen Konzepten auch oft die Alterität zu westlichen musikästhetischen Diskursen herausgestellt wurde, so sollte doch nicht vergessen werden, wie stark die meisten dieser Ansätze gleichzeitig von der Auseinandersetzung mit der Traditions- und Identitätskritik der westlichen Moderne bei Arnold Schönberg, Edgard Varèse, Iannis Xenakis oder Karlheinz Stockhausen geprägt waren. Dazu kamen Einflüsse der US-amerikanischen Moderne und Avantgarde, die in vielen Fällen einen attraktiveren, vermeintlich »traditionsloseren« Ansatzpunkt boten, zumal sich viele Strömungen der amerikanischen Musik seit den 1950er Jahren ebenfalls ganz dezidiert von etablierten europäischen Konzepten von Kunst, Werk und Rezeption abwandten (Ä Themen-Beitrag 2). Insgesamt liegt die wohl entscheidende Dynamik der globalen Ausdifferenzierung neuer Musik in der Konvergenz aus einer Destablisierung von Tonalität, Werkcharakter, semantischen Topoi etc. in der westlichen Musik des 20. Jh.s einerseits und dem Wunsch der genannten Pionie- 139 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 re, eine eigenständige Kunstmusik jenseits folkloristischer Imitate der europäischen »nationalen Stile« des 19. Jh.s hervorzubringen, andererseits. Dazu kam, dass erst die seit der Nachkriegszeit intensivierte ethnomusikologische Forschung es ermöglichte, nicht-westliche Kunst- und Volksmusiktraditionen differenziert und in breiteren Zusammenhängen zu rezipieren. Dies ging unter Umständen so weit, dass die Komponisten selbst ethnomusikologische Forschungen aufnahmen. So war die Hinwendung des in Paris, San Francisco und New York ausgebildeten Pianisten José Maceda zur vorkolonialen Musik der Philippinen (und in weiterer Folge zu zahlreichen weiteren Formen asiatischer Musik) Folge einer nachhaltigen schockhaften Erkenntnis: Während einer Konzerttournee (u. a. mit Beethovens Appassionata im Gepäck) durch seine Heimat im Jahr 1947 habe sich Maceda immer wieder gefragt: »Was hat dies alles mit Kokosnüssen und Reis zu tun?« (zit. nach Tenzer 2004, 61) – die emphatische Ästhetik des klassisch-romantischen musikalischen Kunstwerks und die sozial-politische Realität auf den Philippinen schienen unvereinbar. Motiviert durch Feldforschungen im Jahr 1952 begann Maceda so mit einem detaillierten Studium südostasiatischer Musik und schloss schließlich ein Studium der Ethnomusikologie in den USA ab. Tatsächlich kann Macedas Weg als ein paradigmatisches Beispiel für die produktive Auswirkung der Modernerezeption in Asien angesehen werden. Präzisiert wurde Macedas kompositorisches Denken in der Folge durch eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Klangmassen bei Edgard Varèse und Iannis Xenakis sowie mit der Pariser musique concrète, die er 1958 kennenlernte. In den ästhetischen Entwürfen von Varèse und Xenakis sah Maceda im Gegensatz zu der parameterorientierten seriellen Musik einen Weg, der über die engen Grenzen der europäischen Musik hinauswies (ebd., 63). Macedas historische Position innerhalb der Musikgeschichte der Philippinen war dabei in hohem Maß anachronistisch, da er innerhalb einer Generation wirkte, die nach der Unabhängigkeit 1946 intensiv mit der Ausbildung einer affirmativ nationalen Musik beschäftigt war und dabei – wie das in nahezu allen anderen asiatischen Ländern der Fall war  – auf das Vokabular der europäischen klassisch-romantischen Sinfonik zurückgriff, die mit volkstümlichen Melodien und Rhythmen  – allen voran aus den Liedern des Kundiman-Repertoires  – angereichert waren (Samson 1989). Macedas dagegen gesetzte Ausrichtung auf vorkoloniale Musikformen nun führte bemerkenswerterweise nicht dazu, dass er diese in ihrer vermeintlichen »Unberührtheit« als »eigentliche« philippinische Musik reklamiert hätte. Vielmehr versuchte er, aus ihnen all- gemeine Prinzipien abzuleiten, die er zumindest für die südostasiatische Musik, wenn nicht für die asiatische Musik insgesamt als gültig ansah und auf denen er eine anti-aristotelische Logik aufzubauen suchte (Maceda 1979, 1986, 1995) – als expliziten Gegenpol zur kulturellen Homogenisierung nach westlichen Maßstäben, die gerade auf den Philippinen nach einer fast 400-jährigen Kolonialgeschichte besonders deutlich spürbar war. In Macedas Werken der 1960er und 1970er Jahre konvergierten seine Auseinandersetzung mit sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und die daraus hervorgehende Arbeit mit großen Gruppen von Ausführenden mit seinem Interesse für die Klangmassen Varèses und Xenakis’. Stärker als seine späteren, zunehmend exakt ausformulierten Partituren sind diese Arbeiten daher auch ganz unmittelbar an bestimmte Aufführungskontexte gebunden. Dazu zählen vor allem die Ritualmusik Pagsamba (Anbetung) für 241 Ausführende (1968), Cassettes 100 für 100 Kassettenrekorder und 100 Spieler (1971), Ugnayan (Atmosphären) für 20 Radiostationen (1974), Udlot-Udlot (Kommen-Gehen / Zögern) für mehrere hundert Ausführende (1975) sowie Ading für 200 Ausführende und Publikumsbeteiligung (Gertich / Greve 2000, 57 f.; Tenzer 2004; Utz 2014, 274–283). In der Messe Pagsamba, vertont in der philippinischen Nationalsprache Tagalog und konzipiert für die räumliche Situation im Rundbau der katholischen Kirche Parish of the Holy Sacrifice in Quezon City (Ä Säle und Gebäude), sind 241 Ausführende kreisförmig nach einer genauen Raumskizze im Publikum verteilt, ein Aspekt der auf die soziale Komponente von Macedas Konzept und damit auf rituelle Funktionen der vorkolonialen Musik auf den Philippinen verweist. Jeder der einhundert Instrumentalisten bedient fünf verschiedene philippinische Bambusinstrumente (Spaltflöte, Summer, Klapper, Holzstab, Schraper); dazu treten einhundert Vokalisten, fünf Quintette aus Männerstimmen und zwei Gonggruppen zu je acht agung und gandingan (Analyse in Utz 2014, 275–277). Gewiss darf man Macedas Konzepte nicht nur aus seiner Hinwendung zu lokalen Musikformen erklären, sondern muss sie auch im Kontext einer allgemeinen Thematisierung von Raum und Raumklang und einer zunehmenden Integration von Ensembleinteraktion und Ä Improvisation in der neuen Musik seit den mittleren 1950er Jahren sehen (Ä Themen-Beitrag 6). So deutlich also Macedas »globale« Orientierung ist, so dürftig erscheinen im Rückblick manche seiner kulturessenzialistische Argumente, mit denen er »asiatische« und »europäische« musikalische Logiken gegeneinander setzen wollte. Gerade serielle Verfahrensweisen versuchen ja, graduelle Abstufungen aller Parameter zu berücksichtigen und ent- 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 fernen sich dadurch von den in Macedas Text als Kennzeichen »westlicher« Kausalität gekennzeichneten polaren Gegensätzen wie »fff and ppp, very high and very low pitches, clusters and single tones, sounds and silences« (Maceda 1986, 48). Noch stärker als Maceda standen Yun und Chou als komponierende Migranten vor der zusätzlichen Herausforderung, den Diskurs über »asiatische Charakteristika« in unmittelbarer Konfrontation mit westlichen ästhetischen Strömungen führen zu müssen. Die manchmal recht grob gezeichneten Vereinfachungen, die Tendenz zum Kulturessenzialismus in ihren Schriften und Äußerungen lassen sich also gewiss auch so erklären, dass sie sich an ein westliches Publikum wandten, das keinerlei Vorkenntnisse mitbrachte und sich über die Besonderheiten des weiterhin »exotisch« erscheinenden Asiatischen nur allzu bereitwillig belehren ließ (Chou 1981/91; Yun 1993/97). Gewiss waren die Voraussetzungen dafür im Einwanderungsland USA vielleicht grundsätzlich günstiger als im Nachkriegseuropa, allerdings hielt Chou bereits 1971 in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Asian Concepts and Twentieth-Century Western Composers fest, dass auch die von Henry Cowell, John Cage, Lou Harrison u. a. vorgelegten interkulturellen Ansätze kaum über eine »neo-chinoiserie« hinausgingen (1971, 221). In ihren Werken thematisierten Yun und Chou im Gegensatz zum Beharren auf generalisierenden kulturessenzialistischen Topoi in ihren Schriften oft sehr spezifische Traditionen, die das Allgemein-Asiatische gewissermaßen anhand von »Fallbeispielen« verdichten. Chou bezog sich grundlegend auf die Gelehrtentradition wenren, im Gegensatz zu jüngeren Generationen chinesischer Komponisten, die häufig stärker mit volksmusikalischen Traditionen in Berührung gekommen waren (3.3), worauf Chou weitgehend verständnislos reagierte: »To exult in the musical gestures and colors of some local tradition or performance practice as potential salvation is no more than defeatism« (1994, zit. nach Utz 2002, 63). Kompositorisch versuchte Chou zunächst in Werken wie The Willows Are New für Klavier (1957) und Yü Ko für neun Instrumente (1965) Prinzipien des Spiels der chinesischen Literatenzither qin auf westliche Instrumente zu übertragen, wobei etwa in Chous Übertragung des flexibel-variierenden Tempos und der geräuschhaften Komponenten der originalen Qin-Musik in metrische und diastematische Raster in Yü Ko eine Unzulänglichkeit der kompositorischen Mittel deutlich wird (ebd., 270–277). Abstrakter ist Chous Bezug auf die orthodoxe chinesische Ästhetik in seinem seit 1957 entwickelten modalen System, in dem auf Grundlage des Orakelbuchs Yijing sich Modi ständig ineinander verwandeln können (Lai 2009, 43–80). In Wer- 140 ken wie Pien für Bläserensemble, Klavier und vier Schlagzeuger (1966) sind die Linearität der Satzweise und eine durch die sparsame Textur erzeugte »Leere« als »asiatische« Charakteristika zu erkennen (ein Bezug auf die Ästhetik der chinesischen Kalligraphie, in der dem »leeren« weißen Raum besondere Intensität zugesprochen wird). Isang Yuns in Donaueschingen 1966 mit großem Erfolg uraufgeführtes Orchesterwerk Réak (1966, vgl. Häusler 1996, 254) transferiert die ständigen Tonhöheninflektionen und die ineinander verschlungenen Linien der koreanischen Hofmusik in Klangtexturen des westlichen Orchesters (Choi 2002). Wie im Falle Macedas liegt hier ein geglückter Fall von Konvergenz zwischen europäischen Entwicklungen und der Rezeption ostasiatischer Prinzipien vor: Gingen »Klangkomposition« (Ä ThemenBeitrag 3, 2.2) und Ä »informelle Musik« seit den späten 1950er Jahren verstärkt von globalen Klangtexturen und einer rezeptionsästhetisch akzentuierten Gesamterfahrung von Klang aus, so zeichnete sich im Verständnis von Chou und Yun ostasiatische Musik gegenüber westlicher Musik vor allem durch die Konzentration auf den einzelnen Ton bzw. Klang als eigenständige, fortgesetzt sich wandelnde Qualität aus (Chou 1971, 216; Yun 1993/97, 297 f.). Vor allem auf diesem Topos bildete Yun seine seit 1963 so bezeichnete »Hauptton-Technik«, die er in Bezug auf Réak so zusammenfasst: »Von außen gesehen, wird eine homogene Klangeigenschaft gebildet, von innen gesehen ist jede Stimme anders, aber ähnlich. […] Jedes Instrument bläst seine eigene Stimme, aber insgesamt bildet sich eine Klangsprache. Im Grunde sind die Haupttöne mit den Hauptklängen verzahnt, das ist nur ein Klang. […] Die Stärke der Klangsprache liegt in der Verästelung. […] Die Gestaltung der einzelnen Gruppen ist aber immer auch auf die anderen Gruppen bezogen« (Yun 1993/97, 311 f.). Werke wie Yuns Réak partizipieren durch ihre »metamusikalische« Reflexivität an einer Geschichte der musikalischen Moderne, verstanden im Sinne fortschreitender Selbstreflexion und »Metaisierung«, wie sie Tobias Janz beschrieben hat (Janz 2014, 215–276). Nicht nur stellen sie plastische Beispiele für musikalische Intertextualität dar (Ä Analyse, 1.3), in der Bezüge zu zeitgleichen europäischen und traditionellen koreanischen Idiomen quergelesen und -gehört werden. Sie reflektieren im Sinne einer »Musik ›auf zweiter Stufe‹« (ebd., 266), auch ihren musikgeschichtlichen und (inter-)kulturellen Ort und die gesellschaftlichen und institutionellen Kontexte ihrer Rezeption. Dies wird deutlich etwa in der Reaktion des einflussreichen Ethnomusikologen Hans Oesch auf die Uraufführung von Réak: »Mit europäischen Musikbegriffen ist einer Komposition wie Réak nicht beizukommen. Wer 141 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 indessen die zeitgenössischen Formulierungen unserer Musik kennt […], der kann durch ein solches Stück Weltmusik auch Zugang finden zu einer Jahrtausende alten orientalischen Musikkultur, die westlichem Denken sich bisher nur sehr schwer erschloß« (zit. nach Häusler 1996, 254). Bedenklich genug bleibt jedoch, dass weder Yuns noch Chous nachhaltiges Wirken im Westen ein breiteres Bewusstsein für nicht-westliche Musik in der Szene und auch der musikwissenschaftlichen Darstellung neuer Musik nach sich zogen. 3. Globale Verflechtungen im Zeitalter des Kalten Krieges und danach: Fallbeispiel Ostasien 3.1 Japan In der deutschsprachigen Musikforschung ist erst seit kurzem ein Bewusstsein dafür entstanden, dass der Kalte Krieg auf die Institutionalisierung und Verbreitung neuer Musik in Europa nicht unwesentlichen Einfluss hatte (Ä Themen-Beitrag 4, 5.; Institutionen / Organisationen). Aber auch in globaleren musikalisch-politischen Zusammenhängen machte sich die Polarisierung von »Westen« und »Osten« in vielfältiger Weise bemerkbar, etwa in der japanischen Nachkriegsmusik und entscheidenden Verschiebungen, die in ihr um das Jahr 1960 stattfanden. Insgesamt kann die Entwicklung der japanischen Musik seit 1945 im Sinne eines »shared space« von europäischer und japanischer Musikkultur beschrieben werden (Wade 2014, 57–136), das durch die systematische Adaption europäischer Musik seit der Meiji-Restauration 1868 vorbereitet worden war. Toshirō Mayuzumi, der wohl aktivste und innovativste Komponist Japans während der 1950er Jahre, hatte 1958 im Alter von 29 Jahren mit der Nirvana Symphony (Nehan kokyokyoku) für Orchester und Männerchor (Herd 1984, 133–138; Sawabe 1992, 142–152; Galliano 2002, 185 f.) ein Schlüsselwerk einer neo-nationalen Ästhetik vorgelegt – einer Ästhetik, die zunächst im Nachkriegsjapan von vielen Künstlern gemieden oder explizit abgelehnt worden war, erinnerte sie doch allzu sehr an den japanischen Militarismus im Pazifischen Krieg und dessen Instrumentalisierung traditioneller japanischer Kultursymbole. Mayuzumi (1929–97) war Teil der 1953 gegründeten und finanziell üppig ausgestatteten Komponistengruppe San ’ nin no kai (Gruppe der Drei), der auch Yasushi Akutagawa (1925–89) und Ikuma Dan (1924– 2001) angehörten (Ä Japan). Als einzige von zahlreichen während der 1950er Jahre entstehenden Gruppierungen versuchte San ’ nin no kai an national bzw. »pan-asiatisch« orientierte Vorkriegstendenzen anzuknüpfen. Komponisten wie Shūkichi Mitsukuri (1895–1971) oder Fumio Hayasaka (1914–55) hatten sich in den 1930er und 40er Jahren darum bemüht, u. a. auf Grundlage von traditionellen Ska- Abb. 1: Mayuzumi, Nirvana Symphony, 1., 3., 5. Satz, zugrunde liegendes Glockenspektrum und daraus abgeleitete pentatonische Modi lensystemen oder den Aitake-Akkorden der Mundorgel shō in der Hofmusik gagaku, eine eigenständige »japanische Harmonik« zu entwickeln (Herd 1989, 2004; Utz 2015). Mayuzumi, der bei einem kurzen Studienaufenthalt in Paris 1951–52 sowohl mit Edgard Varèses Musik als auch mit Pierre Schaeffers musique concrète in Berührung gekommen war, hatte zurück in Japan zunächst umgehend Pionierwerke der japanischen musique concrète (Œuvre pour musique concrète x, y, z, 1953; Aoi no ue, 1957, nach Stoff und Musik eines Repertoirestücks des Nō-Theaters) und der japanischen elektronischen Musik (Shūsaku I, 1955) vorgelegt. Daraufhin versuchte er nun bald, die Vorkriegstendenzen unter Verwendung neuer Technologien weiterzuführen: Ausgehend von einer Spektralanalyse japanischer Tempelglocken (bonshō) entwarf er in einer bemerkenswerten Vorwegnahme »spektraler« Tendenzen die »inharmonische« Grundlage der in den Sätzen 1, 3 und 5 (Campanology I–III) seiner sechssätzigen Nirvana Symphony entwickelten Bewegung von »Klangmassen« (ein Begriff, den Mayuzumi von Varèse übernahm), wobei besonders charakteristisch ist, dass er mit zwei pentatonischen Modi eine Spur des »Japanischen« im Glockenspektrum ausmachte (Abb. 1). Mayuzumi weist nicht zufällig darauf hin, dass sich diese spektrale Struktur von jener chinesischer Tempelglocken grundlegend unterscheide (1964, 38). Die Modi werden aber in einer dezidiert »modernen« Lesart des nationalen Elements großenteils als Klangtexturen inszeniert, was sich auch momentweise in den Sätzen 2, 4 und 6 fortsetzt (Śūraṅgama; Mahāprajñāpāramitā; Finale). Hier werden buddhistische Rezitationspraktiken verschiedener japanischer Sekten wiederholt in bewegte Klangflächen aufgelöst, so etwa in chromatische Clusterbildungen am Ende des zweiten Satzes (Abb. 2). Die formale Dramaturgie verläuft (vergleichbar den zeitgleich entstehenden Werken Giacinto Scelsis) in »ritualistischen« Bogenformen, die im apotheotischen Finale kulminieren. Mayuzumi setzte den spektralen Ansatz in seiner Mandala-Symphony (1960) fort, in der das Phänomen des »virtuellen Grundtons« erforscht wird (ebd.) 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 Abb. 2: Mayuzumi, Nirvana Symphony, 2. Satz, Schluss (© 1969 by C.F. Peters Corporation New York) 142 143 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 In Mayuzumis Sinfonie, gewiss eines der »unsung eccentric masterpieces of post-war music« (Burt 2001, 18), mag man rückblickend das Bewusstsein der Notwendigkeit erkennen, die Relevanz des »Japanischen« zu akzentuieren, um damit der fragwürdigen Strategie eines »Aufholens« europäischer Entwicklungen entgegenzuwirken, ohne dass damit zwangsläufig ein »patriotischer« or »eng nationalistischer« Ungeist verbunden sein musste (Herd 1989, 140). Der kulturelle Essenzialismus war damit allerdings als ein Hauptdiskurs vorgezeichnet, der die japanische Musik bzw. in Form der nihonjinron (»Japanerdiskurse«) die japanische Gesellschaft insgesamt zumindest bis in die 1980er Jahre stark bestimmen sollte (HijiyaKirschnereit 1988); Mayuzumi drückte dies 1964 etwa so aus: »the Oriental has a deeper sensitivity to delicate timbres than has the Occidental« (1964, 38). So entwickelten etwa viele Komponisten, darunter Mayuzumi, ein großes Interesse für die 1978 veröffentlichte Theorie eines »japanischen Gehirns« von Tadanobu Tsunoda (Nuss 2002), in der eine spezifisch »japanische« Sensitivität für die Verbindung von (japanischen) Sprachlauten, Naturlauten und Klängen der japanischen Musik auf vermeintlich »biologischer« Grundlage postuliert wurde. Auch wenn die Schriften von den Komponisten aus der Generation Mayuzumis wie Tōru Takemitsu, Maki Ishii (1936–2003) oder Minoru Miki (1930–2011) voller vergleichbarer Stereotypen sind (Fukunaka 2014, 199– 203), so wahrten sie, anders als Mayuzumi, weitgehend politische Zurückhaltung. Mayuzumis Nationalismus hingegen wurde bereits in den 1960er Jahren immer expliziter, u. a. durch die erneute Begegnung mit dem Schriftsteller Yukio Mishima (1925–70), den er das erste Mal 1952 in Paris getroffen hatte (Nuss 2004). Vergleichbar mit Mayuzumi hatte Mishima in den 1950er Jahren eine beeindruckende Folge von literarischen Werken vorgelegt, die in kürzester Zeit verschiedenste Tendenzen europäischer Gegenwartsliteratur amalgamierten. Als es 1960 zu linken Studentenunruhen in Tokyo infolge von Protesten gegen den Ampo-Pakt Japans mit den USA kam, der die Stationierung von US-Truppen auf japanischem Gebiet bestätigte, wandte sich Mishima zunehmend nationalistischem Gedankengut zu. Besonders nach Mishimas auf einen »Putschversuch« folgenden spektakulären rituellen Selbstmord im Jahr 1970 (Stokes 1995/2000) trat Mayuzumi dann verstärkt als politischer Aktivist auf und leitete von 1981–91 die nationalistische Organisation Nihon wo mamoru Kokumin Kaigi (Nationalkonferenz zur Verteidigung Japans, seit 1997 Nippon Kaigi, »Japankonferenz«) (Havens 2006, 258), die unter Leugnung japanischer Kriegsverbrechen sich zum Ziel setzte, die Grundsätze des japanischen Kaiserreiches wiederzubeleben. Die Studentenunruhen im Jahr 1960 trafen zusammen mit einer intensivierten Auseinandersetzung japanischer Komponisten mit der amerikanischen Avantgarde, die im »Cage-Schock« des Jahres 1962 kulminierten. Schlüsselfigur war hierbei der Dichter und Musikkritiker Kuniharu Akiyama (1929–96), der 1951 gemeinsam mit Takemitsu und anderen die Künstlergruppe Jikken kōbō (Experimenteller Workshop) gegründet hatte und bereits seit den späten 1940er Jahren mit John Cages Musik vertraut war (Fukunaka 2014, 187). Zusammen mit einer Reihe von neun jungen Komponisten und Musikern, darunter Akutagawa, Mayuzumi und Takemitsu, die sich 1960 unter dem Namen Sakkyokuka shūdan (Gruppe der Komponisten) zusammengeschlossen hatten, setzte Akiyama noch vor Cages Besuch in Japan wichtige Impulse im Rahmen des 1959 eröffneten Sogetsu Art Center. Der Kontakt zu Cage wurde über den seit 1952 in New York lebenden Toshi Ichiyanagi etabliert, der seit 1958 eng mit Cage zusammen gearbeitet hatte, 1961 von Mayuzumi zur Rückkehr nach Japan überredet wurde (Galliano 2002, 221 f.) und dort nachhaltig zur Verbreitung von Ideen der amerikanischen Avantgarde beitrug. Impulse durch experimentelle Konzertstücke wie Akiyamas Hihō 19 (Magische Methoden 19, Dezember 1960) und happening-artige Performances der 1961 neu formierten Group Ongaku bereiteten den Boden für eine Rezeption neuer US-amerikanischer Strömungen, die nicht zuletzt aus einer tiefen Skepsis gegenüber europäischen Entwicklungen hervorging  – eine Skepsis, die gerade auch von europäischen Gästen immer wieder gestärkt wurde (Iannis Xenakis konnte nach eigener Aussage, tief beeindruckt von der traditionellen japanischen Musik wie etwa dem Nō-Theater, nicht verstehen, »wie junge japanische Komponisten tonale oder serielle Musik schreiben konnten«, Varga 1995, 41). Neben den Komponisten der San’nin no kai hatte einzig Yoritsune Matsudaira (1907–2001) in den 1950er Jahren ernsthafte Versuche unternommen, europäische Entwicklungen wie Dodekaphonie, Serialismus und Aleatorik mit strukturellen und klangfarblichen Ebenen des gagaku zu verknüpfen, wobei er an eigene Entwürfe der 1930er Jahren anknüpfen konnte (Sawabe 1992, 48–51; Galliano 2002, 82–85, 137–144, 259 f.). Matsudaira setzte damit in den 1950er Jahren die Erkundung einer japanischen Harmonik fort, etwa in der Adaption der AitakeAkkorde in seinen zentralen Werken Piano to kangengaku no tame no shudai to hensō (Thema und Variationen für Klavier und Orchester, 1951; Herd 1989, 141–148), das beim ISCM-Festival 1952 und in der Folge von den Wiener Philharmonikern unter Karajan aufgeführt wurde, und Saibara ni yoru Metamorfōzu (Metamorphosen über Saibara) für Sopran und Kammerorchester (1953/58; Galliano 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 2002, 136–141). In der weitgehenden Beziehungslosigkeit zwischen westlich orientierter komponierter und traditioneller japanischer Musikpraxis spiegelte sich eine seit der Meiji-Zeit aktiv verfolgte kulturpolitische Strategie. Erst in den 1960er Jahren wurden Impulse auf dem Gebiet einer »Verflechtung« japanischer und europäischer Musiktraditionen gesetzt, in erster Linie durch Musiker, die in der Nachfolge des 1956 verstorbenen Michio Miyagi (1894–1956)  – Protagonist der Shin Nihon Ongaku (Neue japanische Musik) der 1920er Jahre  – unter dem Schlagwort der gendai hōgaku (Traditionelle japanische Musik der Gegenwart) nun auch unter westlich ausgebildeten Komponisten ein neues Interesse am traditionellen Instrumentarium wecken konnten. Die »Gruppe der vier für traditionelle japanische Musik« (hōgaku yonin no kai) um die Koto-Spielerin Kayoko Suzuki brachte mit Yoshirō Irinos (1921–80) Musik für zwei Kotos (1957) das erste dodekaphone Werk für traditionelle Instrumente zur Aufführung (Sawabe 1992, 47, 136–138). Bald darauf komponierte auch Tōru Takemitsu seine wegweisenden Werke für traditionelle Instrumente Eclipse für shakuhachi und satsuma-biwa (1966) und November Steps für shakuhachi, satsuma-biwa und Orchester (1967). November Steps zeigt ist in besonderem Maße Symptome des Bewusstseins japanischer Komponisten einer fortgeschrittenen Durchdringung westlicher und japanischer Traditionen als Teil der eigenen Geschichte. Dem Werk fiel nicht zuletzt durch die breite Öffentlichkeit, die es als Auftragskomposition zur 125-Jahrfeier der New York Philharmonic erreichte, eine kaum zu überschätzende Breitenwirkung zu. Dabei sind die Nachwirkungen des »Cage-Schocks« auch nach fünf Jahren noch markant in Takemitsus Konzeption erkennbar: Cages »Taktik«, kulturelle Bedeutungen musikalischen Materials in der Metapher eines unbegrenzten Raumes aus Klang und Stille zu »entidiomatisieren« (Ä Zeit, 1.), gestützt durch das huayanbuddhistische Prinzip der »Hindernisfreiheit und gegenseitigen Durchdringung« (Utz 2002, 78–84), schlägt sich in November Steps in einer konzeptionellen Parallelsetzung und im Ziel einer Vermeidung von Interaktion zwischen westlichem Orchester und japanischen Soloinstrumenten nieder: »Ein Komponist sollte nicht danach streben, traditionelle japanische Instrumente auf natürliche Weise mit dem westlichen Orchester zu verschmelzen. Er sollte ganz im Gegenteil versuchen, den einzigartigen Klangbereich hervorzuheben, in dem biwa und shakuhachi beheimatet sind, indem er ihn stark gegen das Orchester absetzt« (Takemitsu 1971/91, 8). Eine Analyse der Partitur kann dagegen leicht sichtbar machen, wie behutsam und kompositorisch genau geplant die beiden »kulturellen« Schichten klangfarblich, diastematisch und energetisch miteinander 144 verbunden sind und wie logisch sie auseinander hervorund ineinander übergehen (Utz 2002, 296–299). Gerade die klangfarblichen Querbeziehungen zwischen den erweiterten Spieltechniken im Orchester und den geräuschhaften Komponenten der japanischen Instrumente, die Takemitsu mit Bezug auf die klassische japanische Ästhetik des sawari in den Mittelpunkt vieler Aufsätze stellte (ebd., 292–294), stützen diesen Beziehungsreichtum (Burt 2001, 116 f.). Die angestrebte Inszenierung des Kulturessenzialismus, möglicherweise auch als Gegenmodell zu den zeitgleichen universalistischen Konzeptionen Henry Cowells oder Karlheinz Stockhausens entworfen, führt also doch tendenziell zu jener vermittelnden Synthese, die eigentlich vermieden werden sollte. Unter den Komponisten aus Takemitsus Generation ist Minoru Miki am konsequentesten  – und weitaus emphatischer als der behutsam vorgehende Takemitsu – den in den 1960er Jahren angelegten Weg weitergegangen (Nuss 1996). Mit seinem 1964 gegründeten Ensemble japanischer Instrumente Pro musica Nipponia (Nihon Ongaku Shūdan), Kooperationen mit der Koto-Solistin Keiko Nosaka (u. a. in einer Serie von fünf Konzerten für koto und Orchester) und einer Reihe von Bekenntnis- und Musiktheaterwerken (u. a. Jōruri, 1985), die enge Anleihen an japanische Genres nehmen, bleibt Miki im Kern dennoch grundsätzlich stilistisch einer gemäßigten europäischen Moderne verpflichtet (Galliano 2002, 285 f.). Eine große Fülle an Werken mit japanischen Instrumenten legten in der Folge von November Steps u. a. auch Maki Ishii, Toshi Ichiyanagi und Makoto Shinohara (*1931) vor, ab den 1980er Jahren dann waren Kompositionen von Yūji Takahashi (*1938, vgl. 4.) und Toshio Hosokawa (*1955) auf diesem Feld prägend (Utz 2014, 222–234). Die dynamischen Entwicklungen in der Folge der Aktivitäten des Sogetsu Art Center fielen zusammen mit der im April 1961 in Tokyo stattfindenden East West Music Encounter Conference, die vom anti-kommunistischen, durch CIA und Ford Foundation finanzierten Congress for Cultural Freedom unter Leitung des russisch-amerikanischen Komponisten und Kulturimpresarios Nicolas Nabokov (1903–78) organisiert wurde – und noch weitere Facetten der transnationalen musikalischen »Verflechtungsgeschichte« im Kalten Krieg sichtbar macht. Ziel der Konferenz war es, vergleichbar den Aktivitäten des Congress im Europa der Nachkriegszeit, unter denen die Förderung der jungen musikalischen Avantgarde eine nicht unwesentliche Rolle spielte (Carroll 2003), die durch den Kalten Krieg entstandenen kulturellen Gräben zu reduzieren – ein Ziel, das aufgrund von Protesten linksgerichteter japanischer Künstlerkreise, die die Konferenz boykottierten, verfehlt wurde; dennoch konnte die Veranstaltung 145 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 zweifellos wichtige Impulse für eine verstärkte Annäherung asiatischer, amerikanischer und europäischer Komponisten setzen (Borio 2010, 109 f.; Giroud 2015, 329–332): Aus den USA reisten u. a. Elliott Carter, Henry Cowell, Colin McPhee, Lou Harrison und Alan Hovhaness an, aus Europa u. a. Iannis Xenakis, Luciano Berio, Bruno Maderna und Boris Blacher. Besonders Cowells kompositorischer Ansatz, der auf eine Hybridisierung globaler Musiktraditionen zielte, kam der US-Diplomatie der Zeit zu Gute: »His universalism and attempts to synthesize East and West in his music, however benign in motivation, worked hand-in-hand with U.S. Cold War efforts to form political bonds with Asian nations, particularly with Japan, much in the same way as state-sponsored radio broadcasts, lectures, and concerts of American music abroad« (Sheppard 2008, 507). Bereits 1957 hatte Cowell das durch die japanische Hofmusik inspirierte Orchesterwerk Ongaku (1957) vorgelegt und dabei explizit ein anti-europäisches Programm verfolgt: »In ›drawing on resources‹ from nations such as Japan, Cowell ’ s explicitly stated goal was to counter international serialism with a new musical universalism  – on American terms« (ebd., 508; vgl. Rao 2004). Tatsächlich entwickelte Cowell eine dezidiert anti-moderne Haltung; sein Interesse an asiatischer Musik entsprang in erster Linie der Diagnose, dass westliche Musikstile gegen Ende des 19. Jh.s ihre »Vitalität« verloren hätten (Cowell 1961, 72). Cowell war freilich keineswegs der einzige, den die seit der Meiji-Restauration mit großem »Erfolg« institutionalisierte musikalische »Tradition« Japans faszinierte. Besonders die Hofmusik gagaku und darunter wiederum die Mundorgel shō boten einen ganz besonderen Attraktionspunkt, den neben Cowell bis in die 1970er Jahre zahlreiche Komponisten aufgriffen, darunter Olivier Messiaen (Sept Haïkaï, 1962), Iannis Xenakis (Eonta, 1963–64), Benjamin Britten (Curlew River, 1964), Karlheinz Stockhausen (Telemusik, 1966) und Jean-Claude Eloy (À l’Approche du Feu Méditant, 1983) (Cooke 1998, 112–189; Utz 2002, 153–165; Utz 2014, 222 f.). In nicht wenigen Fällen inszenierten sich westliche, später auch asiatische Komponisten dabei als »Bewahrer« der Tradition (die sie paradoxerweise durch eine oft drastische strukturelle Verformung im Prozess der kompositorischen Rezeption stark veränderten), ein Topos, der in Cowells Tokyoter Konferenzbeitrag (Cowell 1961) ebenso auftaucht wie in Stockhausens umstrittenem Weltmusik-Essay (Stockhausen 1971/78; vgl. Siebert 2014, 41–92) oder, Jahrzehnte später, in Tan Duns intermedialem Violoncellokonzert The Map (2002), in das Video-Aufnahmen von Musik chinesischer Minderheiten u. a. aus Südwest-China integriert sind: »Tan Dun seems to be playing two roles here simultaneously, each coming from a different ideological standpoint: that of the preserver of vanishing cultures, specifically as an ethnically Chinese artist; and that of the innovator of the modern Western orchestra, as a citizen of the world and practitioner of Western art« (Young 2009, 86; vgl. Yang 2014). Der tiefe Widerspruch zwischen einer als »archaisch« idealisierten nicht-westlichen Tradition (die etwa im Falle der japanischen Hofmusik in wesentlichen Zügen ein Konstrukt des modernen Japan war) und der ästhetischen Forderung nach Hybridisierung von Traditionen unter den Voraussetzungen der musikalischen Moderne, unter der keinesfalls alle Formen der »Synthese« gleichwertig sein konnten, erweist sich also als ein fortgesetzt in der neuen Musik verhandeltes Paradox. 3.2 Korea Im südlichen Korea war in den späten 1950er Jahren nach den Erschütterungen des Korea-Kriegs und unter den Einschränkungen einer autokratischen Militärregierung erst allmählich eine Internationalisierung des Musiklebens im Aufbau. 1960 wurde der westlich ausgebildete Komponist Hoe-Gap Chŏng (1923–2013) vom Korean Air Force Orchestra beauftragt, erstmals ein Konzert für die koreanische Wölbbrettzither kayagŭm und Orchester zu komponieren. Das so entstandene Thema und Variationen (Chujewa Pyŏnjugok) für kayagŭm und Orchester (1960–61) ging wesentlich auf Impulse des damals 24-jährigen Kayagŭm-Spielers Byungki Hwang (*1936) zurück, der den Solopart übernahm und in der Folge zu einer Schlüsselfigur der neuen koreanischen Musikgeschichte wurde (Killick 2013). Hwang assistierte auch im darauffolgenden Jahr dem amerikanischen Komponisten Alan Hovhaness (1911–2000) bei dessen bemerkenswerter Sinfonie Nr. 16 für kayagŭm, Ensemble koreanischer Instrumente und Streichorchester (1962) und spielte auch hier den Solopart bei der Seouler Uraufführung. Hovhaness, der von 1959 bis 1963 ausgedehnte Forschungsreisen in Asien unternahm, hatte bereits 1960 in Tokyo die jungen japanischen Kollegen ermutigt, ostasiatische Musik von der »Gewalt und Zerstörung« westlicher Musik fernzuhalten (Fukunaka 2014, 192) und feierte in Korea nun traditionelle koreanische Musik als »the most expressive, sublime and free in the world« (Hovhaness 1963, 29). Die Idealisierung der asiatischen Musik als »Gegengift« zu den europäischen Einflüssen wurde neben Cowell vor allem durch den aus Frankreich stammenden Dane Rudhyar (1895–1985) verbreitet, der seit 1916 in den USA lebte und dort beträchtlichen Einfluss auf Komponistenkollegen ausübte (Ä Themen-Beitrag 3, 2.1). (Von Rudhyars Schriften war in den 1950er Jahren auch Giacinto Scelsi entscheidend beeinflusst, fand sich doch hier das asiatische 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 Konzept der »single tones« als kategorischer Gegensatz zu den »soundless abstractions of tone, the musical notes« der europäischen Musik, Rudhyar 1930, 22 f.; vgl. Reish 2001, 63–65). Für den jungen Kayagŭm-Innovator Hwang jedenfalls waren solche Impulse entscheidend, und er trat in der Folge durch zunehmend selbstbewusste Stücke für koreanische Instrumente hervor, wobei er die sich zeitgleich zu Japan herausbildende Bewegung der ch ’ angjak kugak (traditionelle koreanische Musik der Gegenwart, vgl. gendai hōgaku, 3.1) prägte. Im selben Zeitraum war Isang Yun durch die Lebenssituation als (seit 1956 in Europa, seit 1957 in der Bundesrepublik Deutschland lebender) Migrant deutlich stärker mit europäischen Tendenzen konfrontiert. Yun hatte bereits als Komponist in seiner Wahlheimat Anerkennung gefunden (vgl. 2.) als er im Jahr 1967 durch den südkoreanischen Geheimdienst aus Deutschland entführt und aufgrund einer Reise nach Nordkorea im Jahr 1963 und Kontakten zu Nordkoreanern in Ost-Berlin der Agententätigkeit angeklagt wurde. Nach Folter und einer Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde Yun auf Druck der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit 1969 freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren (umfangreiche Dokumentation in Sparrer 2002, 139–248). Seit 1973 setzte sich Yun dann in exilkoreanischen Organisationen aktiv für die Demokratisierung Südkoreas und die Wiedervereinigung ein, was auf seine Musik nicht ohne Wirkung blieb. Hatte er sich zuvor in seinen Werken an der traditionellen koreanischen Musik sowie an neuesten europäischen Tendenzen wie serieller Musik und Klangkomposition orientiert (vgl. 2.), so führte die Suche nach einer politischen Bekenntnismusik seit den mittleren 1970er Jahren zu einer deutlichen Neuausrichtung an Modellen (spät-)romantischer Tonsprache und orchestraler Klangkraft, etwa in Werken wie Exemplum in memoriam Kwangju für großes Orchester (1981), einer Gedenkkomposition an die Opfer des im Mai 1980 durch Regierungstruppen begangenen Massakers im südkoreanischen Kwangju, oder in Naui Dang, Naui minjokiyo (Mein Land, mein Volk!) für Soli, Chor und großes Orchester (1986– 87), das Yun als Anklage gegen die Verfolgung und Unterdrückung südkoreanischer Dissidenten verstand. Besonders diese beiden Werke wurden in der Folge durch mehrfache Aufführungen in Nordkorea seit 1982 im Rahmen des jährlich stattfindenden Isang-Yun-Musikfestivals (Choi 1999, 162), zum Teil bei persönlicher Anwesenheit Yuns, zum willkommenen Propagandamittel gegen den Süden. Selbst wenn Yun in diesen Werken auch gewiss keinem Sozialistischen Realismus im engeren Sinn folgte, so erleichterte sein stilistisch »kompromissbereites« und stellenweise stark illustratives Idiom doch eine derartige 146 Instrumentalisierung erheblich: »Yun […] under-estimated the veracity of state-policy« (Howard 1999, 98). Mit vergleichbaren Mitteln wie Yuns Exemplum, einem ikonographisch aufgeladenen erweitert tonalen Idiom, das Dissonanz und dynamische Kulmination programmatisch als Topoi von Gewalt und Konflikt inszeniert (Heister 1997), thematisierten auch in Südkorea lebende Komponisten die politischen Ereignisse, so besonders Vertreter der »Dritten Generation« (Che Samsedai), die sich von den aus ihrer Sicht übermächtigen westlichen Einflüssen auf die koreanische Gegenwartsmusik abwenden wollten. Byung-Eun Yoos (*1952) Sinawi Nr. 5: Owŏlŭi Norae (Lied vom Mai) für Orchester (1989) thematisiert allerdings – vergleichbar mit Yuns Exemplum – das Kwangju-Massaker durch eine tonal gebrochene, aber durchaus der europäischen Sinfonik verpflichtete Ikonographie. Erst in den 1990er Jahren fand eine jüngere Generation zu einer entschiedeneren Abkehr von traditionellen europäischen Modellen, indem sie nun wiederum die Ansätze der »Dritten Generation« als »cheap imitation« (Koo 2003) koreanischer Musiktradition kritisierte. Der u. a. bei Mathias Spahlinger ausgebildete Bonu Koo (*1958) wählte dabei einen Weg weitreichender struktureller Abstraktion, wobei auch er in seinem Streichquartett (1991) auf die Ereignisse in Kwangju Bezug nahm und dabei später eine Affinität zum Klavierstück Kwangju, May 1980 (1980) des japanischen Komponisten Yūji Takahashi entdeckte: »When I heard his piece […], I recognized the quotation of the famous Korean song ›Saeya, saeya‹ (Bird, bird). Supporters of the late nineteenth-century Tonghak movement used this song as a key melody. Since the Tonghak movement was brutally suppressed, it soon became very dangerous to sing this song. Only children were allowed to sing it without repercussions. Meanwhile, it became a symbol of hope. The way Takahashi quoted this song was very moving and I felt that he had a deep understanding of Korean politics, for he connected the Tonghak movement and the Kwangju protests. I had quoted the same song in my String Quartet of 1991 without having known Takahashi ’ s piece at that time. My whole composition basically consisted of the song ’ s three pitches (C-G-D), and these pitches created a 30-minute structure« (ebd., 133 f.). 3.3 China Für chinesische Komponisten ergab sich seit der offiziell 1978 unter Präsident Deng Xiaoping verkündeten Reformund Öffnungspolitik (gaige kaifang) eine ähnliche Notwendigkeit, Zeitgeschichte zu thematisieren; hier standen vor allem die Gräuel der Kulturrevolution (1966–76) im Zentrum, die für die jüngere Generation als zwar oft traumatische, am Ende aber für viele sublimierbare Kind- 147 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 heits- und Jugenderfahrung erschien, für die älteren Generationen aber einen radikalen Schnitt bedeutete (Ä China / Taiwan / Hong Kong, 1.2). »Wunden«-Musik wurde jedoch in den 1980er Jahren quer durch die Generationen komponiert, so in Bright Shengs (*1955) H ’ un (Lacerations): In Memoriam 1966–1976 für Orchester (1988) oder Zhu Jian ’ ers (*1922) Erster Sinfonie (1977–86) (Mittler 2007). Im Alter von über 50 Jahren hatte Zhu, der vor und während der Kulturrevolution unauffällig und weitgehend »linientreu« komponiert hatte, Kompositionskurse am Shanghaier Konservatoriums bei Chen Mingzhi (1925– 2009) und Yang Liqing (1942–2013) besucht, um sich neue Techniken, darunter vor allem die Zwölftonmethode, anzueignen (Mittler 1997, 151). Während die Erste Sinfonie in ihrer langen Entstehungszeit und ihrem methodischen Eklektizismus treffend die Schwierigkeiten der Suche nach einem neuen musikalischen Sprachrepertoire in den Jahren nach der Kulturrevolution dokumentiert, komprimiert die Zweite Sinfonie (1987) die traumatischen Erfahrungen in äußerster Dichte. Die beiden Reihenhälften der nach Anton Webern in Dreitongruppen gebildeten Zwölftonreihe (c-a-gis – f-e-cis – dis-fis-g – ais-h-d; G-KU-U-K) erscheinen im Hauptthema permutiert und simultan als scharf akzentuierte große Sekunden, die den chinesischen Sprechrhythmus der Frage nach dem »Warum?« artikulieren (Kouwenhoven 1991, 65). In der vorangehenden, breit angelegten Einleitung setzen sich die fragilen Klänge der Singenden Säge in ausgedehnten solistischen Feldern anderer Instrumente fort, werden aber immer wieder harsch von rollenden Tutti-Klängen abgeschnitten (Abb. 3). Diese breiten sich im zweiten Teil des Werkes stark aus, bis am Ende nach einem schmerzvollen polytonalen »Scheintriumph« der Blechbläser ein Echo der Säge hörbar wird – die hier unschwer als kaum mehr vernehmbare, aber doch nachhaltig artikulierte Stimme des Einzelnen inmitten kollektiver Bedrohung aufgefasst werden kann. In der seit den späten 1970er Jahren hervortretenden jungen Generation spielte der Bezug auf spezifische lokale Musikgenres ausgehend von der politischen Umbruchssituation am Ende der Kulturrevolution (1966–76) eine Schlüsselrolle. Zum einen waren viele junge Komponisten im Rahmen der großangelegten »Landverschickung« (shangshan xiaxiang) wie viele andere »Jugendliche mit Schulbildung« (zhishi qingnian) seit den späten 1960er Jahren zum Reisanbau beordert worden, um dort laut Mao Zedong »von den Bauern ihre wahre Ausbildung zu erhalten« (Bernstein 1977). Einige von ihnen hatten dabei lokale Musikformen aus erster Hand und meist auch unter aktiver Eigenbeteiligung über Jahre hinweg kennen gelernt. Zum anderen spielte die enthusiastische Rezeption europäischer Moderne und Avantgarde eine entscheiden- de Rolle für die Herausbildung dieser xinchao (»neue Welle«, Wang 1986), die vor allem durch die anfangs nur unter großen Widerständen (Mittler 1997, 141) möglich gewordenen Gastseminare führender Komponisten aus dem Westen wie Chou Wen-Chung (1979), Alexander Goehr (1980), George Crumb, Hans Werner Henze oder György Ligeti vermittelt wurden. Der direkte Einfluss der Gastdozenten blieb allerdings relativ gering, im Gegensatz zu den »Klassikern« des 20. Jh.s, allen voran Béla Bartók, dessen Musik freilich schon in den 1930er Jahren von Alexander Tscherepnin eingeführt worden war (Utz 2014, 121 f.). Aus einer Radikalisierung, Hybridisierung und Abstraktion der lokalen Traditionen gingen Werke wie Qu Xiaosongs (*1951) Mong Dong für Bariton und Ensemble (1984), Tan Duns (*1957) On Taoism für Stimme und Orchester (1985) oder Guo Wenjings (*1956) She Huo für Ensemble (1991) hervor. In Guos Werk werden die in den lokalen Modellen zu findenden Texturen durch Intensivierung und Verzerrung transformiert, etwa wenn die Kreuzrhythmik zweier Beckenspieler aus der lokalen SichuanOper (chuanju) auf drei Parts erweitert und so verdichtet wird oder die Unschärfen in der Instrumentalstimmung verschiedener lokaler Ensembles in mikrotonale (Ver-) Stimmungen der Streichinstrumente übertragen werden. Insgesamt artikulierte sich die junge Generation nicht zuletzt durch die (oft von den Komponisten selbst ausgeführten) Stimmparts, die subjektiven Ausdruck mit einer Hybridisierung traditioneller und europäischer Gesangstechniken verbanden (Ä China / Taiwan / Hong Kong, 1.2). Den vielleicht verblüffendsten Beleg der ausbrechenden Kreativität und ihrer konfliktreichen Hintergründe bietet aber Ge Ganrus (*1954) Yi Feng für Violoncello solo (1982–83). Während der Kulturrevolution hatte Ge heimlich das Spiel der Violine erlernt, war dann 1971 bis 1974 auf die Insel Chongming zur Landarbeit verschickt worden, wo er unter extremen Lebensbedingungen ein Ensemble gründete, das Varianten und Auszüge aus den im Auftrag von Maos Frau Jiang Qing erstellten propagandistischen »Modellwerken« (yangbanxi) spielte. Bereits 1974 dann wurde er in die Violinklasse des Konservatoriums Shanghai aufgenommen und begann 1977 dort Komposition zu studieren. Nachdem Ge sich die Zwölftonmethode Arnold Schönbergs angeeignet hatte, geriet er in eine massive künstlerische Krise: Er empfand eine unüberbrückbare Kluft zwischen seiner fragmentierten musikalischen Biographie und den Kohärenzmodellen der Zwölftonmusik. Yi Feng war ein radikaler Befreiungsschlag, der Charakteristika chinesischer Musik, etwa die Konzentration auf die klangfarbliche und mikrotonale Schattierung des Einzelklangs und dessen geräuschhafte Einfärbung, in höchst ungewöhnlicher Weise transformierte. Perkussive 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 Abb. 3: Zhu Jian ’ er, Zweite Sinfonie, Zif. 3 (© by Zhu Jian ’ er, Shanghai) 148 149 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 Abb. 4: Ge Ganru, Yi Feng für Violoncello solo; neu editierte Fassung der handschriftlichen Partitur von 1983, S. 1–2 (© 1983 by Ge Ganru, New Jersey) Spieltechniken und die freie Rhythmik orientieren sich an traditionellen Schlagzeugensembles u. a. der chinesischen Oper. Ge strebte dabei einen rein imaginären archaischen Stil an (auf den der Titel verweist, der etwa »verlorener Stil« bedeutet), ein Stil, der jenseits eindeutiger kulturalistischer Identitäten liegen sollte. Die Saiten des Instruments sind in Quarten und bis zu einer Oktav tiefer als in der Originalstimmung gestimmt (Fis-H-E-A), wodurch die Möglichkeiten des Spiels hinter dem Steg erheblich erweitert werden. Die Partitur ist in sechs Systemen notiert (Abb. 4). Ge kannte zum Zeitpunkt der Komposition kaum Werke der neuen Musik nach 1945, lediglich vereinzelte Stücke John Cages, Tōru Takemitsus und George Crumbs; das Œuvre Helmut Lachenmanns, an dessen Pression für einen Cellisten (1969–70) Ges Werk einen »informierten« Hörer erinnern mag, war ihm bis 2006 unbekannt (E-Mail an den Verfasser, 10. 10. 2006). Es ging in Ges Fall letztlich weniger darum, einem massiven westlichen Einfluss etwas kulturell Differentes »entgegenzusetzen«, als darum, innerhalb der äußerst doppelbödigen Diskurse Chinas nach der Kulturrevoluti- on eine integere künstlerische Position zu bewahren oder überhaupt erst zu erlangen. Denn die kulturelle Öffnung der 1980er Jahre nach den extremen Restriktionen der Jahre 1966 bis 1976 ging einher mit einer Kontinuität repressiver Diskurse, denen ein allzu auffälliger Individualismus suspekt war und die in zwei sogenannte »Kampagnen gegen geistige Verschmutzung« in den Jahren 1983 und 1987 mündeten (Mittler 1997, 99, 123 f.). Yi Feng ist vor allem auch deshalb ein so bemerkenswertes Dokument des Umbruchs in der neueren chinesischen Musikgeschichte, weil es sich jenen Repressionen nicht beugte, dabei gerade die von dem weitaus überwiegenden Teil chinesischer Musikschaffender als defizitär eingestuften Charakteristika traditioneller Instrumente wie erhu, pipa oder qin als Wert begriff und in deren Unschärfe und Geräuschhaftigkeit, mithin in ihrer kulturellen Differenz zur Standardisierung westlicher Instrumente, kreatives Potenzial erblickte. Man kann die kreative Explosivität der xinchao wohl in vieler Hinsicht mit der hektischen Innovationskraft der europäischen Musik in den 1950er Jahren vergleichen, da nicht zuletzt in beiden Fällen ein erhebliches Vakuum 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 neu gefüllt und internationale Isolation überwunden werden sollte. Dies konnte freilich in einem Staat wie der VR China kaum von Dauer sein. Die infolge des TiananmenMassakers am 4. Juni 1989 zunehmend durch Exilanten bestimmte chinesische Musik wurde zwar zur Gegenwart hin – und in engem Zusammenhang mit der wachsenden ökonomischen Potenz des Landes – zunehmend wieder in China selbst verhandelt, allen Schwierigkeiten zum Trotz, die das Unverständnis des autoritären Regimes gegenüber »Luxusgütern« wie der neuen Kunstmusik mit sich brachte (Utz 2014, 166). Die propagandistische Vereinnahmung erfolgreicher Künstler ist dabei aber heute wie von jeher Teil der Parteilinie der Kommunistischen Partei (Mittler 1997). Prekär wurde dieser Zusammenhang ganz besonders in Tan Duns Symphony 1997 – Heaven, Earth, Mankind, ein Auftrag der chinesischen Regierung zur Rückgabe der britischen »Kronkolonie« Hong Kong an China am 1. Juli 1997. Tan Dun war in den frühen 1980er Jahren bereits während seines Studiums in Beijing einer der bekanntesten Protagonisten der xinchao, die nicht zuletzt mit einer skeptischen Haltung gegenüber der »nationalen« chinesischen Sinfonik der 1930er bis 1970er Jahre aufgewachsen war. Merkmal der Xinchao-Komponisten war u. a., dass sie sich auf Materialien der chinesischen Musik bezogen, die nicht ohne weiteres in das Gerüst europäischer Satztechniken und Harmonik zu pressen waren  – und Tan musste wie kein anderer die prekären Folgen seines früh auch internationalen Erfolgs spüren, als er 1983–84 während der ersten »Kampagne gegen geistige Verschmutzung« als »Gefolgshund des Kapitalismus« beschimpft wurde und seine Musik sechs Monate lang nicht öffentlich gespielt werden durfte (ebd., 99, 123 f.). Vor diesem Hintergrund ist das Anknüpfen an die Formeln exotistischer Macht-Repräsentation in der nur 13 Jahre später entstandenen Symphony eindringlich. In diesem Zeitraum wurde Tan Dun, nach seiner Übersiedlung nach New York im Jahr 1986 und einer Reihe von internationalen Erfolgen und Anerkennungen zunächst vor allem in Europa zum Hauptrepräsentanten einer neuen, grundsätzlich an der Moderne orientierten chinesischen Musik. In Tans Symphony dagegen werden – mit dem vorgegebenen Ziel, eine musikalische Form der Pop Art schaffen zu wollen (Utz 2002, 459) – in charakteristischer Weise klassische Symbole chinesischer Kultur unter Vernachlässigung ihrer internen Pluralität herausgestellt: Die bekannte Volksliedmelodie molihua (»Jasminblüte«), zitiert auf ausdrücklichen Wunsch der Präsidenten Jiang Zemin (Chou 2011), in einer zu Giacomo Puccinis Turandot analogen Harmonisierung und Instrumentation, das ein archaisches chinesisches Tonsystem dokumentierende kaiserliche Glockenspiel bianzhong in einem diatonisch »zurechtge- 150 hörten« Kontext und eine ins Emphatische verwandelte skeptizistische daoistische Philosophie bieten plastische Beispiele für eine »affirmative« Spielart des Kulturessenzialismus, der »Missverständnisse« des europäischen Exotismus in einem prekären politischen Kontext verfestigt und bestätigt (Utz 2014, 152–165; vgl. Yu 2004; Sheppard 2015). Tan Dun scheute nicht davor zurück, in seiner gemeinsam mit dem Komponisten der Volksbefreiungsarmee Wang Hesheng arrangierten Musik für die 302 Medaillenverleihungen bei den Olympischen Spielen 2008 in Beijing (Cui 2008) erneut auf die Melodie in einer zur Symphony analogen Satzweise zurückzugreifen und sie als »iconic piece«, »almost a cultural symbol of China« und »a gift from the Chinese people to the world ’ s athletes« (ebd.) zu bezeichnen. Eine Wende nahm die Geschichte der Melodie, die bereits lange vor Puccini als Symbol interkultureller Missverständnisse gelten kann (Utz 2014, 152–157), als sie bei der Zeremonie zur Verleihung des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Dissidenten Liu Xiaobo in Oslo am 10. 12. 2010 in einer Fassung für Violine solo vom amerikanisch-chinesischen Geiger Lynn Chang gespielt wurde (The Nobel Peace Prize Award Ceremony 2010, 48:45) und besonders als es kurz darauf nach dem Vorbild der regimekritischen Proteste in Tunesien auch in China zu breiten Anti-Regierungsprotesten im Februar und März 2011 unter dem Motto »Jasminrevolution« (molihua geming) kam: der Begriff »Jasmin« fiel unter die Internetzensur, sogar der Handel mit Jasminblüten wurde untersagt (Chou 2011). 4. Situation und Ausblick: neue Musik als contact zone Im Sinne der angestrebten Verflechtungsgeschichte wurde vor allem im dritten Abschnitt versucht, die neue Musik Ostasiens in ihren dynamischen Wechselwirkungen mit der Zeitgeschichte und politischen Entwicklungen seit dem Kalten Krieg zu zeigen. Gewiss sollte eine solche Sichtweise, die globale Interdependenzen akzentuiert, nicht den Blick verschließen vor den weiterhin fundamental unterschiedlichen Voraussetzungen, die sich neuem Musikschaffen heute in den unterschiedlichen Ländern und Kontinenten bieten, oder vor den grundlegenden Veränderungen, die der Wandel traditioneller Musikformen (häufig in Gestalt von Kommerzialisierung), die Akademisierung des Komponierens und der generelle ökonomische Druck auf unabhängige Kunst in einer neo-liberalistischen Wirtschaftsordnung auslösen. Wenn man so auch vielleicht – nicht zuletzt angesichts der immer dringlicher erscheinenden globalen politischen und sozialen Konflikte – die Globalisierung neuer Kunstmusik als eine »Globalisierung de luxe« (Senghaas 2006, 328 f.) kennzeichnen 151 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 mag, so sollte das Potenzial nicht unterschätzt werden, durch Musik »Identitätsprobleme« hörbar, vernehmbar werden zu lassen. Für eine neue »Rahmung« und Perspektivierung etablierter Identitätskonzepte besonders relevant erscheinen dabei jene Tendenzen, in denen Vertreter unterschiedlicher Diskursfelder in einen direkten Dialog miteinander treten. In Ostasien geht etwa, wie dargestellt, die Zusammenarbeit von Musikern traditioneller asiatischer Instrumente mit (meist europäisch ausgebildeten) Komponisten bereits in die 1950er und 1960er Jahre zurück (3.1, 3.2) und wird seit den 1990er Jahren von immer zahlreicher werdenden Initiativen gefolgt: Versierte Solistinnen und Solisten wie Mayumi Miyata (shō), Wu Wei (sheng), Jiyoung Yi (kayagŭm), Yoko Nishi (koto) u.v. a. initiieren zahlreiche neue Kompositionen für ihre Instrumente. Eine Schlüsselrolle in diesem Kontext spielen interkulturell ausgerichtete Ensembles wie das Atlas Ensemble (Amsterdam, seit 2002), Music from China (New York), Contemporary Music Ensemble Korea (CMEK, Seoul), Shanghai Sinfonietta, Asian Art Ensemble (Berlin), Ensemble εkstrakt (Berlin), Iranian Orchestra for New Music (Teheran), Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN, Bolivien), Chai Found Music Workshop (Taipei) oder das Pan-African Orchestra (Accra). Die meisten dieser Initiativen versuch(t)en  – oft erheblichen praktischen und auch finanziellen Hindernissen zum Trotz  – zu dialogischen Formen musikalischer Interkulturalität zu finden, die ein wechselseitiges Lernen und Studieren der musikalischen Praktiken und Theorien, das kritische Bewusstsein und die Selbstreflexivität von Kunstmusiktraditionen inner- und außerhalb Europas, das Potenzial prozesshafter Zusammenarbeit und die Präzision kompositorischer Denkweisen zusammenführen. Bei all diesen Impulsen, die vor allem in jüngerer Zeit gesetzt wurden, muss man wohl Björn Heile zustimmen, wenn er schreibt »behind the ostensible cosmopolitanism of the new music scene, the old thinking in terms of ›self‹ and ›other‹, ›centre‹ and ›periphery‹ seems to go on unabated« (2009, 101 f.). In der Tat scheint es notwendig – ohne das Pathos vom Komponisten als »Bewahrer« oder gar »Retter« musikalischer Traditionen aufgreifen zu müssen –, die Forderung einer intensiveren und genaueren Auseinandersetzung mit der globalen Pluralität von musikalischen Traditionen und Genres zu erheben – zumindest angesichts ihrer oft oberflächlich bleibenden Behandlung in Sampling- oder Remix-Ansätzen – und diese Forderung zur Voraussetzung einer emphatisch »globalen Musik« der Gegenwart zu machen. Dabei kann es selbstverständlich nie darum gehen, Komponistinnen oder Komponisten auf eine nationale, ethnische oder stilistische Identität oder etwa auf ihre Angehörigkeit zu Schule, Generation oder Geschlecht »festzulegen«. Die legitime globalisierte Suche nach Individualität darf aber nicht den Blick auf Einseitigkeiten verstellen, die durch politische und ökonomische Asymmetrien weiterhin bestehen. Hier ist an Sandeep Bhagwatis Modell neuer Musik als »Toolbox« oder »contact zone« anzuknüpfen, das neue Kunstmusikpraxis als Reservoir an musikalischen Techniken auffasst, mittels derer unterschiedliche musikalische Traditionen und deren Vertreter an kulturellen Aprioris und Grenzziehungen vorbei in vielschichtige Arbeitsbeziehungen eintreten können (Bhagwati 2013c). Bhagwati weist darauf hin, dass das bloße Konstatieren kultureller Vielfalt nicht ausreiche: Um einer einzelnen komplexen Kunsttradition gerecht werden zu können, sind langwierige und oftmals konfliktreiche Annäherungsprozesse notwendig, wie es Bhagwatis Projekt Rasalila mit dem Ensemble Modern und Musikern und Theoretikern der klassischen indischen Musik seit 2001 mit großem Erfolg dokumentiert(e) (Ä Indien). Im Anschluss an Erfahrungen aus diesem Projekt entwickelte Bhagwati in Werken wie Atish-e-Zaban für Vokalensemble (2006) Comprovisations-Partituren, die orale Praxis indischer Musik für europäische Musiker neu denken und »übersetzen«, ohne sie schlicht zu kopieren. Atish-e-Zaban greift auf die nordindische Khyal-Tradition zurück und versucht, eine neue Stimmqualität entstehen zu lassen, die weder »indisch« noch »westlich« ist: »in Atish-e-Zaban, I have composed for six voices that I have never really heard anywhere – Indian voices, but trained in all eurological techniques and score reading. Imagining the other ’ s voice, always a utopian proposition, has in this work mutated into a distinct hope – composing it has expanded my personal sonic and musical imagination, and has made me sensitive to the richness that the unknown sound of an other ’ s voice can afford me« (2013a, 90). Vergleichbare Kompetenzen und Ideenreichtum zeigen die Werke des japanischen Komponisten und Pianisten Yūji Takahashi (*1938), der in den 1960er Jahren im Kontext des Sogetsu Art Center (vgl. 3.1) zum ersten Mal die Bühne betrat und in der Folge zunächst als Pianist (u. a. durch die Uraufführungen von Xenakis ’ Herma, 1960–61, und Eonta, 1963–64) Aufmerksamkeit erlangte. Nach einem zehnjährigen Auslandsaufenthalt (Berlin, Paris, Stockholm, USA) und einem intensiven linkspolitischen Engagement in Japan (seit 1972) entstanden seit den späten 1980er Jahren fein abgestufte Kompositionen hauptsächlich für einen kleinen Kreis befreundeter Musiker vorwiegend japanischer Instrumente, die als sozial-kommunikative Experimente, aber auch als Grundsatzkritik an naiven Formen des japanischen Kulturalismus aufzufassen sind: »Anstatt unsere Musik auf ästhetischen oder philo- e 9. Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 sophischen Metaphern oder einem vagen Gefühl von ›Japanertum‹ zu gründen, können wir direkt von traditionellen Techniken ausgehen, die oral vermittelt werden. Man ahmt das Spiel seines Lehrers nach, so daß eine Übertragung vom einen Körper auf den anderen stattfindet. Und das ist eine sehr direkte Art des Lernens, verglichen mit intellektuellem Verständnis und Übertragung durch abstrakte Mittel wie Noten auf Papier oder eine theoretische Diskussion« (Takahashi 1995, 18). Über diese Konzentration auf traditionell etablierte Bewegungen und Körperhaltungen und eine durch aufmerksames Hinhören erreichte Achtsamkeit auf die musikalische Situation werden in Takahashis oft nur skizzenhaft entworfenen Partituren kulturelle Konnotationen nicht ausgeklammert, sondern unmittelbar aus der Praxis abgeleitet und dabei zugleich transformiert, oft durchaus mit hybriden Zügen, die etwa südostasiatische Traditionen ebenso aufgreifen wie sie an experimentelle westliche Traditionen anschließen, etwa an die Konzepte von Christian Wolff oder Cornelius Cardew (Utz 2014, 185–188, 264–275). Ansätze wie die von Bhagwati oder Takahashi entstehen in einem Spannungsfeld zwischen einer interkulturellen »Kompetenz«, die sich letztlich als Kritik an etablierten Formen kultureller Stereotypisierung verstehen lässt, und einem damit einhergehenden  – unvermeidlichen  – Fortwirken und einer Wandlung eines solchen Kulturessenzialismus. Denn es geht ihnen durchaus, allen dekonstruktivistischen Topoi in ihren Schriften zum Trotz, um ein Aufspüren der »Substanz« indischer, japanischer und anderer Musiktraditionen, freilich im Bewusstsein, dieser nur in Gestalt von Transformation habhaft werden zu können oder, noch genauer, in Gestalt einer »Transposition«, einer »strategischen Aneignung eines fremden kulturellen Vokabulars mit dem Ziel, dominante Werte zu verfremden oder zu unterlaufen« (Takahashi 2013). Dass solche Ansätze heute möglich und realisierbar sind, ist zweifellos eine bedeutende Errungenschaft transnationaler musikalischer Entwicklungen der Musik seit 1945. Sie zu erfassen, erfordert eine Form der »relational musicology« (vgl. 1.4), die die Komplexität und Interaktivität musikalischer Erfahrung in einer globalisierten Welt prominent berücksichtigt. 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Rezeption europäischer Traditionen: Aneignungsstrategien  „ 4. Kompositorische Tendenzen und historische Entwicklungen „ 4.1 Nord- und Westafrika „ 4.2 Südliches und östliches Afrika  „ 5. Rezeption afrikanischer Musik durch westliche Komponisten „ 6. Ausblick 1. Voraussetzungen Die Entwicklung einer eigenständigen Tradition von »Kunstmusik« in Afrika kann verstanden werden als eine vielschichtige Reaktion auf jene sich beschleunigenden kulturellen Veränderungen, die mit der Kolonialisierung sowie den von Regierungsseite eingeleiteten Modernisierungsprozessen der letzten zwei Jahrhunderte einhergingen. Diese Veränderungen betrafen sowohl soziale als auch technologische Bereiche. Erstens eröffneten nach europäischem Vorbild eingerichtete Institutionen neue Perspektiven für eine kulturelle und ökonomische Entwicklung und Veränderung. Von der europäischen Musikkultur, die erstmals vor über 100 Jahren von Diplomaten und Händlern in Afrika eingeführt wurde, und der Eröffnung von Musikhochschulen und Konservatorien bis hin zur Grundlegung eines christlich geprägten Bildungswesens, das mit den Missionarsschulen während der Kolonialzeit in Zusammenhang stand: Die Wertvorstellungen europäischer Kultur veränderten in Afrika nachhaltig die zuvor herausgebildete musikalische Praxis und boten neue Kontexte für musikalisches Handeln. Zweitens eröffneten materielle und technologische Entwicklungen neue Methoden der Produktion und Verbreitung von Musik. Vom Import neuer Musikinstrumenten im 19. Jh.  – insbesondere Gitarre, Akkordeon und Klavier, aber auch Streich- und Blasinstrumente –, bis hin zu den radikalen Neuerungen in Radiotechnik und Schallplattenindustrie während des 20. Jh.s etablierten sich im Kolonialstaat neue Technologien und eine neue Infrastruktur für die Hervorbringung und Verbreitung von Musik. Im zunehmend vernetzten globalen Umfeld der letzten 50 Jahre zeigten Klang, Stil und Technik von Kunst- und Popularmusik in Afrika dabei stets deutli- che Zeichen kulturellen Austauschs und transnationaler Hybridität. Das Aufkommen von Kunstmusik in vielen Teilen Afrikas war einer der vielen Aspekte dieses soziotechnologischen Umbruchs, der dabei häufig mit dem zusätzlichen Aspekt eines »klassischen Prestiges« aufgeladen war. Obwohl Kunstmusik in Afrika insgesamt ein Randphänomen geblieben ist, wurde ihre Legitimität als Kulturgut in allen Teilen des Kontinents immer wieder angefochten und in Frage gestellt (Irele 1993; Agawu 2001): Die in der Formulierung »Kunst«-Musik aufscheinende Dimension einer bekräftigenden »Ernsthaftigkeit« wurde von Kritikern in Zweifel gezogen. So formulierte etwa Ed Bland: »The formal rhythmic organization of West African percussive polyphony at the very least rivals much of the structural complexity of Bach, Western art music, and the so-called Netherlands School, which was achieved by other means« (Bland 2005, 73). Für afrikanische Komponisten war Kunstmusik also weniger mit einem bestimmten Komplexitätsniveau verbunden, sondern mit einer widersprüchlichen Kulturpolitik auf nationaler wie internationaler Ebene behaftet. Schon allein bezüglich einer möglichen Begriffsbestimmung war es im afrikanischen Kontext schwer zwischen traditioneller Musik, Popularmusik, Volksmusik und Kunstmusik zu unterscheiden. Für Akuma-Kalu Njoku schließt »art-composed music« eine ganz bestimmte Tradition von »mnemonics«, »performance space« und »mode of listening« ein (Njoku 1998). Anders als die meisten Formen der Volks- und Popularmusik, wird Kunstmusik hier als ein Milieu dargestellt, gekennzeichnet durch für Konzertsäle bestimmte, in Noten gebannte Musik und aufgeführt für ein Publikum aufgeschlossener und empfindsamer Hörer. 2. Institutionalisierung Njokus Schilderung von Kunstmusik verweist auf jene zahlreichen kompositorischen Entwürfe afrikanischer Komponisten, die für ein kulturelles Milieu konzipiert sind, in dem sich europäische Kunstmusik von Robert Schumann bis Pierre Boulez bewegt. Es mag zunächst paradox erscheinen, dass die wohl auffälligsten Formen musikalischen Ausdrucks, die im Sinne dieser Definition von Kunstmusik in Afrika entstanden, mit nationalen Musikensembles, Balletten und Kulturinitiativen verbunden waren, die von unabhängigen afrikanischen Staaten in der postkolonialen Periode finanziell unterstützt wurden. Solche Bemühungen nach einer indigenen Musik nationalen Charakters spiegelt gleichzeitige Bestrebungen nach einer westlichen Kunstmusik im engeren Sinn. Beispiele hierfür sind im 20. Jh. zahlreich. In Mali fördert der Staat seit den 1960er Jahren große Orchester J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5_10, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH 158 Afrika aus europäischen und afrikanischen Instrumenten mit dem Ziel einer öffentlichkeitswirksamen Verbreitung regionaler musikalischer Stile. Tansanias National Dance Troupe wurde in den 1960er Jahren gegründet, um mit transregionalen musikalischen Mischformen zu experimentieren – ganz im Sinne der ideologischen Forderung eines enttribalisierten postkolonialen Staates, die infolge der sozialen und ökonomischen Entwicklungspläne des tansanischen Präsidenten Julius Nyerere (1960–85) laut wurde. Das Nationalorchester Kameruns wurde in den späten 1970er Jahren gegründet, um unterschiedliche traditionelle Musikformen im Kontext eines tonalen europäischen Idioms wiederzubeleben. Nachdem Robert Mugabes Partei ZANU-PF (Zimbabwe African National Union  – Patriotic Front) 1980 die Unabhängigkeit herbeigeführt hatte, errichtete man in Zimbabwe »Kulturhäuser«, die das kulturelle Erbe der Nation repräsentieren sollten; auch eine National Dance Company wurde in diesem Zusammenhang gegründet. In den 1990er Jahren gründete Ghana das Pan-African Orchestra (Wagner 2006), welches mit einem musikalischen Mischstil experimentierte, in dem Repertoires, Techniken und Instrumente aus unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen und soziokulturellen Zusammenhängen zusammengeführt wurden (Ä Kammerensemble). Laut Nana Danso Abiam, dem Gründer und ersten Dirigenten des Orchesters, war das Ziel des Pan-African Orchestra, mit einem ganzheitlichen afrikanischen Stil zu experimentieren, welcher den »klassischen« Charakter traditioneller afrikanischer Musik betonte (Sweeney 1994). Im Südafrika des 21. Jh.s schließlich förderten Behörden auf der einen Seite Werke lokaler Komponisten, die eine neue Form nationaler Identität infolge der Apartheid zum Ausdruck brachten, auf der anderen Seite wurde aber auch die Anerkennung südafrikanischer Musik im internationalen Kontext angestrebt. Winnie Mandelas Kommentar zu Bongani Ndodana-Breens (*1975, Südafrika) populärem Musiktheater Winnie: The Opera (2011) bringt dieses doppelte Anliegen auf den Punkt: Für Mandela steht die Oper einerseits für die historische Kraft sozialer »Transformation« infolge des südafrikanischen Freiheitskampfs, hebt aber zugleich das kulturelle Schaffen Südafrikas auf das Niveau einer »internationalen Gemeinschaft« (Mandela 2011). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die postkoloniale Institutionalisierung von Kunstmusik und kunstnaher Musik in Afrika von der strategischen Rekonstitution westlich-ästhetischer Mittel (musikalische Stile, Idiome, Genres) im Kontext lokaler afrikanischer Bestrebungen (nationale Politik, Freiheitskampf, postkoloniale Identität etc.) zeugt, welche zugleich auch bemüht ist, internatio- nale Normen etablierter kultureller Wertvorstellungen zum Ausdruck zu bringen. 3. Rezeption europäischer Traditionen: Aneignungsstrategien Die große Bandbreite kompositionstechnischer Zugänge in afrikanischer Kunstmusik entzieht sich einer einfachen Klassifizierung. Allein die Tonhöhenorganisation zeugt von einem mannigfaltigen Spektrum zahlloser unterschiedlicher Ansätze. Von den funktionalen Harmonien der Bearbeitungen nigerianischer Yoruba-Volkslieder für Stimme und Klavier (1959) von Okechukwu Ndubuisis (*1936, Nigeria), dem rein diatonischen Antubam für Violoncello und Klavier (1965) von J.H. Kwabena Nketia (*1921, Ghana) oder den dichten modalen Texturen in Four Igbo Folk Songs (1985) von Joshua Uzoigwe (1946–2005, Nigeria) bis hin zu den scharfen Quartdissonanzen in Gyimah Labis (*1950, Ghana) Dialects für Klavier (1986–2012) oder den Zwölftonreihen in Akin Eubas (*1935, Nigeria) Scenes from Traditional Life für Klavier (1970)  – afrikanische Kunstmusik greift auf ein reichhaltiges Repertoire tonaler modi operandi zurück. Obwohl es zahlreiche Querverbindungen zu afrikanischen Liedern und Idiomen gibt, gehen Tonhöhenvorrat und harmonischer Zusammenhang dieser Musik häufig auf eine europäische Kompositionspraxis zurück. Wenn ein afrikanisches Idiom auf ein westliches Instrumentarium übertragen wird, konfrontiert man es mit einem kodifizierten, auf Tasteninstrumente ausgerichteten Tonarten- und Stimmungssystem sowie mit einer gänzlich verschiedenartigen Schnittstelle zwischen Interpret und Instrument. Die Musik von Fela Sowande (1905–87, Nigeria), vielleicht Nigerias bekanntester westlich orientierter Komponist, geht wesentlich auf die durch Tasteninstrumente geprägte Musik der anglikanischen Kirche zurück. In Orgelwerken wie Yorùbá Lament (1955), Jesu Olugbala (1955), Obangiji (1955), Kyrie (1955) und Gloria (1958) finden sich pentatonische Yoruba-Melodien, die mit westlich-funktionalen Akkordwendungen harmonisiert werden (Njoku 1998). Vergleichbar damit wird in Ndubuisis Adaptionen nigerianischer Yoruba-Volkslieder für Stimme und Klavier (1959; z. B. Atuak Ukot Odo und Onye Naku na Onuzo Muo) die ursprüngliche Musik substanziell dahingehend verändert, dass sie den Anfordernissen einer tastenbasierten Diatonik gerecht wird, mit dem Resultat, dass der tonale Dialekt der einheimischen Igbo aus der Musik verdrängt ist. Dieselbe Art musikalisch-stilistischer Fusion ist charakteristisch für die Musik von Dumisani Maraire (1944–99, Zimbabwe). In Kutambarara (Ausweitung) für Streichquartett, kalimba, Chor und Solo-Gesang (1992) wird traditionelle Musik für die simbabwischen Lamellophone kalimba in gleichstufiger 159 Stimmung neu gesetzt, um einen Chor und ein Streichquartett zu begleiten. Die Vereinheitlichung von Melodie und Stimmung bringt hier funktionale harmonische Progressionen hervor, die zwangsläufig die großformalen harmonischen Symmetrien der originalen KalimbaMusik unterminieren. Man kann argumentieren, dass die resultierende Form all dieser Beispiele letztlich durch das technische Abstimmen auf »importierte« musikalische Prinzipien kompromittiert ist. Für Paul Konye steht diese Art einer »Western acculturation of Africa« in direktem Zusammenhang mit den ideologischen Werkzeugen der »Christianity, Western education, and colonization« (2005, 22). Die hier lediglich angedeuteten Auswirkungen kultureller Aneignung entpuppen sich in der Praxis als wesentlich komplexer und sind immer wieder Gegenstand von Debatten, die sich auf afrikanische Kunst- und Popularmusik erstrecken. So argumentierte etwa Akin Euba, dass das moderne Klavier, trotz der fremdartigen und idiomatisch-standardisierten Stimmung, als Perkussionsinstrument im Grunde »certain affinities with African music« zeige, etwa zu »African drums and other instruments of percussion«. Euba plädiert für die Nützlichkeit des Klaviers als Instrument afrikanisch-westlicher Fusion (Euba / Kimberlin 2005, 1). Einerseits assoziierte man mit dem Klavier, wie Bode Omojola beobachtete, hauptsächlich das repressive koloniale Bildungssystem und die darin prominent agierenden christlichen Kirchen, andererseits zeichnet es sich jedoch auch durch »latent African characteristics« aus, welche die Basis dessen bilden, was Euba als »African pianism« bezeichnet (Omojola 2005, 127). In seiner Darstellung von Eubas Musik argumentiert Omojola: »[African pianism] represents a subtle attempt […] to reject the esoteric characterization of African music as a ritual tradition designed for the gods, [in favor of a more abstract] modernist portraiture« (ebd.). Konye demonstriert die ästhetische und klangfarbliche Affinität des Klaviers zu unterschiedlichen Typen afrikanischer Harfen und Lamellophone (Konye 2005, 16). Der implizite Wert einer Umfunktionierung westlicher Musikinstrumente für lokale afrikanische Musik wurde auch auf übergeordnete politische Anliegen bezogen, aus deren Sicht musikalische Verwandtschaft und Verschiedenheit lediglich eine Metonymie darstellen. Im lokalen Kontext war das Loslösen von Althergebrachtem auch aus emanzipatorischer Sicht vielversprechend. In einem Kommentar zur Musik Gyimah Labis zählt George Dor die politischen Vorteile auf, die sich daraus ergeben würden, »Ghanaian ethnic units« mithilfe westlicher Instrumentalklänge zu vermeiden (Dor 2005, 144). Indem Labi bei der Wahl seiner klangfarbli- Afrika chen Mittel lokale Charaktere meide, verschreibe er sich einer Art lingua franca, die ethnische Spaltungen transzendiere. Der Einsatz europäischer Instrumente ist in dieser Sichtweise vergleichbar mit der politischen Strategie des Englischen, das, obgleich nur von einer Minderheit gesprochen, in vielen afrikanischen Nationen als offizielle Sprache etabliert wurde, insbesondere in Südafrika nach Ende der Apartheid. Auf der anderen Seite wurden europäische Instrumente, ungeachtet der mit ihnen verbundenen Verheißung translokaler Neutralität, gelegentlich auch modifiziert und so lokaler Ästhetik nutzbar gemacht. In Ägypten etwa schuf der Radiotechniker Abdallah Chahine (1894–1975) ein »arabisches« Klavier, eine an die nicht-temperierten Intervalle arabischer Musik adaptierte experimentelle Vorrichtung mit 88 Tasten. In Uganda versuchte Justinian Tamusuza (*1951) »[to] make the piano sound ›Kiganda-like‹«, indem er das Klavier mit einem lose zwischen den Saiten verlaufenden Draht präparierte (z. B. in Akadongo k’Akaabaluulu für präpariertes Klavier, 1992). Das Hinzufügen dieses schnarrsaitenartigen Timbres erinnert an die sirrenden Töne der bekannten ugandischen Amadinda- und Akadinda-Xylophonmusik. Meistens wurde das Klavier jedoch in seiner ikonenhaften westlichen Stimmung verwendet, wobei es vielfältige dialektische Spannungen zwischen Aneignung und Macht, Verwandtschaft und Verschiedenheit, Homogenisierung und Tribalisierung, Eurozentrismus und Exotismus etc. heraufbeschwört. 4. Kompositorische Tendenzen und historische Entwicklungen 4.1 Nord- und Westafrika Es ist kaum möglich, das kompositorische Schaffen einzelner afrikanischer Komponisten und Musiker unter einem einheitlichen Aspekt zusammenzufassen, jedoch lassen sich angesichts der unterschiedlichen Zeitspannen afrikanischer Entkolonialisierung einige allgemeine stilistische Tendenzen in unterschiedlichen Regionen Afrikas ausmachen. In Nord- und Westafrika, wo die Unabhängigkeit in den 1960er Jahren erreicht worden war, zeichnete sich die Kunstmusik im Allgemeinen durch eine bestimmte Form von stilistischer Heterogenität aus. Auf der einen Seite führte das Zusammenführen afrikanischer und europäischer Ästhetiken in Werken von Ndubuisi, Labi, Nketia, Euba oder Kenneth Kafui (*1951, Ghana) zu einer Form von Ä Polystilistik, vergleichbar etwa mit jener in den Werken Alfred Schnittkes oder Luciano Berios. Auf der anderen Seite waren die intertextuellen Verweise in westafrikanischer Kunstmusik spezifisch auf das umstrittene Terrain globaler soziopolitischer Beziehungen und auf die Verheißungen der Entkolonialisierung zugeschnitten. Nir- Afrika gends ist dies offenkundiger als in Eubas Oper Chaka, die auf einem dramatischen Gedicht mit demselben Titel von Léopold Sédar Senghor (1906–2001, Präsident des Senegal 1960–80) basiert und die berühmte Geschichte eines isiZulu-Häuptlings im 19. Jh. erzählt (Breitinger 1999). Die außergewöhnlich große Orchesterbesetzung in Chaka beinhaltet sowohl europäische als auch afrikanische Instrumente (z. B. ghanaische atenteben [Bambusflöten], agogo [Glocken], Schlitztrommeln, tonhöhengebundene Felltrommeln, Yoruba-Sanduhrtrommeln etc.). Abgesehen von dem offensichtlichen klangfarblichen terroir, setzt Euba dieses Instrumentarium im Sinne traditioneller westafrikanischer Idiome ein und verweist dabei auf Genres mehrerer afrikanischer Ethnien (z. B. die Tänze Adowa der Ashanti und Atsiagbekor der Ewe). Im Gegensatz dazu nutzt ein Ensemble europäischer Instrumente in Eubas Werk kompositorische Verfahren wie Leitmotiv- und Ä Zwölftontechnik. Ferner ist Chaka in eine Flut musikalischer Zitate, sowohl europäischen als auch afrikanischen Ursprungs, eingebettet. Das Wechselspiel von Allusionen, Stilen und Kompositionstechniken bildet eine beeindruckende Textur symbolhafter Assoziationen, die einen Gegenpol zur deutlichen narrativen Darstellung der Handlung darstellt. Inspiriert von einer sich wechselseitig befruchtenden Synthese europäischer und afrikanischer Kultur, folgt Eubas Œuvre dem Diktum der Parole Senghors: »Assimilate, but don ’ t be assimilated« (Maina u. a. 2004, 74). Eubas Entwurf riskiert freilich, die entfremdende Antinomie zwischen Afrika, als Gebiet einer vorwiegend rhythmisch geprägten Musikkultur, und Europas kulturellem Erbe harmonisch-tonaler Musik aufs Neue zu strapazieren. Für Theoretiker wie Kofi Agawu, untermauert diese Form unumstößlicher Dialektik eine Invention of »African Rhythm« (Agawu 1995)  – »discouraging explorations in the dimensions of melody, instinctive harmonization and timbrel density« in afrikanischer Musik (Agawu 2001, 143). Die Arbeitsteilung zwischen afrikanischen Rhythmuspatterns und europäischen Tonhöhenprozessen scheint charakteristisch für eine bestimmte Phase in der Geschichte westafrikanischer Kunstmusik. Wie in Eubas Chaka dominieren auch in Gyimah Labis Paukenkonzert (1993) neben den Solo-Pauken vor allem traditionelle afrikanische Perkussionsinstrumente. Labi entwickelt dabei vorrangig, auch in den Solo-Pauken, traditionelle afrikanische Rhythmuspatterns. Daneben nimmt das Tonhöhenmaterial allerdings offenkundig auch Bezug auf Traditionen der Akan, Ewe, Builsa, Ga und weiterer afrikanischer Ethnien (Dor 2005, 142). Auch in Nketias Œuvre ist die tonale Sprache zum Teil afrikanischen Idiomen verpflichtet. In seiner Volta 160 Fantasy für Klavier (1961) verwendet Nketia z. B. eine heptatonische Skala mit variabler siebter Skalenstufe, parallele Terzen und einen charakteristischen Quartfall am Ende der melodischen Linien. George Dor interpretiert diese Elemente als idiomatische Zeichen der Akan-Tradition sowie der Tradition der nördlichen Ewe (ebd.). Dennoch bleiben in Nketias Werken rhythmische Prozesse, basierend auf unterschiedlichen Trommeltraditionen, die wesentliche »afrikanische« Komponente. In seiner Suite für Flöte und Klavier (1951) ist Nketias tonale Sprache bspw. mehr oder weniger konstant und diatonisch, während sich der Rhythmus einer polyphonen, verschachtelten Imitation hingibt. In ähnlicher Weise wird der überdeutliche Einsatz funktionaler Harmonik in Ndubuisis VolksliedAdaptionen durch Basslinien an jenen Stellen gebrochen, an denen Kreuzrhythmen an afrikanische Trommelmusik erinnern. Kurz gesagt entstammen die musikalischen Strukturen in Werken von Euba, Labi, Nketia und Ndubuisi vorwiegend einem dualistischen Paradigma. Kontrastierend hierzu haben verschiedene Komponisten Nord- und Westafrikas auch innovative neuartige Modelle angewendet, um Tonhöhenbeziehungen zu generieren, die nicht einfach mit »europäischen« oder »afrikanischen« Idiomen gleichgesetzt werden können. Der Nigerianer Joshua Uzoigwe (1946–2005) setzt bspw. wechselnde modale Konstellationen innerhalb eines strengen multimetrischen Kontexts ein, um sprunghafte kontrapunktische Linien zu erzeugen. In seinen Klavierwerken, wie z. B. Lustra Variations (1996), Talking Drums (1990) oder Four Nigerian Dances (1985), entwirft Uzoigwe außerdem tonale Beziehungen, die eher auf eine spezifische »Intervall-Logik« zurückzuführen sind als auf Tongruppen oder harmonische Funktionen. In Egwu Amala aus Talking Drums durchläuft die Musik z. B. alle zwölf chromatischen Töne, was in Kombination mit rhythmischen Ostinati eine Art von rhythmisierter »afrikanischer« Chromatik zur Folge hat (Abb. 1). In Ägypten war die Anpassung westlicher Skalen gemäß den Ansprüchen der arabischen Modi maqamāt für die Kunstmusik normgebend (Ä Arabische Länder). Halim El-Dabhs (*1921, Ägypten) harmonischer Stil versuchte die Einschränkungen der temperierten Stimmung aufzubrechen, indem er einzelne Töne durch komplexe Akkorde »krümmt« oder »beugt«. Diesen Prozess bezeichnet er als »heteroharmony« (Seachrist 2005, 148). In seiner Klaviermusik verwendet El-Dabh zum Teil direkt auf den Klaviersaiten gespielte Cluster und »Massenakkorde«, um »heteroharmony« zu erzeugen. Er modifizierte dabei die Töne und deren Klangfarbe, indem er Objekte unter den Saiten des Klaviers platzierte. Gamal Abdel-Rahim (1924– 88), ebenfalls aus Ägypten, setzte eine andere Technik ein 161 Abb. 1: Joshua Uzoigwe, Egwu Amala, aus Talking Drums für Klavier, T. 69–78 (© 1999 MGBO Music, Yaba, Nigeria) um maqām-ähnliche Strukturen zu erzeugen. In Werken wie seiner Rhapsody for Cello and Piano (1990) vermeidet Abdel-Rahim das Dur-Moll-System zugunsten traditioneller ägyptischer Idiome. Dabei erweitert er immer wieder traditionelle Monodie zur Polyphonie, indem er die modale Intervall-Logik nutzt, um motivische Transformationen und Modulationen zu generieren, die sich zur Großform ergänzen. 4.2 Südliches und östliches Afrika In den südlichen und östlichen Regionen Afrikas, wo die Unabhängigkeit tendenziell ein bis zwei Jahrzehnte später erreicht wurde als in Nord- und Westafrika, entwickelte sich die Kunstmusik hauptsächlich aus kaum weiterverarbeiteten Transkriptionen, Paraphrasen und Zitaten indigener Idiome. Infolgedessen zeugte die dort entstandene Kunstmusik von einem sehr viel lebhafteren »afrikanischen« musikalischen Ausdruck als es in Nord- und Westafrika der Fall war. In Zimbabwe hat Dumisani Maraire in Kutambarara (1992, vgl. 3.) bspw. transkribierte Abschnitte eines traditionellen mehrteiligen KalimbaLiedes ausgearbeitet, um mit der Musik so »afrikanische Konzepte, Perspektiven, Traditionen und Kulturen« zu vermitteln (Maraire 1992). In vergleichbarer Weise basie- Afrika ren auch Justinian Tamusuzas Werke Ekitundu Ekisooka für Streichquartett (1992) und sein Abakadde Abaagalana Be Balima Akambugu für Sopran, Tenor und präpariertes Klavier (1995) substanziell auf der traditionellen Musik Ugandas. Der Wechsel der metrischen Unterteilungen zwischen binär und ternär, die subtilen Asynchronizitäten zwischen den Parts und die kontrapunktische Interaktion erzeugen eine eindrucksvolle aber dezente »ugandische« musikalische Textur (Abb. 2). Obwohl Tamusuzas Kompositionen dezidiert aus der Kiganda-Musik des auf dem Gebiet Ugandas liegenden Königreichs Buganda hervorgeht – insbesondere durch Bezug auf traditionelle Musik für engoma (Trommeln), endingidi (einsaitige Fidel), endere (Flöte), endongo (Leier) und amalaboozi (Stimmen)  – hebt der Komponist hervor, dass seine »simulation of Kiganda traditional music« mit der zeitgenössischen Musik Europas und Amerikas in Zusammenhang stehe. Wenn er auf Stimmung, rhythmische Patterns, tonale Organisation und instrumentale Idiomatik der Kiganda-Musik verweist, akzentuiert Tamusaza zugleich Ähnlichkeiten zwischen seinem afrikanisierten musikalischen Stil und der Musik der Moderne, wobei er neben Charles Ives und Olivier Messiaen auch Minimalisten wie Steve Reich und Philip Glass nennt (Tamusuza 2005). Maraires und Tamusuzas Werke wurden vom Kronos Quartett eingespielt und auf der CD Pieces of Africa (Elektra Nonesuch, 1992) veröffentlicht. Im postkolonialen Südafrika setzt sich rasch die allgemeine Meinung durch, dass afrikanische Musik immer schon eine hohe Form von Kunstmusik dargestellt hatte; einzig eine Gruppe weißer Komponisten, die zumeist unter dem Patronat institutioneller Organe des ApartheidRegimes operiert hatten, verschloss sich dieser Ansicht. Aber schon in den 1980er Jahren, als die Apartheid Südafrika noch gänzlich in ihrer Macht hatte, bahnte der südafrikanische Komponist und Pionier Kevin Volans (*1949) den Weg für die Methode afrikanischer Paraphrasierung in einer Reihe von Kompositionen, die bewusst auf afrikanische Idiome zurückgriffen – seine Modelle waren Musik für mbira dza vadzimu (Mbira der Vorfahren) und matepe, zwei Lamellophontypen aus Zimbabwe, Musik für lesiba (mit dem Mund angeblasener Musikbogen) aus Lesotho und Musik für nyanga (Panflöte) aus Mozambique, um nur einige zu nennen. Repräsentativ hierfür sind seine Streichquartette (vor allem das Erste Streichquartett White Man Sleeps, 1986, die Umarbeitung eines gleichnamigen Werks für 2 Cembali, Viola da gamba und Perkussion, 1982) und seine Kompositionen für Perkussion (vor allem She Who Sleeps with a Small Blanket für Perkussion solo, 1985). Der Paraphrasierungsansatz zielte darauf ab, die »offizielle« Ästhetik der Apartheid herauszufordern, Afrika Abb. 2: Justinian Tamusuza, Abakadde Abaagalana Be Balima Akambugu für Sopran, Tenor und präpariertes Klavier, Ausschnitt (© 1995 Justin Tamusuza) die versuchte Südafrika in Stammesenklaven aufzuteilen. Diese Politik vehement zurückweisend, versucht Volans ’ Musik auf die ästhetisch-formale Qualität aufmerksam zu machen, die in afrikanischer Musik angelegt ist und die Diskurse der »World Music« und der Ethnomusikologie transzendiert. Volans ’ Streichquartett The Songlines (1988) etwa basiert auf verschiedenen bewegten und regelmäßigen Rhythmen, die vermutlich von der Musik für Mundbogen des San-Volks inspiriert wurden. Der zweite Satz ist größtenteils erfüllt von einem Lied für mbira dza vadzimu bekannt unter dem Namen Nyamaropa (»blutiges Fleisch« – der Titel verweist auf eine erfolgreiche Jagd oder einen erfolgreichen Kampf ). Dasselbe Lied nahm auch in seinem Werk Mbira für zwei umgestimmte Cembali (1980) bereits eine wesentliche Stellung ein. Durch das Entfernen, Verändern und Hinzufügen »falscher Noten« zur ursprünglichen Tonfolge macht Volans effektiv die harmonischen Symmetrien des Originals unkenntlich und gibt der Musik so eine Tendenz zu einer traditionellen Variante der Melodie, wie sie von Gwanzura Gwenzi in Harare gespielt wurde (Scherzinger 2005). Indem sie den melodischen und rhythmischen Reichtum des Originals 162 betont, stellt Volans ’ Musik erfolgreich den eurozentrischen Stereotyp einer bloß rhythmischer Praxis verpflichteten afrikanischen Musik effektiv in Frage. Die Musik des Südafrikaners Bongani Ndodana-Breen geht ebenfalls aus der afrikanischen Tradition hervor, ist jedoch weniger auf die Ästhetik der Paraphrase ausgerichtet. Ndodana-Breens Musik bringt eine utopisch-musikalische Vision infolge der südafrikanischen Unabhängigkeit zum Ausdruck. Die Werktitel und außermusikalischen Inhalte seiner Stücke räumen der afrikanischen Musiktradition, Geschichte und Folklore einen Ehrenplatz ein. Neben dem enorm populären Winnie: The Opera (2011, vgl. 2.) zählen zu Ndodana-Breens Werken u. a. Sons of the Great Tree für Kammerensemble (2001), in dem das Totem Mthikhulu (großer Baum) aus Ndodanas Ahnenlinie beschworen wird; Rainmaking für Flöte, Viola, Harfe, Marimba und Perkussion (2013), das den Geist der 2001 verstorbenen Königin Nodjadai V, der »Regenkönigin« des Lovedu-Stammes, wachruft; und Hintsa ’ s Dances für Flöte, Viola, Harfe, zwei Marimbas und Perkussion (2006), das auf Hintsa ka Khawuta verweist, den Häuptling des Gcaleka-Stammes (eine Untergruppe des Xhosa-Volkes), der 1835 auf Robben Island von den Briten im Zuge der Kapgrenzkriege inhaftiert worden war. In Bezug auf sein Opern-Oratorium Uhambo (1989) erklärt der Komponist, dass der »core African accent« auf ein vielfältiges Spektrum musikalischer Traditionen verweise, u. a. auf Repertoires der kora (Stegharfe), uhadi (Mundbogen) und djembe (Bechertrommel).  – Ndodana-Breen beschreibt sein Engagement für afrikanische Musik im Sinne einer sukzessiven Distanzierung von westlichen kompositorischen Standards: »As part of my quest for an identity as an African, I have been drawn more and more towards an ›African aesthetic‹ within my art form, which is still riddled with European conventions. In trying to make sense of a cultural paradox, a new musical language emerges« (Pyper 1997). Weitere südafrikanische Komponisten, die ihre Musik ausdrücklich an afrikanische Idiome anlehnen, sind Michael Blake (*1951), Mokale Koapeng (*1963), Martin Scherzinger (*1966) und Robert Fokkens (*1975). Blake verweist z. B. auf eine breite stilistische Palette, die von Claude Debussy, Igor Strawinsky und Louis Andriessen bis Kevin Volans reicht. Seine unverwechselbare Klangsprache leitet sich jedoch aus seinem Interesse an afrikanischen musikalischen Patterns ab, was während seiner gesamten kompositorischen Laufbahn zu beobachten ist. Seine frühen Werke evozieren ganz explizit traditionelle afrikanische Methoden des Musikmachens, z. B. Taireva für vierspuriges Tonband, Viola, Violoncello und präpariertes Klavier (1978–83; der Titel bedeutet 163 etwa »Ich habe dich gewarnt« und verweist auf ein berühmtes Shona-Lied für mbira dza vadzimu), Kwela für Kammerorchester (1992), das die südafrikanische vom Jazz beeinflusste Tin-Whistle-Musik der 1950er Jahre in ausgefallenen rhythmischen Arrangements neu gestaltet, und Let us Run out of the Rain für Streichquartett (1991), das auf Patterns der Kalimba-Musik der Nsenga basiert. In diesen Werken nutzt Blake gebrochene Paraphrasen aus verschieden Genres afrikanischer Musik, wobei die Polarität zwischen musikalischem Zitat und abstrakter musikalischer Erfindung in Frage gestellt wird. In ähnlicher Weise greift Fokkens häufig auf klassische europäische Instrumente zurück, behandelt sie aber als wären es afrikanische. Sein Werk reicht von zeitgenössischen Musiktheaterwerken bis hin zu Kammermusik. Obwohl die tonale Sprache seiner Instrumentalwerke sehr breit gefächert ist und dabei u. a. erweiterte tonale Harmonik und Mikrotonalität beinhaltet, ist die Musik im Kern dennoch vor allem auf die Feinheiten afrikanischer Patterns zugeschnitten, die von Fokkens mit maßvoller Präzision ausgearbeitet werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Paraphrasierungstechnik, initiiert von Komponisten wie Volans, zu einem wichtigen Wesenszug vieler südafrikanischer Musik nach Ende der Apartheid geworden ist. Unverkennbare musikalische Eigenheiten, die aus dieser Musik hervorgehen, sind u. a. die dezentrale Verteilung einzelner musikalischer Abschnitte, Techniken der Verschachtelung, eine den metrischen Schwerpunkt ständig verschiebende Rotationsrhythmik, nicht-funktionale harmonische Progressionen, zirkuläre Zeitlichkeit, offene formale Texturen, extrem schnelle und extrem langsame Tempi sowie symmetrische und schief-symmetrische Patterns. Aber viele Komponisten verbanden afrikanische und westliche Elemente auch auf andere Weise als mittels einer strikten, auf formale Abstraktion zielenden Paraphrasierungstechnik. Die Musik des Dirigenten und Komponisten Mokale Koapeng ging bspw. aus einer reichhaltigen Tradition von Chormusik hervor, die mit dem südafrikanischen Christentum in Zusammenhang steht. Obwohl Werke wie Komeng für Streichquartett (2010) den formalen Zugang von Abstraktion und Paraphrasierung reflektierten, basiert Koapengs musikalischer Stil vorwiegend auf einer Art von zeitgenössischer Hymnik, die oft nahtlos mit einem afrikanisierten Jazz-Idiom verflochten wird. Die Bedeutung schwarzer Chormusik für die südafrikanische Musikkultur im Allgemeinen kann kaum überschätzt werden. Das Phänomen Chormusik beeinflusste Legionen regionaler Komponisten im ganzen Land im Kontext von Schul-, Gemeinde- und Kirchenchören (Olwage 2008, 35–53). Repräsentativ hierfür sind u. a. John Afrika Knox Bokwe (1855–1922), Ernest Songtonga (1873–1905), Alfred Kumalo (1879–1966), Michael Moerane (1909–81), Joshua Mohapeloa (1908–82) und Mzilikaze Khumalo (*1932). Ebenso wie die afrikanische Chormusik übersteigt auch die Bedeutung des Jazz für die Musikkultur in Südafrika in hohem Maße jene der Kunstmusik. Es würde den Rahmen sprengen, hier alle wichtigen Persönlichkeiten dieses Genres aufzuzählen, ihr Einfluss auf die Kunstmusikszene kann jedoch ebenfalls kaum überschätzt werden. Komponisten wie Paul Hamner (*1961) und Carlo Mombelli (*1960) agieren an der Grenze zwischen Jazz und Kunstmusik, während profilierte Jazzmusiker wie Hugh Masekela (*1939), Miriam Makeba (1932–2008) und Abdullah Ibrahim (*1934) als eigenständige Künstlerpersönlichkeiten respektiert werden. Ibrahim verwandelt das Klavier regelrecht in ein afrikanisches Musikinstrument und resümiert damit jene Art des »African pianism«, wie er von Akin Euba beschrieben wurde (vgl. 3.). Trotz der in vielen Kompositionen offensichtlichen Tendenzen in Richtung Jazz, Chormusik und traditioneller afrikanischer Musik ist die Kunstmusik Südafrikas letztlich schwer auf einen Nenner zu bringen. Eine knappe Auswahl von Stilen, die sich außerhalb der genannten Tendenzen bewegen, zeugen von einer großen Vielfalt musikalischer Zugänge. Clare Lovedays (*1967, Südafrika) eklektizistischer Zugang erstreckt sich vom farbenreichen Impressionismus ihres Fever Tree für achtteiliges Instrumentalensemble (2013) bis zur afro-minimalistischen Romantik in den Johannesburg Etudes für Klavier (2012/15) und der kompromisslosen Studie Duodectet für Saxophonquartett (2008), die im ersten Satz fast ausschließlich in einem rhythmischen Unisono gesetzt ist. Jürgen Bräuninger (*1956), der sich insbesondere für die Musikalität afrikanischer Sprachen interessiert, arbeitet mit elektronischen Medien und folgt dabei der Tradition Karlheinz Stockhausens und anderen Komponisten der europäischen Avantgarde. In vergleichbarer Weise zieht Andile Khumalo (*1978), der in Deutschland und den USA studierte, seine Inspiration aus der französischen Ä Spektralmusik, so etwa aus Werken von Tristan Murail und Fabien Lévy, und dem Perspektivismus des bildenden Künstlers Markus Raetz. Während Werke wie Cry Out für Kammerensemble (2009) gelegentlich illusionistische Rhythmustechniken afrikanischer Kulturen heraufbeschwören, liegt das Hauptaugenmerk in Khumalos Œuvre auf (nicht notwendig Afrika-spezifischen) Wahrnehmungsparadoxien und musikalischer Grammatologie. Diese Form einer flexiblen und offenen musikalischen Grundhaltung zeigt sich auch im Spätwerk Volans’ , das sich durch einen höchst virtuosen Gebrauch abstrakter Patterns auszeich- 164 Afrika net und sich dabei von fast allen erkennbaren afrikanischen Ursprüngen losgesagt hat. 5. Rezeption afrikanischer Musik durch westliche Komponisten Wie auch die Musik kolonialisierter Nationen irreversibel unterschiedlichste Elemente der europäischen und amerikanischen Kultur in ihre eigene Musikkultur integrierte, hat das koloniale und postkoloniale Zusammentreffen auch die Evolution der westlichen Musikstile, Theorien, Formen und Kompositionstechniken im 20. Jh. wesentlich geprägt (Ä Globalisierung). Die Historische Musikwissenschaft hat sich bislang nur selten auf eine nähere Untersuchung der Rolle nicht-westlicher Kulturen in ihrer Beurteilung und Darstellung wesentlicher Entwicklungen der westlichen Kunstmusik eingelassen. Dabei haben die Einflüsse afrikanischer und anderer nicht-westlicher Kulturen in der europäischen und amerikanischen Musikgeschichte markante Spuren hinterlassen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Musik Steve Reichs (*1936) (Ä Minimalismus / Minimal Music), dessen Affinität zu afrikanischer Musik besonders auffällig ist. Man könnte argumentieren, dass sich Reichs gesamtes Œuvre auf seine eigene Auslegung komplexer kontrapunktischer und pulsorientierter Rhythmen westafrikanischer Trommelensembles sowie auf zentralafrikanische Xylophon-Praktiken zurückführen lässt. In den 1960er Jahren studierte Reich afrikanische Musik mittels Arthur M. Jones ’ wegweisendem Buch Studies in African Music (1959), das umfangreiche Transkriptionen westafrikanischer Trommelstile enthält. Im Kontext seiner eigenen Musik versuchte Reich über das bloße Zitieren »exotischer« afrikanischer Musik hinauszugehen, vielmehr wollte er ihre formalen Strukturen durchdringen (Reich 1971/2002, 1973/2002; Scherzinger 2006; Klein 2014, 105–147). Sein 1970–71 entstandenes Werk Drumming für Schlagzeug, zwei Frauenstimmen, Pfeifen und Piccoloflöte war ein Resultat dieser Bestrebung. Weitere Werke dieser Schaffensperiode sind Clapping music für zwei Ausführende (1972), Music for Pieces of Wood für fünf Paar gestimmte Claves (1973) und Music for Eighteen Musicians für Ensemble und Frauenstimmen (1974–76), die alle deutlich auf Gankogui (Glocken)-Patterns unterschiedlicher westafrikanischer Trommelensembles basieren. Vom Minimalismus inspirierte Komponisten aus anderen Teilen der westlichen Welt zeigten ebenfalls Interesse an afrikanischer Musik. Beispielsweise studierte György Ligeti (1923–2006) sorgfältig die Entstehung sog. »inherent pattern« wie sie in der afrikanischen Musik zu finden und vom Ethnomusikologen Gerhard Kubik beschrieben wurden (Kubik 1962/70, 1983). Ligeti erzeugte in seinen Werken seit den 1980er Jahren dicht verwobene polyphone Texturen in sehr hoher Geschwindigkeit. Die Wahrnehmungsparadoxie der »inherent pattern« basiert auf Streaming-Effekten (d. h. der Zusammenfassung von Tönen unterschiedlicher Instrumente im selben Register zu einer melodischen Linie) in der Musik der mbira dza vadzimu sowie der Amadinda- und Akadinda-Xylophone aus Uganda (Taylor 2003; Scherzinger 2006; Utz 2014, 283–316). In der Amadinda-Xylophonmusik spielen zwei oder mehr Musiker ineinander verschachtelte Phrasen derselben Länge in einer Geschwindigkeit zwischen 200 und 600 Schlägen pro Minute. Einige von Ligetis Klavieretüden (1985–2001) wurden auf der CD Ligeti / Reich: African Rhythms (Teldec 2003) veröffentlicht, auf der neben Kompositionen von Ligeti und Reich auch die Musik des nomadischen Pygmäenvolks Aka zu hören ist (Scherzinger 2006). Ungeachtet derartiger Projekte und der offenkundigen und von den Komponisten selbst immer wieder bekräftigten Verweise auf die traditionelle afrikanische Musik wird das Schaffen dieser Komponisten im Allgemeinen meist vorwiegend aus Sicht der westlichen Musikkultur gedeutet. In dieser Sichtweise zeichnet sich die Musik Reichs oder Ligetis weniger durch ihre Reminiszenz an afrikanische Texturen und Strukturen aus, sondern durch eine formale Neukonfiguration und Abstraktion der afrikanischen Elemente. Ihrer ursprünglichen afrikanischen Bedeutungsschichten beraubt, lässt sich diese Musik so nahtlos in eine Musikgeschichtsschreibung einfügen, deren Protagonisten generative Prozesse und abstrakte Klangformen sind. 6. Ausblick Im Falle afrikanischer Kunstmusik müssen wir von einem vielfältigen Nebeneinander unterschiedlicher Konventionen, Weltansichten und Wertvorstellungen ausgehen, die sich einem verallgemeinernden Deutungsversuch zwangsläufig entziehen. Obwohl die Geschichtsschreibung der Kunstmusik in Afrika aus einem weitreichenden Fundus unterschiedlicher Bedeutungen und Werte schöpfen kann, übergeht sie häufig lokal gebundene und flüchtige musikalische Phänomene, die in geographisch abgelegenen Regionen auftreten. Aus verschiedensten Gründen finden die so marginalisierten Tendenzen zu wenig Beachtung und wurden immer wieder systematisch aus der Globalgeschichtsschreibung gestrichen. Das Schicksal afrikanischer Kunstmusik ist so ein Spiegel der Logik globaler Finanzsysteme und Gesetze, der weltweit ungleichen Verteilung von Kommunikationsmedien und der vielgestaltigen Rolle politischer Ökonomie. Die Aufnahme afrikanischer Kunstmusik in die Musikhistoriographie (Scherzinger 2004) kündigt weder den Untergang der westlichen Musikkultur an noch deren retrospektives 165 Scheitern. Vielmehr erweitert und ergänzt sie bestehende Historiographien westlicher Musik und schafft so die Voraussetzungen für ein grundsätzlich globales Verständnis dieser einzigartigen Form kulturellen und künstlerischen Schaffens. Ä Themen-Beitrag 9; Akustik / Psychoakustik; Globalisierung; Minimalismus / Minimal Music; Rhythmus / Metrum / Tempo Agawu, Kofi: The Invention of »African Rhythm«, in: JAMS 48/3 (1995), 380–395 „ ders.: Analytic Issues Raised by Contemporary African Art Music, in: Intercultural Music, Bd. 3, hrsg. v. Cynthia Tse Kimberlin und Akin Euba, Point Richmond CA 2001, 135–147 „ ders.: Representing African Music. Postcolonial Notes, Queries, Positions, New York 2003 „ ders.: Is African Pianism Possible? in: Towards an African Pianism. 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Martin Scherzinger, Übersetzung: Dieter Kleinrath Akustik / Psychoakustik Inhalt: 1. Psychoakustische Erkenntnisse zum instabilen Klang  „ 2. Kompositorischer Umgang mit Psychoakustik „ 2.1 Konzepte „ 2.2 Konstruktionen „ 2.3 Experimente „ 2.4 Gestaltgesetze und Wahrnehmungstäuschungen Akustik / Psychoakustik 1. Psychoakustische Erkenntnisse zum instabilen Klang Das Forschungsgebiet der Akustik zählt zur physikalischen Disziplin der Mechanik. Untersucht werden Phänomene der Schallentstehung, Schallübertragung und in Kombination mit Physiologie und Kognitionswissenschaften sämtliche Aspekte der Hörwahrnehmung. Musik stellt ein Anwendungsfeld akustischer Forschung dar, gleichwohl wurde Akustik immer wieder als Hilfswissenschaft von Musik adressiert (Thienhaus 1948). Ä Musiktheorie und akustische Forschung (z. B. zu Stimmungssystemen, Ä Klangfarbe und Ä Instrumentation) stellten und stellen über die Jahrhunderte eng verschränkte Themenbereiche der Universalgelehrten, Komponisten und Praktiker dar. Dynamisiert durch elektroakustische Methoden experimenteller Forschung, die die Naturwissenschaft allgemein seit dem 19. Jh. beflügelt hatte, erlebte vor allem die Psychoakustik einen großen Aufschwung. Einige Akustiker engagierten sich besonders darin, das Expertenwissen für Künstler verständlich zu machen, in Paris der informationstheoretisch interessierte Abraham Moles, im Rheinland der Akustiker und Phonetiker Werner Meyer-Eppler, in Berlin der die Tonmeisterausbildung vorantreibende Fritz Winckel. In seinem der Experimentalforschung gewidmeten Studio in Gravesano versammelte der Dirigent Hermann Scherchen internationale Forscher, um den Austausch von Akustik und Musik anzuregen, wie es in den Gravesaner Blättern, einer »Vierteljahresschrift für musikalische, elektroakustische und schallwissenschaftliche Grenzprobleme« (1955–66), dokumentiert ist. Trotz unterschiedlicher Forschungsschwerpunkte waren sich die Experten in der Auffassung einig, dass die Komplexität psychoakustischer Zusammenhänge es kaum erlaubt, bestimmte Klangwirkungen auf einfache kausale Wirkungen zurückzuführen; es ist in verschiedener Hinsicht von der Instabilität von Klang die Rede (Ungeheuer 2014). Komponisten Ä elektronischer Musik müssten sich auf besondere Weise mit Problemen psychologisch-akustischer Natur auseinandersetzen, forderte Meyer-Eppler (Meyer-Eppler 1954). Das gängige Verfahren der harmonischen Analyse (Zerlegung von Klang in Obertöne) folge einem zu einfachem Modell akustischer Wirklichkeit. Zur Differenzierung von Klangerscheinungen sei vielmehr eine Zeit-Frequenzanalyse vorzunehmen (ebd., 31), deren drei Dimensionen z. B. in einem Sonagramm durch Horizontale (Zeit), Vertikale (Frequenz) und Schwärzung (Amplitude) darstellbar seien. Im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation habe allerdings auch beim Sonagramm die Methode des Analysierens Einfluss auf das beobachtbare Ergebnis: Der Grad der graphischen Auflösung, der 166 vor einer Sonagrammanalyse einzustellen ist, entscheide schließlich darüber, ob die Frequenzen oder der zeitliche Verlauf genauer abgebildet werden. Auch Moles propagierte in seinen Schriften eine dreidimensionale graphische Darstellung von Klang. Er ergänzte diese Forderung durch Überlegungen zur Verbalisierung von Klang und seine Klassifizierbarkeit, ein Anliegen, das Pierre Schaeffer in seinem Traité des objets musicaux umfassend vorantrieb (Schaeffer 1966). In seinem Artikel Wechselwirkung zwischen Musik und Akustik thematisierte Schaeffer das Umwandeln der Sinnesempfindungen in »Geisteswahrnehmung«, so sein Begriff, als letzte Unbekannte der Experimentalphysiologie bzw. -psychologie (Schaeffer 1959). Die Unversöhnbarkeit von Schärfe und Unschärfe, Mathematik und Empirie, Verlässlichkeit und Unregelmäßigkeit verdeutlichte Schaeffer am Beispiel der menschlichen Ä Stimme als vermeintlich »verlässlichem Gerät«, das in actu etlichen Schwankungen, Zufällen und nervlichen Mikroregungen des menschlichen Willens unterworfen sei. Tatsächlich prägte die Erfahrung von Komplexität und potenziellem Scheitern die Arbeit der Pioniere im elektronischen Studio. Die tendenzielle Unvorhersagbarkeit der Klangwirkungen, die man durch die Arbeit mit Schwebungssummern, Filtern, Ringmodulatoren, Tonbandmaschinen etc. tatsächlich hervorrief, ließ eine besondere Kultur des Hörens und ein großes Interesse an akustischer Forschung entstehen. Das wiederholte Abhören von Klängen, Klangfolgen, Klangmodulationen wurde zum unverzichtbaren Instrument des Komponierens (Ä Themen-Beitrag 5). Noch heute, wo elektronische Studios für Komponisten angesichts hochwertiger portabler Technologien zunehmend obsolet zu werden scheinen, bleibt das Studio als Hörort mit mehrkanaliger und raumakustisch optimierter Ausstattung unersetzbar. Neben der Akustik wurden und werden auch andere Disziplinen wie die Mathematik, die Strömungslehre, die Chaostheorie oder die Architektur bemüht, um klangliche Zusammenhänge zu verstehen, Beschreibungsmodelle zu entwickeln oder bislang unberücksichtigte Variablen zu entdecken (Ä Neue Musik und Architektur, Ä Neue Musik und Mathematik). Das Arbeitsmodell des Pariser Institut de Recherche et Coordination Acoustique / Musique (IRCAM), in Expertengruppen Komponisten, Ingenieure, Wissenschaftler und Techniker zu versammeln, sodass aus einem Kompositionsauftrag ein interdisziplinäres Forschungsprogramm wird, setzt diese Idee institutionell um. Die folgende Diskussion beschreibt idealtypisch und an exponierten Beispielen vier Modi der kompositorischen Aneignung akustischer Forschung (2.1–2.4), die 167 sich je nach historischem Kontext, Biographie, Werkidee und gestalterischer Praxis im Konkreten auch überlagern. 2. Kompositorischer Umgang mit Psychoakustik 2.1 Konzepte Akustische Forschung erreicht Komponisten über Veröffentlichungen, über persönliche Kontakte oder über ein akademisches Studium, wobei sich mittlerweile multiple Studiengänge etabliert haben, die komponierende Wissenschaftler oder wissenschaftliche Komponisten ausbilden. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wissenschaftliche Konzepte, Begriffe, Definitionen oder auch Konstrukte künstlerisch mehr oder weniger frei interpretiert werden je nach Konfiguration der jeweiligen Poetik (Ungeheuer 2013). Karlheinz Stockhausen begann 1955 seine elektronische Komposition Gesang der Jünglinge (1955–56) als praktischen Teil eines Dissertationsprojekts am Bonner Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung unter Leitung von Werner Meyer-Eppler. Er ließ sich von wissenschaftlichen Überlegungen ebenso wie von gerätespezifischen Experimenten (z. B. mit der Variation der Bandlaufgeschwindigkeit) zu seinen Werkideen inspirieren (Decroupet / Ungeheuer 1998). Eine wichtige Rolle spielte dabei der Begriff Formant, den er produktionsästhetisch umdeutete. Im akustischen Verständnis bezeichnet Formant eine Gruppe benachbarter und dynamisch hervorgehobener Obertöne eines Klangs, die die Klangfarbe spezifisch prägen. In den Skizzen zum Gesang der Jünglinge nennt Stockhausen unterschiedliche klangliche Konfigurationen »Formant«, z. B. Frequenzbänder, die jeweils eine Oktave umfassen. Bestimmte Oktavräume bezeichnet er in den Skizzen später als »Formantgruppe« (Ungeheuer 2014, 161–164). Stockhausens Auseinandersetzung mit Formanten steht im Kontext seiner grundlegenden Arbeiten zum Verhältnis von Ä Zeit und Klang, die in seinen einflussreichen Aufsatz zur Einheit musikalischer Zeit mündeten (Stockhausen 1957/63). Er verarbeitet darin wesentliche Erkenntnisse eben jener Unschärferelation zwischen klanglicher Zeit- und Frequenzanalyse, die Meyer-Eppler ausgeführt hatte (vgl. 1., Meyer-Eppler 1954). Auch die Komponisten der Itinéraire-Gruppe in Paris zu Beginn der 1970er Jahre setzten sich mit akustischen Konzepten auseinander. Was wir heute als französische Ä Spektralmusik kennen, nannte Gérard Grisey zunächst musique liminale, standen doch Wahrnehmungsgrenzen im Mittelpunkt seines Interesses (Grisey 1980/2008). Grisey besuchte 1974–75 Akustikkurse bei Émile Leipp an der Faculté des Sciences der Université Paris VII -Jussieu, später arbeitete er mit Michèle Castellengo in dem von Leipp begründeten Pariser Laboratoire d’Acoustique musicale (LAM) zusammen (Féron 2010). Mit Les espaces acous- Akustik / Psychoakustik tiques (1974–85) legte er einen sechsteiligen Zyklus durch akustische Analyse inspirierter Instrumentalkompositionen vor (Féron 2011). Der Beginn von Griseys Partiels für 16 oder 18 Musiker (1975) beruht auf der orchestrierten Nachbildung (von Grisey synthèse instrumentale genannt; Grisey 1979/2008) eines tiefen E der Posaune. Das kompositorische Anliegen gilt den Transformationsfaktoren, durch die dieser harmonische Klang in zwölf weiteren Stadien mehr oder weniger rasch in einen unharmonischen Klang verwandelt wird (Wilson 1988). Damit dieser Prozess hörend nachvollziehbar wird, müssen die Grundbedingungen des Ausgangsklangs vor Ohren geführt werden. Es geht also darum, die gegenseitige Bedingtheit von Frequenzen, Einsatzpunkten der Klangkomponenten und dynamischen Verhältnissen sowie ihrer zeitlichen Verlaufskurven bewusst werden zu lassen. Nur eine gespreizte Zeit erlaubt den hörenden Einblick in die Klangmaterie. Diese Bedingungen des Hörens lassen sich aus zwei richtungsweisenden Werken, an denen sich Grisey und andere Spektralisten orientierten, ableiten, nämlich aus Giacinto Scelsis Quattro pezzi (su una nota sola) für Orchester (1959) und Stockhausens Stimmung für sechs Vokalisten (1968), die gleichermaßen auf kontinuierlichen Transformationen einzelner Klangkomponenten basieren. 2.2 Konstruktionen Akustische Forschung findet in der Anwendung oder auch in der Konstruktion von Technologien statt, seien es Musikinstrumente, Algorithmen oder etwa eine neue Software. Eine Arbeitsgruppe am IRCAM mit dem Komponisten Marco Stroppa und den Programmierern Arshia Cont und Carlo Laurenzi entwickelte mit Chromax einen template generator zur Klangverarbeitung, dessen templates auf dem akustischen Modell von harmonischen Teiltönen bzw. von Formanten basieren (Cont u. a. 2013). Der Generator erlaubt die dynamische Kontrolle spektraler Verläufe, das spektrale Filtern und die Verzögerung ausgewählter spektraler Bereiche (spectral delay). Ein entsprechendes Objekt in der Programmiersprache Max wurde erstmals von Cont für das Stroppas …of Silence für Saxophon und Kammerelektronik (2007) entwickelt. In doppelter Hinsicht setzt Stroppa diese Technologie in seiner Oper Re Orso für vier Sänger, vier Schauspieler, Ensemble und Elektronik (2013) ein: Ein Chromax-Generator kontrolliert spektrale Filter und Verzögerungen, während der zweite für die Kontrolle von Feedback-Werten verantwortlich ist, die rhythmische Formationen erzeugen. Die Grundformel für diesen template generator geht auf den Psychoakustiker Stephen McAdams zurück. Chromax ist eine akustische Konstruktion, die dem kompositorischen Interesse an zeitlicher Präzision und bestmögli- 168 Akustik / Psychoakustik cher Kontrolle auch kleinster Werte entgegenkommt und einen breiten parametrischen Spielraum bietet, um in das Klanggeschehen einzugreifen: Akustik und Ästhetik verbinden sich. 2.3 Experimente Akustische Forschung ist in hohem Maße experimentell, sowohl wenn sie im naturwissenschaftlich strikten Verständnis anschauliche Nachweise von Theorien kausaler Zusammenhänge liefert, als auch wenn sie im geisteswissenschaftlichen Sinn frei und ergebnisoffen Wirkungen erprobt (Berg 2009). In diesem Sinne lässt sich in etlichen Fällen sagen, dass Komponisten in ihren Werken psychoakustische Experimente durchführen, so etwa James Tenney, Alvin Lucier und Jean-Claude Risset. Ihre Biographien verdeutlichen die Verquickung von akustischer Forschung und Praxis auf hohem Niveau. Tenney betrieb zwischen 1961 und 1964 psychoakustische Forschung an den Bell Laboratories in New Jersey und verband Arbeiten zur Klangsynthese mit Informationstheorie und Signalanalyse. Sein Interesse galt der algorithmischen Komposition. Tenneys spektrale Musik nutzt harmonische Reihen als Intervalle und orchestriert harmonische Spektren sowie Effekte elektroakustischer Klangmodulation (Wannamaker 2008). Seine Werke wie Clang für Orchester (1972), Glissade für Bratsche, Cello, Kontrabass und Bandverzögerungssystem (1982) oder Critical Band für zehn oder mehr Instrumente (1988) erkunden akustische Phänomene wie harmonische Fusion, Residualton, Differenztöne, die Shepard-Tonleiter, Amplituden- und Frequenzmodulation. Während Tenney im naturwissenschaftlichen Sinne kalkulierend experimentiert, verhält sich Lucier in seinen Kompositionen ergebnisoffen. Angesteckt von John Cages musikalischem Denken, entwickelte Lucier eine eigene Unerbittlichkeit in Werken wie Music for Solo Performer für verstärkte Hirnwellen und Perkussion (1965), I Am Sitting in a Room für Stimme, Tonband und Raumakustik (1969) und Music on a Long Thin Wire, Klanginstallation für Tongenerator und elektronisches Monochord (1977), die die Instabilität akustischer Phänomene wie Resonanz, Schwebungen und iterative Prozesse erfahrbar machen (Lucier 2005). Auch Risset lässt den Hörer Klangexperimenten beiwohnen. Die Instabilität von Klang und die wirkungsvollen Transformationen, die Klänge in seinen Werken infolge nur geringfügiger Modulationen durchlaufen, ästhetisch zu inszenieren, ist Ziel seiner kompositorischen Arbeit, etwa in Mutations für Tonband (1969), Inharmonique für Sopran und Tonband (1977) und Sud für Tonband (1985). Risset weist insbesondere darauf hin, dass nicht nur Musik der akustischen Forschung folgt, sondern dass konkrete akustische Forschungen oft durch musikalisch-kompositorische Fragestellung stimuliert wurden (Risset 1994). 2.4 Gestaltgesetze und Wahrnehmungstäuschungen Die wahrnehmungspsychologischen Gestaltgesetze (Wertheimer 1923; Fitzek / Salber 1996) erklären, auf welche Weise und aufgrund welcher Hierarchien mentale Strategien des Trennens und des Verschmelzens Zusammengehörigkeiten und daran gekoppelte Bedeutungen unmittelbar erfassen lassen; einzelne Bestandteile von Gestalten erschließen sich erst vermittelt durch gezielte Analyse. Albert Bregman unternahm zahlreiche Experimente dieser zunächst visuell erforschten Phänomene der Gestaltbildung im Bereich der auditiven Ä Wahrnehmung (Bregman 1990). Bei komplexen Wahrnehmungsangeboten wie Musik befinden sich die Gesetze zur Gestaltbildung infolge der ständigen Gleichzeitigkeit der relevanten Kategorien »Nähe«, »Gleichheit«, »gemeinsames Schicksal« etc. in kreativer Konkurrenz. Die Priorität ihrer Wirksamkeit verändert sich laufend; sie wird kompositorisch gesteuert und unterliegt zusätzlich dem Hörakt selbst. Dabei spielen auch Wahrnehmungstäuschungen eine wichtige Rolle, die insbesondere die physiologischen Bedingungen der Sinnesorgane ausreizen, um etwa die absurd wirkende Gleichzeitigkeit einander widersprechender Interpretationen zu suggerieren, z. B. bei der endlos ansteigenden Shepard-Tonleiter (Shepard 1964; Deutsch 1995). An solche gestaltbildende Kräfte der Wahrnehmung wenden sich Komponisten, wenn sie mit virtueller Polyphonie arbeiten, bei der Stimmen, Melodien oder auch Rhythmen aus einem Klanggewebe als resultierende Zusammenhänge hervortreten, so im Ä Minimalismus als sog. resulting patterns, z. B. in Steve Reichs Drumming für Schlagzeug, zwei Frauenstimmen, Pfeifen und Piccoloflöte (1970–71) oder in György Ligetis späten Klavieretüden (1985–2001) und seinem Klavierkonzert (1985–88) als sog. inherent patterns, wie sie etwa in der Musik für Amadinda- und Akadinda-Xylophone aus Uganda beschrieben wurden (Kubik 1962/70, 1983) (Ä Afrika). Ä Themen-Beiträge 4, 5, 8; Spektralmusik, Wahrnehmung Berg, Gunnar: Zur Konjunktur des Begriffs »Experiment« in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, in: Wissenschaftsgeschichte des 17. und 18. Jh.s als Begriffsgeschichte, hrsg. v. Michael Eggers und Matthias Rothe, Bielefeld 2009, 51–82 „ Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge MA 1990 „ Cont, Arshia / Laurenzi, Carlo / Stroppa, Marco: Chromax, the Other Side of the Spectral Delay between Signal ProLiteratur 169 Analyse cessing and Composition, in: Proceedings of the 16th International Conference on Digital Audio Effects (DAFx-13), Maynooth, Ireland 2013, http://dafx13.nuim.ie/papers/28.dafx2013_submission_58.pdf (12. 8. 2015) „ Decroupet, Pascal / Ungeheuer, Elena: Through the Sensory Looking-Glass. The Aesthetic and Serial Foundations of »Gesang der Jünglinge«, in: PNM 36/1 (1998), 87–142 „ Deutsch, Diana: Musical Illusions and Paradoxes, Philomel Records, Compact Disc und Booklet, 1995, http://philomel.com/musical_illusions (12. 8. 2015) „ Féron, François-Xavier: Gérard Grisey. Première section de Partiels (1975), in: Genesis 31 (2010), 77–97 „ ders.: The Emergence of Spectra in Gérard Grisey ’ s Compositional Process. From »Dérives« (1973–74) to »Les espaces acoustiques« (1974–85), in: CMR 30/5 (2011), 343–375 „ Fitzek, Herbert / Salber, Wilhelm: Gestaltpsychologie. Geschichte und Praxis, Darmstadt 1996 „ Grisey, Gérard: A propos de la synthèse instrumentale [1979], in: Écrits ou l ’ invention de la musique spectrale, hrsg. v. Guy Lelong, Paris 2008, 35–37 „ ders.: Lettre à Hugues Dufourt [1980], in: ebd., 281 f. „ Kubik, Gerhard: The Phenomenon of Inherent Rhythms in East and Central African Instrumental Music, in: African Music 3/1 (1962), 33–42; Corrigenda in: African Music 4/4 (1970), 136 „ ders.: Die Amadinda-Musik von Buganda, in: Musik in Afrika. 20 Beiträge zur Kenntnis traditioneller afrikanischer Musikkulturen, hrsg. v. Artur Simon, Berlin 1983, 139–165 „ Lucier, Alvin: Reflexionen. Interviews, Notationen, Texte, Bd. 2, Köln 22005 „ Meyer-Eppler, Werner: Mathematisch-akustische Grundlagen der elektronischen Klang-Komposition, in: Elektronische Musik, Sonderheft des NWDR / Technische Hausmitteilungen (1954), 29–39 „ Reuter, Christoph: Klangfarbe und Instrumentation. Geschichte – Ursache – Wirkung, Frankfurt a. M. 2002 „ Risset, Jean-Claude: Sculpting Sounds with Computers. Music, Science, Technology, in: Leonardo Music Journal 27/3 (1994), 257–261 „ Schaeffer, Pierre: Wechselwirkung zwischen Musik und Akustik, in: Gravesaner Blätter 14 (1959), 51–70 „ ders.: Traité des objets musicaux. Essai interdisciplines, Paris 1966 „ Shepard, Roger N.: Circularity in Judgments of Relative Pitch, in: The Journal of the Acoustical Society of America 36/12 (1964), 2346–2353 „ Stockhausen, Karlheinz: … wie die Zeit vergeht… [1957], in: Texte zur Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. v. 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Problemstellungen und Herausforderungen  „ 1.1 Kontexte musikalischer Analyse  „ 1.2 Kritik autorzentristischer Methoden  „ 1.3 Schaffensprozess und Intertextualität  „ 1.4 Hörwahrnehmung und musikalische (Post-) Hermeneutik  „ 2. Komponistenanalysen  „ 3. Analytische Systeme und Methoden „ 3.1 Erweiterungen der set theory „ 3.2 Wandlungen der Strukturanalyse  „ 3.3 Kontextualisierung „ 3.4 Analyse und Aufführung 1. Problemstellungen und Herausforderungen Dem Bereich der Analyse fällt im Kontext der neuen Musik in zumindest vierfacher Hinsicht eine zentrale Rolle zu: (1) Zum einen war der Traditionsbruch der diversen musikalischen Ä Avantgarden mit etablierten musikalischen Konventionen nachhaltig und stieß immer wieder auf breite gesellschaftliche Widerstände, sodass Analysen neuer Werke in Form von Vorträgen und Publikationen eine wichtige Rolle in der Ä Vermittlung neuer Musik an ein (potenzielles bzw. »irritiertes«) Publikum einnahmen. Ebenso hatten sie apologetische Funktion im Sinne einer Verteidigung neuer Musik gegenüber konservativen Komponisten, Musikwissenschaftlern und Publizisten. Exemplarisch in dieser Hinsicht sind etwa die frühen Schönberg-Analysen Erwin Steins (1924) und Alban Bergs (1924) sowie Hugo Leichtentritts (1927, 436–457, 1928, 1932/33), Hermann Erpfs (1927, 197 f.) oder Edwin von der Nülls (1932, 105–109), deren tonales »Zurechtanalysieren« der Klavierstücke op.  11 (1909) und op.  19 (1911) freilich aus heutiger Sicht problematisch erscheint (vgl. Dahlhaus 1965, 281 f.; Brinkmann 1969/2000, 46–49; Boenke 2005). (2) Zugleich wurde Analyse neuer Musik besonders in den Anfängen zu einer besonderen Herausforderung für eine erst seit wenigen Jahrzehnten universitär etablierte Ä Musikwissenschaft bzw. für die Ä Musiktheorie, aber auch nach 1945 bis in die Gegenwart weiterhin zur Bewährungsprobe der zunehmend retrospektiv orientierten musikologischen Fächer. (3) Schließlich wurden von Komponisten verfasste Analysen (vgl. 2.) zu zentralen Bausteinen von neuen Kompositionspoetiken, oft im Sinne eines (bewussten oder unbewussten) »misreading«, durch das übermächtige Vorbilder mittels Kritik neu »gelesen« und dadurch die analysierten Verfahren für neue kompositorische Ideen nutzbar gemacht wurden (vgl. Straus 1990). Die zunächst meist stark strukturalistisch orientierten Komponistenanalysen wurden zudem über öffentliche theoriefreundliche Foren wie die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt (seit 1946) bzw. Zeitschriften und Buchreihen (die Reihe, Gravesaner Blätter, Perspectives of New Music, Melos, Neue Zeitschrift für Musik, Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik u.v. a.) zu Analyse breit diskutierten Gegenständen eines kontroversen Fachdiskurses (Ä Institutionen / Organisationen, Ä Medien). (4) Von den genannten Tendenzen ausgehend ist musikalische Analyse bis in die Gegenwart auch zu einem zentralen Baustein in der Ausbildung von Komponisten bzw. allgemein in der musiktheoretischen Pädagogik und Didaktik geworden. Ihre Bewertung schwankt dabei zwischen einer Idealisierung als zentraler integrativer Weg der Vermittlung musikalischer Kompetenz und einer Verteufelung als »musikferne« Abstraktion. 1.1 Kontexte musikalischer Analyse Aus historischer Sicht ist die Entstehung musikalischer Analyse als musikologische Methode eng mit der Stabilisierung des Werkbegriffs um 1800 und der Herausbildung eines kanonisierten Repertoires verbunden (Bent 1994; Gruber 1996a, 1996b; Bent / Pople 2001), diente doch Analyse oftmals – wie in den berühmten Aufsätzen E.T.A. Hoffmanns zu Beethoven (1810/1963) oder Robert Schumanns zu Berlioz (1835/1982)  – dem Nachweis herausragender kultureller Bedeutung und Innovationskraft einzelner Werke. Ebenso fundierte Analyse wesentlich das musikästhetische Paradigma vom musikalischen Werk als »organischem« Prozess, wie es im 20. Jh. etwa in die einflussreichen Analysesysteme Heinrich Schenkers und Rudolf Rétis einfloss (Solie 1980). Daneben wurde Analyse bereits früh im eingangs erwähnten Sinn zur Erhellung von als besonders unzugänglich geltenden Strukturen oder Werken herangezogen wie etwa in Gottfried Webers bekannter Analyse von Mozarts »Dissonanzen-Quartett« (1830–32). Zugleich stand Analyse bereits lange vor 1800 und ebenso seither im Banne bzw. in Abhängigkeit musiktheoretischer Systeme und diente zum einen deduktiv der Exemplifikation der Theoriesysteme, zum anderen induktiv deren Konstitution (Thorau 2012, 17). Auf die daraus hervorgehende generelle Tendenz von Analysen zu einem tautologischen Nachweis bereits apriorisch gesetzter Prämissen wurde mehrfach hingewiesen (Schwab-Felisch 2004). Mit der zunehmenden kompositorischen Emanzipation von systemischen Normen, die mit der Logik der Genieästhetik und der teleologischen Geschichtsauffassung der Ä Moderne einherging, wurden theoretische Systeme zur Erfassung komponierter Strukturen zunehmend unbrauchbar. Dazu kam, dass mit dem Aufkommen der Psychophysik und Tonpsychologie sowie der Vergleichenden Musikwissenschaft bzw. Ethnomusikologie der universalistische Geltungsanspruch musiktheoretischer Systeme nachhaltig in Frage gestellt wurde, sodass etwa Hugo Riemann von einem strukturalistischen System tonaler Logik zu einem phänomenologischen System der »Tonvorstellungen« überging und Analysen zu- 170 nehmend auf den Aspekt der hörenden Ä Wahrnehmung zentrierte. Eine bereits hier in Ansätzen erkennbare Skepsis gegenüber »rein strukturalistischen« Methoden der Musikanalyse wurde besonders nachhaltig dann seit den späten 1980er Jahren von der New Musicology als Kritik an den in den USA nach dem Vorbild Schenkers und Rétis entwickelten »formalistischen« Methoden der Analyse formuliert – paradigmatisch im Titel von Joseph Kermans Aufsatz, dessen Titel (und Inhalt) Signalwirkung hatten: How We Got into Analysis, and How to Get out (Kerman 1980). Demgegenüber waren in der geisteswissenschaftlich verfassten deutschsprachigen Fachtradition der Musikwissenschaft »rigorose« Analysemethoden  – ein analytischer Strukturalismus ohne Bezug auf historische oder psychologische Sinnschichten – nie sehr ausgeprägt, wobei jedoch »Werkanalyse« im Sinne einer Erhellung von kanonisierten Kunstwerken in nahezu allen methodischen Konzeptionen des Fachs seit Guido Adlers einflussreicher Darstellung eine prominente Rolle einnahm. Analyse wurde so  – in prominenter und pointierter Form etwa bei Carl Dahlhaus (1970/2001; 1972/2001) – stets ideengeschichtlich kontextualisiert und eher als hermeneutisches Werkzeug denn als eigenständige Disziplin verstanden, paradigmatisch in Reinhold Brinkmanns häufig als Modell genannter Studie zu Schönbergs Klavierstücken op. 11 (1969/2000). Hingegen besteht im anglophonen Raum, vor allem in Großbritannien, parallel bzw. als Reaktion auf die Analysekritik der New Musicology, eine Tendenz music analysis verstärkt als eigenständige Disziplin neben der music theory zu etablieren (Gründung der Society for Music Analysis [SMA]; Zeitschrift Music Analysis seit 1982; Cook 1987/94; Dunsby / Whittall 1988). Im Bereich der neuen Musik hatte die amerikanische music theory ohne unmittelbaren Bezug zu den strukturalistischen Analysetendenzen der europäischen Avantgarde und beeinflusst durch den Neopositivismus und mathematische Theorien mit der pitch class set theory (Babbitt 1946/92; Forte 1973; Rahn 1980) ein über Jahrzehnte prägendes systemisches Modell hervorgebracht, das dem (natur-)wissenschaftlichen Anspruch des Fachs genügen sollte (Brown / Dempster 1989), seit den 1980er Jahren aber durch konkurrierende Ansätze stark erweitert und ausdifferenziert wurde (vgl. 3.1) u. a. durch die ebenfalls zum Teil aus Analysen neuer Musik hervorgehende Methode »semiotischer Analyse« (Ruwet 1965/72; Nattiez 1982, 1990) und bereits seit den 1950er Jahren durch kognitionspsychologisch fundierte Ansätze (Meyer 1956/2004; Narmour 1990). Eine weitere Pluralisierung fand durch die »neo-analytischen« Ansätze in Ethnomusikologie (Tenzer 2006) und Interpretationsforschung (Cook 1999, 2013) sowie eine verstärkte Interaktion von 171 musikanalytischer und musikpsychologischer Forschung statt (Cook 1989; Hanninen 2004a, 2012) (vgl. 3.). Seit einiger Zeit ist dennoch insgesamt eine Tendenz zur Krise der Analyse als grundlegendem methodischen Mittel der Musikwissenschaft unübersehbar (vgl. bereits die Anmerkungen in Brinkmann 1969/2000, XI): In einer vorwiegend musiksoziologisch und marktanalytisch orientierten Popmusikforschung und einer breiten kulturwissenschaftlichen Ausrichtung von Kunstmusikforschung tritt das Interesse an Fragen der musikalischen Ä Struktur immer häufiger in den Hintergrund. Im Bereich der neueren Kunstmusik sind solche methodischen Defizite zu großen Teilen durch die Persistenz der Genieästhetik bei Veranstaltern und Publizisten neuer Musik, die Vermischung von musikwissenschaftlichen und -journalistischen Textgenres (Ä Musikjournalismus) und eine damit einhergehende Autorität von personenbezogenen Deutungstopoi erklärbar. 1.2 Kritik autorzentristischer Methoden Auf die Gefahr der Tautologie und Einseitigkeit, der jede Form der kunstwissenschaftlichen Analyse durch eine solche Abhängigkeit von der Autorität des Autors ausgesetzt ist, haben in der Literaturwissenschaft seit der Diagnose einer »intentional fallacy« (Wimsatt / Beardsley 1946/76) u. a. die poststrukuralistische Literaturtheorie (Kristeva 1966/69, 1967; Barthes 1968/2006, 1971/2006; Genette 1982/93), Harold S. Blooms Theorie der »Einflussangst« (Bloom 1973/95, 1979/97) und die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule (Jauss 1967/70; Iser 1976/84) markant hingewiesen. Diese Entwürfe fanden allenfalls in abgeschwächter Form Eingang in analytischen Schriften zur neuen Musik, obwohl sie im musikologischen Diskurs relativ früh aufgegriffen wurden, etwa im Sinn einer Absage an das Deutungsmonopol des Autors, so nicht zuletzt von Theodor W. Adorno (1969/2001, 73 f.) und Carl Dahlhaus (1988/2005, 749), daneben u. a. in der Kritik an Constantin Floros ’ analogistischer biographisch-semantischer Analysemethode für die Deutung der Musik Gustav Mahlers und Alban Bergs (Holland 1997) und in Reinhold Brinkmanns Zweifel an den autorzentristischen Untersuchungsmethoden zur Musik Helmut Lachenmanns (2005), in deren Deutung sich diskursanalytische und werkanalytische Ansätze in besonders auffälligem Ausmaß überlagern. Im amerikanischen Kontext befasste sich Ethan Haimo mit dieser Frage in Bezug auf die Plausibilität der Pitch-class-set-Analyse ausführlich und kam zu einem Schluss, der eine Art common sense heutiger Musikwissenschaft formuliert: »the intentional fallacy has been hotly disputed and should not be used to reject all uses of the composer ’ s intentions. Indeed, certain kinds of Analyse statements not only permit but mandate consideration of the composer ’ s intentions« (Haimo 1996, 199). 1.3 Schaffensprozess und Intertextualität Thematisiert wurden die Spannungen zwischen Selbstund Fremdanalyse im Bereich neuer Musik in mehreren Publikationen (u. a. Gratzer 1996/97, 2003), wobei parallel dazu durch eine verstärkte Einbeziehung der Skizzenforschung eine erneute starke Einschränkung auf die Autorperspektive stattfand – die allein schon deshalb notwendig war, weil Komponisten neuer Musik bei aller Theoriefreudigkeit in der Regel die Mystifikation und Verdunkelung der eigenen Schaffensvorgänge aus der Genietradition übernahmen. Zweifellos haben fundierte skizzenbasierte Analysen des Ä Schaffensprozesses eindrucksvolle Ergebnisse hervorgebracht, die hochkomplexe kompositorische Verfahren etwa bei Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann oder Brian Ferneyhough mikrologisch in feinste Verästelungen hinein verfolgen, wie es ohne Kenntnis der Skizzen unmöglich wäre (Decroupet 1997; Misch 1999; Beyer 2000; Mosch 2004; Cavallotti 2006; Paetzold 2010). Dabei erweist es sich als besonders produktiv, diese Art von rekonstruierter Kompositionspoiesis mit breiteren ideengeschichtlichen Kontexten zu verknüpfen und so einem puristischen textzentrierten Strukturalismus entgegenzuwirken (Cavallotti 2006; Haselböck 2009). Paradoxerweise sind aber komplexe postserielle Verfahren auch bei guter Quellenlage und unter minutiöser Skizzenanalyse oft nicht mehr lückenlos rekonstruierbar, da sie sich häufig durch eine anarchische Vielfalt und Verzweigung konstruktivistischer Verfahren auszeichnen (Cavallotti 2006, 179–183; Ä Schaffensprozess). Noch mehr Potenzial für die analytische Methodik neuer Musik hat daher vermutlich eine Integration von produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Perspektiven, so in der zuletzt gehäuft zu findenden Kombination von Skizzenanalyse und / oder Strukturanalyse mit rezeptionsästhetischer Methodik, etwa in Studien der Musik Bernd Alois Zimmermanns (Hiekel 1995), Luigi Nonos (Schaller 1997), György Kurtágs (Hohmaier 1997; Bleek 2010), György Ligetis (De Benedictis / Decroupet 2012) und Salvatore Sciarrinos (Utz 2013b). In ähnlichen Zusammenhängen sind häufig Theorien musikalischer Intertextualität entwickelt worden (Hatten 1985; Straus 1990; Korsyn 1991; Klein 2005), die zunächst vor allem von Harold Blooms Konzept des »Fehllesens« ausgingen, aufgrund ihrer methodischen Inkonsistenzen und strukturalistischen Ausrichtung aber zum Teil scharf kritisiert wurden (Taruskin 1993; Whittall 2006). Ohne Frage ist dennoch ein im weitesten Sinn intertextueller Ansatz letztlich unerlässlich, will man die selbstreflexiven Analyse Bewegungen der musikalischen Moderne angemessen erfassen, in der Musik zunehmend als »Metaisierung« der eigenen historischen und ästhetischen Position begriffen wird im Sinne eines Beziehungsnetzes zu vergangenen, zeitgenössischen und ggf. auch zukünftigen Manifestationen von Kunst (Janz 2014, 239–265). Dabei ist über einen engen Begriff von Musik als »Text« jedenfalls hinauszugehen (Dahlhaus 1979/2000). Die in diesem Kontext entwickelten Begriffe borrowing (Burkholder 1995), »musikalische Selbstreflexion« (Danuser 2001), der auf Jean Paul und Friedrich Nietzsche zurückgehende Gedanke einer »Musik über Musik« (Tischer 2009) sowie die technisch spezifischeren Termini Zitat, Allusion und modelling können kaum immer schlüssig auseinandergehalten werden und lassen sich letztlich vor allem mithilfe von Gérard Genettes breitem Intertextualitätskonzept angemessen integrieren (Genette 1982/93; Bleek 2010, 18–54). Das Œuvre György Kurtágs etwa vagiert im Spannungsfeld intertextueller Verweise, überlagt von Paratexten (z. B. Werktiteln, Interviews und Werkkommentaren), bedingt durch die Neigung Kurtágs, seine Werke mit Bedeutungen »aufzuladen« und damit von vornherein ein metaphorisches Hören zu provozieren. Erst eine umfassende intertextuelle Analyse, die »unterschiedliche Hör- und Lektürewege eröffnet«, kann hier der »Polyvalenz des ästhetischen Gegenstands« gerecht werden (Bleek 2010, 14; vgl. auch Thorau 2012). 1.4 Hörwahrnehmung und musikalische (Post-) Hermeneutik Resultat der postmodernen Analysekritik ist aber nicht zuletzt die Forderung nach einer verstärkten Einbeziehung konkreter Hörerfahrungen in den analytischen Diskurs, die Abstand nimmt sowohl von der in herkömmlichen Analysemodellen weit verbreiteten Annahme eines »unbewussten« Hörens von Strukturen, das durch Analyse offen gelegt werde, aber auch vom elitären Gedanken eines strukturellen Hörens, das nur von ausgesprochenen Experten praktiziert werden könne (Cook 1987/94, 220–222; Ä Wahrnehmung, 2.4). Damit ist zugleich Distanz zu herkömmlichen »präskriptiven« Modellen der Musiktheorie angezeigt, in denen Analysen oft als (unter Umständen einzig gültige) »Anleitung« zu einem solchen »adäquaten Hören« verstanden wurden, aber auch zu defensiveren Modellen, die bestrebt sind, einen konkreten Hörvorgang (in der Regel den des Analytikers) möglichst detailgetreu abzubilden oder aber sich auf eine vermeintlich rein deskriptive Darstellung der notierten Struktur zurückziehen (ebd., 224–231). Wie vor allem Nicholas Cook gezeigt hat, geht es im Gegensatz dazu um das Aufzeigen von in einem Werk angelegten Wahrnehmungspotenzialen im Sinne 172 einer »performativen Analyse« (Cook 1999), also darum, mögliche Wege eines hörenden Erfassens analytisch plausibel zu machen und sie nebeneinander gelten zu lassen. Dies ergibt in der Konsequenz die Forderung, dass eine (»gute«) Analyse die Hörerfahrung der analysierten Musik verändern oder bereichern muss. Ein solcher wahrnehmungsorientierter Analyseansatz bedingt auch eine verstärkte Interaktion mit musik- und kognitionspsychologischer Forschung sowie eine Integration von Interpretationsanalysen und ggf. -vergleichen in den Analysevorgang (Cook 2013, vgl. 3.4). Die neue Musik kann unter diesem Gesichtspunkt als besonders paradigmatisches Feld gelten, nicht zuletzt da sie gerade infolge bzw. als Komplement eines rigorosen Strukturalismus und durch die Entgrenzung des Werk- und Kompositionsbegriffs implizit sichtbar gemacht hat, dass reine »Partituranalysen« ihr kaum gerecht werden können, da (1) die Bedeutung »vorkompositorischer« Prozesse stark an Bedeutung zunahm und so eine Rekonstruktion des Schaffensprozesses in vielen Fällen unerlässlich wurde (vgl. 1.3), (2) die verstärkte Einbeziehung elektronischer Medien (Ä Elektronische Musik), von Ä Zufall und Ä Improvisation oft nicht mehr schriftlich dokumentierbar war und damit einen Einbezug des klanglichen Resultats in die Analyse erzwang und (3) die musikalische Ä Globalisierung eine bewusste Thematisierung kultureller Identität und Differenz sowie eine kompositorische Rezeption traditioneller aural überlieferter Musikpraktiken einschloss, die ebenfalls nicht aus der Partitur allein zu erschließen waren (Ä Themen-Beitrag 9). Insbesondere im Bereich elektronischer Musik wurden so seit Pierre Schaeffers »Typomorphologie« von Klangobjekten (Schaeffer 1966) eine Reihe von phänomenologisch akzentuierten Analyseverfahren eingeführt, die  – meist unter Verwendung von technologiegestützter Klanganalyse  – eine »spektromorphologische« Analyse der klanglichen Gestalten zum Ausgangspunkt nehmen (Smalley 1986; Roy 2003; Thoresen / Hedman 2007). Bereits seit den 1970er Jahren wurden vergleichbare Verfahren auch für instrumentale und vokale Musik entwickelt (Cogan / Escot 1976; Lindstedt 2006; Vlitakis 2008; Decroupet 2012; Utz 2012, 2013b) sowie in Ansätzen auch für improvisierte Musik (Wagner 2004), wobei sich Überschneidungen mit generalisierenden phänomenologischen Analysemodellen ergeben (Hasty 1981; Clifton 1983; Lewin 1986; Hanninen 2012; vgl. Janz 2010; Ä Themen-Beitrag 3). Während auch viele der genannten wahrnehmungsorientierten Analysemethoden grundsätzlich an einem strukturalistischen Modell orientiert bleiben, also weitgehend von einer Analogie zwischen komponierter Struktur und strukturierender Wahrnehmung ausgehen, hat sich in 173 anderen Ansätzen die – ebenfalls aus postmoderner Kritik hervorgehende – Erkenntnis durchgesetzt, dass es problematisch ist, eine Trennung zwischen (analysierter) Struktur und (perzeptueller, hermeneutischer) Deutung oder Interpretation vorzunehmen, wie sie in Schönbergs viel zitierter Unterscheidung zwischen dem »wie es gemacht ist«, und dem, »was es ist«, anklingt (Brief an Rudolf Kolisch, 27. 8. 1932, Schönberg 1958, 179). Deutungen finden stets vor dem Hintergrund eines (ggf. unbewussten) Wissens über systeminhärente Verstehenskonzepte statt, die meist auch bestimmte analytische Perspektiven nahelegen (Dahlhaus 1970/2001, 15–18), ebenso wie die Wahl einer bestimmten Analysemethode in der Regel von vornherein bestimmte Verstehenswege ausschließt (Redmann 2002). Eine »voraussetzungslose Analyse« (La Motte 1968/90, 131) ist allenfalls als Gedankenexperiment möglich (Hermann 2015, 16 f.). Umgekehrt lässt sich auch auf der Ebene des Kompositionsprozesses keinesfalls eine rigorose Unterscheidung zwischen Ä Kompositionstechniken und (ästhetischer, künstlerischer) »Substanz« treffen, wie es in Schönbergs Formulierung anklingt. Analytische Methodik kann also nicht hinreichend damit erfasst werden, dass sie von »der Analyse im engeren Sinne zur Benennung des Gehalts fortschreiten« müsse (Eggebrecht 1972/85, 22). Damit ist auch die Kategorisierung in Frage gestellt, die Jean-Jacques Nattiez ’ musikalische Semiologie (1982, 1990) vornimmt, die zwischen einer »poietischen Ebene« (Kompositionsprozess), einer »aisthetischen Ebene« (hörende Wahrnehmung) und einer »neutralen Ebene« (Notentext) unterscheidet. Schließlich muss vor dem Hintergrund posthermeneutischer Tendenzen auch der in den meisten Methodologien als »Endziel« von Analyse vorausgesetzte Gedanke eines (vertieften, geweiteten) »Verstehens« von Musik auf Grundlage der analytischen »Durcharbeitung« hinterfragt werden. Ohne sich dabei auf ein unverbindliches »Nicht-Verstehen« (Mahrenholz 2012) zurückziehen zu müssen, lässt sich festhalten, dass Analyse Teil eines per se unabschließbaren »Reflexionsspiels« ist, das sich im »Zusammenspiel von sinnhaften Deutungen, ›physiognomischen‹ Beschreibungen und ›technischen‹ Analysen« erfüllt (Wellmer 2009, 144, vgl. auch Mathias Spahlinger in Eggebrecht / Spahlinger 2000, 24). Letztlich macht das Abrücken von textzentrierter Analyse und die Auffassung von Strukturen als »Gegenständen der Wahrnehmung« (Cook 1999, 243–247) deutlich, wie sehr alles Sprechen und Schreiben über Musik in einen Kontext kulturgeschichtlich geprägter Metaphorik eingebettet ist, der auch noch die vermeintlich »strukturalistischsten« Analysemethoden affiziert (Polth u. a. 2000; Thorau 2012). Dies zeigen insbesondere auch Meta-Studien zur Sprache und Methode musikalischer Analysen Analyse von Musik des 20. Jh.s, wie sie von Julia Heimerdinger mit quantitativen Methoden durchgeführt wurden (Heimerdinger 2014). 2. Komponistenanalysen Wie bereits angedeutet, dienen Komponistenanalysen fremder und eigener Werke (1) zum einen der generellen Apologie neuer Musik und ihrer (offenkundigen oder aber ihr lediglich unterstellten) Traditionsbrüche, sei es durch einen Nachweis ihrer »Verpflichtung« auf eine nur scheinbar durchbrochene Tradition oder aber durch einen Nachweis ihrer  – »traditionsunabhängigen«  – ästhetischen Wertigkeit aufgrund innerer Kohärenz oder soziokultureller Relevanz. (2) Zum anderen fungieren vielen Komponistenanalysen als Sprungbrett für die Entfaltung eigener, neuer kompositorischer Verfahren, die so zugleich als Fortsetzung von Aspekten analysierter Techniken oder Haltungen in älterer Musik erscheinen können, zugleich aber auch als eine Überwindung von deren Schwächen oder Fragwürdigkeiten. Komponistenanalysen in diesem zweiten Sinn können also auch durch die von Bloom eingeführten Modelle der »Einflussangst« und des »Fehllesens« (vgl. 1.3) erfasst werden, lassen sich aber nicht auf diese Dimension einer Emanzipation von Vorbildern reduzieren. So sind Olivier Messiaens und Boulez ’ korrespondierende Analysen von Strawinskys Le sacre du printemps (Messiaen 2012; Boulez 1953/79: vgl. Borio 2000; Piencikowski 2013; Strinz 2013) ebenso wie die entsprechende Darstellung Jean Barraqués (1954) zwar zweifellos Exemplare einer »analyse fausse« (Boulez 1989, 39) im Sinne kreativer Missverständnisse, wirkten aber ihrerseits durchaus auch auf den wissenschaftlichen Diskurs zurück. Steht für Messiaen der Gedanke von »personnages rhythmiques« im Vordergrund (2012), die zur Grundlage einer »musique amesurée« werden (Messiaen 1944/66, 13), interessiert sich Boulez vorrangig für Möglichkeiten, aus einer Loslösung des Rhythmus von der »Polyphonie« und aus einer quasi-syntaktischen Kombinatorik rhythmischer Zellen makroformale Prinzipien zu gewinnen. Dass letztlich beide der »subtilen Ambiguität des Regelmäßigen im Unregelmäßigen« (Strinz 2013, 213) in Strawinskys Sacre mit ihren Analysen und vor allem mit ihren kompositorischen Verfahren kaum gerecht werden, fällt vergleichsweise wenig ins Gewicht, ebenso wie die Differenzen zwischen ihren Analysen rückblickend angesichts der beträchtlichen Kontroversen, die über die adäquate Analyse des Sacre entstanden (Bernard 2013), als relativ marginal eingestuft werden können. Charakteristisch für die inhärente Subjektivität von Boulez ’ äußerlich höchst rational und strukturalistisch auftretender Analyse ist zum einen  – wie kurz darauf Analyse vom Linguisten Nicolas Ruwet bemängelt – dass sie ihre eigenen Voraussetzungen nicht offenlegt (Ruwet 1965/72, 104), zum anderen, dass sie ihren Finger vor allem auf die Desiderata legt, die das analysierte Werk uneingelöst belässt. Für Boulez zeigen sich diese vor allem im »Mangel an Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Polyphonie und der rhythmischen Erfindung und Entdeckung«, was die Notwendigkeit sichtbar mache, den »Rhythmus von jenem Begriff der ›Spontaneität‹ zu lösen, den man ihm großzügigerweise allzulange beigemessen hat. Das bedeutet, ihn nicht länger als Ausdruck der Polyphonie zu sehen, sondern ihn zum Rang eines Hauptfaktors zu erheben« (Boulez 1953/79, 238). Die rigorose Ablösung des Rhythmus von Tonhöhenverläufen in den seriellen Methoden lässt sich so im Sinne Blooms als clinamen (poetisches Fehlverstehen, Bloom 1973/95, 21–42) interpretieren: Merkmale des Vorbilds  – worunter hier neben Strawinsky vor allem Messiaen und insbesondere René Leibowitz verstanden werden können – werden korrigiert als wären es »Fehler«. Vergleichbares lässt sich für die viel diskutierten Komponistenanalysen von Werken Anton Weberns in den 1950er Jahren sagen, vorrangig des Konzert op.  24 (1931–34, Leibowitz 1948; Stockhausen 1953/63), der Variationen für Klavier op.  27 (1935–36, Leibowitz 1947, 228–243; Schnebel 1952/84; Pousseur 1956), der Bagatellen op. 9 (1913, Pousseur 1955; vgl. Kaufmann 1966/69), des Streichquartetts op.  28 (1936–38, Stockhausen 1955/63) und der Ersten Kantate op.  29 (1939, Ligeti 1960/2007); daneben wurden bereits seit 1946 zahlreiche weitere, teils unveröffentlichte Webern-Analysen angefertigt (Borio 1997; Kovács 2004). Eine philologisch akzentuierte Webern-Forschung seit den 1980er Jahren versuchte diese Webern-Rezeption der 1950er Jahre als »Missverständnis« abzutun; das Bild vom »Struktur-Komponisten« Webern sollte durch eine Anbindung seiner Musik an die Tradition motivisch-thematischer Arbeit und die Betonung ihres Sprachcharakters korrigiert werden. Tatsächlich war die Rezeption, auch auf wissenschaftlichem Gebiet, bis in die 1980er Jahre hinein oft einseitig strukturorientiert (Deppert 1972; Döhl 1976). Insbesondere Inge Kovács hat mit Bezug auf Bloom jedoch klargestellt, dass die Autorintention, sofern sie überhaupt rekonstruierbar ist, nicht Maßstab für eine »richtige« oder »falsche« Rezeption sein kann (Kovács 2004, 67). Daneben muss hervorgehoben werden, dass bereits in den 1950er Jahren die durch die Webern-Analysen verfolgten Intentionen durchaus divergierten und auch beim selben Komponisten innerhalb kürzester Zeit starke Wandlungen erfuhren: Steht 1953 in Stockhausens Analyse von op. 24 noch die parametrische Organisation im Mittelpunkt des Interesses, so ver- 174 schiebt sich unter dem Einfluss der Informationstheorie der Fokus zwei Jahre später in der Analyse von op. 28 auf Aspekte von Ä Zeit und Ä Wahrnehmung. Ebenso war es etwa Henri Pousseurs Ziel, »Weberns Schaffen in seiner historischen Bedeutung zu ermessen«, und weniger, unmittelbare kompositorische Konsequenzen abzuleiten (Borio 1997, 251), während György Ligeti, u. a. mit Bezug auf die ungarische musiktheoretische Tradition der Distanzharmonik, vor allem Weberns Harmonik und Klangfarbenorganisation in den Mittelpunkt rückte (ebd., 261–266). Wenn die aus den Webern-Analysen gezogenen kompositorischen Konsequenzen im Sinne Blooms eher als tessera gelesen werden können, also als »antithetische« Vervollständigungen von Aspekten, die beim Vorläufer nicht zur Gänze eingelöst wurden (Bloom 1973/95, 45–66), so ist György Ligetis ausführliche, unter Mithilfe von Stockhausen 1958 entstandene Analyse von Boulez ’ Structures Ia für zwei Klaviere (1951) eher ein Fall von kenosis, die einen angestrebten Bruch mit dem Vorläufer anzeigt (ebd., 69–84). Zweifellos ist Ligeti begeistert von der »Schönheit im Auftun von reinen Strukturen« in Boulez ’ Werk, die bewusst auf den bei Webern noch vorhandenen »Rest diskreter Expressivität« verzichtet (1958/2007, 443). Nicht zuletzt führte der Schritt von der strukturellen zur klanglichen Betrachtung aber weg von Boulez: Gerade aus den (vermeintlich »sekundären«) klanglichen Wirkungen von Boulez ’ rigorosem Strukturalismus gewinnt Ligeti das Potenzial seiner groß angelegten »Klangkompositionen« (Ä Themen-Beitrag 3, 2.2). Ein Wandel des Webern-Bildes zeigt sich verstärkt in Helmut Lachenmanns seit den späten 1960er Jahren verfolgbaren Bemühungen, strukturell-konstruktive und auratisch-assoziative Facetten von Weberns Musik ineinander zu denken. Weberns Orchesterstück op. 10,4 ist in Lachenmanns Analyse von 1985 zum einen mit einer quasi seriell geordneten Anzahl der Töne und Klangschattierungen pro Instrument und dem Beziehungsreichtum der Klangfarben exemplarisch für Lachenmanns postserielles Denken in Klangfamilien. Und doch ist damit nicht alles gesagt, denn zugleich ist »das Ganze nichts als eine Serenade im Mondschein des Flageolett-Klangs, mit herübergewehten Tönen von dort, wo die schönen Trompeten blasen und die todkündende Posaune antwortet, bis die Militärtrommel zum Zapfenstreich ruft, die Idylle aufstört und sich der Liebhaber, die Mandoline unterm Arm weiterzirpend, davon macht, während die Angebetete ihm mit einer Geigenfigur nachwinkt« (Lachenmann 1985/96, 123). Weberns Stück wird so zum Beispiel der »klanglichexpressive[n] Einheit« (ebd.), die Klang und Form ineinander fallen lässt. 175 Liegt hier also eine klare, aber mild formulierte Abgrenzung von der Webern-Rezeption der 1950er Jahre vor, so war im Aufsatz Zur Analyse Neuer Musik (1971/93/96) noch weit schärfer das Ziel verfolgt worden, die »regressive[n] Elemente in Musik der Avantgarde« offenzulegen (ebd., 21). Von solcher Grundsatzkritik ist auch der Lehrer Luigi Nono nicht ausgenommen, wobei die Überwindungsfigur der kenosis hier überdeutlich hervortritt: Der 7. Satz von Nonos Canto sospeso (1955–56) wird als Kristallisationspunkt eines anti-kausal und anti-linear ausgerichteten seriellen Komponierens dargestellt, in dem jedoch als »wunde Stelle« eine »Schönheit im tonal-expressiven Sinne« beibehalten werde, eine »Expressivität […], [die ja die serielle Faktur] eigentlich zu überwinden trachtete«: »In solcher tonal gehemmten Ästhetik des Strukturellen, in der Überdetermination des Materials […] zeichnet sich schon die Sackgasse des seriellen Komponierens ab« (ebd., 27). Ist der Zusammenhang eines polemisch aufgeladenen Diskurses mit analytischer Methodik in Lachenmanns Aufsatz, der in einem scharfen Verdikt über Ligetis Requiem gipfelt (ebd., 29 f.), überdeutlich, so scheint die »Einflussangst« in den folgenden Generationen zur Gegenwart hin deutlich geringer zu werden. Ein herausragendes Beispiel für einen äußerst produktiven analytischen Ansatz mit kompositionspoetologischen Konsequenzen bieten Salvatore Sciarrinos seit Anfang der 1990er Jahre entstandene Texte, die unter dem pragmatischen Leitgedanken struktur- und formbildender Prinzipien (»figure«) eine Fülle von Ausschnitten aus Werken von Beethoven bis Steve Reich, Lachenmann und eigenen Arbeiten in oft unorthodoxe Beziehungen zueinander sowie zu Tendenz der Malerei (von der Renaissance bis in die Gegenwart) stellen (Sciarrino 1998). So zeigt Sciarrino etwa »genetische Transformationen« in Stockhausens Kontra-Punkten (1951) ebenso wie im vierten Satz aus Beethovens Streichquartett op. 131 und differenziert solche Typen aus in narrativ-prozessuale Variantenformen (Alberto Burris Lettere 1969 oder Griseys Prologue für Viola solo, 1976, ebd., 87, 92) und systematisches Katalogisieren (Sol LeWitts Variations of incomplete open cubes, 1974, oder Reichs Come Out für Tonband, 1966, ebd., 88, 94). Ist in Sciarrinos analytischem Blick eine originelle, doch auch hier äußerst selektive Strategie am Werk, so profitieren viele Komponistenanalysen der jüngeren Zeit weiterhin von jenem informellen »Einblick in die Werkstatt«, die auch die Nono-Analysen Lachenmanns oder die Boulez-Analyse Ligetis auszeichneten. Maßstabsetzend sind hierbei u. a. Jean-Luc Hervés Analyse von Gérard Griseys Vortex temporum (1994–96, Hervé 1997), Claus-Steffen Mahnkopfs Analyse von Brian Ferneyhoughs Streichtrio (1995, Mahnkopf 1997) und Analyse Rozalie Hirs ’ Analyse von Tristan Murails Ensemblewerk Le lac (2001, Hirs 2011). Im Bemühen, die Aktualität der bewunderten Lehrerpersönlichkeiten herauszustellen (für Hervé stehen Griseys Verfahren »im Zentrum der Zielsetzungen heutigen Komponierens«, 1997, 65; Mahnkopf spricht von der »souveränere[n] Ausarbeitung der technisch-objektiven Seite« und der »Wandlungsfähigkeit und Universalität« von Ferneyhoughs »musikalischer Grammatik«, 1997, 103) oder in minutiöser Weise einen formalisierten Kompositionsprozess zu dokumentieren (Hirs 2011), riskieren diese Analysen allerdings eine unkritische Verabsolutierung der Autorintention und konvergieren so stark mit musikologischen Tendenzen (vgl. 1.3); das Ideal einer »Alliance aus den international avanciertesten Analysepraktiken, aus radikaler, d. h. problembewußter Neuester Musik, moderne[n] ästhetische[n] Theorien im Anschluß an den Diskurs im weitesten Sinne und nicht zuletzt der Geschichte der Interpretation« (Mahnkopf 2004, 120) wird so wohl kaum vollständig eingelöst. Insgesamt ist die Frage eines angemessenen Umgangs mit Komponistenanalysen zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum als geklärt zu betrachten, schwankt die Praxis doch zwischen Idealisierung und Degradierung. »Eine umfassende Reflexion hinsichtlich der Frage nach dem Umgang mit den Texten von Komponisten steht […] für die analytische Praxis selbst noch aus« (Sprick 2014). 3. Analytische Systeme und Methoden Die in der Regel stark subjektive, selektive und apologetische Seite von Komponistenanalysen scheint sie aus wissenschaftlicher Sicht anfechtbar zu machen. Andererseits wird dadurch nur ein Grundkonflikt des Analysierens von Musik insgesamt offensichtlich: Die Intention, die angepeilte Richtung färbt die Sichtweise des Analytikers nachhaltig. Dies gilt insbesondere auch für Analysen, die mit quasi-wissenschaftlichem Systemcharakter auftreten, etwa die von Milton Babbitt entworfene und von Allen Forte systematisierte set theory. Andererseits führt eine prinzipielle Systemskepsis, in der die »Einzigartigkeit« von Werken eher vorausgesetzt als nachgewiesen wird, zur analytischen Tautologie. Die Durchdringung von systemimmanenten und systemresistenten Aspekten eines Werkes macht letztlich seinen Kunstcharakter aus. 3.1 Erweiterungen der set theory So vermag die reduktive Pragmatik der set theory auf der eingeschränkten Ebene der Tonhöhenorganisation durchaus sinnvolle Orientierung zu gewährleisten, vorausgesetzt man verabschiedet sich von der Vorstellung einer universalistischen Geltung der Theorie und wendet die aus Milton Babbitts Twelve-Tone Theory abgeleitete Re- Analyse duktion von Tonhöhen auf set classes (ungeordnete Tonhöhengruppen) mittels Transposition und Umkehrung differenziert und musikalisch plausibel an, in Kombination etwa mit anderen Methoden, die Zeitorganisation, Klangfarbe etc. mit berücksichtigen (Einführungen bieten u. a. Neidhöfer 1995a, 1995b; Scheideler 2005; Schuijer 2008; Lewandowski 2009, 2014). Dass das sich immer weiter verzweigende Gebäude der set theory seit Allen Fortes ursprünglicher Formulierung (1973) beträchtlich erweitert und bereichert worden ist, hat dazu beigetragen, viele der bis in die 1990er Jahre artikulierten Kritiken, wie sie etwa von Richard Taruskin, George Perle und Ethan Haimo geäußert wurden (Überblick in Scheideler 2005, 399–408) produktiv in set-orientierte Methoden einzuarbeiten. So wurde etwa in einer empirischen Untersuchung des von Robert Morris präzisierten »similarity index« zur Feststellung des Ähnlichkeitsgrades zwischen set classes der kontextuelle Charakter hervorgehoben, in den Tonhöhenkonstellationen kompositorisch gestellt sind (etwa Lage / Register, gemeinsame / gleichbleibende Töne etc.); zudem wurde gezeigt, dass aus der Dur-Moll-Tonalität vertraute Intervall- und Klangbeziehungen auch in atonaler Musik die Wahrnehmung von Klang- und Tonbeziehungen prägen, sodass dieses posttonale Hören die Wahrnehmung von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen sets überlagert (Bruner 1984). Als Konsequenz kann man jene Tendenzen hervorheben, die versuchen, die set theory stärker auf »reale« Hörerfahrungen zu beziehen. Dabei ist zum einen Morris ’ Prinzip der »contour relations« zu nennen (Morris 1993): Statt Tonhöhenqualitäten werden in dieser Weiterentwicklung der set theory nur noch relative Tonhöhenlagen von Motiven oder Gestalten indiziert (Schönbergs op. 11,1 etwa beginnt in der Oberstimme mit der vorwiegend fallenden Kontur 5–3–2–4–1–0) und in der Folge über ein Reduktionsverfahren (contour reduction algorithm) in quasi Schenkerscher Weise zu globalen Konturbewegungen abstrahiert. Dass solche Prinzipien für die neue Musik eine herausragende Rolle spielen und häufig mit wahrnehmungspsychologischen Überlegungen seitens der Komponisten einhergehen, kann etwa anhand von Werken Schönbergs, Ligetis, Griseys oder Ferneyhoughs gezeigt werden (Utz 2012). Schließlich ist Dora Hanninens Prinzip der »associative sets« zu erwähnen, das explizit an Theorien der Musikwahrnehmung anknüpft (2004a, 2012; Ä Wahrnehmung, 3.). Zentral für Hanninens Modell ist, dass Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen »associative sets« nicht kategoriell feststehen, sondern sich während des Hörens wandeln können, abhängig von kontextuellen Kriterien. Mit Bezug auf das von Ludwig Wittgensteins systematisierte Prinzip der Familienähnlichkeit zeigt Hanninen vor allem in ihren 176 Feldman-Analysen, wie sich solche non-hierarchischen Beziehungen in der Zeit zu einem formalen Prinzip zusammenschließen (2004b). Das Manko an Hanninens Ansatz ist ihre Neigung zur unübersichtlichen Etikettierung in einem komplexen Theoriegebäude, das das neopositivistische Erbe der musiktheoretischen Princeton-Schule nicht abgelegt hat (Neuwirth 2015). Erwähnt werden muss schließlich, dass die set theory selbstverständlich unersetzliches Werkzeug bleibt für analytische Darstellungen all jener kompositorischen Ansätze, die tatsächlich mit set-bezogenen Verfahren komponiert wurden, worunter ein beträchtlicher Teil US-amerikanischer neuer Musik seit den 1960er Jahren zu rechnen ist (Morris 1987). Daneben hat die didaktische Aufbereitung der Methode substanzielle Fortschritte gemacht (Straus 1990/2005) und weist zunehmend auch auf Möglichkeiten hin, das Erfassen von Beziehungen zwischen sets hörend zu erlernen (ebd.), wie es bereits in der empirischen Studie Cheryl L. Bruners angedacht war (Bruner 1984, 39). 3.2 Wandlungen der Strukturanalyse Es zeigt sich an dieser Entwicklung plastisch, dass »Strukturanalyse« bereits seit einigen Jahrzehnten in einem dynamischem Wandel begriffen ist. Dies gilt besonders auch für Analysen serieller und komplexer Musik, die angesichts der Kompliziertheit der Kompositionsverfahren vor der Skylla eines vollkommenen Verzichts auf Darstellung kompositionstechnischer Grundlagen und der Charybdis einer reinen, meist skizzenbasierten Dokumentation des Kompositionsprozesses stehen. Boulez beklagte – beeinflusst von ersten autorkritischen poststrukturalistischen Tendenzen  – eloquent solche »Buchführungsanalysen«, die »darauf hinaus[laufen], die Früchte eines Baumes zu zählen oder zu beschreiben, ohne dabei auf den Baum selbst zu achten […]. Wir haben sie satt, diese immensen Tabellen voller lächerlicher Symbole, diese Spiegel des Nichts, diese fiktiven Kursbücher, deren Züge nie abfahren werden!« (Boulez 1960/63, 14). Gerade zu Boulez ’ Werk wurden berühmte »Buchführungsanalysen« vorgelegt, die sich etwa auf eine unkommentierte Darstellung der hochkomplexen technischen Verfahren in Le marteau sans maître beschränkten (Koblyakov 1980), während Ulrich Mosch seine Untersuchung zum selben Werk explizit dem musikalischen Hören serieller Musik widmet (Mosch 2004; Ä Wahrnehmung, 2.5). Ob es Moschs konzeptionell überzeugender Studie am Ende gelingt, zwischen den äußerst differenzierten Wahrnehmungstheorien und den anschaulich dargestellten Strukturanalysen zu vermitteln, kann dennoch bezweifelt werden und zeigt plastisch die Schwierigkeiten auf, die sich einem solchen Unternehmen stellen (Holzer 2011, 348 f.). In der Analyse des VII. Sat- 177 zes des Marteau bleibt Andreas Holzers Analyse (ebd., 344–365) näher am Klangeindruck und versucht eine differenzierte Annäherung an den Wahrnehmungsvorgang. Dabei ist für Holzer die Tendenz des Satzes zum »Zwang zur globalen Wahrnehmung«, der durch das hohe Tempo und die dichte Textur erzeugt wird, grundlegend, sodass eher die satztechnisch angelegte Textur und weniger die Tonhöhenorganisation eine Rolle spiele. In diesem Sinne kann der zuletzt häufiger erhobenen Forderung, serielle bzw. allgemein komplexe Musik als Klanggestalt ernst zu nehmen (Parsons 2003, 68–71), analytisch zweifellos noch mehr abgewonnen werden als die meisten Analysen bislang geleistet haben. Besonders gilt dies auch für ein Werk wie Boulez ’ Structures Ia, das Verfahren der »Buchführungsanalyse« zu provozieren scheint, aber auch unter dem Aspekt der auditiven Klangorganisation gewinnbringend betrachtet werden kann (Utz 2013b, 89–92). Daneben kann die Integration von strukturalistischer Klang-Intervall-Analyse und ihre Konfrontation mit der Transkription von Spektrogrammen zur Präzisierung des Verhältnisses von Text- und Klanggestalt beitragen, ohne dass der Spektraldarstellung von vornherein Priorität einzuräumen wäre, zumal hierbei unterschiedliche Interpretationen bzw. Einspielungen zu vergleichen sind (Utz / Kleinrath 2011). All diese Entwicklungen schmälern freilich kaum den Wert von konventionellen, aber originellen Strukturanalysen, die mittels bewährter Methoden der Visualisierung und Strukturreduktion Zusammenhänge schlicht anhand des Partiturtextes mit lediglich minimalem Bezug zu Forschungsstand oder Sekundärliteratur entwickeln (La Motte 1968/90; Karkoschka 1976; Hermann 2015). Bedauerlich bleibt jedoch generell, dass der Austausch zwischen anglophoner und deutschsprachiger analytischer Forschung weiterhin minimal ist, wie zwei jüngst erschienene Analysen zu Feldmans Spring of Chosroes (1977) zeigen (ebd., 32–54; Paynter 2015). Eine breitere Rezeption in der anglophonen Forschung entwickelter innovativer Analyseverfahren in deutschsprachigen Analysetexten steht weiterhin aus – wobei das Umgekehrte freilich ebenso gilt. Dass sich gerade für neue Musik etwa die anschauliche Systematik der von Ruwet und Nattiez entwickelten »semiotischen Analyse« mit ihren »paradigmatischen« und »syntagmatischen« Stufen auch ohne den dahinter stehenden universalistischen Sprachbegriff gewinnbringend anwenden lässt (Utz 2010), ist ebenso offensichtlich, wie eine kritische Rezeption der boomenden Expektanzforschung der Frage einer analytischen Erfassung von Zeitverläufen und -erfahrungen gerade auch in der neuen Musik wichtige Impulse verleihen könnte (Utz 2013c). Analyse 3.3 Kontextualisierung Die kulturgeschichtliche Kontextualisierung von Analyse entspricht einem gängigen methodischen Anspruch der Historischen Musikwissenschaft. Die Herausforderung etwa Strukturen in Schönbergs Violinkonzert (1934–36) vor dem Hintergrund der Lebenssituation im Exil, der Rezeptions- und Aufführungsgeschichte des Werkes zu deuten, ist keineswegs trivial (Sprick 2010). Die Deutung Jan Philipp Spricks sieht im Violinkonzert einen Versuch Schönbergs, die Technik der Dodekaphonie im Exilkontext neu zu konsolidieren und sie dabei erstmals mit der Konzertform zu verbinden, wobei auch die Rückwirkung von Theoriebildung auf den Kompositionsvorgang eine Rolle spielt. In diesem Prozess sieht Sprick Schönbergs Reaktion auf die exilbedingte »Angst vor dem Verschwinden« (György Konrad; ebd., 136). Dass Strukturanalyse per se bereits kulturelle Kontextualisierung ist, ohne diese zwangsläufig explizit vornehmen zu müssen, ist ein Gedanke, der nicht zuletzt auf Theodor W. Adorno zurückgeht. Adornos Analysen ist mitunter »Dilettantismus« vorgeworfen worden (La Motte 1979; vgl. dazu Holtmeier 2004). Sie gehen vom Grundgedanken einer zentralen Stellung der strukturellen Analyse im Erkenntnisprozess über Musik aus: »Eine bis ins Einzelne gehende mikrologische Analyse ist genau das, worauf es jetzt ankommt« (Brief Adornos an Reinhold Brinkmann, zit. nach Brinkmann 1969/2000, ix). Die Notwendigkeit einer solchen analytischen Mikrologie ergibt sich für Adorno nicht zuletzt durch seine früh artikulierte Überzeugung, dass Musik »die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält« (Adorno 1932/84, 731), dass also soziologische und musikalische Analyse auf Engste korrespondieren (Ä Musiksoziologie, 1.). Dass freilich ein solches Herausgreifen von Details nicht immer mit der notwendigen Kontextualisierung im Gesamtgefüge eines Werkes einherging, gab Adorno als Manko an die deutsche Nachkriegsmusikwissenschaft weiter, die »fast nur ›Stellen‹ analysiert« und »unter der Last des großen Ganzen […] im Detail stecken geblieben ist« (Holtmeier 2004, 195). Adorno hat allerdings mehrfach darauf hingewiesen, dass der prozessuale Charakter von Musik (dem »Echtzeithören« entsprechend) und der atemporale Blick auf die Architektonik der Partitur zur Deckung gebracht werden müssten (Adorno 1969/2001, 82). Wenn somit also die Integration von mikro- und makrologischer Analyse weiterhin ein (oft unerreichtes) Ideal sein mag (»In der Mikrostruktur des Einzelnen das Ganze zur Darstellung bringen, ist nach wie vor die Utopie der geglückten Analyse«, Holtmeier 2004, 196), so scheint es doch fragwürdig, umgekehrt eine »Vollständigkeit« von Analysen 178 Analyse zum Qualitätskriterium zu machen (Hermann 2015, 30 f.), da keinesfalls eindeutig ist, wann und wie eine solche Vollständigkeit erreicht werden sollte und nach welchen Kriterien sie mehr sein kann als bloße Dokumentation. Ä Form; Harmonik / Polyphonie; Musikästhetik; Musiktheorie; Musikwissenschaft; Rhythmus / Metrum / Tempo; Wahrnehmung; Zeit Abbate, Carolyn: Music  – Drastic or Gnostic?, in: Critical Inquiry 30/3 (2004), 505–536 „ Adorno, Theodor W.: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik [1932], in: Musikalische Schriften 5 (Gesammelte Schriften 18), Frankfurt a. 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Dabei verteidigt Cook analytisches Vorgehen gegenüber den analysefeindlichen Methoden eines eng gefassten Empirismus und eines kultur- und sozialhistorischen Relativismus als Erkenntnismethode eigenen Rechts und entwickelt auf dieser Basis neue Formen einer »performance-sensitiven« Analyse, die strukturorientierte Erkenntnisse zum Notentext sowie kultur-, interpretations- und kompositionsgeschichtliche Zusammenhänge mit systematisch durchgeführten Interpretationsvergleichen in ein Spannungsverhältnis stellen und so die etablierte analytische Methode des »close listening« zum »augmented listening« ausdehnen, das quantitative und qualitative Perspektiven verbindet (ebd., 135–175). Dass solche Verfahren auch für die neue Musik, die Cook nur am Rande thematisiert (ebd., 273–287), ausgesprochen produktiv sind, ergibt sich allein schon aus der gängigen Beobachtung, wie stark einzelne Interpretationen auch vermeintlich gänzlich »determinierter« Partituren divergieren. Dass damit unterschiedliche Erfahrungen von Zeit, Raum und Form verbunden sind (Orning 2012; Utz i.V.), ist ebenso evident wie die Frage offen ist, welches unter diesen Umständen die Kriterien für eine »angemessene« Aufführung neuer Musik sein können (Ä Interpretation). Zur produktiven Weiterentwicklung analytischer Methodik stellt Cooks Ansatz jedenfalls eine besonders reichhaltige und aktuelle Ressource bereit. Cook hat damit seinem anhaltenden Plädoyer gegen eine »deletion of the listener as a free agent« (Cook 1987/94, 224) den Protest gegen den Ausschluss des Interpreten aus der Analyse produktiv hinzugefügt. Da somit auch ein ontologischer Werkbegriff nachhaltig destabilisiert wird, weckt dieser Ansatz tiefe »systemische« Zweifel an einem Paradigma der Analyse, das Dahlhaus einst so formulierte: »Der Triumph der Analyse besteht in dem Nachweis, daß ein Werk […] nicht anders sein kann, als es ist« (Dahlhaus 1969/2005, 224). 179 Music Theory, in: JMT 33/1 (1989), 65–106 „ Bruner, Cheryl L.: The Perception of Contemporary Pitch Structures, in: Music Perception 2/1 (1984), 25–39 „ Burkholder, James: All Made of Tunes. Charles Ives and the Uses of Musical Borrowing, New Haven 1995 „ Cavallotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen 2006 „ Clifton, Thomas: Music as Heard. A Study in Applied Phenomenology, New Haven 1983 „ Cogan, Robert / Escot, Pozzi: Sonic Design. 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Überblick  „ 2. Neue Musik?  „ 3. Infrastruktur  „ 4. Komponisten und Klangkünstler 1. Überblick Versucht man sich im Bereich zeitgenössischer Musik einen Überblick über den arabischsprachigen Raum zu verschaffen, sticht sofort eine kaum fassbare regionale Vielfalt ins Auge. Die Gründe dafür liegen in der wechselvollen Geschichte dieser Region, den kolonialen Prägungen, den postkolonialen Errungenschaften, der Idee von Nationenbildung und, damit verbunden, der aktuellen Grenzziehung, der Vielfalt der politischen Systeme, dem Grad der Verankerung der Religion in Regierung und Ge- Arabische Länder sellschaft, dem Vorhandensein von Zensurmaßnahmen und schließlich in dem Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien, Minoritäten und Glaubensgemeinschaften. Die gesellschaftliche Zusammensetzung des Libanon etwa umfasst schiitische und sunnitische Muslime, maronitische, orthodoxe und armenische Christen, Drusen, einige Juden sowie Flüchtlinge aus Palästina, Irak und Syrien. Ein Zuzugsland wie Jordanien hat dabei kulturell intensiv von der Immigration gebildeter Palästinenser und Irakis profitiert. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sind sogar fast ausschließlich Gastgeber regionaler und überregionaler Künstler. In den palästinensischen Gebieten existiert trotz der politischen Instabilität eine beeindruckende kulturelle Vielfalt in Literatur, Musik und Filmkunst. Dagegen müssen aktuelle Krisengebiete wie Bagdad, Damaskus oder Tripolis vorerst aus der Betrachtung ausgeklammert werden. Es ist demnach kaum verwunderlich, wenn man in diesen höchst unterschiedlich geprägten Gesellschaften vergeblich nach einem mehr oder minder konsensfähigen Begriff von neuer Musik sucht. Zu divergierend sind die historischen, kulturellen und infrastrukturellen Beschaffenheiten und damit die Praxis von Konzertmusik in dieser Region; markant unterschiedlich muss demnach auch die Suche nach einem praktikablen Begriff von Moderne in der neueren arabischen Musik ausfallen. Eine scheinobjektive Beobachterperspektive, die sich auf nationale Grenzen beschränkt und versucht in einer Reihe von Länderprofilen Spuren von »neuer Musik« darzustellen, erscheint mir aus diesen Gründen wenig aussagekräftig. Ebenfalls zu einfach wäre es, den Blick lediglich auf diejenigen Komponisten aus arabischen Ländern zu konzentrieren, die sich im Exil profiliert haben. Obwohl sie von ihren Gastländern oft hartnäckig im Zusammenhang mit oder gar als Vertreter ihrer Nationalität angesehen werden, fühlen sich viele dieser Komponisten weit enger der Musikszene ihrer Wahlheimat in Europa oder den USA verbunden. Sie befinden sich oft in der schwierigen Lage, sich bei der Suche nach ihrer eigenen komplexeren Identität kaum westlichen Projektionen und Erwartungen entziehen zu können. Aus diesen Gründen wird im Folgenden bewusst auf eine Klassifizierung nach Ländern und Nationalitäten verzichtet. 2. Neue Musik? Den Begriff der (west-)europäischen Ä Moderne oder gar den maßgeblich durch den deutschsprachigen Diskurs geprägten Begriff der Ä neuen Musik – verstanden als eine an der Kunstmusik der zweiten Hälfte des 20. Jh.s orientierte, vom Fortschrittsgedanken geprägte, vorwiegend 182 instrumental komponierte Konzertmusik  – als zentrales Klassifizierungskriterium vorauszusetzen, greift für die Betrachtung des arabischen Raum zu kurz. Man würde damit eine Musiktradition als Diskussionsgrundlage annehmen, die im arabischen Raum vielerorts so nicht gelebt wurde und allenfalls im Bewusstsein weniger Persönlichkeiten als Gelerntes aber kaum Erlebtes existiert. Wo aber soll man dann Kriterien dafür ansetzen, welche Phänomene hier überhaupt einer »neuen Musik« zuzuordnen ist? Will man sich nicht lediglich auf Komponisten beschränken, die an europäischen und amerikanischen Hochschulen studiert und sich dort  – mehr oder weniger  – ästhetisch innerhalb des westlichen Diskurses verortet haben, kommen wir nicht umhin, den Begriff neue Musik hier deutlich breiter zu fassen als üblich. Ein Bezug auf arabische Musiktraditionen bis hin zum assoziativen Zitat und zur musikalischen Innovation kann dabei in unterschiedlichsten Formen auftreten. Und es spielen nicht zuletzt unkonventionelle Aufführungs-, Präsentationsund Rezeptionskontexte eine wichtige Rolle – so etwa in Arbeiten des Komponisten und Medienkünstlers Hassan Khan z. B. bei der Kassler Documenta, in Auftritten des Computer-Performers Tarek Atoui oder des Improvisationsmusikers Mazen Kerbaj (Trompete) und von Raed Yassin (Kontrabass und Computer) z. B. im Stedelijk Museum Amsterdam. Das Neue muss hier also auch – vielleicht sogar primär – außerhalb eines etablierten Konzertund Festivalbetriebs gesucht werden. Einige der bekanntesten Komponisten, Performer, Improvisatoren, Klang- und Medienkünstler des arabischen Raums entstammen relativ privilegierten Milieus, besitzen fundierte Kenntnisse der neusten westlichen Musik und Kunst und arbeiten mit Ansätzen, die Genres und Techniken wie musique concrète (Ä Elektronische Musik, 2.), Feldaufnahmen, loops, Rap, electronica, psychedelischen Rock und oft auch – so lautet die eigene Bezeichnung: exotica  – unbekümmert miteinander verbinden. Die Arbeiten der exponiertesten Vertreter etwa im Libanon oder in Ägypten greifen mit großer Leichtigkeit auf Verschiedenartiges zurück. Immer wieder zeigt sich deutlich, dass Musik und Musikpraxis der arabischsprachigen Welt einem vom Westen grundsätzlich verschiedenen historisch-kulturellen Hintergrund entstammt, der zwar vielfach von der Erfahrung des Kolonialismus und Postkolonialismus gebrochen ist, dennoch aber zunehmend mit seinen eigenen Voraussetzungen konfrontiert wird – besonders im Zuge jüngerer politisch-gesellschaftlicher Tendenzen einer Re-Islamisierung der Gesellschaft (z. B. in Ägypten). Mit dieser Situation korrespondiert das Problem eines häufig unzureichenden Blickwinkels des Westens 183 auf die arabischen Musikszenen, der allzu oft verbunden ist mit dem Wunsch, »Authentisches« zu finden oder Anhaltspunkte von »Herkunft«, »Lokalität« oder »Identität« zu erkennen. Dagegen halten viele der führenden Künstler im Bereich der Musik wie Tarek Atoui, Raed Yassin, Mazen Kerbaj, Sharif Sehnaoui, Hassan Khan, Mahmoud Refat – ebenso wie einige bildende Künstler (wie z. B. Walid Raad, Rose Issa, Viola Shafiq oder Susan Hefuna) – dezidiert Abstand zur Vereinnahmung ihrer Arbeit durch nationale oder kulturelle Stereotypisierung. Wie fast überall auf der Welt wirkt das rapide expandierende Ä Internet in den letzten Jahren bahnbrechend auf das Bewusstsein und die Formen des Musiklebens ein. Wo vordem unterschiedliche lokale Szenen in den einzelnen Ländern nebeneinander koexistierten, zeichnet sich heute die Entstehung einer komplex vernetzten kosmopolitisch aufgefächerten und dezidiert transnationalen Musiklandschaft ab, zumindest im Bereich der experimentellen, improvisierten und »neuen« komponierten Musik. Der digitale Zugang zu medial ausgelagerten Alternativwelten führt zu neuen Orientierungs- und Identifikationsmöglichkeiten und fordert damit gerade in der Kunstwelt Identitätszuweisungen lokaler Art heraus. 3. Infrastruktur Auch in unserem Betrachtungsfeld sind die beiden Metropolen der Unterhaltungsindustrie der arabischen Welt  – Kairo und Beirut  – führend. In diesen beiden Städten konzentrieren sich mit Abstand die meisten Künstler, Ensembles, Labels, Festivals, Galerien, Foren, Aktivitäten und Tendenzen im Bereich zeitgenössischer Musik. Der Bereich privater oder staatlich geförderter Träger und Foren zeitgenössischer Musik hat sich in den letzten 15 Jahren in der gesamten Region stark erweitert. Festivals, Konzertreihen und Ensembles sind gegründet worden, von denen sich viele mittlerweile etabliert haben, so z. B. das Irtijal Festival für improvisierte Musik im Libanon (gegründet 2000) oder die Cairo Contemporary Music Days (gegründet 2011  – tatkräftig gefördert von der mittlerweile in entscheidender Weise aktiven 2010 in Deutschland gegründeten Egyptian-European Contemporary Music Society [EECMS]). Daneben werden Konzertreihen von Kunstgalerien veranstaltet, wie z. B. dem Beirut Art Center, der Kairoer Townhouse Gallery oder des Darat al Funun in Amman. Die Sharjah Biennale in den VAE baut unter der fachkundigen Beratung des libanesischen Klangkünstlers Tarek Atoui seit 2008 auf beachtliche Weise ihren Musikbereich auf. Die europäischen Kulturinstitute wie die Alliance Française und das Goethe Institut treten nun auch im Bereich neue Musik verstärkt als Austauschplattformen auf und in Städten Arabische Länder wie Beirut und Kairo gibt es lebendige, gut vernetzte freie Szenen. Sind in Europa herkömmlicherweise die Kompositionsabteilungen der Musikhochschulen oft Zentren der Entstehung und Aufführung neuer Musik, so bleiben viele Konservatorien in arabischen Ländern bis heute mehr auf die Traditionspflege ausgerichtet, was die dortigen Kompositionsabteilungen insofern teilen, als die Ausbildung der Studierenden auf ein westlich-klassisch-romantisch geprägtes Traditionsideal ausgerichtet ist. Dies lässt sich möglicherweise auf die Gründungsgeschichte der Konservatorien zurückführen. Die Gründungsversuche von eigentlichen Konservatorien für Musik setzen tendenziell in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s an, wo in der Folge des Ersten Weltkriegs einerseits ein verstärktes Bewusstsein für die eigene Musik, andererseits aber im Zuge der kolonialen Erfahrung auch eine verstärkte Orientierung an westlicher Musik vorherrschte. Resonanzen dieses Spannungsverhältnisses prägen vielfach heute noch die Sichtweisen von Musik in arabischen Gesellschaften. In diesem Zusammenhang zu erwähnen wäre der einzigartige Dokumentationsversuch von König Fouad I. von Ägypten, der auf einen Vorschlag des französischen Musikologen und Malers Rodolphe d’Erlanger hin 1932 an der National Academy of Music als »Cairo Congress of Arab Music« veranstaltet wurde. Das Großprojekt mit 360 Aufführungen und Beiträgen zahlreicher internationaler Fachleute (darunter Béla Bartók, Paul Hindemith und Henry G. Farmer) stellt den ersten und wohl umfassendsten panarabischen Versuch dar, das Kulturgut der eigenen Musik im Format eines thematisch weitgespannten Kongresses mit Konzertprogramm der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Das durchaus auch umstrittene Unterfangen hatte neben der Erfassung historischer Formen der Musikpraxis auch das Ziel die regionale Vielfalt der Stimmsysteme in Form einer normierten 24-tönigen Unterteilung der Oktave zu standardisieren und alternative Notationssysteme einzuführen. Von diesem Ereignis gingen starke Impulse aus, die die Begründung von Konservatorien als institutionalisierte Zentren nationaler Musikkultur mit je unterschiedlichen Gewichtungen der Ausbildungsschwerpunkte arabischer und europäischer Musik angeregt hat. Die wichtigsten davon sind: Conservatoire de musique de Rabat (1929 gegründet von Alexis Chottin), Baghdad Conservatory (1936 gegründet von dem Musikgelehrten und Komponisten Hanna Petros), Conservatoire libanas national supérieur de musique (1937 gegründet von Wadih Sabra, auch als Komponist der libanesischen Nationalhymne bekannt), das Cairo Conservatoire (gegründet 1959), die Arab Academy of Music in Damaskus (gegründet 1962 von dem Dirigenten und Komponisten Solhi al-Wadi), das Arabische Länder National Music Conservatory in Amman (gegründet 1986 von der königlichen Noor al Hussein Foundation) sowie das Edward Said National Conservatory of Music (1993 in Ramallah mit Zweigen in Gaza, Jerusalem, Nablus und Bethlehem gegründet). In der Regel werden in diesen Institutionen im Fach Komposition die Tradition der europäisch-tonalen Musik mit Harmonielehre, Kontrapunkt, Stilkunde und Instrumentation unterrichtet. Konzeptuelle, instrumentale und kompositorische Innovation und Invention im Rahmen der Ausbildung und das Leitbild des kompositorischen Experiments sowie die Integration der elektronischen Musik sind im Vergleich zu europäischen Musikhochschulen weit weniger selbstverständlich, obwohl auch hier insbesondere in den Konservatorien von Kairo und Beirut und dem Conservatoire National de Musique de Rabat in den letzten Jahren Veränderungen zu beobachten waren. In Damaskus gab es vor dem Krieg am High Institute of Music and Theatre (1990 ebenfalls von Solhi al-Wadi gegründet) einen zehnsemestrigen Diplomstudiengang, in dem gleichermaßen westliche und arabische Musiktheorie und -praxis gelehrt wurde. Das Edward Said National Conservatory of Music im Westjordanland richtet sich an jüngere Instrumental- und Stimmfachstudenten, hält aber damit in einem krisengeschüttelten Land den Kontakt mit Musik aufrecht. Oftmals sind die Direktoren dieser Konservatorien Komponisten oder Dirigenten mit »klassischer« Orientierung, die nur ein begrenztes Interesse an einer Öffnung zur westlichen Avantgarde haben, so z. B. Walid Golmieh, der Leiter des Conservatoire libanais national supérieur de musique (1930 von Wadih Sabra gegründet) oder Kifah Fakhouri, Komponist, Dirigent, Musikpädagoge und langjähriger Leiter des National Music Conservatory in Amman. Im Hinblick auf die Impulsgebung durch den Cairo Congress im Bereich Dokumentation eigener Musiktraditionen ist eine interessante Station in der Geschichte der elektronischen Musik eine frühe Arbeit des ägyptischen Komponisten Halim El-Dabh (*1921, Kairo) aus dem Jahr 1944, die im Studio des Middle East Radio Cairo geschaffen wurde. Interessiert an den Möglichkeiten der Manipulation von mit dem Tonband aufgenommenen Material, produzierte El-Dabh sein The Expression of Zaar unter Verwendung von Tonaufnahmen einer Zar-Heilungszeremonie, die mit analogen Hall- und Filtertechniken bearbeitet wurden. Das Stück ist somit durchaus den ersten Stücken der musique concrète zuzuordnen. 4. Komponisten und Klangkünstler Die in Europa im Bereich der neuen Instrumentalmusik bekanntesten Komponisten aus dem arabischen Raum 184 sind Samir Odeh-Tamimi, Saed Haddad, Amr Okba, Karim Haddad und Elia Koussa. Bewusste Bezugnahmen auf Elemente islamischer oder arabischer Musik tauchen gelegentlich bei dem in Berlin lebenden Samir OdehTamimi (*1970, Jaljuliya / Israel) auf. Ähnliche Verbindungen entdeckt man bei dem ebenfalls in Deutschland ansässigen Saed Haddad (*1972, Zarka / Jordanien), bei dem in Amman lebenden Iyad Mohammad (*1976, Gräfeling / Deutschland) oder dem in Frankreich arbeitenden Ahmed Essyad (*1938, in Salé / Marokko), der z. B. serielle Kompositionstechnik mit Vokalmusik der Berber verbindet. Elia Koussa (*1978, Beirut) studierte zunächst Klavier in Tripoli (Libanon), dann Komposition bei Helmut Zapf in Berlin, worauf sich ein Studium an den Musikhochschulen Weimar und Leipzig anschloss (dort bei ClausSteffen Mahnkopf ). Mounir Anastas (*1963, Israel), der seit 2000 als palästinensischer Kulturbeauftragter bei der UNESCO in Paris tätig ist und durch die Kurse von Iannis Xenakis an der Université de Paris I stark geprägt wurde, sowie Karim Haddad (*1962, Beirut), der seit 1995 mit dem IRCAM in Paris verbunden ist, können ebenfalls dieser Gruppe zugeordnet werden. In der Schweiz leben Wael Sami Elkholy (*1976, Dubai), der am Cairo Higher Institute of Arab Music seinen Abschluss in Komposition machte und sich dann im Rahmen eines Studiums an der Hochschule der Künste Bern auf Musiktheater konzentrierte, sowie der Komponist und Gitarrist Mahmoud Turkmani (*1964, Halba / Libanon), in Österreich der Komponist und Ūd-Spieler Hossam Mahmoud (*1965, Kairo), der bei Beat Furrer (Graz) und Bogusław Schaeffer (Salzburg) studierte und zuletzt ebenfalls mehrere viel beachtete Musiktheaterwerke vorlegte, die sich u. a. mit den politischen Veränderungen im arabischen Raum auseinandersetzen (18 Tage…, 2013; Tahrir, 2014/15). Der akusmatische Komponist Mazen Hussein (*1972, Aleppo / Syrien) studierte Komposition in Damaskus und Toulouse, der Komponist und Klangkünstler Brahim Kerkour (*1980, Rabat / Marokko) bei Tristan Murail in New York. Bei den in den 1970er Jahren geborenen Komponisten zeitgenössischer Konzertmusik sind Amr Okba (*1972), Mohammad Saad Basha (*1972), Nahla Mattar (*1971) und Bassam Halaka (*1977) hervorzuheben, die ihre Kompositionsstudien am Cairo Conservatoire absolvierten und ihre Studien u. a. in Österreich fortführten (Okba an der Universität Mozarteum in Salzburg, Halaka an der Kunstuniversität Graz). Mattar zog es nach Grundstudien in Ägypten ebenfalls ins Ausland (Arizona State University), von wo aus sie nach Ägypten zurückkehrte, um eine Professur an der Helwan University in Kairo anzunehmen. Von übergeordneter Bedeutung für einen eigenständigen Beitrag innerhalb des eingangs vertretenen erwei- 185 terten Begriffes der neuen Musik erscheint mir allerdings die Arbeit der im Folgenden genannten Musiker und Klangkünstler. Tarek Atoui (*1980, Beirut) zog mit 18 Jahren nach Frankreich, um am Conservatoire National in Reims elektronische Musik zu studieren. Ab 2006 war er für einige Jahre einer der künstlerischen Leiter des elektronischen Studiokomplexes STEIM (STudio for Electro-Instrumental Music) in Amsterdam. Durch eine umfangreiche Installation von Sensoren und Controllern nutzt Atoui die elektrische Kapazität der menschlichen Gliedmaßen, um in ein elektromagnetisches Feld einzugreifen und damit den Klang zu kontrollieren. Dabei greift er auf eine umfangreiche Sample-Datenbank zu, aus der Klangsplitter abgerufen und mosaikartig immer neu kombiniert werden. 2012 kuratierte Atoui an der Sharjah Art Foundation das vielbeachtete Projekt »Revisting Tarab«, das internationale Klangkünstler und Performer, darunter Elliott Sharp, Zeena Parkins, Lukas Ligeti, Ikue Mori, Raed Yassin u. a., damit beauftragte, mit Aufnahmen aus dem Audioarchiv Kamal Kassars (Schellackplatten mit Aufzeichnungen arabischer Musik aus den Jahren 1903– 1950) neue Stücke zu schaffen. Der Kontrabassist und Performer Raed Yassin (*1979, Beirut) verwendet akustisches Material aus dem libanesischen Bürgerkrieg, einer für seine gesamte Kindheit prägenden Zeit. Seine Auftritte mischen Feldaufnahmen, Aufnahmen aus Radio, Fernsehen und Internet mit Geräuschen seines präparierten Kontrabasses und seiner Stimme zu quasi narrativen Klangtiraden, die er »bricolages« nennt. Yassins Werke lassen vielfach politische Ebenen assoziieren (Propaganda-Lieder, politische Reden, Popsongs etc.) und setzen sie in neue Zusammenhänge. Von nicht-libanesischen Hörern können diese Stücke als bunte musique concrète gehört werden, für Hörer aus dem Libanon sind sie eine Form von Protest, Widerstand oder Vergangenheitsbewältigung. Das Label Al Maslakh des Komponisten, Trompeters und Cartoon-Künstlers Mazen Kerbaj (*1975, Libanon) dokumentiert Arbeiten, die auf dem von ihm und dem Gitarristen Sharif Sehnaoui (*1976, Beirut) 2001 gegründeten Irtijal Festival für improvisierte Musik vorgestellt wurden. Kerbaj, eine der wichtigsten musikalischen Persönlichkeiten des Libanon, greift wie Raed Yassin in seinen Improvisationen auf die Klangfronten des libanesischen Bürgerkriegs zurück und erschließt damit ein konnotativ aufgeladenes Material im Kontext experimenteller improvisierter Musik. Der in Tripoli (Libanon) geborene und lebende Komponist und Gitarrist Osman Arabi, beeinflusst vom Bruitismus und den Schriften des italienischen Futurismus, schafft mit seinen präparierten Gitarren und elektroni- Arabische Länder schen Erweiterung ungewöhnliche und weitläufige NoiseCollagen mit Elementen des psychedelischen Rocks. Durch die stetigen Impulse Mahmoud Refats (*1974, Kairo) hat sich seit den 1990er Jahren in der experimentellen Musikszene Kairos viel verändert. Als Begründer des Labels 100copies, das heute zu einem Komplex von Studios und kleinen Aufführungsorten angewachsen ist, hat Refat die wichtigste Plattform der freien experimentellen Szene in Kairo geschaffen, zu der auch der InternetSender 100copies Radio gehört. Seine eigene Arbeit als Klangkünstler und Performer besteht aus Verwebungen zahlreicher Klänge aus der Musiklandschaft Kairos. Er arbeitete international mit Videokünstlern, Filmemachern und Choreographen zusammen. Hassan Khan (*1975, London) nahm als bildender Künstler an zahlreichen Gruppenausstellungen teil, etwa der Biennale of Sydney (2006) und der Istanbul Biennial (2003). Er arbeitet mit (akustischen) Bildern, Text, Raum und erzählerischen Situationen. Oft bestehen seine live interpretierten Kompositionen aus im Studio aufgenommenen vorkomponierten Instrumentalspuren, die mit historischen Musikaufnahmen, Feldaufnahmen, kurzen Samples und gelegentlicher Videoprojektion kombiniert werden, Rhythmisch enthalten seine Arbeiten fast immer Elemente aus der mittlerweile in vielen arabischen Ländern verbreiteten ursprünglich ägyptischen Straßenmusik Shaabi sowie aus verschiedenen traditionellen Genres arabischer Musik. Ä Themen-Beitrag 9; Afrika, Globalisierung Adileh, Mu ’ tasem: Arabic Music between the Hammer of Technological Creativity and the Anvil of Cultural Identity (A Critical Study), in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 42/1 (2011), 145–163 „ BehrensAbouseif, Doris: Beauty in Arabic Culture, Princeton 1998 „ Beimel, Thomas: »Der Schrei der Geister«. 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Jh.s eingeführte Begriff »Tonalität« (Choron 1810; Helbing 2005, 171 f.) wird sowohl umgangssprachlich als auch fachsprachlich in der Regel als Synonym der »Dur-Moll-Tonalität« oder »harmonischen Tonalität« (beide Begriffe erstmals bei Adler 1881, 782) verstanden. Dur-Moll-Tonalität im engeren Sinn als musikalisches Ordnungssystem einer »shared community« von Komponisten, Interpreten und Hörern wird üblicherweise auf eine ca. von 1680 bis 1900 reichende Periode begrenzt, selbst wenn einerseits viele Aspekte tonalen Komponierens, Denkens und Hörens bis in die Gegenwart hineinreichen und andererseits deutliche Erosionserscheinungen innerhalb dieses Ordnungssystems spätestens seit 1850 erkennbar waren. Daneben wurde früh darauf hingewiesen, dass neben der europäischen Dur-Moll-Tonalität andere Formen von Tonalität, etwa in außereuropäischer Musik oder auch in älterer europäischer Musik, so im Gregorianischen Choral, unterschieden werden könnten (Fétis 1844; Helbing 2005, 194–200). Für die vor 1600/1680 zu datierenden Formen von Tonorganisation in europäischer Musik hat sich allerdings weitgehend der Begriff »Modalität« durchgesetzt. Gegenüber dem Begriff »Tonsystem«, der das Ineinandergreifen von Stimmung, Tonvorrat, Skalen und ggf. Tonarten, -geschlechter oder Modi (d. h. gewichteten Unterscheidungen zwischen Zentral- bzw. Haupt- und Nebentönen) bezeichnet (Dahlhaus 1968/2002, 159–185), ist der Begriff »Tonalität« spezifischer: Eingeschränkt auf die Dur-Moll-Tonalität und in Abstraktion von einer äußerst dynamischen jahrhundertelangen Entwicklung bezeichnet er ein reduziertes Repertoire von aus Terzen- schichtungen resultierenden umkehrbaren Grundklängen (Akkorden) und ein mit diesen einhergehendes Regelwerk zur Handhabung von Stimmführung und Akkordprogressionen, die auf eine Skala bzw. eine tonales Zentrum, die Tonika, bezogen sind (Beiche 1992; Eybl 2010). Damit ist nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen strukturellen Konsonanzen und Dissonanzen verbunden, die seit der Psychophysik und Tonpsychologie des 19. Jh.s durch die Beobachtung eines graduellen Kontinuums von Sonanzgraden ergänzt wurde, der die Kriterien »Rauigkeit« und »Verschmelzung« zugrunde liegen (Helmholtz 1863, 295–297; Stumpf 1890, 127–218; Cazden 1962), und zu der sich weitere u. a. kulturell bedingte und erlernte Kriterien der Konsonanz-Dissonanz-Unterscheidung hinzufügen lassen (Parncutt / Hair 2011). Hingewiesen wurde insgesamt häufig darauf, dass kompositionstechnische und musiktheoretische Kriterien zur Bestimmung von Tonalität, Tonart, tonalem Zentrum oder tonal bestimmter Form nicht deckungsgleich mit jenen Kriterien sind, die bei der Wahrnehmung tonaler bzw. atonaler Musik zur Anwendung kommen. So werden etwa »skalentheoretisch tonal eindeutige Tonfolgen […] mehrdeutig gehört, die wahrgenommenen Zentren entsprechen also keineswegs immer den theoretischen. Andererseits können skalentheoretisch atonale Tonfolgen einen eindeutigen tonalen Eindruck hervorrufen« (Auhagen 1994, 122). Auch das Kriterium der Bezogenheit längerer musikalischer Entwicklungen auf ein gemeinsames tonales Zentrum spielt beim Musikhören eine deutlich untergeordnete Rolle; vielmehr werden (auch von Experten) lokale harmonischformale Beziehungen beim Hören in den Vordergrund gerückt (Tillmann / Bigand 2004, 218). Der Übergang zur »Atonalität« um 1910 (zur Begriffsgeschichte vgl. Kinzler 1994), mit zahlreichen Vorstufen seit der Mitte des 19. Jh.s, resultiert u. a. (1) aus einer dynamischen Erweiterung des Skalenrepertoires (Chromatisierung; Ganztonskala; oktatonische Skala; Mischung von diatonischen, modalen und chromatischen Skalen sowie Polytonalität und Polymodalität) und Akkordrepertoires (Alternativen zur Terzenschichtung wie Quarten-, Quinten-, aber auch Septimen- und Nonenschichtung; eigenständige vier- bis zwölfstimmige Klänge ggf. mit hohem Dissonanzgrad), (2) aus einer immer stärkeren Selbstständigkeit einzelner Stimmen bzw. einer linearen Polyphonie, in der »Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung« sind (Ä Harmonik / Polyphonie, 4.1): »Rechtfertigung durchs Melodische allein« (Schönberg 1911/22, 465), (3) aus der damit einhergehenden zunehmenden Unschärfe einer Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz, markiert durch Schönbergs Formulierung »Emanzipation der Dissonanz« (1926/76, 211), womit zugleich die 187 zwölftönige Chromatik zum Referenzsystem wird und Enharmonik im Sinne eines Wechsels von Tonbedeutungen weitgehend ihren Sinn verliert, (4) aus der mit (1)–(3) einhergehenden zunehmenden Aufgabe einer Grundtönigkeit von Akkorden sowie eines Tonikaklangs oder -tons bzw. eines tonalen Zentrums von formalen Abschnitten und ganzen Werken, sowie (5) aus einer damit einhergehenden Aufgabe oder Transformation harmonischer »Fortschreitungslogik« und Funktionalität wie sie die einflussreichen Theorien tonaler Musik von Jean-Philippe Rameau bis Hugo Riemann und Heinrich Schenker zu formalisieren versucht hatten. (6) Schließlich kann vor dem Hintergrund der musikhistorischen Entwicklung seit den 1950er Jahren »Atonalität« in einem erweiterten Sinn auch als Repertoire von Strategien verstanden werden, die sich gegen die mit tonaler Komposition, Interpretation und Rezeption verknüpften Konventionen richten: die Hierarchie von Ton- und Klangbeziehungen, die motivisch-thematisch gestalthaft organisierte Rhythmik, teleologische und finalistische Form- und Zeitmodelle, ein metaphorisches Hören, die soziologischen und (im weiteren Sinne) politischen Bedingungen tonaler Musik und tonalen Hörens etc. (Ä Musiksoziologie, Ä Neue Musik, Ä Postmoderne, Ä Wahrnehmung). Gerade in diesem Sinne zeigt sich im Diskurs über Atonalität auch eine fortschreitende Überbietungslogik, etwa wenn Komponisten wie Helmut Lachenmann oder Nicolaus A. Huber seit den 1970er Jahren den Protagonisten serieller Musik vorwarfen, die Neigung vieler Hörer ignoriert zu haben, sich selbst beim Hören strikt atonaler Musik an expressive Residuen tonaler Musik zu klammern (Lachenmann 1979/96, 61), oder die archetypischen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Tonalität beim Musikhören ihre Wirkungen entfaltet, nicht thematisiert zu haben (Sielecki / Huber 2000) (vgl. 2., Ä Wahrnehmung, 3.2). In einigen Fällen wurde der Begriff »Tonalität« auch allgemein als Beschreibung von Tonbeziehungen schlechthin verstanden (Adler 1911, 67), tendierte in dieser weiten Definition aber von jeher zur Tautologie. Dies wird umso deutlicher als vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung neuer Musik »Nicht-Beziehungen« zwischen Tönen kaum mehr vorstellbar sind: Selbst Strategien extremer ästhetischer Brechung oder Ä Collage / Montage werden häufig eher als Beziehungsreichtum erfahren denn als »beziehungslose« Folge (Mosch 2004, 80–88). Dennoch ist vor dem Hintergrund der Geschichte der Kunstmusik im 20. und 21. Jh. eine gegenüber konventionellen Definitionen von »Tonalität« bzw. »Atonalität« geweitete Definition angebracht, da sich zahlreiche Bildungen der neuen Musik als Fortführung oder Kritik tonaler Prinzipien verstehen lassen und sich somit zumindest ex negati- Atonalität / Posttonalität / Tonalität vo weiter an einem Diskurs über Tonalität beteiligen. Für eine solche Sichtweise scheint der Begriff »Posttonalität« geeigneter als jener der »Atonalität«, durch den die kategoriale Gegensätzlichkeit zweier Formen der Tonorganisation festgeschrieben wird. In Bezug auf Jean-François Lyotards Definition von Ä Postmoderne als »Redigieren« im Sinn einer »Anamnese« bzw. einer »Durcharbeitung der Moderne« (2001, 41, 67) kann »Posttonalität« das vielgliedrige Beziehungsnetz zwischen tonaler und posttonaler Musik besser fassen als die polarisierenden Begriffe (Utz / Kleinrath 2011, 74; Utz 2013). Der Begriff Posttonalität ist als Alternative zu Atonalität in einzelnen Fällen seit den 1950er Jahren (Sessions 1951, 296 f.), verstärkt und vergleichbar mit der hier entwickelten Bedeutung erst seit den späten 1980er Jahren in Verwendung (Straus 1987, 1990/2005). Gewiss ist, dass eine »Durcharbeitung« von Tonalität im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme und eines gegenwartsbezogenen Weiterdenkens ein äußerst breites Spektrum an kompositorischen Optionen und Strategien umfasst. Jedoch ist eine klare Abgrenzung von explizit antimodernen Versuchen, im Sinne einer »Neotonalität« tonale Stile, Topoi und Verfahren schlicht und bruchlos zu restituieren, in den meisten Fällen möglich und notwendig (vgl. 2., Ä Postmoderne, 3.). Theodor W. Adornos Beharren auf dem Begriff »Atonalität«, der wesentlich zu seiner musikhistoriographischen Etablierung beitrug, war dennoch insofern gerechtfertigt, als er den plötzlichen und radikalen Wandel im musikalischen Idiom Arnold Schönbergs und anderer im Zeitraum 1906–1910 festhielt und ihn gegen konservative Kritik verteidigte, die in der Abwendung von tonalen Grundprinzipien nur ein vorübergehendes »Intermezzo« sehen wollte oder auch frühen »atonalen« Werken schlicht weiterhin tonale Grundprinzipien unterstellte (Adorno 1929/84). Allerdings räumte auch Adorno die permeable Grenze zwischen Tonalität und Atonalität ein, indem er darstellte, dass selbst das atonale Kernrepertoire Schönbergs zwischen 1909 und 1921 in vielfacher Hinsicht dem Erbe tonaler Musik verpflichtet geblieben sei (1929/84, 95; 1946/84, 57 f.). Darin wurde er nicht nur von Schönbergs eigenem weit gefasstem Tonalitätsbegriff, sondern auch von vielen späteren Studien gestützt (Holtmeier 2010, 99–104; Brinkmann 1969/2000, 62 f.; Haimo 2006, 1–7). Schönbergs Haltung zu dieser Frage war dennoch letztlich widersprüchlich: Einerseits lehnte er  – ebenso wie Béla Bartók (1943/92, 365) und Igor Strawinsky (1942/47, 38) – in Reaktion auf den polemischen musikjournalistischen Gebrauch den Begriff Atonalität ab und versuchte seine eigene Entwicklung verstärkt als »Evolution« darzustellen (1911/22, 487 f.; vgl. Kinzler 1994, 21 f.), zum anderen wandte er sich explizit gegen Versuche, etwa jene Edwin von 188 Atonalität / Posttonalität / Tonalität der Nülls, Werke wie seine Klavierstücke op. 11 als tonal »zurechtzuanalysieren«: »Nichts könnte unerfreulicher sein als der gezwungene Beweis, daß angeblich ›Atonales‹ dennoch ›tonal‹ ist« (Randglosse Schönberg ca. 1932, zit. nach Haselböck 2005, 120). Es gab in der Folge eine einflussreiche Strömung, die insbesondere auch dodekaphonen Verfahren ein »tonales« Prinzip unterstellte, indem die durch die Zwölftonreihe gestifteten Beziehungen als Tonalitätsersatz angesehen wurden (Schönberg 1911/22, 486; Haselböck 2005, 33–35) bzw. aufgrund quasi modaler zwölftöniger Verfahren eine »Twelve-tone tonality« etabliert wurde (Hill 1936; Krenek 1960; Perle 1941, 1977; Ä Zwölftontechnik, 2.). Es lässt sich hier eine dreifache Problematik erkennen, die nicht zuletzt musikhistoriographische Implikationen hat: (1) Einerseits verkennt ein evolutionäres Geschichtsmodell, das eine vermeintlich folgerichtige Linie von einer nahezu 300 Jahre lang stabilen über »vagierende«, »erweiterte« und »aufgehobene« Tonalität zur Atonalität zieht, nicht nur die zum Teil radikalen Veränderungen in der Auffassung und Anwendung tonaler Systeme zwischen 1600 und 1900 – besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s –, sondern auch das Fortwirken tonaler Grundprinzipien wie etwa Spannung-Lösung selbst in den scheinbar radikalsten »anti-tonalen« Zusammenhängen: Ursprünglich basierend auf der Polarität von Konsonanz und Dissonanz wirkte dieses Prinzip auch nach der weitgehenden Aufhebung dieser Unterscheidung in vielen Bereichen der neuen Musik weiter, ohne dass das damit verbundene satztechnische Regelwerk oder der Gedanke eines tonalen Zentrums übernommen werden musste. (2) Andererseits sind die Radikalität und der Bruch des atonalen Komponierens mit gesellschaftlichen und hörpsychologischen Konventionen zu konstatieren; dies deutet auf ein Konfliktpotenzial hin, das sich in tonalitäts- und traditionskritischen Tendenzen neuer Musik nach 1945 vielfach potenzieren sollte und u. a. eng mit dem modernen Paradigma einer selbstreflexiv sich erneuernden Kunstform zusammenhängt (Janz 2014). Vor diesem Hintergrund muss auf der Eigenständigkeit atonalen bzw. posttonalen Komponierens beharrt werden, auch wenn in der historischen Distanz bisweilen mit der Tonalität vermittelte Aspekte deutlicher hervortreten mögen. Bis in die Gegenwart wird das Argument, ein Großteil neuer Musik sei ja »eigentlich tonal« von kulturkonservativer Seite dazu missbraucht, ihr kulturkritisches Ethos in Zweifel zu ziehen. (3) Dennoch muss angesichts der oft allzu stereotypen Unterscheidung in tonale und atonale Musik als primäres musikhistoriographisches Kriterium (Eggebrecht 1991/2004, 777–787; vgl. Hentschel 2006, 67) nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass eine eindimensionale, etwa rein strukturelle Betrachtung von Atonalität der Komplexität historischer Prozesse kaum gerecht werden kann (Ä Neue Musik, 1.). Atonalität bzw. Posttonalität ist somit in einen breiteren Kontext historiographischer, musiktheoretischer und soziologischer Analyse zu integrieren und nicht auf einen simplen Gegensatz zu »tonalen Strukturen« reduzierbar. 2. Tendenzen posttonalen Komponierens Die serielle Musik und Teile der postseriellen Musik haben in je eigener Weise versucht, die in der frühen Atonalität und der Dodekaphonie noch enthaltenen, teilweise von den Komponisten bewusst gesetzten und gesuchten, teilweise aber auch impliziten »Reste« von Tonalität bzw. tonalem Denken und Hören zu problematisieren  – und schrieben damit an der Auseinandersetzung mit Tonalität in der neuen Musik fort. So sah man insbesondere in der gestischen, an tonaler Phrasenbildung orientierten motivisch-thematischen Arbeit, die Schönberg als »entwickelnde Variation« in die Atonalität gerettet hatte, gewiss nicht zu unrecht stark dem tonalen Modell verpflichtete Aspekte. (Pierre Boulez meinte vor allem dies mit jenen Schönberg angelasteten »nervtötenden […] Tonsatz-Klischees«, 1952/79, 293.) Für die von vielen Vertretern der jungen Generation nach 1945 angestrebte »Umgestaltung des Kommunikationssystems Musik« (Borio 2005, 248) war dies eine entscheidende Motivation zu der formalisierten Neudefinition des Ä Rhythmus als unabhängigem Parameter, der von seiner Anbindung an die »Polyphonie« befreit werden sollte (Boulez 1953/79, 248; Ä Analyse, 2.). Was in diesem Zusammenhang bisweilen allzu verallgemeinernd als »Dogmatisierung der Atonalität« (Hentschel 2006, 93) bezeichnet wird, erweist sich im historischen Rückblick als Summe jener notwendigen Strategien, die für ein umfassendes »Redigieren« von Tonalität, tonalem Denken und Hören unerlässlich waren. In diesem Sinn versuchte serielle Musik, rigoros die Voraussetzungen tonaler Musik zu hinterfragen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die durch die parametrische Anlage der Struktur herbeigeführte Radikalisierung der Polyphonie; aber auch Konzepte serieller Harmonik versuchten nachhaltig jegliche Form tonaler Stabilität zu unterlaufen, etwa durch »statistische« Feldkomposition (Karlheinz Stockhausen), »stochastische« Massenstrukturen (Iannis Xenakis) oder die Arbeit mit wuchernden Tongruppen, die horizontal oder vertikal »ausgelesen« werden konnten (u. a. John Cage, Boulez; Ä Harmonik / Polyphonie, 3.5). Die bereits erwähnte seit den späten 1960er Jahren formulierte Kritik des »kritischen Komponierens« am Ausklammern auratischer und gesellschaftlicher Dimen- 189 sionen von Tonalität in der seriellen Musik schärfte das Bewusstsein für die komplex in die Lebenswelt eingreifenden Aspekte des Phänomens Tonalität: »Tonalität ist so bestimmt von einer […] unendlich strapazierbaren Dialektik von Konsonanz und Dissonanz, welche es ermöglicht und erzwingt, jegliche Musikerfahrung, und sei sie noch so fremdartig, dem tonalen Prinzip zuzuordnen als Dissonanzerfahrung, deren Spannungsreiz in dem Maß noch zunimmt, wie sie sich von der tonalen Mitte weg in welche Peripherien auch immer entfernt. Anders gesagt: Es gibt nichts, was mit den Kategorien der Tonalität nicht erfaßbar und entsprechend nutzbar wäre« (Lachenmann 1979/96, 55). Tonalität prägt das Umfeld aller Hörer der Gegenwart in einem Ausmaß, das ein »Ausblenden« solcher Prägungen beim Hören neuer Musik illusorisch erscheinen lässt; es kann folglich nur darum gehen, diese Prägungen bewusst zu machen, im Sinne eines selbstreflexiven Hörens (Lachenmann 1990/2004, 90). Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Strategien eingesetzt, bei Lachenmann etwa die Neukontextualisierung tonaler Klänge in Form von »kryptotonalen« Residuen (Kötter 2005; Utz 2008; Ä Harmonik / Polyphonie, 3.5). Nicolaus A. Huber wiederum wies besonders nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin »Tonalität nicht zur bloßen Tonsystematik verschrumpeln zu lassen, sondern als ein vom Menschen gemachtes, historisch-praktisches Phänomen zu beschreiben« (1984/2000, 235). Ziel des Komponierens ist es für Huber daher, nicht nur auf der Ebene des Ä »Materials« atonal oder antitonal zu verfahren, sondern auch die archetypischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Tonalität beim Musikhören ihre Wirkungen entfaltet, kompositorisch kritisch zu thematisieren. In Harakiri für kleines Orchester und Tonband (1971) folgt auf einen im dreifachen Pianissimo gespielten Geigenton von elf Minuten Dauer, der zum Schluss eine Minute lang bis ins dreifache Fortissimo anschwillt ein gezielter Bruch: »Statt die geweckte Durchbruchserwartung musikalisch zu erfüllen, wird sie durch einen vom Tonband eingeblendeten Donnerschlag mit anschließendem Regenrauschen parodistisch übererfüllt, so dass die Hörer mit ihren getäuschten (tonal-archetypischen) Auflösungserwartungen gleichsam im Regen stehen bleiben« (Nonnenmann 2006). Freilich fanden zeitgleich zu den hier beschriebenen Entwicklungen andere, mildere Formen eines »Redigierens« von Tonalität statt. Zum Teil in Anknüpfung an den Neoklassizismus wurden tonale Beziehungen, motivisches Denken und (ggf. leicht »geschärfte«) Alterationsharmonik zu Topoi einer »tonalen Moderne«. Insbesondere die Wiederverwendung expressiver tonaler Topoi und Muster darin wurde wiederholt scharf kritisiert Atonalität / Posttonalität / Tonalität (Taruskin 2005/10, 258 f.; Lachenmann 1982/2004, 407; Ferneyhough 1982/98, 23). Betont werden kann dennoch, dass vor allem seit den 1980er Jahren zahlreiche Tendenzen neuer Musik Tonalität zwar als – mitunter auch deutlich präsentes – Vokabular aufgreifen, aber dennoch meist auch als letztlich unerreichbar inszenieren (Ä Postmoderne, 7.). In diesem Zusammenhang lassen sich u. a. folgende signifikante Phänomene posttonalen Komponierens zusammenfassen (Ä Harmonik / Polyphonie): (1) Neopythagoräische Tendenzen, Musik auf die Teiltonreihe zu beziehen bzw. auf die Teiltonreihe einzelner Töne / Klänge zu begrenzen, finden sich vor allem in der US-amerikanischen Avantgarde, etwa bei Harry Partch, La Monte Young, James Tenney oder Phill Niblock (Ä Themen-Beitrag 7, 4.; Ä Neue Musik und Mathematik). Mit der Intention einer rigorosen Erneuerung von Aufführungs- und Hörkonventionen wird ein engster Zusammenhang zwischen Tonalität und Tonsystem bzw. Stimmung proponiert: Repräsentanten dieser Strömung wollen gerade nicht »tonal« im Sinne der »Dur-Moll-Tonalität« komponieren, da sie die dafür notwendige und vorauszusetzende gleichstufige Stimmung ablehnen. Bei vielen anderen Komponisten, etwa jenen der französischen Ä Spektralmusik (Gérard Grisey, Tristan Murail, Hugues Dufourt, Michaël Levinas u. a.) oder bei György Ligeti, Klaus Huber, Hans Zender, Manfred Stahnke oder Georg Friedrich Haas sind Bezüge auf die Teiltonreihe bzw. reine Intervalle dagegen eingebunden in mitunter hochkomplexe harmonische Umgebungen bzw. in Überlagerungen von oder Transformationen zwischen unterschiedlichen Tonsystemen. So wechseln bei Huber etwa Bezüge zwischen Drittelton- bzw. Sechsteltonsystemen mit Bezügen auf die arabischen Modi maqamāt, die eine Vierteltonteilung voraussetzen. Gezielt spektrale Wirkungen entfalten auch Werke Giacinto Scelsis und György Ligetis seit den späten 1950er Jahren, die als Vorbild der frühen musique spéctrale dienten (Utz / Kleinrath 2011, 89–92; Ä ThemenBeitrag 3, 2.2). (2) Tendenzen, die eine Orientierung an Zentraltönen oder Zentraltonbereichen erkennen lassen, ansonsten aber keine tonalen Akkorde oder Elemente verwenden, sind ebenfalls deutlich als kritische Auseinandersetzung mit der Dur-Moll-Tonalität zu verstehen, nicht zuletzt, da jegliche Reminiszenzen an »harmonische Progressionen« im Sinne von formal stringenten Klangfortschreitungen zugunsten eines raum-zeitlichen »Abtastens« des Gesamtklangs getilgt sind. Repräsentativ für dieser Kategorie ist das Schaffen Giacinto Scelsis. Hierbei sollte allerdings differenziert werden, dass viele von Scelsis Werken nicht einfach auf »einem« Zentralton aufgebaut sind, wie es einige seiner Werktitel suggerieren (etwa Quattro pezzi Atonalität / Posttonalität / Tonalität (su una nota sola) für Orchester, 1959). Vielmehr entwickeln Scelsis Werke Tonhöhenbänder unterschiedlicher Breite: Da die Töne hier stets durch Vibrati, Inflektionen, Glissandi etc. in der Tonhöhe schwanken, kann es (nicht selten) vorkommen, dass der am Schluss erreichte Ton nicht mehr dem Ton entspricht, von dem die Musik ausging. (Dies gilt etwa für den zweiten und vierten Satz des Streichtrios, 1958.) Zu dieser Kategorie kann man daneben auch die Musik von Dane Rudhyar, Alan Hovhaness sowie die frühen Werke La Monte Youngs zählen. Ein weiteres Modell dieser Kategorie exponierte Terry Rileys In C (1964), das durch die Hinzufügung der Töne fis und b zur C-Dur-Skala zwar tonal mehrdeutig bleibt, aber dennoch  – auch hier durch die Absenz jeglicher Form von inszenierter harmonischer »Progression« – als ein Beispiel reflektierter Posttonalität kenntlich bleibt (Hentschel 2006, 86; Ä Themen-Beitrag 2, 8.). Das Ziel, den »Klebstoff« zwischen den Klängen zu entfernen, wie es John Cage formuliert hatte (Cage 1959/78, 71), resultiert in solchen Tendenzen in einer »monistischen« Form der Klangkomposition (Ä Themen-Beitrag 3, 2.1). (3) Unmittelbare kompositorische Reflexion tonaler Musik erfolgt verstärkt seit den späten 1960er Jahren durch die Einbindung tonaler Phrasen, Syntax oder Klänge in eine ansonsten nicht vorwiegend tonal organisierte Umgebung. Beispiele bieten Zitationsverfahren und Ä Collage / Montage-Texturen u. a. in Luciano Berios Sinfonia (1968–69) oder Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis (1968). Hier wird tonale Sprache als Gegenwärtiges  – und damit auch als für die Gegenwart Relevantes –, aber auch Unwiederbringliches inszeniert; vielfältige Übergangsbereiche zwischen tonalem Material und atonalem Material oder auch Geräuschstrukturen werden geschaffen. In Lachenmanns Accanto, Musik für einen Solo-Klarinettisten mit Orchester (1975–76) wird Mozarts Klarinettenkonzert durch Tonbandzuspielung in markante Distanz von der Live-Musik gerückt (Nonnenmann 2000, 262–288). In der Ä Polystilistik Alfred Schnittkes finden sich rigorose Überblendungen von atonalen und tonalen Stilen unter Einbezug von Genres aus Jazz, Tanz- und Popularmusik. Zugleich werden die Stile subtil verfremdet, etwa indem in einer scheinbar »ungebrochen tonalen« Umgebung »Tonsatzfehler« eingebaut werden. (Im 2. Satz »Toccata« des Concerto grosso Nr. 1, 1977, Zif. 6, werden Konsonanz und Dissonanz vertauscht: Die Konsonanz »löst sich« in eine Dissonanz »auf«.). Die Hybridisierung und teilweise Ironisierung tonaler Stile findet sich zur Gegenwart hin gehäuft in oft intermedial akzentuierten Remix- und Collageverfahren, oft unter engem Bezug auf durch je eigene Ausformungen von Tonalität geprägte Genres wie Ä Pop / Rock, Ä Jazz 190 oder Filmmusik (Ä Film / Video, Ä Intermedialität, Ä Medien). (4) In der von Adorno als »gemäßigte Moderne« (1970, 58 f.) gekennzeichneten Strömung werden tonale Idiome entweder explizit und ohne deutliche Distanzierung wiederaufgegriffen oder zumindest mit ihnen verbundene Topoi, Ausdruckswerte und Spannungsverläufe eingesetzt. Dabei kann die Harmonik zum Teil deutlich atonale (z. B. auch dodekaphone) Züge tragen, der rhythmische, formale und expressive Gestus bleiben aber in der Regel deutlich der tonalen Tradition verpflichtet. Diese Nähe zur Tonalität setzt das neoklassizistische Erbe fort, nicht zuletzt in Großbritannien (Benjamin Britten, Michael Tippett, Ralph Vaughan Williams), sie spielt aber auch – ohne auf einen Ä »Stil« reduziert werden zu können  – eine bestimmende Rolle bei Ernst Krenek, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze, Aribert Reimann, Dmitri Schostakowitsch und zahlreichen in Ä Osteuropa wirkenden Komponisten (Ä Themen-Beitrag 4). Als spezifische Spielart dieser Kategorie lassen sich auch modale und polymodale Verfahren anführen, wie sie Olivier Messiaen systematisierte und mit einer Fülle von (post-)tonalen Topoi und Klangfiguren erweiterte, u. a. auch Denktraditionen der französischen Musiktheorie aufgreifend (Ä Harmonik / Polyphonie, 3.2). (5) Posttonale und neoexpressive Tendenzen in der deutschen Musik seit den späten 1970er Jahren (Ä Komplexität / Einfachheit) sorgten in Europa in besonders nachhaltiger Weise dafür, die starre Polarität zwischen Tonalität und Atonalität aufzubrechen, sodass Carl Dahlhaus von einer »›Emanzipation der Konsonanz‹ unter atonalen Voraussetzungen« sprach (Dahlhaus 1976/2007, 288; vgl. auch Dahlhaus 1984/88). Früh war dabei ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass es nicht um eine schlichte »Rückkehr« gehen konnte; Tonalität wurde verstanden »als etwas ständig Angestrebtes und doch, da durch kritische Distanz sozusagen gefiltert, als das unmöglich zu Realisierende« (Detlev Müller-Siemens 1979, zit. nach Hentschel 2006, 71 f.). Auch bei Wolfgang Rihm, der einen energetischen Harmonik-Begriff in den Vordergrund rückte, um den polemischen Diskurs über den »Un-Begriff ›tonal‹« zu dekonstruieren (1984/97, 186), wird deutlich, dass solche »Harmonik« Form nur mehr als »fragmentarische, die Form der offenen Enden, mehr Spirale als Kreis« hervorzubringen vermag (ebd., 188). In Rihms Musik wird Harmonik so zur »nervliche[n] Grundlage der Spannungskonstellationen, die zum musikalischen Fluß beitragen. Das musikalische Material definiert sich von unserer physischen Präsenz an der Imagination. Die Frage, ob ein Akkord tonal ist oder nicht, ist letztrangig, denn die Aktualität eines Materials entscheidet sich im Konflikt mit dem 191 Atonalität / Posttonalität / Tonalität Körper« (ebd., 191). Rihm wendet sich zudem dezidiert gegen das (nach den frühen 1930er Jahren in den frühen 1980er Jahren erneut aufkommende) Schlagwort einer »Neuen Tonalität« (1985–86/97). Auch in Abgrenzung von den schlichten (tonalen) Formmodellen des Minimalismus fordert er, das »Gestalt-Angebot der historischen Tonalität anzunehmen, die Gestalten aber zu entkernen oder zu entkleiden und freischwebend als eine Figuration von Versatzstücken, ungeschönt durch verbrämende Form-Vorhänge, aufscheinen zu lassen« (ebd., 208). (6) Explizit neotonale bzw. neomodale Musik wird seit den 1980er Jahren vor allem in den USA zu einer bestimmenden breiten Strömung, zum Teil konvergierend mit postminimalistischen Stilen. Exponenten wie John Adams, David Del Tredici oder George Rochberg, aber auch Philip Glass fordern seit den 1980er Jahren eine verstärkte Orientierung am Publikum und sind kommerziell ausgesprochen erfolgreich. Vergleichbar publikumswirksam, wenn auch musikalisch mitunter weniger gefällig, ist eine zeitweise unter dem Schlagwort »holy minimalism« zusammengefasste Tendenz spirituell orientierter neomodaler bzw. -tonaler Stile (Arvo Pärt, John Tavener, Henryck Górecki), die oftmals einzelne (Drei-)Klänge flächig ausbreiten, so etwa in Arvo Pärts Tabula rasa (1977). Der Ä Minimalismus war im Grunde von Beginn an »tonal« bzw. modal orientiert, wobei dies nur die verwendeten Grundklänge und -akkorde betrifft, die sich in der Regel nicht zu tonalen Progressionen oder Topoi im engeren Sinn zusammenschlossen. Daneben fand hier oftmals auch eine Rezeption von Jazz-Harmonik statt, z. B. bei Louis Andriessen, John Adams oder in Steve Reichs Tehillim (1981). (7) Schließlich wurde seit der frühen Moderne vielfach versucht, durch das Aufgreifen außereuropäischer Tonsysteme, Skalen oder Satztechniken die Polarität Tonalität vs. Atonalität zu überwinden. Unter zahllosen Tendenzen genannt werden können dabei etwa Hybridbildungen aus Pentatonik bzw. asiatischer Modalität und Zwölftontechnik bei chinesischen, japanischen und koreanischen Komponisten (Ä China / Taiwan / Hong Kong; Ä Zwölftontechnik), die Einflüsse archaischer chinesischer Tonsysteme auf Hans Zenders »gegenstrebige Harmonik« (Zender 1981/2004), oder der Bezug auf das traditionelle Akkordrepertoire der japanischen Mundorgel shō in zahlreichen Werken neuer Musik seit den 1980er Jahren u. a. von Yoritsune Matsudaira, Toshio Hosokawa, Lachenmann oder Gerhard Stäbler (Utz 2014, 217–258). * Wenn in einem Beitrag zu György Ligetis 50. Geburtstag diesem eine Position »jenseits von Tonalität und Atonalität« attestiert wurde (Fabian 1973), so muss dies mithin für einen Großteil der neuen Musik, ja in rigoroser Betrachtung wohl für nahezu alle wichtigen Tendenzen posttonalen Komponierens gelten. Dass mit dieser weit gefassten Definition des Begriffs »Posttonalität« eine nivellierende Betrachtung einhergeht, muss nicht befürchtet werden, wenn er deutlich genug von einer unreflexiven Restitution »neotonaler« historischer Stile unterschieden wird, vor allem aber wenn die als solche eher unspezifische Tatsache eines »Redigierens« tonaler Systeme oder Kompositionsweisen in neuer Musik durch andere Kategorien der Ä Analyse und Historiographie ergänzt wird. Dass damit auch gängige Verflechtungen von modernem und postmodernem Komponieren angesprochen sind, versteht sich von selbst (Ä Moderne, Ä Postmoderne). Im Sinne ständig neuer Kontextualisierungen bleiben tonales Denken, tonale Prinzipien und tonale Elemente beständige Leitthemen neuer Musik der vergangenen einhundert Jahre, greifen aber als Bestimmungsmodell allein gewiss zu kurz, um noch »große Erzählungen« der Ä Musikhistoriographie fundieren zu können. 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Das Tätigkeitsfeld 193 ist dabei auffallend eng an universitäre Institutionen und Konservatorien gebunden, häufig im Zusammenhang mit Kompositionsstudiengängen, was insgesamt zu einem regen Engagement für neue Musik führt. Während sich die neue Musik Australasiens (AU und NZ) bis in die 1950er Jahre vorwiegend durch nationalistische Tendenzen auszeichnete, überwiegen seit den 1960er Jahren zunehmend internationale Perspektiven. Charakteristisch ist eine Anbindung an die europäische Kunstszene quer durch alle Strömungen, ferner sind Einflüsse des amerikanischen Ä Minimalismus und experimenteller Musik bemerkbar. Seit der Mitte des 20. Jh.s wird jedoch ein starker Drang spürbar, eine »music of our own« (Lilburn 1946/2011, 21) zu entwickeln, die sich von europäischen und amerikanischen Modellen deutlich unterscheidet; erste Anfänge dieser Entwicklung zeigen sich in musikalischen Bezügen auf Landschaften und soundscapes Australasiens, die in den Werken mehrerer hochrangiger Komponisten wie z. B. Peter Sculthorpe (1929–2014), Ross Edwards (*1943) (AU), Douglas Lilburn (1915–2001) und John Rimmer (*1939) (NZ) zu finden sind. Exemplarisch hierfür ist Lilburns elektroakustisches Werk Soundscape with Lake and River (1979), das synthetische Klänge mit Feldaufnahmen von Naturlandschaften kombiniert; Yarrageh: Nocturne for Solo Percussion and Orchestra (1989) ist eines der vielen Werke Edwards’, das sich intensiv mit der natürlichen Umgebung Australiens auseinandersetzt. Regionale Identitäten bildeten sich aber auch durch die Beschäftigung mit der Musik und Kultur des asiatisch-pazifischen Raums aus. Dieser Ansatz wurde von dem Australier Percy Grainger (1882–1961) angeregt und zeigt sich in Werken von Anne Boyd (*1946), Julian Yu (*1957), Brad Gill (*1976) (AU), Jack Body (1944–2015), Gareth Farr (*1968) und Dylan Lardelli (*1979) (NZ). Viele australische Komponisten engagieren sich in der Asian Composers League. Multikulturelle Tendenzen zeigen sich verstärkt durch die postkoloniale Renaissance der Maori-Kultur (NZ) und, in geringerem Ausmaß, durch die Aborigines-Kultur (AU). Boyd, Colin Bright (*1949) sowie Didgeridoo-Spieler und Komponist William Barton (*1981) (AU) beschäftigen sich mit der Musik der Aborigines; viele neuseeländische Komponisten versuchen westliche Kunstmusik mit Maori-Musik und taonga pūoro (traditionelle Maori-Instrumente) zu verbinden, z. B. Gillian Karawe Whitehead (*1941), Jenny McLeod (*1941) und der Interpret Richard Nunns (*1945). Auf beiden Seiten der Tasmansee waren viele interkulturelle Bemühungen darauf ausgerichtet, die durch den Kolonialismus erzeugte soziokulturelle Kluft zu untersuchen und zu überwinden. Beispielhafte Projekte sind in diesem Zusammenhang Jenny McLeods Oper Hohepa (2012), welche die briti- Australien / Neuseeland / Ozeanien sche Enteignung von Maori-Besitz thematisiert, und Peter Sculthorpes Musiktheater Rites of Passage (1972–73), das an die traditionellen Rituale der Aranda-Ureinwohner in Zentral-Australien anknüpft. Soziokultureller Wandel entsteht auch durch Einwanderung aus Asien, Ozeanien oder weiter entfernten Regionen, mit zum Teil durchaus synkretischen musikalischen Resultaten. Beispiele hierfür sind die Werke der chinesisch-australischen Komponistin Liza Lim (*1966) und des griechisch-neuseeländischen Komponisten John Psathas (*1966). Dennoch baut auch viele neue Musik in Australasien auf europäische und amerikanische Modelle auf, wie ersichtlich in den Werken der Komponisten Ross Harris (*1945), Anthony Ritchie (*1960), Michael Norris (*1973) (NZ), Larry Sitsky (*1934), Chris Dench (*1953) und Nicholas Vines (*1976) (AU). Norris ’ Werk basiert bspw. auf der Erkundung posttonaler chromatischer Theorien, wie der Tone-Clock-Theorie (ausgehend von Jenny McLeods umfangreicher Weiterentwicklung von Peter Schats Theorie, vgl. McLeod 1994). Vines lässt sich dagegen von den Skalen und Stilen westlicher Musikpraxis inspirieren, was ein sehr eklektisches Idiom nach sich zieht. Beziehungen zu Europa und Nordamerika sowie das Potenzial größerer Gemeinschaften neuer Musik führten zu einer kleinen kulturellen »Diaspora«, zu der viele ausgewanderte australasiatische Komponisten und Interpreten in aller Welt beitrugen. Hierzu zählen u. a. der elektroakustische Komponist Denis Smalley (*1946), Komponist und CsoundEntwickler Barry Vercoe (*1937) und Juliet Palmer (*1967) (NZ), sowie Brett Dean (*1961) und Lim (AU). Überdies gibt es eine fortlaufende Tendenz junger Komponisten und Interpreten, ihre Ausbildung international zu bereichern, was häufig zu längeren oder dauerhaften Auslandsaufenthalten führt. Das australische Ensemble Elision, von dessen Mitgliedern viele außerhalb Australiens leben, bietet hierfür ein typisches Beispiel. Technologiegestützte Musikpraktiken, einschließlich elektroakustischer Komposition, Live-Elektronik und Klanginstallationen, sind für das australasiatische Musikleben ebenfalls wesentlich, wobei in Neuseeland die elektroakustische Komposition, in Australien Live-Elektronik und Software-Entwicklung besondere Schwerpunkte darstellen. John Cousins (*1943), John Coulter (*1968), Dugal McKinnon (*1972) (NZ), Warren Burt (*1949), Ros Bandt (*1951) und Lawrence Harvey (*1965) (AU) arbeiten in diesen Bereichen. In Ozeanien unterscheidet sich die Situation von jener in Australasien grundlegend. Zwar waren auch Melanesien, Mikronesien und Polynesien einem merklichen soziokulturellen Wandel während des kulturellen Imperialismus der Kolonial- und Missionarszeit ausgesetzt, jedoch wurden diese Regionen wesentlich weniger stark 194 Avantgarde kolonialisiert als Australien und Neuseeland. Aus diesem Grund ist neue Kunstmusik dort gerade erst im Entstehen begriffen (Kaeppler / Love 1998; McLean 1999). Viele Komponisten beschäftigen sich mit vokalen Tradition dieser Region, wobei jüngste Projekte, wie z. B. Matatumua Opeloge Ah Sams We Are Pasifika (2013), auch auf eine Interaktion zwischen indigener Musik, Popularmusik und westlichen Ensembles und Instrumenten ausgedehnt werden. Im Allgemeinen sind die mannigfaltigen Kulturen Ozeaniens besonders aktiv im Wiedererwecken und Neugestalten traditioneller Kulturformen (Musik und Tanz), die während der Kolonialzeit stark unterdrückt (und zum Teil ausgerottet) wurden, in der Entwicklung hybrider Formen von Popularmusik, die traditionelle und westliche Idiome miteinander kombinieren (oft unter Miteinbeziehung lokaler Ensemblestile wie z. B. der Stringbands), sowie in synkretistisch-religiösen Musikpraktiken, die aus der Missionarstätigkeit resultierten (Diettrich u. a. 2011). Die Musik Ozeaniens beeinflusst kontinuierlich die neue Musik und kulturelle Identität Australasiens, wobei viele Komponisten Ozeaniens auch in Australien oder Neuseeland leben und arbeiten. Ä Themen-Beitrag 9; Globalisierung Appleby, Rosalind: Women of Note. The Rise of Australian Women Composers, Fremantle 2012 „ Atherton, Michael / Crossman, Bruce (Hrsg.): Music of the Spirit. 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Doch gerade der (aus dem Französischen stammende) militärische Ursprung des Terminus Avantgarde sollte die Möglichkeit bieten, die so klassifizierte Musikform als Spezialfall innerhalb einer der anderen beiden historiographischen Kategorien zu betrachten: Als »Vorhut«, die hinter die »feindlichen Linien« vordringt, unbekannte und nicht eroberte Gebiete erforscht und das Terrain für die »Haupttruppe« vorbereitet, besitzt die Avantgarde eine zukunftsweisende Funktion  – und das ist entscheidend auch für die Übernahme des Begriffs in politischen und künstlerischen Kontexten (Holtusen 1966, 9; Barck 2000, 544 f.). Wie in anderen Kunstformen unterscheidet man auch in der Musik tendenziell zwischen einer »historischen Avantgarde« in der ersten Hälfte des 20. Jh.s und eine »Nachkriegsavantgarde« in der zweiten, wobei sich in der künstlerischen Produktion beider Bewegungen, insbesondere in Europa, Traumata der beiden Weltkriege niederschlagen (Schultz 2005/14). In seiner mittlerweile kanonischen Theorie der Avantgarde charakterisiert Peter Bürger die (europäischen) historischen Avantgardebewegungen als »Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft« und vor allem als Kritik gegen deren »Abgehobenheit von der Lebenspraxis« (1974, 66 f.); für Bürger ist die Kunst der Avantgarde also vorrangig eine Kritik an der Idee der Kunstautonomie. Ziel der Avantgarde sei es daher gewesen, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen und vor allem »von der Kunst aus eine neue Lebenspraxis zu organisieren« (ebd., 67). Laut Bürger habe dagegen die Nachkriegsavantgarde (die er als »Neoavantgarde« bezeichnet) dieses Ziel verfehlt, indem sie die »Avantgarde als Kunst« (ebd., 80) institutionalisiert und sich damit wiederum als autonome Kunst verstanden hätte. Auf die Musikproduktion übertragen würden die offensichtlich am Vorbild des Dadaismus und Surrealismus formulierten Thesen Bürgers nur eine stark begrenzte Anzahl von Poetiken betreffen. Gianmario Borio hat daher zwei Jahrzehnte nach Bürger eine Erweiterung der Charakteristiken musikalischer Avantgarde in Sinne einer »Überbietung von Prinzipien der musikalischen Moderne und nicht als deren Gegensatz« (1993, 4) vorgeschlagen und Negativität als ein Paradigma der Avantgarde gesetzt (ebd., 15–22): Avantgardistische Werke würden demnach das Falsche negieren, das die dominierende Kultur (die 195 Tradition bzw. die Warenästhetik der Kulturindustrie) als Wahrheit proponiert; Musik der Avantgarde setze sich damit einer »Krise des Sinnes« (Adorno 1970, 229–235) entgegen und könne als »Störung oder Negation abgestorbenen Sinns« (Wellmer 1985, 69) verstanden werden. Über diese theoretische Konstruktion eröffnet sich eine zentrale Dimension des musikalischen Avantgardebegriffs, und zwar sein prominent pluralistischer Charakter: Abhängig davon, mit welchen Aspekten der Tradition sich Komponisten kritisch auseinandersetzen, kann man unterschiedliche (zum Teil parallel verlaufende, zum Teil sich durchkreuzende) Richtungen bzw. rote Fäden in der Geschichte der Musik des 20. Jh.s hervorheben, die legitim als avantgardistisch deutbar sind. Die in der westeuropäischen Musikwissenschaft dabei am häufigsten als Avantgarde bezeichnete Tendenz betrifft die Überwindung der klassisch-romantischen musikalischen Sprache und verläuft von Richard Wagners Chromatik zur Posttonalität der Wiener Schule und zur Ä Zwölftontechnik sowie in der Nachkriegszeit –unter strakem Einfluss der Materialtheorie Theodor W. Adornos (Adorno 1949/75, 39–42; Ä Material) – zu Ä serieller Musik und neuer Ä Komplexität der 1980er Jahre. Man könnte aber alternativ und mit gleicher Berechtigung auch einen gewundenen roten Faden von Claude Debussy und Edgard Varèse zum seriellen Denken, zur Klangkomposition der 1960er Jahre und weiter zur Ä Spektralmusik legen, also einen Paradigmenwechsel innerhalb der Musik des 20. Jh.s nachzeichnen, bei der die Überwindung der tonalen Grammatik und Syntax durch die Einbeziehungen des Ä Geräuschs und die Komposition des Klanges in den Vordergrund gestellt wird. In diesem Faden können der italienische Futurismus, die Klangfarbenmelodie der Wiener Schule, die konkrete und elektronische Musik sowie die Poetiken und Werke von Giacinto Scelsi, Iannis Xenakis, Friedrich Cerha, Helmut Lachenmann u. a. Platz finden (Ä Themen-Beitrag 3). Möglich wäre es schließlich auch, eine Geschichte der Avantgardemusik zu schreiben, in der die Krise des Hegelschen Ideals des organischen Kunstwerkes durch Fragmentierung und Montagetechnik ins Zentrum gestellt wird – von Igor Strawinsky und Charles Ives zu Bernd Alois Zimmermann, Mauricio Kagels Ludwig van (1969–70) und Luciano Berios Sinfonia (1968–69) (Ä Collage / Montage; Ä Fragment); oder die, anknüpfend an den Dadaismus der 1910er Jahre, zu einer radikalen Auflösung des Werkbegriffs tendiert  – von Erik Satie, Henry Cowell und Harry Partch über John Cage und die New York School, die Ä informelle Musik der 1960 Jahre bis zur Ä konzeptuellen Musik (Fluxus und verwandte Tendenzen) und freien Ä Improvisation der 1960er und 70er Jahre. Diese zuletzt genannte Tendenz steht Bürgers These einer »Rückführung von Avantgarde Kunst in die Lebenspraxis« (1974, 80) am nächsten und wird auch von einigen Musikhistorikern bevorzugt, mit dem Ziel, den Begriff zu begrenzen: So unterscheidet Hermann Danuser zwischen einer rationalen, werkorientierten und tendenziell traditionsorientierten »Moderne« (vor allem vertreten von der seriellen Musik) und einer experimentellen »Avantgarde«, die gegen das Kunstwerk und seine tradierten Ä Institutionen gerichtet sei (Danuser 1984, 285–299). Moderne und Avantgarde hätten dabei in Pierre Boulez und John Cage ihre jeweiligen Leitfiguren (Danuser 1990/2014, 142). Eine Zuspitzung dieser letzten Deutung ist die häufig zu findende Betrachtung des Negativitätsparadigmas als einem subversiven Akt. Damit wären all diejenigen musikalischen Erscheinungsformen als avantgardistisch zu bezeichnen, die sich explizit als Rebellion gegen einen  – je nach Gesellschaft und politischem Kontext verschieden verortbaren  – kulturellen »Mainstream« verstehen (Adlington 2009, 3–6). Diese Form der Avantgarde prägt sich insbesondere in der soziopolitisch engagierten Musik der 1960er und 70 Jahre aus, z. B. im Schaffen von Luigi Nono, Nicolaus A. Huber, Cornelius Cardew, Frederic Rzewski, Christian Wolff u. a. Deutlich wird in dieser Definition auch eine regional breit aufgefächerte Auffassung von Avantgarde, in der lokale Voraussetzungen des Komponierens zu berücksichtigen sind; so werden etwa auch Komponisten wie Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina oder Edisson Denissow aufgrund ihres Widerstands gegen den sowjetischen Akademismus als »avantgardistisch« verstanden (Schmelz 2009, 270–277). Eine weitere Facette der Avantgarde nach dieser Definition ist schließlich auch die Tendenz, die Grenzen zwischen Kunst- und Popularmusik zu verwischen, etwa in der freien Improvisation der 1970er Jahre. In Anbetracht der hier skizzierten Auflistung – in der die meisten wesentlichen Tendenzen oder Komponisten des 20. Jh.s zusammengefasst sind, die in der musikwissenschaftlichen Literatur als »avantgardistisch« gelten können  – ist es offensichtlich sehr problematisch, von »einer« Avantgarde im Singular zu sprechen. Immerhin aber kann als gemeinsamer Faktor der genannten Definitionen eine Auffassung von Geschichte als »Entwicklungsgeschichte« gelten, in der ein mehr oder weniger kontinuierlicher »Fortschritt« nachweisbar ist (Dahlhaus 1970/2005; Metzger / Riehn 1998). In der Tat sind beide Begriffe – Avantgarde und Fortschritt – eng miteinander verbunden (Gur 2013, 170 f.) und teilen im 20. Jh. dasselbe Schicksal als einander bedingende Basiskonzepte künstlerischer Theorie: Die Krise des einen Begriffs bewirkt automatisch die Infragestellung des anderen. Der Fortschrittsbegriff schwankt seit mehreren Jahrhunderten in den Debatten zwischen Kulturoptimismus und Kulturpes- 196 Avantgarde simismus, positive und negative Dimensionen des Fortschritts werden in zyklisch wiederkehrender Weise von beiden Parteien mit guten Begründungen hervorgehoben. Die zwei Weltkriege haben zweifellos starke Argumente in die Hände der Fortschrittsgegner geliefert; trotzdem wurde der Fortschrittsbegriff noch kürzlich im Kulturbereich von einem prominenten Denker wie Richard Rorty rehabilitiert (2000, 17 f.). Gerade in der postmodernen Musikhistoriographie ist der »techno-essentialism« (Williams 1993) im Rahmen der Forderung nach einem Verzicht auf die »großen Erzählungen« aber unter großen Druck geraten (Ä Postmoderne); ein lineares, evolutionäres Fortschrittsmodell, das musikhistorische Dynamik einzig in einer Zunahme struktureller Komplexität erblickt bzw. dem Strukturparadigma insgesamt oberste Priorität einräumt, wird in Nicholas Cooks und Anthony Poples Cambridge History of Twentieth-Century Music durch eine sehr breite Ausrichtung von Parallelerzählungen abgelöst (Cook / Pople 2004), in denen der Avantgardebegriff freilich dennoch beibehalten wird. Dieser Begriff machte zeitgleich ähnliche Krisen durch: Auf die vermeintlichen Aporien der Avantgarde hatte Hans Magnus Enzensberger bereits Anfang der 1960er Jahre hingewiesen, als er jeden Versuch einer Neoavantgarde als »Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug« beurteilte (1962, 296) und damit die oben skizzierte These Bürgers antizipierte. In der neuen Musik Europas wurde der Glaube an einen permanenten »Fortschritt des Materials« dann insbesondere ab Mitte der 1970er Jahre in Frage gestellt, als die erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation sich profilierte (Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose usw.) und eine erneuten affirmativen Bezug mit der Tradition jenseits des Negationsparadigmas suchte. Eine Beurteilung der aktuellen Situation in Bezug auf die Modelle Avantgarde und Fortschritt ist schwierig, da die zukunftweisende Funktion der Avantgarde erst im zeitlichen Abstand erkannt werden kann  – was für Enzensberger eine weitere Aporie darstellte: »Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden« (Enzensberger 1962, 63). Fest steht, dass die Ziele der musikalischen Vorund Nachkriegsavantgarden für manche Komponisten nach wie vor von Bedeutung sind; so hat beispielweise Claus-Steffen Mahnkopf noch kürzlich auf die Aktualität des Gedankens eines Materialfortschritts hingewiesen (Mahnkopf 2014). Ä Themen-Beitrag 1; Moderne; Neue Musik; Postmoderne Musikhistoriographie; Adlington, Robert: Introduction: Avant-garde Music and the Sixties, in: Sound Commitments. Avant-garde Music and the Sixties, hrsg. v. Robert Adlington, Oxford 2009, 3–14 „ Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1970 „ Ballstaedt, Andreas: Wege zur Neuen Musik. Über einige Grundlage der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jh.s, Mainz 2003 „ Barck, Karlheinz: Avantgarde, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, hrsg. v. Karlheinz Barck u. a., Stuttgart 2000, 544–557 „ Borio, Gianmario: Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik, Laaber 1993 „ Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974 „ Cook, Nicholas / Pople, Anthony: Trajectories of Twentieth-century Music, in: The Cambridge History of Twentieth-century Music, hrsg. v. Nicholas Cook und Anthony Pople, Cambridge 2004, 1–17 „ Enzensberger, Hans Magnus: Die Aporien der Avantgarde, in: Einzelheiten, Frankfurt a. 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Selbstreferenz Bearbeitungen lassen sich als selbstständige musikalische Schöpfungen auffassen, die unter Verwendung präexistenter Musik durch Veränderung der ursprünglichen instrumentalen / vokalen Mittel und / oder der kompositorischen Strukturen entstehen. Im Sinne der Intermedialitätsforschung können sie daher auch als Medientransfers, d. h. als Übertragung musikalischer Informationen vom ursprünglichen in ein anderes Medium, begriffen werden (Ä Intermedialität; Ä Medien). In der wissenschaftlichen Literatur dient die Bezeichnung »Bearbeitung« als Oberbegriff für eine ganze Reihe terminologisch unscharf voneinander abgegrenzter Verfahren, darunter u. a. die Adaption einer Komposition für kleinere bzw. größere Besetzungen (Arrangement / Reduktion bzw. Ä Instrumentation / Orchestrierung), die kompositorische Umgestaltung, die unter Rückgriff auf originales Material auf die Herstellung neuer Zusammenhänge zielt (Paraphrase, Rekomposition, Remix, Palimpsest), oder die Retusche als korrigierender Eingriff in die Originalgestalt (Schröder / Bösche 1994). Darüber hinaus lassen sich auch Phänomene wie die Umarbeitung eigener Werke oder die Vervollständigung bzw. Rekonstruktion fragmentarisch überlieferter Kompositionen dem Bearbeitungsbegriff zuordnen. 1. Bearbeitungen zu Aufführungszwecken Vorwiegend praktischen Erwägungen folgen Bearbeitungen, durch die Teile aus größeren Werken für den Konzertbetrieb nutzbar gemacht werden. Obgleich dies seit 1945 weitaus seltener als in früherer Zeit der Fall ist, finden sich einige gewichtige Beispiele im Bereich von Ä Musiktheater und Filmmusik (Ä Film). So hat Hans Werner Henze aus zahlreichen seiner Musik- und Tanztheaterkompositionen sowie aus seinen Filmmusikpartituren vielfach Einzelstücke ausgekoppelt oder Konzertversionen für unterschiedliche Besetzungen angefertigt. Vergleichbar hiermit sind Luigi Nonos Konzertsuiten zum Ballett Der rote Mantel (1954; Konzertsuiten für Sopran, Bariton, Chor und Orchester sowie für Orchester, 1954) sowie die Auszüge aus den szenischen Aktionen Intolleranza 1960 (1960–61; Suite da concerto da »Intolleranza 1960« für Sopran, Chor und Orchester, 1969) und Al gran sole carico d ’ amore (1972–74/77; Fragmente aus »Al gran sole carico d ’ amore« für Soli, Chor, Orchester und Tonband, zwei Fassungen, 1976/78). Beispiele aus jüngerer Zeit finden sich etwa im Schaffen Olga Neuwirths, so in Bezug auf die Musiktheaterarbeiten Bählamms Fest (1997–99; Suite aus »Bählamms Fest« für Theremin und Ensemble, 1999–2000; Zwei Duette aus »Bählamms Fest« für Solostimmen und Ensemble, 2000; Drei Instrumental-Inseln aus »Bählamms Fest« für Ensemble und Live-Elektronik, 2000) und Lost Highway (2003–04; Suite aus »Lost Highway« für Solisten, Ensemble und Live-Elektronik, 2008). Gleichfalls auf den Bereich der Praxis zielt die Vervollständigung fragmentarisch überlieferter Werke. Das wohl bekannteste Beispiele aus dem 20. Jh. ist Friedrich Cerhas Fertigstellung des dritten Aktes von Alban Bergs Oper Lulu (1928–35) auf Grundlage der Originalskizzen (Cerha 1979). Von dieser Vervollständigung mit Bezug auf das ursprüngliche musikalische Idiom abzugrenzen ist Neuwirths Neuinterpretation American Lulu (2006–11), bei der neben einer Verlagerung der Handlung ins Amerika der 1950er bis 70er Jahre weitreichende Eingriffe in die ersten beiden Akte durch Kürzung und Neuinstrumentierung vorgenommen und die fehlenden Passagen ohne Bezug auf Berg komponiert wurden. 2. Aneignung / Durchdringung Die Auseinandersetzung mit fremder Werksubstanz anhand von Bearbeitungen lässt sich als Vorgang eines »vorwärtsgewandten Rückspiegelns« (Cloot u. a. 2010, 7) verstehen, das den Komponisten die Möglichkeit eröffnet, die historische Position ihrer eigenen Arbeit zu reflektieren. Sie steht damit in der Tradition jener Auffassung von Bearbeitung als »analytischer Instrumentation«, die Carl Dahlhaus an Anton Weberns Orchestrierung von Johann Sebastian Bachs Ricercar (1935) herausgearbeitet hat (Dahlhaus 1969/2005). Paradigmatisch hierfür sind Werke wie Hans Zenders »komponierte Interpretationen« Schuberts »Winterreise« für Tenor und Ensemble (1993), Schumann-Phantasie für großes Orchester (1997) und 33 Veränderungen über 33 Veränderungen für Ensemble (2011), in denen die originalen Notentexte im Sinn einer »schöpferischen Veränderung« (Zender 1993/2004, 221) ständig wechselnden Bearbeitungsmodi unterzogen werden. Dass in solchen Fällen sowohl historische Musik als auch an ihr ansetzende Rezeptionsprozesse einer kritischen Befragung unterzogen werden, zeigen darüber hinaus Stü- 198 Bearbeitung cke wie Mathias Spahlingers adieu m ’ amour, hommage à Guillaume Dufay für Violine und Violoncello (1982–83) (Lehner 2007) und die Musik zu Mauricio Kagels Film Ludwig van (1969–70). Mit ihrer Zusammenfügung aus verfremdend instrumentierten Beethoven-Fragmenten markiert Letztere zudem die Grenze zur Ä Collage. Gewisse Ähnlichkeiten zu diesem Umgang mit präexistentem Material finden sich bei Bearbeitungsverfahren, die, wie in Bernhard Langs Kompositionen der Monadologie-Reihe (ab 2007) sowie im Musiktheater I hate Mozart (2006), auf die popkulturelle Praktik des Remix zurückgreifen und dazu unterschiedlich lange Fragmente bestehender Musik nutzen (Weberberger 2013). Häufig erweisen sich Bearbeitungen als Studien über bestimmte Problemstellungen. Im Mittelpunkt steht die Aneignung konkreter kompositorischer Fragestellungen, die anschließend in eigenen Werken reflektiert werden. So durchdenkt Bruno Maderna in seiner Bearbeitung des Magnificat quarti toni von Josquin Desprez (1966) die Möglichkeiten der Mehrchörigkeit und nimmt dabei Merkmale der instrumentalen Disposition seines Concerto per violino e orchestra (1969) vorweg (Drees 1998). Vergleichbare Strategien finden sich auch in Isabel Mundrys DufayBearbeitungen für Ensemble (2003–04), wo die kompositorischen Eingriffe im Sinn einer »einkomponierte(n) Idee sich beständig wandelnder Hörperspektiven« (WaldFuhrmann 2011, 59) auf die klangliche Herausarbeitung spezifischer satztechnischer Phänomene gerichtet ist. Wie stark darüber hinaus Bearbeitungen und eigenes Idiom einander durchdringen können, macht das Schaffen Salvatore Sciarrinos deutlich: Hier finden sich vom Komponisten als »elaborazioni« (Ausarbeitungen) bezeichnete Bearbeitungen historischer Musik  – etwa von Wolfgang Amadeus Mozart oder Carlo Gesualdo – ebenso wie die Veränderung präexistenter Vorlagen durch Einbettung in neue musikalische Kontexte, ihre kompositorische Auflösung oder die Verwendung lediglich assoziativer Bezüge (Drees 2010). Ein extremes Beispiel für die Amalgamierung eines historischen Werkes ins eigene Idiom findet sich daneben in Brian Ferneyhoughs O Lux für zehn Instrumente (2005) (nach Christopher Tye). Solchen Versuchen, Vergangenheit in der Gegenwart des jeweils aktuell Komponierten aufzubewahren, steht – basierend auf der permanenten Verfügbarkeit von Musik unterschiedlicher Provenienz im Medium Ä Internet – ein gewissermaßen ahistorischer, nicht mehr an den Kontexten interessierter Umgang mit Vorlagen gegenüber. Eine solche Radikalisierung des Bearbeitungsgedankens findet sich in Johannes Kreidlers Konzeption einer »Musik mit Musik«, deren theoretisches Fundament der Gedanke bildet, dass künstlerische Arbeit schon immer als bearbei- tender Zugriff auf bereits Bestehendes verstanden werden muss (Kreidler 2007). 3. Selbstreferenz Als wichtige Facette erweist sich schließlich die Auseinandersetzung mit eigenen Werken, die auf die generelle Unabgeschlossenheit von Kompositionsprozessen aufmerksam macht und in jüngerer Zeit im Hinblick auf eine Modifikation des Werkbegriffs diskutiert wird (Gratzer / Neumaier 2013). Entsprechende Neufassungen bereits komponierter Kontexte lassen sich etwa als selbstreferenzielle Rekombination des Materials früherer Kompositionen bei Luigi Nono (Drees 1999), als Anlagerung und Ausarbeitung zusätzlicher Details bei Pierre Boulez (Zeißig 2009), als wiederkehrender Bezug auf bestimmte Kernstücke oder Topoi des eigenen Schaffens bei Klaus Huber (Knipper 2009), Helmut Lachenmann (Utz 2008) und György Kurtág (Bleek 2010) oder als vielfältige Weiterverarbeitung bereits bestehender Stücke durch Prozesse der »Übermalung« bei Wolfgang Rihm (Brügge 2013) finden. Ä Analyse, 1.3; Collage / Montage; Instrumentation; Schaffensprozess Bleek, Tobias: Musikalische Intertextualität als Schaffensprinzip. Eine Studie zu György Kurtágs Streichquartett Officium breve op.  28, Saarbrücken 2010 „ Brügge, Joachim: Wolfgang Rihms Jagden und Formen (1995/2001, Zustand 2008) im Konflikt hermeneutischer Perspektiven. Proliferation, Übermalung, Intertextualität und Collage, in: Arbeit am musikalischen Werk. Zur Dynamik künstlerischen Handelns, hrsg. v. Wolfgang Gratzer und Otto Neumaier, Freiburg 2013, 183–200 „ Cerha, Friedrich: Arbeitsbericht zur Herstellung des 3. Akts der Oper Lulu von Alban Berg, Wien 1979 „ Cloot, Julia / Saxer, Marion / Thorau, Christian: Vorwärtsgewandtes Rückspiegeln. Bearbeitung, Aneignung und Geschichtsverständnis im zeitgenössischen Komponieren, in: Rückspiegel. Zeitgenössisches Komponieren im Dialog mit älterer Musik, hrsg. v. Christian Thorau, Julia Cloot und Marion Saxer, Mainz 2010, 7–23 „ Dahlhaus, Carl: Analytische Instrumentation. Bachs sechsstimmiges Ricercar in der Orchestrierung Anton Weberns [1969], in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Laaber 2005, 441–449 „ Drees, Stefan: Josquin Desprez: Magnificat quarti toni. Die Bearbeitung von Bruno Maderna, Saarbrücken 1998 „ ders.: Selbstreferentialität als Aspekt des Materialdenkens in den letzten Kompositionen Luigi Nonos. Zur Darstellung werkübergreifender Zusammenhänge, in: La nuova ricerca sull ’ opera di Luigi Nono, hrsg. v. Gianmario Borio, Giovanni Morelli und Veniero Rizzardi, Florenz 1999, 171–185 „ ders.: »Storie di altre storie«: Salvatore Sciarrinos Auseinandersetzung mit Carlo Gesualdo, in: Seiltanz 3 (2010), 23–34 „ Gratzer, Wolfgang / Neumaier, Otto (Hrsg.): Arbeit am musikalischen Werk. Zur Dynamik künstlerischen Handelns, Freiburg 2013 „ Knipper, Till: Klage um Klage. »Rekomposition« in Klaus Hubers Spätwerk, in: MuLiteratur 199 sikTexte 123 (2009), 61–68 „ Kreidler, Johannes: Musik mit Musik, in: Positionen 72 (2007), 16 f. „ Lehner, Michael: Tradition als Dekonstruktion. Mathias Spahlingers adieu m ’ amour, hommage à Guillaume Dufay, in: Dissonanz 100 (2007), 44–47 „ Schröder, Gesine / Bösche, Thomas: Bearbeitung, in: MGG2S, Bd. 1 (1994), 1321–1337 „ Utz, Christian: Klangkadenz und Himmelsmechanik. Alterität und Selbstreferentialität in Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und Concertini, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann (musik.theorien der gegenwart 2), hrsg. v. Christian Utz und Clemens Gadenstätter, Saarbrücken 2008, 125–152 „ Wald-Fuhrmann, Melanie: Altneue Musik. Zur Auseinandersetzung Isabel Mundrys mit Dufay, Scandello und Couperin, in: Isabel Mundry (Musik-Konzepte Sonderband), hrsg. v. Ulrich Tadday, München 2011, 51–72 „ Weberberger, Doris: Maschinelle Variationen über ein eigenes Thema. Selbst- Bildende Kunst bearbeitungsphänomene im Schaffen von Bernhard Lang, in: Arbeit am musikalischen Werk. Zur Dynamik künstlerischen Handelns, hrsg. v. Wolfgang Gratzer und Otto Neumaier, Freiburg 2013, 239–251 „ Zeißig, Andreas: Zum Begriff der Wucherung bei Pierre Boulez am Beispiel der douze notations (1945) und der notations pour orchestre (1978), in: ZGMTH 6/2–3 (2009), 309–329, http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/456. aspx (10. 6. 2015) „ Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise [1993], in: Die Sinne Denken. Texte zur Musik 1975–2003, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, 221–223 Stefan Drees Bildende Kunst Ä Neue Musik und bildende Kunst 200 China / Taiwan / Hong Kong C China / Taiwan / Hong Kong Inhalt: 1. China  „ 1.1 Vor 1978  1978 „ 2. Taiwan „ 3. Hong Kong „ 1.2 Entwicklungen seit 1. China Die politische Geschichte des 20. Jh.s hat dazu geführt, dass die drei Gebiete des chinesischen Kulturraums auch in Bezug auf die jüngere Musikgeschichte stark unterschiedliche Entwicklungen verzeichnen können. Ein nennenswerter Einfluss europäischer Musikkultur in den kulturellen Zentren Chinas lässt sich, vermittelt vor allem durch das Japan der Meiji-Zeit (1868–1912), seit dem frühen 20. Jh. beobachten und kulminierte in den späten 1920er Jahren: Europäisch orientierte Reformer, die aus der Neuen Kulturbewegung (Xin wenhua yundong, 1915–22) hervorgingen, gründeten in Shanghai das erste Musikkonservatorium Asiens (Nationale Musikschule [Guoli yinyue yuan], 1927 von Cai Yuanpei [1868–1940] und Xiao Youmei [1884–1940] gegründet; seit 1956 Musikkonservatorium Shanghai [Shanghai yinyue xueyuan]) und zahlreiche Reformvereinigungen wie etwa die Gesellschaft zur Reform chinesischer Musik (Guoyue gaijinshe, 1925 von Liu Tianhua [1895–1932] u. a. gegründet). Erste Ansätze zur Ausbildung einer eigenständigen chinesischen Moderne wurden durch den Pazifikkrieg (1937–45), den Bürgerkrieg (1947–49) und die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) seit 1949 untergraben. Nach Ausrufung der VR China wurde alle Kunstproduktion auf dem chinesischen Festland strikt politisch-funktional im Sinne einer »Massenkultur« (qunzhong wenhua) verstanden, und sollte sich, gemäß Mao Zedongs Reden beim Literatur und Kunstforum Yan ’ an (Yanan wen yi zuotanhui) im Jahr 1942, insbesondere an Bauern, Soldaten und Parteikader richten, wobei neben einem grundlegenden Bezug auf lokale chinesische Formen auch die Orientierung an »internationalen« Formen keineswegs ausgeschlossen wurde. Noch restriktiver wurde die Situation während der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« (Wuchanjieji wenhua dageming) in den Jahren 1966–76, als alle »bürgerlichen« Manifestationen westlich orientierter Kultur zerstört oder unterdrückt wurden, wobei man sich weiterhin etwa der effektvollen Wirkungen des europäischen Sinfonieorchesters zur Interpretation der propagandistischen, nach Maos Modell erstellten »Modellwerke« (yangbanxi) versicherte (Clark 2010). Mit der diplomatischen Anerkennung der VR China und dem Ausschluss der auf Taiwan seit 1949 überdauernden Republik China aus der UNO 1971 sowie dem China-Besuch von US-Präsident Nixon im Jahr 1972 gab es erneut zaghafte Annäherungen an die westliche Kultur; das Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy spielte im Jahr 1973 auf einer Tournee durch China erstmals seit zehn Jahren wieder Beethovens Sinfonien (Melvin / Cai 2004, 268–279). Mit dem Tod Maos und der Verurteilung der »Viererbande« (sirenbang), der die Verantwortung für die nun offiziell als »zehn Jahre des Chaos« (shinian dongluan) bezeichnete Kulturrevolution angelastet wurde, und der Ausrufung der Reform- und Öffnungspolitik (gaige kaifang) 1978 durch den neuen Präsidenten Deng Xiaoping kam es seit den späten 1970er Jahren kulturell zu einer äußerst dynamischen Entwicklung, aus der eine Generation heute weltweit bekannter chinesischer Komponistinnen und Komponisten hervorging (vgl. 1.2). Als Folge wiederholter politischer Repressionen, die in der gewaltsamen Unterdrückung der Demokratiebewegung und im Massaker um den Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 gipfelten, emigrierte eine Reihe von Komponisten in die USA und nach Europa. Mit der Wende zu einer offensiven Marktwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre und einer verstärkten Rückkehr mancher chinesischer Künstler und Musiker nach China sind seit einigen Jahren trotz weiterhin bestehender Repressionen erste Anzeichen einer Stabilisierung durch Ausbau und Neugründung musikalischer Institutionen zu beobachten. Allerdings ist es ungewiss, ob sich in näherer Zukunft in China eine wirklich eigenständige Kunstmusik abseits kommerzieller und politischer Abhängigkeiten entwickeln kann. (Überblicksdarstellungen zur neuen Musik in China, Taiwan und Hong Kong bieten Kouwenhoven 1990, 1991, 1992; Zhang 1992; Mittler 1995, 1997; Zhu 2000; Utz 2002, 2014; Liu 2010.) 1.1 Vor 1978 Im 19. Jh. war in China vor dem Hintergrund kolonialer Bedrohung zunächst ein dezidierter Utilitarismus Ausgangspunkt der Rezeption westlicher Musik. Die importierten westlichen Traditionen und Genres hatten klar definierte gesellschaftliche Funktionen zu stützen (Militär- und Blasmusik, Schullieder, nationalistische Lieder und Orchesterwerke; Melvin / Cai 2004, 159–224). Reformer wie Liu Tianhua bemühten sich ab den 1920er Jahren um die Etablierung eines modernen Solorepertoires für chinesische Instrumente und die Standardisierung von 201 Repertoire, Instrumentenstimmung, Spieltechnik, Tonsystem und Notation. Dabei kam es, auch nach der maoistischen Machtübernahme 1949, mehrfach zur Herausbildung »erfundener« nationaler Traditionen (Lau 1996). Während das anfangs vor allem mit russischen und französischen Musikern besetzte Shanghai Municipal Orchestra unter der Leitung von Mario Paci (1878–1946) 1919–42 zu einem professionellen Ensemble aufgebaut worden war (Melvin / Cai 2004, 17–44, 117–124), nahm seit den 1930er Jahren auch die Entwicklung eines Sinfonieorchesters aus chinesischen Instrumenten entscheidende Schritte und ist damit aufs Engste mit der systematischen Erfindung eines nationalen musikalischen Idioms verbunden (Utz 2014, 117 f.). Die meisten Werke chinesischer Musik vor 1978 folgen dem Grundprinzip »pentatonischer Romantik« (Mittler 1997, 33), bei der eine oft nur leicht angepasste diatonische Harmonik nach europäischem Modell chinesischen Liedmelodien oder melodischen Phrasen unterlegt wurde. Neben früh populären, heute noch landesweit bekannten Kunstliedern wie Zhao Yuanrens (1892–1982) Jiao wo ruhe buxiang ta (Sag mir, wie kann ich nicht an sie denken?, 1926), legte Huang Zi (1904–38) 1929 mit der Ouverture Huajiu das erste sinfonische Werk Chinas, mit Changhenge (1932–34) die erste chinesische Kantate vor. Ein »national« akzentuiertes romantisches Idiom prägten dann auch die später in der VR China als »Volksmusiker« (renmin yinyuejia) stilisierten Xian Xinghai (1905–45) und Nie Er (1912–35) aus, so Xians Yellow River Cantata (Huanghe dahechang, 1939; Kraus 1989, 40–69) und Nies Volksliedbearbeitungen. Xian und Nie schrieben eine Reihe programmatischer Werke und vor allem Massenlieder, die bald als »Revolutionslieder« (geming gequ) systematisch verbreitet wurden. Sie stellten ein wichtiges Modell für Mao Zedongs erwähnte Yan ’ aner Reden von 1942 dar. Von Xians Kantate lässt sich so eine klare Linie zu politisch imprägnierten Werken der 1950er und 1960er Jahre ziehen, wie sie etwa durch Ding Shandes (1911–95) Long March Symphony (Changzheng jiaoxiangqu, 1959–62) repräsentiert werden. Nationale Identität und Authentizität wird hier durch die Verwendung von Volksliedern suggeriert, die geographisch die ca. 6000 Kilometer lange Route des Langen Marsches der flüchtenden kommunistischen Truppen 1934/35 nachzeichnen. Markante Werke der maoistischen Zeit waren sämtlich im »revolutionärromantischen« Idiom gehalten wie etwa Shi Yongkangs (*1929) Huanghe de gushi (Geschichte des Gelben Flusses) für die Bambusquerflöte dizi und Orchester (1955), Wu Zuqiangs (*1927) und Du Mingxins (*1928) Ballettmusik Yumeiren (Die Meerjungfrau, 1958–59), Chen Gangs (*1935) und He Zhanhaos (*1933) Butterfly Lovers ’ Violin China / Taiwan / Hong Kong Concerto (1959) sowie insbesondere das Xians Yellow River Cantata verarbeitende Yellow River [Piano] Concerto (Huanghe gangqin xiezouqu, 1968–70), eine Kollektivkomposition unter Mitwirkung des Pianisten Yin Chengzong (*1941) (Kraus 1989, 147–152). Entscheidend für eine »andere« Linie der chinesischen Musik des 20. Jh.s ist zum einen der vorübergehende Aufenthalt bzw. die Emigration europäischer Musiker in den 1930er und 1940er Jahren in China, zum anderen eine eigenständige Dynamik innerhalb der ostasiatischen Komponistenszenen. Der russische Komponist und Pianist Alexander Tscherepnin (1899–1977) hielt sich 1934 bis 1937 als Berater des chinesischen Kulturministeriums in Shanghai und Beijing sowie in Japan auf (Melvin / Cai 2004, 110–126) und entwickelte Modelle für die Integration ostasiatischer Elemente in einen gemäßigt modernen Stil, wobei er sich in erster Linie am Folklorismus Bartóks und russischer Komponisten orientierte, was sich auch in der Musik seiner wichtigsten Schüler He Luting (1903–99) und Jiang Wenye (1910–83; jap. Bunya Koh; vgl. Yang 2014), der aus Taiwan stammte, niederschlug. Bekannt wurden aufgrund ihres modellhaften Charakters insbesondere Hes Klavierstück Buffalo Boy ’ s Flute (Mutong duandi, 1934) und Jiangs Orchesterwerk Taiwan Wuqu (Taiwan Tanz, 1936). Wie Tscherepnin sah auch der Komponist Wolfgang Fraenkel (1897–1983), der auf der Flucht vor dem NS-Regime von 1939 bis 1947 im Exil in Shanghai lebte (Utz 2014, 127–152), die Zukunft der chinesischen Musik in einer Verbindung von westlicher Moderne mit lokalen chinesischen Musiktraditionen. Der wichtigste Schüler Fraenkels am Konservatorium Shanghai Sang Tong (1923–2011) gab mit seinen beiden 1947 entstandenen Werken Yejing (Nachtstück) für Violine und Klavier  – der ersten weitgehend atonal gehaltenen Komposition Asiens – und Zai na yaoyuan de difang (An jenem weit entfernten Ort) für Klavier  – einem Variationswerk über ein chinesisches Volkslied im frei atonalen Stil  – eindrucksvolle Entwürfe einer chinesischen musikalischen Moderne. Dodekaphone und atonale Werke entstanden dann erst wieder ab den späten 1970er Jahren, wobei besonders Luo Zhongrongs (*1924) She jiang cai furong (Durch den Fluss waten, Hibiskusblüten pflücken, 1979) für Gesang und Klavier eine Pionierrolle zufiel, da es die in Sang Tongs frühen Werken angelegte Synthese aus pentatonischer Melodik und Reihentechnik systematisierte. Weitere Ansätze einer »modalen« Reihenorganisation legten nach 1978 daneben auch Zhu Jian ’ er (*1922), Chen Mingzhi (1925–2009), Wang Xilin (*1937), Zhao Xiaosheng (*1945), Chen Qigang (*1951), Zhou Long (*1955), Tan Dun (*1957) u. a. vor (Zheng 1990; Rao 2002; Ä Zwölftontechnik). China / Taiwan / Hong Kong Außerhalb Chinas hatte der seit 1946 in den USA lebende Chou Wen-Chung (*1923), aus Yantai (Shandong) stammend, durch die Begegnung mit Edgard Varèse, dessen langjähriger Assistent er wurde, entscheidende Impulse erfahren (Lai 2009). Nach den Seven Poems of T ’ ang Dynasty für Stimme und zehn Instrumente (1951–52) verstärkte sich ab Mitte der 1950er Jahre seine Auseinandersetzung mit der chinesischen Gelehrtenkultur (wenren), etwa in Werken wie The Willows Are New (1957) für Klavier und Yü Ko für neun Instrumente (1965) nach berühmten Repertoirestücken für die Zither qin (Ä Themen-Beitrag 9, 2.). Im selben Zeitraum entwickelte er das modal-serielle Yijing-System. Chou spielte eine Schlüsselrolle für den transnationalen Zusammenschluss asiatischer Komponisten in der 1973 gegründeten Asian Composers ’ League und entfaltete in der Folge eine zentrale Vermittlerrolle im Kulturaustausch zwischen China und den USA, vor allem durch die Gründung des Center for U.S.-China Arts Exchange 1978 an der Columbia University, wo Chou bereits seit 1964 unterrichtet hatte. Seit 1979 gab er auch regelmäßig Seminare an den chinesischen Konservatorien und übte anfangs einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die jüngere Generation aus. 1.2 Entwicklungen seit 1978 Die repressive Haltung gegenüber Chinas Kulturschaffenden hatte in den ersten Jahren der Kulturrevolution ihren Höhepunkt erreicht. Zu den in dieser Zeit »rektifizierten« Komponisten der älteren Generation zählten u. a. Jiang Wenye, Ma Sicong (1912–87), Sang Tong und Luo Zhongrong sowie Xi Qiming (*1941) (Mittler 1997, 163 f.). Die Traumata wurden nach 1976 in »Wundenliteratur« und »Wundensinfonik« verarbeitet (Mittler 2007; Ä Themen-Beitrag 9). Die Komponisten dieser Generation entwickelten eine beträchtliche Aktivität nach den Jahren der Kulturrevolution, der internationale Erfolg der jungen Generation war ihnen aber verwehrt. Von epochaler Bedeutung sind dabei die zehn Sinfonien (1977–99) Zhu Jian ’ ers (Sun 1997). Sie sind zu verstehen als Enzyklopädie eines kulturellen Gedächtnisses, die den emphatischen Anspruch der Sinfonik erhebt, ohne in den propagandistischen Ton der maoistischen Zeit zurückzufallen. Im Alter von über 50 Jahren hatte Zhu Kompositionskurse am Shanghaier Konservatorium bei Chen Mingzhi und Yang Liqing (1942–2013) besucht, um sich neue Techniken, darunter vor allem die Zwölftonmethode, anzueignen. Während die Erste Sinfonie (1977–86) in ihrer langen Entstehungszeit und ihrem Eklektizismus treffend die Schwierigkeiten der Suche nach einem neuen musikalischen Sprachrepertoire dokumentiert (Mittler 2007), komprimiert die Zweite Sinfonie (1987) unter Be- 202 zug auf Webernsche Zwölftontechink die traumatischen Erfahrungen in äußerster Dichte. Die Sechste (1992–94) und Zehnte Sinfonie (1998) stellen dem Sinfonieorchester Feld- und Studioaufnahmen traditioneller chinesischer Musik gegenüber, die über Lautsprecher zugespielt werden. Zhus Sinfonik umgibt stets die Symbolik einer Bedrohlichkeit und Gewalt des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen und greift dazu immer wieder auch auf eine in Dmitri Schostakowitschs Sinfonien ausgebildete musikalische Ikonographie zurück. Heterogener ist das bislang sechs Sinfonien (1962–2006) umfassende sinfonische Werk Wang Xilins, dessen 62-minütige Dritte Sinfonie (1990) durch die Rezeption serieller und minimalistischer Stilelemente und autobiographisch-politischen Bezüge auf Kulturrevolution und das Tiananmen-Massaker Aufsehen erregte. Deutlich konventioneller ist die Musik Jin Xiangs (*1935), dessen am bel canto orientierte, aber auf Chinesisch gesungene Oper The Savage Land (Yuanye, 1987) nach einem Stoff des bekannten Theaterautors Cao Yu auch international erfolgreich war. Weitere beachtenswerte Komponisten der älteren Generation sind Gao Weijie (*1938), der bereits 1980 am Sichuan Conservatory in Chengdu eine an der europäischen Moderne orientierte Studiengruppe bildete (Zuoqujia chuangzuo tansuo hui [Diskussionsforum für kompositorisches Schaffen]), Yang Liqing, der u. a. mit den (auf Deutsch vertonten) Sishou tangshi (Vier Tang-Gedichte) für Sopran, Schlagzeug und Klavier (1981) und mit dem viel beachteten Buch Meixian zuoqu jifa shentan (Die kompositorische Technik Messiaens, Fuzhou 1989) wichtige Impulse setzte und 2000– 2009 als Präsident des Shanghaier Konservatoriums eine internationale Ausrichtung verfolgte, sowie Zhao Xiaosheng (*1945), dessen modal-serielles Taiji-System archaisch-mystische und konstruktivistische Züge verbindet, u. a. in Werken wie Yin yang san que für 16 Ausführende (1987) (Kouwenhoven 1992, 86–92; Mittler 1997, 362–364). Mit der Wiedereröffnung der Konservatorien nach der Kulturrevolution begann eine junge Generation ihre Ausbildung, die durch die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts entscheidend geprägt worden war und nun die bisher nahezu vollständig unbekannte und tabuisierte westliche Moderne enthusiastisch rezipierte, wobei dem Werk Béla Bartóks zunächst eine Schlüsselstellung zufiel (Wong 2007). Eine entscheidende Rolle für das Verständnis neuer und neuester Entwicklungen der westlichen Musik spielten dabei Gastseminare führender Komponisten aus dem Westen. Viele der jungen Komponisten waren daneben stark von lokalen chinesischen Musikformen geprägt, die sie im Rahmen der seit Ende der 1960er Jahre zur Vermeidung urbaner Protestbewegungen eingeführten 203 »Landverschickung« (shangshan xiaxiang) in ländlichen Gegenden aus erster Hand und meist auch unter aktiver Eigenbeteiligung kennengelernt hatten. Eine produktive Sichtweise auf diese diversen Traditionen im Sinne einer Radikalisierung, Hybridisierung oder Abstraktion gelang den meisten Komponisten schon früh und führte in den Jahren 1985–92 dann zu einer Reihe paradigmatischer Werke, die vergleichbar jenen junger chinesischer Maler und Dichter bald international beachtet wurden. 1986 prägte der Musikpublizist Wang An ’ guo den Begriff xinchao (Neuen Welle) für diese Strömung (Wang 1986). Seit den späten 1980er Jahren wurden, anfangs vor allem durch das Nieuw Ensemble Amsterdam, diese Werke auch verstärkt in Europa aufgeführt. Durch publizistische Aktivitäten (Kouwenhoven 1990, 1991, 1992), CD-Produktionen (Nieuw Ensemble 1994) und Filme (Eline Flipse, Broken Silence, 1995) sowie eine Reihe renommierter Kompositionsaufträge wurde die Generation rasch international bekannt. Unter den am Zentralkonservatorium Beijing in den ersten Jahrgängen seit 1978 aufgenommenen Komponisten fand eine erstaunlich große Zahl internationale Bekanntheit. Zu ihnen gehören die zu Teilen bis heute im Westen lebenden Chen Qigang (*1951, seit 1984 in Paris), Qu Xiaosong (*1952, 1989–99 in New York, seither in Shanghai), Chen Yi (*1953, seit 1986 in New York), Zhou Long (*1953, seit 1985 in New York), Chen Xiaoyong (*1955, seit 1985 in Hamburg zunächst als Student György Ligetis, seit 2006 auch Professor für Komposition am Konservatorium Shanghai), Liu Sola (*1955, 1988–2002 in London und New York, seither in Beijing), Ye Xiaogang (*1955, 1985–93 an der Eastman School of Music, Rochester NY, seither in Beijing), Guo Wenjing (*1956), Su Cong (*1957, seit 1982 in Deutschland), Tan Dun (*1957, seit 1986 in New York), Yu Jingjun (Julian Yu, *1957, seit 1985 in Australien) und Mo Wuping (1959–93, 1990–93 in Paris). Am China Conservatory of Music ausgebildet wurde u. a. Wen Deqing (*1958, seit 1991 in Genf, seit 2007 auch Professor für Komposition am Konservatorium Shanghai), am Konservatorium Shanghai studierten Ge Ganru (*1955, seit 1983 in New York), Sheng Zongliang (Bright Sheng, *1955, seit 1982 in New York, seit 1995 Professor für Komposition an der University of Michigan), Xu Shuya (* 1961, von 1988– 2009 in Paris, 2009–14 Präsident des Konservatorium Shanghai) und Xu Yi (*1963, 1986–2003 in Paris, seither in Beijing). Am Sichuan Conservatory studierten unter Gao Weijie u. a. Zhu Shirui (*1954, 1991–2003 in Deutschland, seither in Shanghai), He Xuntian (*1954) und Jia Daqun (*1955), am Konservatorium Wuhan studierte der auch als Musiktheoretiker hervorgetretene Peng Zhimin (*1953), am Konservatorium Xi ’ an der von Bartók ausgehende China / Taiwan / Hong Kong Zhang Dalong (*1955) und am Shenyang Konservatorium der an der europäischen Tonalität orientierte Tang Jianping (*1955). Viele Schlüsselwerke der xinchao nehmen ihren Ausgang bei der menschlichen Stimme, oft mit Bezug auf lokale oder auch nationale chinesische Gesangsstile, zum Teil ausgeführt von den Komponisten selbst (Tan Dun, Mo Wuping, Wen Deqing), so etwa Qu Xiaosongs Mong Dong für Bariton und Ensemble (1984), Tan Duns On Taoism für Stimme und Orchester (1985), Mo Wupings Fan I für Stimme und Ensemble (1991), Chen Qigangs Poème Lyrique II für Bariton und Ensemble (1991) oder Wen Deqings Complainte (Lament) für Peking-Opern-Sänger und drei Schlagzeuger (1994). Womöglich noch spektakulärer sind Konzepte, die eine ins Extrem getriebene Geräuschhaftigkeit chinesischen Instrumentalspiels aufgreifen, wie Ge Ganrus Yi Feng für Cello solo (1982–83) oder Tan Duns Adagio for Strings (1983; später Teil von Death and Fire für Orchester, 1991–92) oder im Sinne eines vertieften Naturbezugs selbstgebaute Instrumente einsetzen wie He Xuntians Tianlai (1986) und Tan Duns experimentelles Musiktheater Nine Songs (1989) und sein Soundshape (1990). Weitere zentrale Werke der 1980er und frühen 1990er Jahre sind die Orchesterwerke Duo Ye (1984) von Chen Yi, H ’ un (Lacerations): In Memoriam 1966–1976 (1988) von Bright Sheng, Yuan (1987–88) von Chen Qigang und Die (Dyeh, 1988–92) von Chen Xiaoyong, die Ensemblewerke She Huo (1991) von Guo Wenjing und Chute en Automne (1991) von Xu Shuya sowie die Kantaten Shu dao nan (1987, nach Li Bo) von Guo Wenjing, Da pi guan (1987) von Qu Xiaosong und Da Lai Vi (1988) von Ye Xiaogang. Wegweisende Werke seit den 1990er Jahren waren vor allem Musiktheaterprojekte wie Tan Duns Marco Polo (1991–95, Auftrag der Münchener Biennale für neues Musiktheater) (Utz 2002, 460–474) und Peony Pavilion (1998, Auftrag der Wiener Festwochen), Guo Wenjings Oper Wolf Cub Village (1994) nach Lu Xuns epochaler Erzählung Kuang ren de riji (Tagebuch eines Verrückten, 1924) und seine stark im chinesischen Idiom gehaltene Kammeroper Ye Yan (Das Nachtbankett, 1998) sowie Qu Xiaosongs buddhistisch und daoistisch gefärbtes Ritualdrama Death of Oedipus (1994). Daneben zu erwähnen sind Qus sich zunehmend in ein kontemplatives Idiom wendende Ensemblewerke wie Yi für Kammerensemble (1990) oder Mi für Sopran, Bariton und Kammerensemble (1990/92). Eine daoistisch inspirierte Evokation von Stille wird  – gerade in manchen Werken, die als Reaktionen auf die Niederschlagung der Demokratiebewegung verstanden werden können – häufig im Sinne eines stillen Protestes sinnfällig, so etwa in Xu Yis Dao für Ensemble China / Taiwan / Hong Kong (1991–92) oder Tan Duns Circle with Four Trios, Conductor and Audience (1992). Die Ereignisse von 4. Juni 1989 wurden in mehreren Werken zumeist implizit thematisiert: Windswept Peaks für Violine, Violoncello, Klarinette, Klavier (1989) widmete Chou Wen-Chung dem »Geist der chinesischen Intellektuellen« (Mittler 1997, 113), Tan Duns Snow in June für Violoncello und vier Schlagzeuger (1991) vermittelt unter Bezug auf das in China von jeher regierungskritisch verstandene Drama Dou E Yuan aus dem 13. Jh. (ebd., 116 f.) Bedrohlichkeit und Konflikt durch den Topos der »unterbrochenen Melodie«. Zweifellos gibt es vielfältige Wechselwirkungen zwischen der anfangs so selbstverständlich scheinenden Suche nach chinesischen Idiomen und den urbanen Musikszenen in Europa und insbesondere in den USA, wo Bright Sheng, Chen Yi oder Tan Dun exemplarisch für eine erfolgreiche chinesisch-amerikanische Hybridkultur stehen (Zheng 2010). Seit den späten 1990er Jahren ist dabei, nicht nur in China selbst, eine Tendenz hin zu einer radikalisierten Hervorhebung kultureller Differenz zu beobachten, die einerseits mit einer partiellen Isolation von internationalen Trends, andererseits mit dem Wunsch nach einer Inszenierung von »Othering« auf dem internationalen Markt (Lau 2004) zusammenhängen mag. Beispiele dafür sind neben Guo Wenjings zweiter Oper Ye Yan (s. o.) auch dessen dritte gezielt als Alternative zum Bel canto-Gesang konzipierte Oper Fengyi ting (Der Fengyi Pavillion) für Sichuan-Opern-Sängerin, Peking-Opern-Sänger und Ensemble (2004), Qu Xiaosongs Opern Life on a String (Ming ruo qin xian, 1997/98) und Versuchung (2004, Auftrag der Münchener Biennale) sowie die Werke Qin Wenchens (*1966) wie z. B. He Yi für die chinesische Wölbbrettzither zheng und Kammerensemble (1999). Kennzeichen sind ein weitgehendes Ersetzen von Polyphonie durch Heterophonie, ein gezieltes Arbeiten mit Mikrotönen und Inflektionen, Verwenden chinesischer Texte und Stoffe, strukturelle Bezüge auf chinesische oder asiatische Genres und nicht zuletzt die innovative Verwendung chinesischer Instrumente. Diese Polarität von Chinesischem und Westlichem wird etwa durch den meist beträchtlichen Einfluss, den Solisten chinesischer Instrumente auf das Klangergebnis nehmen, erfolgreich aufgebrochen. So wurde etwa Chen Xiaoyongs Zheng-Solo Circuit (1996) in enger Zusammenarbeit mit der Solistin Xu Fengxia erarbeitet, die Erfahrungen aus der freien Improvisation mit einbrachte. An der Grenze von Komposition, Improvisation und Szenischer Musik agiert auch Liu Sola, die zwei Jahre nach ihrem Abschluss am Beijinger Konservatorium mit dem Roman Ni biewu xuanze (Du hast keine Wahl, 1985) eine vielbeachtete Chronik ihrer Generation vorgelegt hatte 204 und in der Folge in der Londoner und New Yorker Szene als Rock- und Avantgarde-Sängerin hervortrat. Mit ihrem Ensemble Liu Sola & Friends und der von Maos Ehefrau Jiang Qing handelnden Kammeroper Fantasy of the Red Queen (2006) fand sie internationale Aufmerksamkeit. Die spektakuläre Karriere von Tan Dun infolge der politisch opportunen Symphony 1997 (1997) zur Rückgabe Hong Kongs an China (Yu 2004; Ä Themen-Beitrag 10), des Oscars für die Filmmusik zu Lee Angs Crouching Tiger, Hidden Dragon (2000) und des Opernauftrags der New Yorker Metropolitan Opera für The First Emperor (2006; Premiere mit Placido Domingo in der Hauptrolle), ein Werk, das sich vor allem an einer Synthese der chinesischen Idiomatik mit Giacomo Puccinis Stil abarbeitet (Sheppard 2009), hat viel Kritik hervorgerufen. Es ist kein Zufall, dass Tan Dun zunehmend in der paradoxen Doppelrolle als Bewahrer lokaler Tradition und sinfonischer Innovator auftritt, wie etwa in The Map (2002) für Violoncello, Orchester und Videozuspielung, wo Videofeldaufnahmen von Musik der Minderheiten in der chinesischen Provinz Hunan dem Violoncellosolisten und dem westlichen Sinfonieorchester in konfliktlos-harmonisierender Weise gegenübergestellt werden (Young 2007; Yang 2014). Unter den Vertreterinnen und Vertretern der jüngeren Generation sind im vergangenen Jahrzehnt vor allem im Westen lebende hervorgetreten, darunter Tian Leilei (*1971, 1997–2002 in Schweden, seit 2002 in Paris), die eine spirituell inspirierte und durch elektronische Mittel bereicherte Klangmagie entfaltet, Lei Liang (*1972, seit 1990 in den USA), der in Chou Wen-Chungs Tradition auf einer stärker konzentrierten Entfaltung von Klang aufbaut, die pluralistisch agierende Composer-Performerin Du Yun (*1976, seit 2002 in den USA, seit 2014 künstlerische Leiterin des MATA Festival in New York), die einen virtuosen »internationalen« Stil ausbildende Wang Ying (*1976, Tochter von Wang Xilin, 2003–2011 in Deutschland, seit 2011 in Paris) sowie der sich an ein breites Publikum wendende, aber auch von der Moderne inspirierte Huang Ruo (*1976, seit 1995 in den USA), der bereits vier international erfolgreiche Opern vorlegte, darunter Dr. Sun Yat-Sen (2011). In China selbst sind neben den zunehmend international orientierten Konservatorien seit einiger Zeit auch größere Festivals für neue Musik treibenden Kräfte positiver Entwicklungen, so vor allem das seit 2004 stattfindende Beijing Modern Music Festival (künstlerische Leitung: Ye Xiaogang) und die seit 2008 stattfindende Shanghai New Music Week (künstlerische Leitung: Wen Deqing). Auch die großen Orchester wie das China Natio- 205 nal Symphony Orchestra und das Shanghai Philharmonic Orchestra spielen regelmäßig neue Werke und die Shanghai Sinfonietta des Konservatoriums Shanghai verbindet chinesisches und europäisches Instrumentarium (Ä Kammerensemble). 2. Taiwan Die vor der Südostküste Chinas gelegene Insel Taiwan musste nach dem chinesisch-japanischen Krieg 1895 an Japan abgetreten werden und war bis 1945 japanische Kolonie, was neben einer oft gewaltsamen Unterdrückung der lokalen Bevölkerung, insbesondere der austronesischen Ureinwohner, auch zu einer im Vergleich zum chinesischen Festland deutlich beschleunigten Modernisierung der Infrastruktur führte. Nach der Rückgabe an China nach Ende des Pazifikkrieges kam es am 28. Februar 1947 zu einem Massaker der chinesischen Militärverwaltung an der taiwaner Zivilbevölkerung, was in der Folge zu einer Spaltung der taiwaner Gesellschaft führte. Diese wurde noch verstärkt, als über eine Millionen Soldaten und Angehörige der Nationalpartei Kuomintang Chiang Kai-Sheks 1949 auf dem Rückzug im Bürgerkrieg nach Taiwan übersetzten und dort die »Republik China« (Republic of China, ROC) weiterführten, die formell bis heute besteht, auch wenn sie nur von einer geringen Anzahl von Staaten anerkannt ist. Durch die unmittelbare militärische Konfrontation mit der VR China kam es zu einer massiven Unterstützung durch die USA während des Kalten Kriegs und auch wirtschaftlich und kulturell zunehmend zu einer Orientierung an amerikanischen Modellen. In Folge eines atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstiegs kam Taiwan neben Hong Kong und anderen »Tigerstaaten« (Südkorea, Singapur) dann in den frühen 1970er Jahren zu relativ großem Wohlstand. Schon zuvor hatte es erste Vertreter einer musikalischen Moderne gegeben, die anfangs den lokalen Musikformen Taiwans großes Interesse entgegenbrachten. Durch eine kontinuierlich sich stabilisierende Institutionalisierung und ein fundiertes Ausbildungssystem wuchs die Anzahl von taiwaner Komponisten ständig. Die internationalen Kontakte wurden insbesondere durch die Mitgründung der Asian Composers League 1973 (durch Hsu Tsang-Houei gemeinsam mit anderen asiatischen Komponisten in Hong Kong) und die Eröffnung einer taiwaner Sektion der International Society of Contemporary Music (1989 durch den Lachenmann-Schüler Pan HwangLong) stabilisiert. Von einer eigenständigen komponierten Kunstmusik in Taiwan kann man erst seit den 1960er Jahren sprechen. Ihre Vaterfigur ist Hsu Tsang-Houei (1929–2001), der 1959 von seinem Studium in Paris bei André Jolivet und Olivier Messiaen zurückkehrte und rasch zur bestimmenden Per- China / Taiwan / Hong Kong sönlichkeit des taiwaner Musiklebens wurde. Hsu gab in der Folge durch die Initiierung von Komponistengruppen nach japanischem Vorbild und durch den Beginn einer taiwaner Ethnomusikologie entscheidende Impulse für jüngere Komponisten. Die wichtigsten Komponistengruppen der Zeit waren Zhi yue xiao ji (Composers ’ Forum, 1961–72), Wu ren yueji (Five Man Musicgroup, 1965–67), Xin yue chu zou (Music Premiere, 1961–62), Jianglan yueji (Jianglang Musicgroup, 1963–65) und Xiangrikui yuehui (Sunflower Group, 1968–71). Vor allem das Composers ’ Forum ermöglichte es jüngeren Komponisten, ihre Werke einer begrenzten Öffentlichkeit vorzustellen. Die komponierte Musik war aber weiterhin von einem pentatonisch akzentuierten spätromantischen Orchester- und Liedsatz bestimmt, der 1949 von festland-chinesischen Musikern »importiert« worden war. Eine wichtige Rolle spielten früh die Bemühungen um engere Bezüge zu den lokalen Traditionen. Die Feldforschungen der Komponisten Hsu Tsang-Houei und Shi Wei-Liang seit den Jahren 1966/67, die im Rahmen der Minge caiji yundong (Volksliedsammlungsbewegung) besonders auch die Musik der Ureinwohner erstmals seit der japanischen Kolonialherrschaft wieder ins Zentrum des Interesses rückten, Hsus Einfluss als Lehrer an der National Taiwan Normal University (Guoli shifan daxue) und Shis Gründung des Xiandai yuefu (Modern Music Bureau) im Jahr 1973 zur Verbindung traditioneller und zeitgenössischer Musik boten dafür wichtige Voraussetzungen. Shi Wei-Liang, der 1966 vom Studium in Wien und Stuttgart zurückgekehrt war, und Hsu gründeten 1967 die Society for Chinese Folk Music Research (Zhongguo minzu yinyue yanjiushe) und sammelten in der Folge mehr als 2000 Gesänge (Chang 1997, 394 f.). Shis Initiativen bildeten einen wichtigen Impuls zur Gründung des Cloud Gate Dance Theatre (Yunmen wuji) durch den jungen Choreografen Lin Hwai-Min, ebenfalls im Jahr 1973 (ebd., 395). Die Tanzproduktionen ermöglichten in den folgenden Jahren einer kleinen Avantgarde um Komponisten wie Lee Tai-Hsiang (*1941) und Hsu Po-Yun (*1944) die Aufführung größer dimensionierter Werke, in einer Zeit, zu der die Möglichkeiten in dieser Hinsicht ansonsten weiterhin stark begrenzt waren. Der experimentellere Geist dieser Periode wurde nicht zuletzt getragen vom Aufschwung der Xiangtu wenxue (Lokale Literatur), die in der Folge des Ausschlusses Taiwans aus den Vereinten Nationen 1971 zu einer Besinnung auf eine lokale taiwaner Identität aufrief. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Beispiele einer taiwaner musique concrète mit Lee Tai-Hsiangs Yu  – Chan  – Ximen ding (1975), dessen Uraufführung in Taipei mit vier Tonbandgeräten, zwei Vokalisten, begleitet durch Aktionen wie das Zerrei- China / Taiwan / Hong Kong ßen von Zeitungen für einen Skandal sorgte (Mittler 1997, 210). Lee war durch einen Aufenthalt am Center for Music Experiment (CME) der University of California, San Diego 1973/74 zunächst stark von experimentellen Ansätzen beeinflusst, ehe er als Liedermacher für Popsongs im taiwaner Dialekt zu Berühmtheit gelangte und dabei teilweise auch politisch sensible Bereiche streifte (Utz 2014, 201 f.). Die meisten weiteren der in den 1960er und 70er Jahren hervortretenden Komponisten wie Lu Yen (1930– 2008), Ma Shui-Long (*1939), You Chang-Fa (*1942), Lai Deh-Ho (*1943) oder Wen Long-Hsin (*1944) pflegten vorwiegend ein gemäßigtes, westlich orientiertes Idiom, wobei in manchen Fällen auch Versuche gemacht wurden, sich an jüngsten Modellen der Avantgarde zu orientieren wie etwa in Wen Long-Hsins Violinsonate (1971) (Mittler 1995, 28). Lu Yen, der erst 1979 nach einem 15-jährigem USA-Aufenthalt nach Taiwan zurückkehrte, verband einen an Allen Fortes set theory orientierten Strukturalismus mit neotonaler Harmonik und dem Einbau von Zitaten chinesischer Melodien (Rao 2002, 214–223). Eine herausragende Bedeutung für die Professionalisierung und Internationalisierung der neuen Musik Taiwans fällt Pan Hwang-Long zu, der 1974–82 in der Schweiz und Deutschland studiert hatte. Als einer der ersten Schüler Helmut Lachenmanns knüpfte er mit dem Streichquartett Nr. 2 (1977) zunächst direkt an Lachenmanns Ä musique concrète instrumentale an, nahm zurück in Taiwan, etwa im Streichquartett Nr. 3 (1981–83) dann aber ein sanfteres Idiom an, ohne die früheren Erfahrungen zu verleugnen. Als Professor für Komposition am neu gegründeten National Institute of the Arts und langjähriger Präsident der taiwaner Sektion der ISCM prägte Pan das Musikleben nachhaltig. Nicht zuletzt arbeitete er kontinuierlich mit dem 1991 gegründeten Ensemble Caifeng yuefang (China Found Music Workshop Taipei, heute: Chai Found Music Workshop Taipei) zusammen, das sich auf neue Werke für chinesische Instrumente in der Besetzung der südchinesischen sizhuyue (»Seide-und-Bambus-Musik«) spezialisierte. Pans Ansatz ist insgesamt charakteristisch für einen mit seiner Generation einsetzenden international orientierten »Professionalismus« unter Taiwans Komponisten. Die langsame politische Liberalisierung Taiwans, die 1987 zur Aufhebung des seit 1949 bestehenden »Kriegsrechts« führte, scheint auf musikalischem Gebiet – anders als etwa im Filmschaffen taiwaner Regisseure  – weitgehend mit einem wachsenden Desinteresse an Fragen der kulturellen Identität und oftmals kritikloser Anpassung an westliche Standards einhergegangen zu sein. Die Abnahme eines persönlichen, unmittelbaren Kontakts mit 206 traditioneller Musikpraxis, die mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Urbanisierung und Institutionalisierung der traditionellen Musikgenres einherging, hatte Konsequenzen für die musikalische Landschaft Taiwans. Dazu kam, dass seit den 1980er Jahren eine wachsende Zahl von Komponisten in den USA ausgebildet wurde, wo zu dieser Zeit starke Tendenzen der Popularisierung und Kommerzialisierung, etwa im Postminimalismus, zu verzeichnen waren. Komponisten mit US-amerikanischer Ausbildung wie Wu Ting-Lien (*1950), Pan Shyh-Ji (*1957), Hung Chung-Kun (*1963) oder Lee Tzyy-Sheng (*1965) haben dennoch differenzierte individuelle Idiome ausgebildet, die zwischen strukturalistischen und dramatischperformativen Dimensionen changieren, auch wenn es scheint, dass seit Ende der 1990er Jahre Verschiebungen zu einem gefälligeren Stil stattfinden. Auch viele Vertreter der jüngsten Generationen sind ausschließlich westlich orientiert; Ausnahmen finden sich besonders unter jenen, die über längere Zeit, manchmal dauerhaft, außerhalb Taiwans leb(t)en. Darunter ist auch eine signifikant anwachsende Zahl von Komponistinnen wie Wang Ming (*1963, seit 1989 in Wien), Wang Sue-Ya (*1965, seit 1988 in Paris), Shih Pei-Yu (*1973, 1999–2015 in Deutschland und Großbritannien), Chao Ching-Wen (*1973, 1994–2003 in den USA, seither in Taipei) und Li Yuan-Chen (*1980, 2006–2015 in den USA). Sie verbinden eine profunde Kenntnis chinesischer und europäischer Traditionen mit Fertigkeiten im Bereich elektronischer Medien und sind bisweilen auf der internationalen Bühne angesehener als in Taiwan, wo patriarchalische Strukturen auch heute noch viele Teile des akademischen Lebens prägen. Tung Chao-Ming (*1969), der bei Mauricio Kagel und Nicolaus A. Huber studierte, ist ohne Zweifel der unorthodoxeste Vertretern der jüngeren Generation und verbindet eine neue Lesart der Ureinwohner-Musik und buddhistischer Rituale mit einer leichtfüßigen Synthese aus intermedialen und theatralen Ansätzen. Die verstärkte Gründung staatlicher und privater Musikinstitutionen im Taiwan der 1980er Jahre war Zeichen eines zunehmenden kulturellen Verantwortungsbewusstseins und steigenden Wohlstands, die allerdings nicht zwangsläufig die Situation der neuen Musik verbesserten. Darunter sind zu nennen der staatliche Council of Cultural Planning and Development (CCPD, 1982; heute Council for Cultural Affairs), das National Institute of the Arts (Guoli yishu xueyuan, 1982; heute: Taibei yishu daxue / Taipei National University of the Arts) und das National Cultural Center (1987). Die National Concert Hall und das National Theater, repräsentative Neubauten in traditionalistischer chinesischer Architektur im Zentrum der Hauptstadt Taipei, wurden 1987 eröffnet. Neue Radio- 207 sender und eine wachsende Zahl an Kompositionsaufträgen stabilisierten zwar in Ansätzen die Situation der neuen Musik in den späten 1980er Jahren, insgesamt bleibt ihre gesellschaftlich marginalisierte Rolle aber bestehen. Akzente werden jedoch weiterhin gesetzt durch das Ensemble Chai Found Music Workshop, die von Schlagzeuger Hsu Bo-Nian geleiteten Ju Percussion Group und Forum Music Ensemble (Shifang yueji xiandai yuetuan), Veranstaltungen im von Hsu 1997 gegründeten Forum Music Auditorium (Shifang Yueji), beim Taipei Digital Art Festival und an den Musikabteilungen der Universitäten. Im Forum Music Auditorium findet seit 2003 regelmäßig die Veranstaltungsreihe Taiwan xiandai luntan (Zeitgenössisches Diskussionsforum Taiwan) mit Vorträgen, Diskussionen und Konzerten neuer Musik statt. Neue Werke zur Aufführung bringen daneben auch die führenden Sinfonieorchester Taiwans wie das National Symphony Orchestra, das National Taiwan Symphony Orchestra und das Taipei Symphony Orchestra. 3. Hong Kong Die westlich von Taiwan direkt an der Küste Chinas gelegene Halbinsel- und Inselgruppe Hong Kong wurde bereits im Ersten Opiumkrieg 1841 durch Truppen des Britischen Empire besetzt und 1843 durch den Vertrag von Nanjing zur britischen Kronkolonie. 1898 wurde eine zusätzliche Vereinbarung getroffen, mit der die gegenüber von Hong Kong auf dem chinesischen Festland gelegenen New Territories für 99 Jahre von China an Großbritannien verpachtet wurden. Am 1. Juli 1997 fand die Rückgabe des gesamten Gebiets an die VR China statt, Hong Kong wurde als teilautonome »Sonderverwaltungszone« in die VR China eingegliedert. Da eine Institutionalisierung kultureller Einrichtungen und der Musikerziehung erst nach 1949 allmählich begann, traten die ersten bedeutenden Komponisten Hong Kongs erst in den 1970er Jahren auf. Durch den ökonomischen Wohlstand war es aber auch hier möglich, trotz eines zunächst geringen öffentlichen Interesses, ein Musikleben aufzubauen, zum Teil mit privaten Mitteln, das seit den 1980er Jahren verstärkt international orientiert war. Heute ist Hong Kong – vergleichbar mit Beijing, Shanghai und Taipei – zu einem wichtigen internationalen Zentrum geworden, das durch große Festivals und Projekte auch im Bereich neuer Musik auf sich aufmerksam macht. Die Einrichtung einer Musikabteilung an der Chinese University of Hong Kong im Jahr 1965 brachte in der Folge Komponisten aus dem anglophonen Raum wie David Gwilt (*1932, Schottland), Harrison Ryker (*1938, USA), Dale Craig (*1939, USA) und Anne Boyd (*1946, Australien) nach Hong Kong und führte damit zu einer ersten In- China / Taiwan / Hong Kong ternationalisierung des Musiklebens. In den 1960er Jahren kehrten zudem Komponisten wie Wong Yukyee (*1924) und Chan Kinwah (*1936) vom Studium in Deutschland und Lam Doming (*1926) aus Kanada zurück und belebten die lokale Szene. Wong arbeitete an einer Synthese aus Dodekaphonie und chinesischen Modi während Lam früh Orchesterwerke vorlegte, die erste Anzeichen einer Abkehr von der bis dahin unhinterfragten pentatonischen Neo-Romantik waren. Signifikant waren besonders Lams Werke für chinesisches Orchester seit den späten 1970er Jahren für das 1977 gegründete Hong Kong Chinese Orchestra wie Qiujue (Exekution im Herbst, 1978) und Kunchong shijie (Insektenwelt, 1979), da hier erstmals das klangfarbliche Potenzial dieses Klangkörpers im Sinne einer texturorientierten Klangkomposition ausgereizt wurde, wobei programmatische und ikonographische Bezüge in einer (nord-)chinesischen Tradition der Programmmusik zu sehen sind. Lam spielte daneben eine Schlüsselrolle in der Gründung der Asian Composers ’ League (ACL) in Hong Kong 1973 und der Hong Kong Composers Guild 1983, die auch als Sektion der ISCM fungiert. Tatsächlich bildet die Auseinandersetzung mit chinesischen Musiktraditionen, häufig unter Einbezug chinesischer Instrumente, einen Leitfaden auch für die Komponisten der folgenden Generationen, wobei bis in die 1980er Jahre ein stilistischer Konservativismus, der sich an konventionellen tonalen Harmonisierungen orientiert, vorherrscht. Dabei findet die Begegnung mit der chinesischen Musik meist nur im akademischen Rahmen statt und auch hier erst in jüngerer Zeit in intensiverer Form. Komponistinnen und Komponisten, die in den 1970er und 80er Jahren hervortraten, hatten zumeist in den USA studiert, darunter Law Pingleung (Daniel Law, *1946), Tsang Yipfat (Richard Tsang, *1952), Chan Wingwah (*1954), Koo Chatpo (*1954), Chan Waikwong (Victor Chan, *1959) und Mak Weichu (Clarence Mak, *1959). Chan Wingwah und Chan Waikwong waren ab den 1990er Jahren composerin-residence beim 1974 gegründeten Hong Kong Philharmonic Orchestra. Charakteristisch ist, dass von Chan Wingwahs bislang acht Sinfonien (1979–2006) zwei (Nr. 7 und 9, 2005/2006) für chinesisches Sinfonieorchester gesetzt sind. Die politisch opportune Sechste Sinfonie (1996) mit dem Beinamen »Reunification« feierte die Wiedereingliederung Hong Kongs in die VR China. Andere Akzente wurden vor allem in Kompositionen für chinesische Instrumente gesetzt: Law Wingfais (*1949) Can für pipa solo (1971–72) und A Thousand Sweeps (1998) für pipa und Orchester (Lau 2007) oder Mak Weichus Butterfly für zwei pipa und Schlagzeug (1989) erkunden die reichen Potenziale der chinesischen Laute, 208 China / Taiwan / Hong Kong während Chan Wingwahs Trio für Violine, Cembalo (oder zheng) und Violoncello (1982) die Spielpraxis der Zither qin weiterdenkt. Werke wie Law Wingfais Zuixiang (Dionysus-Phantasie) für drei Flöten, Klavier und zwei Schlagzeuger (1979) lockern die Synchronisierung der Stimmen im Sinne einer teil-aleatorischen Texturbildung. Komponistinnen dieser Generation wiederum sind insgesamt in ihrer Orientierung pluralistischer und unorthodoxer. So reflektieren Lam Manyee (*1950), Lam Bunching (*1954) und Ho Pingyee (Alice Ho, *1958) in ihren Werken immer wieder kritisch das Paradigma der »Chineseness« und konterkarieren es durch den Einbezug von Improvisation, Jazz und Pop, komplexer Notation, Geräusch und Elektronik. Sie machen so deutlich, wie sehr das Verhandeln des Chinesischen in Hong Kong als »a site of performative contradictions« erscheinen kann (Lau 2007, 601). Während in der folgenden Generation weiterhin zumeist gemäßigte Stilistiken dominieren, etwa bei Hui Cheungwai (*1963), Chan Hingyan (*1963) oder Lo Hau Man (*1965), wobei Chan Kambiu (*1962) als einer der ersten konsequent auch mit elektronischen Mitteln arbeitete, hat sich die jüngste Generation stark pluralisiert und internationalisiert. Yip Shukin (*1979) behält dabei das konservative Idiom bei, während der in England ausgebildete Lam Fung (*1979), 2015 composer-in-residence beim Hong Kong Philharmonic Orchestra, eine deutlich schärfere Klangsprache entwickelt hat. Im Grenzgebiet zu den in Hong Kong stark geförderten performativen Künsten und der Popkultur arbeitet Hui Ngo-shan (Steve Hui, *1974). Er legte 2010 die »digitale Oper« The Memory Palace of Matteo Ricci nach dem Buch von Jonathan D. Spence vor, die u. a. mittels der Verwendung der Vocaloid-Software zur computergestützten Modellierung von Stimmtimbres die Frage chinesischer (Stimm-)Identitäten in postmoderner Brechung verhandelt (Young 2013). In Werken wie Re-Autumn für Laptop und Orchester (2004) reflektiert Hui daneben seine Doppelrolle als Komponist und DJ. Samson Young (*1979) schließlich, ausgebildet in Hong Kong und Princeton und auch wissenschaftlich mit kritischen Beiträgen zur neuen chinesischen Musik hervorgetreten (2007, 2009, 2013), hat durch IntermediaProjekte wie Electric Requiem: God Save the Queen für sieben Instrumente, Chor und Elektronik (2008) oder The Anatomy of a String Quartet (2014) große Aufmerksamkeit gefunden. The Anatomy of a String Quartet leitet in der Tradition Alvin Luciers aus biosensorischen Daten der Streichquartettmusiker Material für eine audiovisuelle Laptop-Improvisation ab, wobei u. a. Beethovens a-MollQuartett op. 132 als Basismaterial dient. Auf der Ebene internationalen Austauschs ist Hong Kong bis zur Gegenwart ausgesprochen aktiv: Das jähr- liche Festival der Asian Composer League (ACL) fand nach dem Gründungsfestival 1973 bereits mehrfach in Hong Kong statt (1981, 1988, 2007) ebenso wie die ISCM World New Music Days, die zwei Mal an das ACL-Festival gekoppelt wurden (1988, 2002, 2007). Die Hong Kong Composers Guild veranstaltet zudem eine große Reihe weiterer Festivals und Projekten, darunter das Chinese Composers Festival (1986, 2003, 2013) und Musicarama – International Contemporary Music Festival (seit 1992), das 2015 erstmals als ISCM-Musicarama in Kooperation mit der ISCM (unabhängig von den World New Music Days) stattfand. Wichtig für die Entwicklung und Internationalisierung neuer Musik sind neben den bereits genannten Orchestern und der Hong Kong Sinfonietta das Hong Kong Arts Festival (seit 1973) sowie die Aktivitäten der Musikabteilungen der Chinese University of Hong Kong, der University of Hong Kong und der Hong Kong Academy for Performing Arts. 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Intermodulation und Polystilistik Die Begriffe »Collage« und »Montage« werden in der wissenschaftlichen Literatur fälschlicherweise häufig synonym gebraucht. Während es sich jedoch bei der Collage um eine »Verbindung heterogener Materialien mit Referenzcharakter« (Fricke 1995, 939) handelt, lässt sich die Montage als rein kompositionstechnischer Vorgang des Zusammensetzens aus heterogenen Bausteinen begreifen. 1. Montage als Kompositions- und Formprinzip Im künstlerischen Bereich wird die Bezeichnung »Montage« erstmals im Zusammenhang mit der Filmtheorie verwendet, und zwar in Bezug auf den kreativen Akt der Auswahl und Aneinanderfügung von Bildteilen (später auch Bild- und Tonteilen), der sich in der Regel dem sinnhaften Rahmen der filmischen Narration unterordnet. In der Musik lässt sich Montage dementsprechend als Mittel zur Organisation musikalischer Partikel beschreiben, das ein präzises, dem Formverlauf untergeordnetes Mit- und Ineinander verschiedenartiger Materialien oder Satztechniken impliziert und »durchaus mit traditionellen Verfahrensweisen wie thematisch-motivische Arbeit und entwickelnde Variation« vereinbar ist (Heister 2005, 286). Andererseits ist die Montagetechnik von Beginn an auch mit anti-expressiven avantgardistischen Poetiken verbunden, die als Gegenmodell zum organischen Kunstwerk zum einen die technische »Machart« gezielt herausstellen (Saxer 2004, 320–328), zum anderen anti-narrative bzw. nicht-kausale Formen der Zusammenhangsbildung erzeugen und zudem durch die Einbeziehung von Elementen des täglichen Lebens das Ziel einer »Rückführung von Kunst in die Lebenspraxis« (Bürger 1974, 80) akzentuieren. Am deutlichsten tritt der technische Charakter der Montage in allen mit elektronischen Mitteln arbeitenden musikalischen Genres zu Tage (Ä Elektronische Musik), da die Zusammenfügung der Musik aus unterschiedlichen Komponenten und ihre abschließende Fixierung auf einem Speichermedium dort ein wesentlicher Aspekt des Kompositionsprozesses ist. Gleichfalls bedeutsam ist die Montage in der Praxis des turntablism der DJ-Kultur, wo durch Manipulation von Schallpatten mittels Plattenspielern unter Anwendungen von Techniken des scratching und beatjuggling unterschiedlichste Abfolgen von rhythmischen cuts und loops entstehen können (Shapiro 2002). Kompositorische Konzeptionen, in denen Montagetechniken eine Rolle spielen, weisen oftmals vielfältige 210 Collage / Montage Spuren der Auseinandersetzung mit filmischer Montage, literarischen Montagetechniken (wie dem von William S. Burroughs gepflegten Cut-up) oder auch turntablism auf. Dass sich diese Einflüsse in der Praxis kaum voneinander isolieren lassen, zeigen bspw. Arbeiten wie John Zorns Forbidden Fruit  – Variations for Voice, String Quartet and Turntables (1987) oder die einzelnen Kompositionen aus der Reihe Differenz / Wiederholung (ab 1998) von Bernhard Lang. Demgegenüber sind einzelne Werke Olga Neuwirths aus den 1990er Jahren mit dezidiertem Bezug auf Filmtechniken entstanden (z. B. !?dialogues suffisants!?  – Hommage à Hitchcock für Violoncello, Schlagzeug, Tonband und neun Videomonitore, 1991–92), wobei die Montage auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielt. Dass darüber hinaus durch Reihung fragmentartiger Miniaturen zu größeren Formverläufen montageartige Strukturen mit ständig wechselnden musikalischen Bezügen und satztechnischen Zugriffen entstehen können, zeigt sich im Schaffen György Kurtágs, insbesondere in den aus zahlreichen kurzen Stücken gefügten Lieder- und Instrumentalzyklen (z. B. Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24, 1985–87, Officium breve in memoriam Andreae Servánszky für Streichquartett op.  28, 1988–89; Ä Fragment). 2. Collage als kompositorisches Verfahren Die Collage kann als kompositorisches Verfahren verstanden werden, das sich der Montagetechnik bedient. Der Begriff entstammt der bildenden Kunst und bezeichnet dort ursprünglich das Prinzip der Integration außerkünstlerischer Materialien und Elemente in das Kunstwerk (etwa bei Georges Braque, Pablo Picasso, Max Ernst und Kurt Schwitters). Später wurde er auf vergleichbare Verfahrensweisen in Literatur und Musik übertragen, um die stoffliche Heterogenität oder das Nebeneinander von Materialien zu bezeichnen (Ä Neue Musik und Literatur). Vor allem seit den 1960er Jahren fand der Terminus häufig auch im Zusammenhang mit der Ä Analyse musikalischer Kompositionen Verwendung (vgl. z. B. Sonntag 1977), während sein Gebrauch zugleich rückwirkend auf vergleichbare musikalische Phänomene seit Ende des 19. Jh., etwa auf die Musik von Gustav Mahler oder Charles Ives, ausgedehnt wurde. Die musikalische Collage greift zumeist auf Zitate oder zitatähnliche Materialien wie Stilimitationen und musikalische Topoi zurück, also auf Elemente mit deutlichem Referenzcharakter (Budde 1972; Ä Bearbeitung, Ä Postmoderne). Darüber hinaus gibt es auch Beispiele, in welchen der Vorgang des Collagierens auf der Ebene der Ä Notation eine Rolle spielt, wenn  – wie in den graphischen Partituren von Earle Brown oder Roman Haubenstock-Ramati – Notationselemente nicht- konventionell geordnet bzw. mit weiteren Graphik- oder Bildelementen verbunden werden (»Partiturcollage«, Fricke 1995, 939). Die gebräuchlichste Art der musikalischen Collage ist die Integration präexistenter Materialien (Musik, Sprache, zugespielte Klänge) in eine musikalische Textur. Selbst bei der eher seltenen (ausschließlichen oder überwiegenden) Zusammenfügung eines Musikstücks aus originären Materialschichten disparaten Charakters verweisen die einzelnen Elemente – wie in Ives ’ The Unanswered Question (1908/30–35) das choralartige Klangkontinuum der Streicher, die Soli der Trompete und die zunehmend erregten Holzbläsereinwürfe – auf bestimmte musikalische oder satztechnische Topoi. Gleichfalls bei Ives findet sich häufig die Integration unveränderter oder paraphrasierter Melodien aus diversen Zusammenhängen, etwa CollegeLieder (sog. »stunts«, vgl. Fenner 2004) im scherzoähnlichen TSIAJ-Satz des Piano Trio (1909–10/14–15). In selteneren Fällen werden Collagen zudem ausschließlich aus präexistenten Materialien ohne Hinzufügung eigenen Materials gefertigt. So beruhen Bernd Alois Zimmermanns »Ballet noir« Musique pour les soupers du Roi Ubu (1966) auf der Suite Giostra Genovese  – Alte Tänze verschiedener Meister für kleines Orchester (1962, Bearbeitung von Tänzen des 16. und 17. Jh.s), in die eine Reihe weiterer Zitate von Johann Sebastian Bach bis Karlheinz Stockhausen eingestreut sind. Die Musik zu Mauricio Kagels Film Ludwig van (1969–70) wiederum ist vollständig aus verfremdend instrumentierten Beethoven-Fragmenten zusammengefügt (Kagel 1970). An solche Konzeptionen anknüpfend wird in jüngerer Zeit die Frage der Autorschaft durch radikalisierte Formen der Collage zugespitzt ironisiert, etwa in Peter Ablingers elektronischer Komposition Weiss / Weisslich 22 (1992–96), in der die zu je 40 Sekunden komprimierten sinfonischen Gesamtwerke von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler in unterschiedlich eingefärbtem Rauschen resultiert, oder in Johannes Kreidlers 33-sekündigem Soundfile product placements (2008), das 70 200 »Fremdzitate« enthält. 3. Text-Musik-Collagen Steht bei den zuletzt genannten Ansätzen eine aus den frühen Avantgardebewegungen übernommene ikonoklastische und ironisierende Funktion der Collagetechniken im Vordergrund, so nimmt die musikalische Collage in einigen Werken der 1960er Jahre den Charakter einer universalistischen Zusammenschau an. Beispielsweise basiert der dritte Satz aus Luciano Berios Sinfonia (1968–69) vollständig auf dem Scherzo aus Mahlers Zweiter Sinfonie, in das einerseits zahlreiche stilistisch heterogene Zitate (von Bach bis Vinko Globokar) mit variierender 211 Quellengenauigkeit sowie andererseits gesungene und gesprochene Textfragmente (u. a. von Claude Lévi-Strauss, James Joyce, Samuel Beckett, politische Parolen und Phoneme) eingewoben sind (Hicks 1981/82; Osmond-Smith 1985). Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter (1967–69), verstanden als »Lingual« im Sinne einer Synthese aus Oratorium, Hörspiel und Sprachkomposition, erweitert das Collageprinzip zur umfassenden Auseinandersetzung mit der »geistige(n), kulturelle(n), geschichtliche(n) und sprachliche(n) Situation [Europas] […] von 1920–1970« (Zimmermann 1969/74, 116). Texte Sergej Jessenins und Wladimir Majakowskijs werden mit Zitaten und Dokumenten der Zeitgeschichte (Alexander Dubček, Mao Zedong, Imre Nagy, Hitler, Stalin, Churchill u. a.) sowie einer großen Breite musikalischer Materialien unterschiedlicher musikhistorischer Provenienz und Wiedererkennbarkeitsgrade angeordnet, wobei ein zentraler Aspekt der durch die Collage ins Zentrum gerückte historische »Zeitsprung« darstellt (Hiekel 1995, 119–130). Daneben gibt es zahlreiche weitere Beispiele für Kompositionen, die sich auf Collagen aus Texten unterschiedlicher Provenienz stützen und diese Heterogenität auch auf die musikalische Ebene bzw. dramaturgische Anlage transferieren. So basiert die Textschicht von Luigi Nonos szenischer Aktion Intolleranza 1960 (1960–61) auf Librettoentwürfen von Angelo Maria Ripellino, die der Komponist unter Rückgriff auf zahlreiche literarische und dokumentarische Texte ergänzte, was sich auf musikalischer und dramaturgischer Seite in einer eher losen Aneinanderreihung von Szenen spiegelt (De Benedictis 2012). Weitaus konsequenter wirkt sich die von Nono erstellte Textcollage zu Al gran sole carico d ’ amore (1972–74/77) auf die musikalische Formgebung aus, da die Kompilation verschiedenartiger Quellen zu revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jh.s hier eine vollständige Auflösung des narrativen szenischen Gefüges nach sich zieht. 4. Intermodulation und Polystilistik Als Sonderfall der Collage erweist sich das von Karlheinz Stockhausen mit dem Begriff »Intermodulation« bezeichnete und erstmals in der Telemusik (1966) und den Hymnen (1966–67) entwickelte Verfahren einer Verbindung unterschiedlicher musikalischer Traditionen oder Stilistiken durch Wechseln »von einem musikalischen Ereignis in ein anderes« (Stockhausen 1968/71, 80) oder durch »Modulation« eines Ereignisses mit bestimmten Kennzeichen eines anderen (Hünermann 2015). Ziel dieses in der Folge auch von Johannes Fritsch übernommenen Verfahrens, das Stockhausen dezidiert vom Begriff »Collage« abzugrenzen versuchte (Stockhausen 1966/69/71, 76; Utz 2002, 144–147), ist nicht die Nebeneinanderstellung disparater Collage / Montage Elemente, sondern deren kompositorische Verknüpfung durch gegenseitige Beeinflussung, wobei zwar die subjektiven Eigenheiten und musikalischen Wechselwirkungen der gewählten Materialien bestehen bleiben, zugleich aber auch ein neues Drittes im Sinne musikalischer Intertextualität entsteht (Fritsch 1975; Ä Analyse, 1.3). Auch der mit dem Schaffen Alfred Schnittkes verbundene Begriff der Ä »Polystilistik« lässt sich als Sonderfall der Collage verstehen: Er bezeichnet das von Schnittke seit den späten 1960er Jahren gepflegte Verfahren, in der Musik Tonfälle, Stile und Zitate sowohl aus der Kunst- wie auch aus der Popularmusik miteinander zu vermischen (vgl. etwa Dritte Sinfonie, 1981; Drittes Streichquartett, 1983). Kritische Einwände, wonach der Komponist mit einer Art Montagetechnik arbeite und die Divergenz der Bestandteile dabei nicht verschleiere, sodass »die Stilzitate einander fremd gegenüber« stünden (Kawohl 2000, 142), sind inzwischen der Erkenntnis gewichen, dass Schnittke mit einem hochkomplexen, auf bestimmen Intervallkonfigurationen basierenden System von Bezügen arbeitete, die »auf teilweise noch untereinander vernetzte Bezugspunkte in der Musikgeschichte, der Gattungsgeschichte und […] dem eigenen Œuvre« (Schick 2002, 257) verweisen. Ä Analyse, 1.3; Bearbeitung; Kompositionstechniken; Postmoderne Budde, Elmar: Zitat, Collage, Montage, in: Die Musik der sechziger Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 12), hrsg. v. Rudolf Stephan, Mainz 1972, 26–38 „ Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. 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Jh. selbstverständlich war, gehörten im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jh.s herausragende instrumentale Fähigkeiten immer weniger zur gängigen kompositorischen Expertise. Nach 1945 beginnt sich die Situation noch einmal grundlegend zu wandeln. Zunehmend treten neue Künstlertypen auf, die erneut Komposition mit Formen der Aufführung verbinden, wobei sich die Motive dafür vervielfältigen und jeweils im Rahmen des ästhetischen Gesamtkonzepts der Künstler zu verstehen sind. Der Ansatz des Komponisten, Posaunisten und Improvisators Vinko Globokar (*1934) etwa steht für die Tendenz, neue Spiel- und Körpertechniken in Komposition und Instrumentalspiel einzuführen (Beck 2012; Webb 2007). Dabei unterzieht er traditionelle Spielkonventio- nen wie etwa die Disziplinierung des Körpers der Instrumentalisten im Betrieb der Kunstmusik einer kritischen Reflexion, exemplarisch in ?Corporel für einen Schlagzeuger (1985), in dem der Ä Körper des Instrumentalisten zugleich als Instrument fungiert. Der Kontrabassist und Komponist Stefano Scodanibbio (1956–2012) entwickelte seine Kompositionen dagegen vorwiegend, um neue Klangtechniken seines Instruments auszuloten, z. B. in Sei Studi für Solo-Kontrabass (1981–83). Auch der Komponist Robin Hoffmann (*1970) tritt als Interpret eigener Werke auf, in denen er mit dem Körper oder ungewöhnlichen Klangerzeugern arbeitet (An-Sprache für Bodypercussion, 2000, Birkhahn-Studie für Birkhahn-Locker, 2005). Dabei versteht er die eigene Interpretation nur als eine mögliche Realisationsform und lädt andere Interpreten zu neuen Deutungen der Stücke ein. Eine weitere Entwicklung des Composer-Performer betrifft den Einbezug medientechnischer Möglichkeiten. Zu den frühen Arbeiten gehört Violectra für Viola d ’ amore und Synthesizer von Johannes Fritsch (1941–2010). Der Uraufführung dieser kontrollierten Improvisation auf einem sechssaitigen Instrument am 21. 5. 1971 folgten zahlreiche weitere Darbietungen auf der ganzen Welt. Auch der Komponist und Organist Wolfgang Mitterer (*1958) weitet seine experimentelle Instrumentalpraxis auf vielfältige technische Settings wie z. B. Konzert-Installationen aus. David Tudor, der in den 1950er Jahren als Pianist zeitgenössischer Musik berühmt wurde, kommt in diesem Feld insofern eine Sonderrolle zu, als er sich im Laufe der 1960er Jahre verstärkt der (elektroakustischen) Komposition zuwandte – ausgehend von seiner engen Zusammenarbeit mit John Cage, während der er zunehmend ein Selbstverständnis als Composer-Performer ausbildete (Pritchett 2004). Eine Variante eines medientechnisch gestützten Composer-Performer-Konzepts vertrat zudem Giacinto Scelsi in einem komplexen Kompositionsprozess (Colangelo 1996): Er hielt von ihm selbst zunächst auf dem Klavier, später auf der Ondiola improvisierte Stücke auf Reproduktionsmedien seiner Zeit, wie z. B. Tonband, fest, bearbeitete diese Aufnahmen im Nachhinein und beauftragte für ihre Übertragung in Partitur schließlich Komponisten-Kollegen (Jaecker 2014). Bei Scelsi stand eine spirituell motivierte Hinwendung zur Klangerfahrung im Zentrum, eine Tendenz, die viele Composer-Performer teilen, die sich als Übermittler einer höheren, apersonalen Botschaft begreifen, wie etwa der amerikanische Komponist La Monte Young (*1935) bei der Ausführung seiner Improvisationskomposition The Well-Tuned Piano (ab 1964; Gann 1993). Die amerikanische Komponistin und Akkordeonistin Pauline Oliveros (*1932) versucht mittels ihres Instruments und in Ensem- 213 bles vergleichbare als »deep listening« (Oliveros 2010) charakterisierte meditative Zustände herzustellen, wie sie in ihren Sonic Meditations (1971–80) oder den Deep Listening Pieces (1971–90) als Gruppenimprovisationen inszeniert werden. Auch die repetitiven Stile von Steve Reich und Philip Glass wurden in enger Wechselwirkung mit instrumentaler Praxis in den selbst gegründeten Formationen (und unter aktiver Beteiligung der Komponisten bei der Ausführung) entwickelt (Steve Reich and Musicians, 1966; Philip Glass Ensemble, 1968; Ä Minimalismus / Minimal Music). Ebenfalls in den 1960er Jahren wurde das Stockhausen-Ensemble von Karlheinz Stockhausen mit Péter Eötvös, Johannes Fritsch, Aloys Kontarsky, Rolf Gehlhaar u. a. gegründet, um die Werke Stockhausens aufzuführen. Insgesamt haben sich in den 1960er Jahren verstärkt Komponisten zu Ensembles zusammengeschlossen, oft mit einem Schwerpunkt auf Ä Improvisation. Dazu gehören die 1966–1976 aktive, live-elektronische Formation Sonic Arts Union (Robert Ashley, David Behrmann, Alvin Lucier, Gordon Mumma) sowie die bis heute bestehenden Composers Inside Electronics (1973 gegründet von David Tudor, Nicolas Collins, John Driscoll, Bill Viola u. a.), Musica Elettronica Viva (MEV, 1966 gegründet von Frederic Rzewski, Richard Teitelbaum, Alvin Curran u. a.; vgl. Rzewski 2007), die Londoner AMM-Gruppe (1965 gegründet von Cornelius Cardew, Keith Rowe, Eddie Prévost und John Tilbury; Piekut 2014) sowie die von 1964–1975 bestehende Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza um Franco Evangelisti, Ennio Morricone u. a. (Wagner 2004). Eine weitere Spielart des Composer-Performers betrifft Auftritte von Komponisten, die keine besondere Expertise an einem Instrument voraussetzen. John Cage wirkte zwar in seiner Frühzeit auch als Pianist (etwa bei den Donaueschinger Musiktagen 1954 gemeinsam mit David Tudor), partizipierte später aber an Aufführungen seiner Werke und Performances meist ohne sich im klassischen Sinn als Interpret an einem Instrument zu betätigen: in Form von Lesungen, Schreibmaschine schreiben oder durch die Projektion von Filmen. Zu den Klassikern der »Composer-Performance« gehört The Wolfman (1964) des amerikanischen Komponisten Robert Ashley (1930– 2014), in welcher Ashley mit maximaler Verstärkung gegen ein ohrenbetäubendes Dröhnen anschrie. Auch der Komponist und Klangkünstler Alvin Lucier (*1931) agiert als Performer, so z. B. in Music for Solo Performer für verstärkte Hirnwellen und Perkussion (1965), in dem mittels EEG gemessene und auf Lautsprecher übertragene Hirnströme ein Schlagzeuginstrumentarium in Gang setzen. Die Klangkünstlerin Kirsten Reese (*1968) hantiert in Kugelspiele (2008/09) innerhalb eines komplexen techni- Composer-Performer schen Settings mit Geduldspielen, die als Grundlage liveelektronischer Weiterverarbeitung dienen. Die Arbeiten der Irin Jennifer Walshe (*1971) und der Amerikanerin Erin Gee (*1974) tendieren zur Ä Performance Art, wobei beide Künstlerinnen als Komponistinnen und Vokalistinnen häufig ihre Ä Stimme einsetzen. Neue technische Möglichkeiten der Klangerzeugung präsentieren Künstlerinnen wie Laetitia Sonami (*1957), die ihre Performances mit einem von Michel Waisvisz am STEIM in Amsterdam entwickelten elektronischen Handschuh gestaltet, dessen Druck-, Bewegungs- und Raumsensoren musikalisch über Sampler, ein MIDI-Mischpult und Synthesizer auf ihre Bewegungsgesten reagieren (Steins 2012). Die Sängerin und Komponistin Julia Mihály (*1984) präsentiert ihre Stimme in Laptop-Performances. Insgesamt stellen »Laptop-Composer-Performer« wie Sachiko M (*1973) oder Bernhard Gál (*1971) eine seit den 1990er Jahren auftretende weitere Spielart dar (Ä Klangkunst). LiveCoding-Ensembles wie z. B. Benoît and the Mandelbrots bewegen sich an der Grenze von medientechnisch induzierter Live-Komposition und Improvisation und heben damit tendenziell die Unterscheidung Composer / Performer auf. Ä Themen-Beitrag 6; Interpretation; Performance; Schaffensprozess Barthelmes, Barbara: Der Komponist als Ausführender und der Interpret als Komponist. Zur Ästhetik der Musikperformance, in: Improvisation – Performance – Szene, hrsg. v. Barbara Barthelmes und Johannes Fritsch, Mainz 1997, 9–18 „ Beal, Amy C.: A Place to Ply Their Wares with Dignity. American Composer-Performers in West Germany, 1972, in: The Musical Quarterly 86/2 (2002), 329–348 „ Beck, Sabine: Vinko Globokar. 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In nicht allzu scharfer Abgrenzung voneinander und bei Einrechnung von Überschneidungen lassen sich drei Gruppen von Dirigenten Neuer Musik ausmachen: (1) Dirigenten, die sich, oft beeinflusst von den Ideen der »Neuen Sachlichkeit« oder der Wiener Schule bereits vor 1945 in besonderem Maße der zeitgenössischen Musik widmeten, diese propagierten und so zu wichtigen Impulsgebern wurden. (2) Dirigenten, die nach 1945 entweder als Repertoiredirigenten des Opern- und Konzertbetriebs auch umfassend Neue Musik in ihre Programme aufnahmen oder vorrangig als Dirigenten von Spezialensembles zeitgenössischer Musik auch im Repertoirebetrieb tätig waren und sind. (3) Dirigenten, die sich vorrangig als Komponisten und / oder Instrumentalisten verstehen, jedoch immer wieder auch als Dirigenten in Erscheinung treten. 1. Vor 1945 Die Besonderheit des Dirigenten Neuer Musik seit 1945 wird erst vor dem Hintergrund der ästhetischen Umbrüche seit den 1920er Jahren versteh- und beschreibbar. Durch die Etablierung der Interpretationsauffassung einer »Neuen Sachlichkeit«, die als polarer Gegensatz zur herrschenden spätromantischen Interpretationsästhetik verstanden wurde, geraten Selbstverständnis und Verhaltenskonventionen des Dirigenten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s in Diskussion (Giese 2006, 525 f.). Der romantischen Mythologisierung des Dirigenten wird nun ein neues Anforderungsprofil als Gegengewicht und Kritik zur Seite gestellt. Anstatt sich in Interpretationen wie bisher auf »Temperament«, »geniale Intuition« oder »magische Inspiration« zurückzuziehen, wird die Forderung nach der »Beherrschung des Handwerklichen« (Szendrei 1932/52, 84), einer klareren Nachzeichnung formaler Zusammenhänge sowie einer größeren Treue zum Text (Weissmann 1925, 193 f.) erhoben. Ziel wird, »das Werk in seiner Reinheit« (ebd., 108) zur Darstellung zu bringen und anstelle expressiven Effekt-Dirigierens die Vorschriften der Partitur so genau wie möglich zu befolgen, »um das Objektive des Kunstwerks voll in Erscheinung treten zu lassen, der Objektivierung und Versachlichung zu dienen« (Schiedermair 1930, 309). Dieser reformorientierte Ansatz gewann in der ersten Hälfte des 20. Jh.s an Einfluss und bewirkte Umdeutungstendenzen für das Dirigieren im Allgemeinen. Bedeutende, die Generation nach dem Zweiten Weltkrieg prägende Vertreter dieses Interpretationsansatzes waren Hermann Scherchen (1891–1966), Otto Klemperer (1885–1973), Hans Rosbaud (1895–1962), Ernest Bour (1913–2001) und René Leibowitz (1913–72). 2. Nach 1945: Repertoiredirigenten und Dirigenten von Spezialensembles Nach Verbot, Verfolgung und Ächtung jeglicher avancierten Kultur in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Barbarei, dem erzwungenen Exil beinahe aller wesentlichen Komponisten Neuer Musik und der ideologischen Zurichtung der verbliebenen Musik stellte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage, wie die Ästhetik einer neuen zeitgemäßen Musik beschaffen sein könnte. Man suchte die Spuren der jüngsten Vergangenheit zu tilgen, um über sie hinweg bei einer unbelasteten Vergangenheit anzuknüpfen (Dibelius 1998, 23–25). Als Ort der Diskussion etablierten sich innerhalb weniger Jahre nach ihrer Gründung 1946 die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Von Anbeginn wurden kompositorische Fragen im Kontext ihrer Aufführung und Interpretation behandelt und präsentiert. Neben Instrumentalisten gaben auch Dirigenten Interpretationskurse und traten sowohl als Lehrer wie als Ausführende in Konzerten in Erscheinung. Durch diese doppelte Funktion strahlten ihre interpretationsästhetischen Positionen in beide Bereiche aus (Danuser 1997, 122–134). Die zentralen Dirigentenpersönlichkeiten dieser Anfangszeit waren Hermann Scherchen, René Leibowitz und Bruno Maderna (1920–73), sowie einige Jahre später Hans Rosbaud. Für die Zeit nach 1945 spielten sie als Mittlerfiguren zwischen erster und zweiter Jahrhunderthälfte eine bedeutsame Rolle. Insbesondere in der Person Scherchens tradierten sich zwei Interpretationsansätze, die in der Weimarer Zeit zum Teil sich ergänzend, aber auch kontrastierend nebeneinander existierten. Einerseits propagiert Scherchen das Ideal von Neoklassizismus bzw. Neuer Sachlichkeit nach Verdeutlichung der Struktur, technischer Präzision und 216 Dirigieren objektivierender Darstellung, fordert aber andererseits auch – wie im Umfeld der Wiener Schule beansprucht – die »expressiven und formgestaltenden Kräfte« (Scherchen 1929/81, 25) an Musiker und Publikum zu vermitteln. Für die Dirigentengeneration nach 1945 wurde das Ineinandergreifen von analytischer Auseinandersetzung mit dem Notentext und  – sofern stilistisch adäquat  – ausdrucksbetontem Interpretieren weitgehend selbstverständlich. Je nach Interpretationsauffassung des Dirigenten und den Anforderungen der zu dirigierenden Literatur lassen sich unterschiedliche Durchdringungen von Struktur- und Ausdrucksbetonung beobachten. Da subjektive und objektive Momente des Dirigierens komplementär aufeinander bezogen sind, stellt sich die Frage nach dem jeweiligen Mischungsverhältnis beider Komponenten bei jedem Dirigenten neu und hebt sie voneinander ab. Zu jenen Dirigenten, die sich vor dem Hintergrund ihrer Chefpositionen bei Orchestern um das dialektische Ineinandergreifen von Tradition und Moderne bemühen, zählen Michael Gielen (*1927), Edo de Waart (*1941), Lothar Zagrosek (*1942), Sylvain Cambreling (*1948), Kent Nagano (*1951), Riccardo Chailly (*1953), Ingo Metzmacher (*1957), Esa-Pekka Salonen (*1958), Michael Boder (*1958), Ulf Schirmer (*1959), Jonathan Nott (*1962) und Stefan Asbury (*1966). Jene Dirigenten, die sich vorrangig der zeitgenössischen Literatur widmen, daneben aber auch in unterschiedlichem Umfang Produktionen im Repertoirebetrieb betreuen, haben ihre musikalische Herkunft häufig im Komponieren. Dementsprechend erachteten immer wieder zeitgenössische Komponisten die Gründung eigener Ensembles für die adäquate Realisierung ihrer Werke als sinnvoll und notwendig und wurden damit deren erste Dirigenten. So etwa formierte Pierre Boulez (1925–2016) das Ensemble intercontemporain, Friedrich Cerha (*1926) gemeinsam mit Kurt Schwertsik (*1935) die Reihe, Reinbert de Leeuw (*1938) das Schönberg Ensemble, Jürg Wyttenbach (*1935), Heinz Holliger (*1939) und Rudolf Kelterborn (*1931) das Basler Musik Forum, Beat Furrer (*1954) das Klangforum Wien, Johannes Kalitzke (*1959) mit Partnern die musikFabrik, Brad Lubman (*1962) das amerikanische Ensemble Signal. Um diese Ensembles gruppierten sich in der Folge weitere Dirigenten – ebenfalls häufig mit eigener Komponisten-Biographie –, die sich vorrangig der Aufführung zeitgenössischer Musik verschrieben und immer wieder von »ihren« Ensembles zu Projekten eingeladen werden: Hans Zender (*1936), Péter Eötvös (*1944), Oliver Knussen (*1952), Emilio Pomàrico (*1954), Peter Rundel (*1958), David Robertson (*1958), Sian Edwards (*1959), Peter Hirsch (*1956) und Susanna Mälkki (*1969). Ganz allgemein kann bei dieser Gruppe gegenüber jener der Repertoiredirigenten eine verstärkte Tendenz der Abkehr vom Ausdrucksideal der Expressionsästhetik der Wiener Schule hin zu einem strukturalistischen Ideal beobachtet werden. 3. Nach 1945: Komponisten und Instrumentalisten als Dirigenten Ein besonderes Merkmal der Darmstädter Ferienkurse war und ist die gleichzeitige Anwesenheit von Komponisten und Interpreten für gemeinsame Arbeitsphasen. Nachdem sich seit etwa Mitte des 19. Jh.s. eine Kultur der Ä Interpretation mehr und mehr als eigenständiger Bereich des Musiklebens etablierte, fügte sich auf dem Gebiet der Neuen Musik wieder zusammen, was einst eine Einheit bildete, und beförderte so eine Art auktorialer Aufführungspraxis. Die Komponisten waren unmittelbar in die Realisierung ihrer Werke eingebunden oder wirkten häufig selbst als Instrumentalisten oder Dirigenten mit. Dies durchaus mit der Absicht, derart die Kontrolle über die Interpretation dieser Werke zu behalten. Manche erweiterten ihren dirigentischen Wirkungsradius auf zeitgenössisches Repertoire im Allgemeinen oder überhaupt auf die gesamte Orchesterliteratur, wobei gelegentlich Eigen- und Fremdwahrnehmung über den eigentlichen Schwerpunkt der künstlerischen Tätigkeit divergierten. Bruno Maderna ist ein prominentes Beispiel für einen in der Öffentlichkeit vorwiegend als Dirigent wahrgenommenen Künstler, der sich selbst hingegen vorrangig als Komponist begriff. Überlappungen zur vorigen Gruppe, insbesondere durch veränderte Schwerpunktsetzungen in wechselnden Lebensphasen, sind bei folgenden Komponisten-Dirigenten also einzuräumen: René Leibowitz, Pierre Boulez, Hans Werner Henze (1926–2012), Friedrich Cerha, Jürg Wyttenbach, Heinz Holliger, Hans Zender, HK Gruber (*1943), Peter Ruzicka (*1948), Gerd Kühr (*1952), Beat Furrer, George Benjamin (*1960), Brice Pauset (*1965), Matthias Pintscher (*1971). Ä Interpretation; Orchester Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, Frankfurt a. M. 2001 „ Blumröder, Christoph von: Der Begriff »neue Musik« im 20. Jh., München 1981 „ Danuser, Hermann: Interpretation. Einleitung, in: Musikalische Interpretation (NHMw 11), hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 1992, 1–72 „ ders.: VII. Musikalische Interpretation, in: Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 1946–1966, Bd. 2, hrsg. v. Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg 1997, 119–187 „ Dibelius, Ulrich: Moderne Musik nach 1945, München 1998 „ Giese, Detlef: »Espressivo« versus »(Neue) Sachlichkeit«. Studien zu Ästhetik und Geschichte der musikalischen Interpretation, Berlin 2006 „ Gülke, Peter: Wandlungen des Dirigentenbilds, Literatur 217 in: Auftakte  – Nachspiele. Studien zur musikalischen Interpretation, Stuttgart 2006 „ Hattinger, Wolfgang: Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten, Kassel 2013 „ Kolisch, Rudolf: Zur Theorie der Aufführung. Ein Gespräch mit Berthold Türcke (Musik-Konzepte 29/30), München 1983 „ Schiedermair, Ludwig: Die Deutsche Oper. Grundzüge ihres Werdens und Wesens, Leipzig 1930 „ Scherchen, Hermann: Lehrbuch des Dirigierens [1929], Mainz 1981 „ Szendrei, Alfred: Dirigierkunde [1932], Leipzig 21952 „ Weissmann, Adolf: Der Dirigent im 20. Jh., Berlin 1925 „ Zender, Hans: Interpretation – Text – Dodekaphonie Komposition, in: Neue Musik und Interpretation (Veröffentlichungen der Instituts für Neue Musik und Musikerziehung 35), hrsg. v. Hermann Danuser und Siegfried Mauser, Mainz 1994, 31–42 Wolfgang Hattinger Dodekaphonie Ä Zwölftontechnik Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik E Elektroakustische Musik Ä ThemenBeitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Inhalt: 1. Elektroakustische Musik  „ 2. Musique concrète  „ 3. Tape Music  „ 4. Elektronische Musik  „ 5. Klangsynthese / Computermusik 1  „ 6. Live-Elektronik  „ 7. Algorithmische Komposition / Computermusik 2  „ 7.1. Modellierung existierender Kompositionsmodelle  „ 7.2 Modellierung eigener, neuer Kompositionsmodelle  „ 7.3 Verwendung von Algorithmen aus außermusikalischen Disziplinen  „ 8. Informationstheorie und Kybernetik Begriffe wie »Elektroakustische Musik«, »Elektronische Musik«, »Live-Elektronik«, »Computermusik« oder »Algorithmische Komposition« hatten zur Zeit ihrer Entstehung eine spezifische Bedeutung und in der Folge auch eine eigene Geschichte. Daneben gab es von Seiten der Ä Musikwissenschaft unterschiedliche Versuche von Definitionen und historischer Einordnung, die sich aber letztlich bis heute nicht zu einer konsensualen Geschichte von Musik mit elektronischen Medien zusammengeschlossen haben. In den Anfängen seit den späten 1940er Jahren galt bereits die Möglichkeit, Musik für Lautsprecher generieren zu können, als revolutionär: Sie führte zu einem völlig neuen Klang-Denken und forderte die jüngere Komponistengeneration heraus. Pierre Boulez schrieb hierzu 1955: »In der bisherigen Musikgeschichte hat es wohl kaum eine radikalere Entwicklung gegeben. Der Musiker sieht sich vor die gänzlich ungewohnte Situation gestellt, den Klang selbst erschaffen zu müssen« (1955/72, 77). Wir sind nun im 21. Jh. angekommen. Die Anwendung des Computers als Notizbuch, als Komponierwerkzeug – sei es zur Klanggenerierung, zur algorithmischen Komposition, zur interaktiven Echtzeitimprovisation etc. – ist heute selbstverständlich, die Unterscheidung zwischen analog und digital weitgehend obsolet. Das Musikhören 218 über Lautsprecher und Kopfhörer ist gängige Alltagspraxis. Die eingangs erwähnten Termini spielen im heutigen Diskurs kaum mehr eine Rolle oder werden zumindest kaum noch hinterfragt. Dennoch hat sich ein regional bzw. national differenzierter Sprachgebrauch etabliert; so spricht man im frankophonen Raum in der Regel von »musique électroacoustique«, während im anglophonen und deutschsprachigen Raum überwiegend »eletronic music« bzw. »elektronische Musik« in Verwendung sind, auch als Sammelbegriffe für sämtliche historische und aktuelle Genres oder Formen inkl. populärer Musikrichtungen (Ä Themen-Beitrag 5; Elena Ungeheuer behandelt hier auch wichtige Vorläufer, u. a. frühe elektronische und elektromechanische Musikinstrumente). 1. Elektroakustische Musik Der Terminus »Elektroakustische Musik« kann aus heutiger Sicht auch als Überbegriff für die Bezeichnungen musique concrète (2.), tape music (3.), Elektronische Musik (4.), und Live-Elektronik (6.) angesehen werden (Supper 1995). Die Definitionen dieser einzelnen Disziplinen und die Abgrenzungen unter ihnen waren bzw. sind allerdings historischen Veränderungen unterworfen. Der Begriff »elektroakustische Musik« bzw. musique électroacoustique entstand in den 1950er Jahren in Frankreich. Elektroakustische Musik ist im Gegensatz zur instrumentalen und vokalen Musik auf eine Lautsprecherwiedergabe angewiesen, die durch den Zusatz elektro-akustisch besonders hervorgehoben wird. Vereinzelt findet man daher auch den pragmatischen Terminus Lautsprechermusik; vor allem im frankophonen Raum wird in der Tradition Pierre Schaeffers auch von »akusmatischer Musik« bzw. musique acousmatique gesprochen (vgl. 2.). Bei der elektroakustischen Wiedergabe von instrumentaler und vokaler Musik, bspw. von einer CD, haben Lautsprecher die Funktion eines Fotoalbums: Sie vermitteln ein mehr oder weniger gelungenes Abbild einer akustischen Realität, ja sogar zunehmend den Versuch einer Simulation dieser Realität. Bei der elektroakustischen Musik dagegen wird der Lautsprecher zum eigentlichen »Instrument« einer originär für die Lautsprecherwiedergabe konzipierten Klangkomposition (Ä Themen-Beitrag 3). Neu an der elektroakustischen Musik ist daneben die Tatsache, dass sie – mit Ausnahme der Live-Elektronik (vgl. 6.) – interpretenlos ist. Auch gibt es keine Partitur mehr im herkömmlichem Sinne, die Musik wird direkt auf einen Tonträger fixiert. Da die Technologie der Tonträger sich ständig wandelt, wird heute statt von Tonbandmusik auch von fixed media music gesprochen. 219 Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik 2. Musique concrète Ende der 1940er Jahre begründete Pierre Schaeffer (1910– 95) in Paris die musique concrète (Schaeffer 1952; vgl. Frisius 1997). »Konkret« war ein Klangmaterial für Schaeffer dann, wenn es der akustischen Realität entnommen, d. h. über eine Mikrophonaufnahme gewonnen wurde, bevor die eigentliche Realisation einer Komposition begann. »Konkret« bedeutete für Schaeffer daneben auch, dass sich die aufgenommenen Klänge der Verschriftlichung entzogen, d. h. keine dem Klangobjekt entsprechende Partitur angefertigt werden konnte, sondern das Klangmaterial lediglich auf einem Tonträger existierte. Schaeffer ging von der Vorstellung aus, dass elektroakustisch aufgenommene Klänge und Ä Geräusche, losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, bei der Reproduktion eine eigene »Sprache« bekommen. Schaeffer unterschied daher zwischen dem Klangkörper (corps sonore), der den Klang erzeugt, und dem resultierenden Klangobjekt (objet sonore) (Schaeffer 1966, 52 f., 95–98, 261–293). Klangobjekte können für Schaeffer nur durch ein »reduziertes« bzw. »akusmatisches Hören« (écoute reduite; écoute acousmatique) angemessen erfasst werden, d. h. durch ein Hören, das von Quelle, Ursache und alltäglicher Funktion des Klangs absieht und sich dem Klangobjekt »an sich« zuwendet (ebd., 91–98, 152–156). 1942 hatte Schaeffer eine Forschungsstelle für radiophone Kunst gegründet, das Studio d’Essai (ab 1946 Club d’Essai). 1944 wurde Schaeffers Hörspiel La coquille à planètes (1942–44) gesendet, in dem Schaeffer Text, Klang und Musik mit gleichem Gewicht behandelte. Am 5. Oktober 1948 sendete RTF (Radiodiffusion Télévision Française) in Paris das erste »Concert des bruits«. Die fünf Programmpunkte waren Schaeffers Cinq études de bruits (1948) mit den Titeln Etude aux chemins de fer, Etude aux tourniquets, Etude violette, Etude noire und Etude pathétique (Schaeffer 1952/2012, 22 f.). Die vorwiegend repetitive Anordnung der Geräusche und Klänge in der frühen musique concrète war bedingt durch die technischen Verfahrensweisen. Tonbandgeräte waren zu dieser Zeit noch nicht ausgereift; Schaeffer arbeitete daher auf Schallplatten mit Endlosrillen, auf die er sein Klangmaterial direkt schnitt. Über eine spezielle Klaviatur konnte er mehrere Schallplatten gleichzeitig »spielen«. Wichtigstes Prinzip bei Schaeffer war es – auch nach Einbezug des Magnettonbandgeräts –, Klangveränderungen lediglich durch unterschiedliche (Band-) Geschwindigkeiten (Transposition), Schneiden des Magnettonbandes und das rückwärtige Abspielen desselben zu erreichen. 1949–50 entstand zusammen mit Pierre Henry die Symphonie pour un Homme Seul, nach der Maurice Béjart 1955 eine viel beachtete Choreographie erarbeitete. Ein weiteres Gemeinschaftswerk war das »spectacle lyrique« Orphée 53 – opéra concret für drei Stimmen, Cembalo, Violine und Tonband (1953), bei dem es bei der Uraufführung in Donaueschingen vor dem Hintergrund einer mehrjährigen Polemik zwischen Vertretern der Kölner »Elektronischen Musik« und der Pariser musique concrète zum Skandal kam (Häusler 1996, 154–157; Blumröder 2011). 1951 gründete Schaeffer die Groupe de Recherche de Musique Concrète (GMRC). Zu der Gruppe gehörten 1952 Jean Barraqué, Pierre Boulez, Yvette Grimaut, André Hodeir, Olivier Messiaen und Michel Philippot. Karlheinz Stockhausen realisierte sein erstes elektroakustisches Stück in Schaeffers Studio (Etude, 1952), Edgard Varèse die erste Fassung der Interpolationen (1953) zu Déserts für 14 Blasinstrumente, Klavier, Schlagzeug und Tonbandinterpolationen (1949–54) und Iannis Xenakis sein Werk Diamorphoses (1957). Auf der Pariser Tagung »Das erste Jahrzehnt der experimentellen Musik« im Jahr 1953 wandte sich Boulez gegen die musique concrète, u. a. da er als wichtigste Aufgabe des Komponisten die Erschaffung des Klangmaterials ansah, wohingegen er der musique concrète die »fehlende Lenkung im Vorausbestimmen der Klangmaterie« vorwarf (vgl. Boulez 1958/72, 273). Ständiger Mitarbeiter an Schaeffers Studio war Pierre Henry, der jedoch 1958 ein privates Studio eröffnete. Im selben Jahr reorganisierte Schaeffer das Studio als Groupe de Recherches Musicales de l’O.R.T.F. (GRM), deren langjähriger Leiter 1966 François Bayle wurde und das heute von Daniel Teruggi geleitet wird (Gottstein 2006). 3. Tape Music Mit dem Begriff tape music verbindet man die amerikanische Variante der frühen elektroakustischen Musik. 1948 experimentierten Louis und Bebe Barron in New York mit Magnettonbandgeräten: Basis waren das Vorwärts- und Rückwärtsspiel aufgenommener Instrumentalklänge, das Versetzten aufgenommener Teile durch Schneiden und Kleben etc. (Thompson 1985; Yuasa 1987). John Cage wurde 1951 auf ihre Arbeit aufmerksam und gründete die Gruppe Music for Magnetic Tape (bis 1953). Zu ihr gehörten neben den beiden Barrons Earle Brown, Morton Feldman, David Tudor und Christian Wolff. Sie arbeiteten zwei Jahre im Studio der Barrons. Das Ausgangsmaterial der Gruppe waren 600 verschiedene Tonbandaufnahmen, die in sechs Kategorien eingeteilt wurden: rein elektronische Klänge, manipulierte Klänge einschließlich Instrumentalklängen, Blasinstrumente einschließlich Gesang, Klänge der Stadt, Klänge des Landes und ruhige Klänge (Austin 2004/12). Neben Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik den Stücken der Barrons, Heavenly Menagerie (1951) und For an Electronic Nervous System No. 1 (1954), entstanden während dieser Zeit Cages Imaginary Landscape No. 5 für 42 beliebige Schallplatten (auf Tonband aufzunehmen) (1952), Williams Mix für acht Einspur- oder vier ZweispurTonbänder (1951–53) sowie Wolffs For Magnetic Tape (1953). Die Magnettonbandtechniken waren vergleichbar mit denen der musique concrète und der Kölner Elektronischen Musik, nicht jedoch der konzeptionelle Hintergrund. So basierten bspw. Cages Imaginary Landscape No. 5 und Williams Mix auf mithilfe des altchinesischen Orakelbuchs Yijing erstellten Zufallsoperationen (Pritchett 1993, 88–91; Ä Zufall). 1953 endete das Projekt. Brown und Feldman gingen an die Rangertone Studios in Newark NJ, wo Browns 4 Systems für Klavier(e) und / oder andere Instrumente und klangproduzierende Medien (1954) und Feldmans Intersection für achtspuriges Tonband (1953) entstanden. Cage arbeitete in verschiedenen privaten Studios in New York. Im Mailander Studio di Fonologia Musicale (1955 von Luciano Berio und Bruno Maderna gegründet) realisierte er im Februar 1959 dann seine graphische Partitur Fontana Mix (1958) als vierkanalige Tonbandfassung (Pritchett 1993, 132–137). Parallel zu Cages Gruppe arbeitete in New York auch Vladimir Ussachevsky mit Magnettonbandgeräten. Die ersten Experimente entstanden 1951 am Experimental Music Studio (später Tape Music Studio) der Columbia University, New York. Die Transposition eines aufgenommen Klanges und die gesteuerte Rückkopplung (feedback) stellten die anfänglichen Prinzipien der Arbeiten dar. Die ersten Tonband-Experimente wurden bei einem Universitäts-Konzert am 9. Mai 1952 präsentiert. Auf Initiative von Henry Cowell wurde daraufhin ein größeres Tonbandkonzert mit vier Kompositionen präsentiert: Sonic Contour von Ussachevsky und Invention in 12 Notes, Low Speed und Fantasy in Space von Otto Luening (Anon. 1971). Oliver Daniel prägte 1952 den Begriff tape music (ebd.). Bei einer Einführung zu einem Tonbandkonzert von Ussachevsky und Luening in New York im selben Jahr verwendete ihn Leopold Stokowski: »Tape music is music that is composed directly with sound instead of first being on paper and later made to sound. Just as the painter paints his picture directly with colours, so the musician composes his music directly with tone« (Stokowski 1952/68). Ab 1959 veränderte sich das Studio durch den RCA Sound Synthesizer, ein lochstreifengesteuertes Gerät. Das Studio erhielt den Namen Columbia-Princeton Electronic Music Center. Die Mitarbeiter am Studio waren neben Ussachevsky und Luening Milton Babbitt, Bülent Arel, Ma- 220 rio Davidovsky, Pril Smiley, Alice Shields, Peter Mauzey und James Seawright (Anon. 1971). 4. Elektronische Musik Elektronische Musik ist aus historischer Sicht synonym mit der Tonbandmusik der sog. Kölner Schule in den 1950er Jahren. Der Begriff wurde erstmalig 1949 von Werner Meyer-Eppler in einem Buchtitel verwendet (Meyer-Eppler 1949; vgl. Ungeheuer 1992). Der Begriff Elektronische Musik war in dieser Frühphase reserviert für elektronisch erzeugte Ä serielle Musik, es wurden damit also z. B. nicht jene elektronischen Klänge bezeichnet, die im Rundfunk für Hörspielmusiken etc. produziert wurden. Anfangs wurde postuliert, dass das Klangmaterial der Elektronischen Musik ausschließlich auf Grundlage von Sinustönen generiert werden sollte (Eimert 1955), also nicht von elektrischen Instrumenten erzeugt werden und kein »konkretes« Klangmaterial enthalten durfte. Für Herbert Eimert war »elektronische Musik nicht ›auch‹ Musik, sondern serielle Musik« (ebd., 13). Trotz aller Bemühungen konnte sich der Begriff Elektronische Musik im diesem spezifischen Sinn der Kölner Schule nicht durchsetzten. Der Begriff wird heute für jede Art elektronisch erzeugter Musik verwendet. Die Voraussetzungen für die Gründung eines Studios für elektronische Musik wurden im Jahr 1951 im NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk, später WDR) in Köln geschaffen. Die Studiogründung war Resultat einer Absichtserklärung, die am Tag der ersten NWDR-Nachtprogrammsendung mit Elektronischer Musik, am 18. 10. 1951, niedergeschrieben wurde (Morawska-Büngeler 1988, 8). Die Meinungen über die Datierung der Anfänge Elektronischer Musik gehen auseinander: Für Herbert Brün gibt es Elektronische Musik, seit es das Wort gibt (Gespräch mit dem Verfasser, Berlin 1993), für den WDR seit seiner Absichtserklärung (der WDR hielt 2001 Vorträge unter dem Motto 50 Jahre Elektronische Musik ab), für Karlheinz Stockhausen seit 1953 (Stockhausen 1953/63, 43). Im Frühjahr 1953 wurde nach den Vorstellungen von Werner Meyer-Eppler und dem damaligen Leiter der Mess- und Prüftechnik des NDWR, Fritz Enkel, das eigentliche Studio eingerichtet (Enkel 1954; MorawskaBüngeler 1988, 32 f.). Das Instrumentarium zur Klangerzeugung und -manipulation bestand, neben den üblichen Magnettonbandgeräten, aus einem Rauschgenerator, einem Schwebungssummer, einem Ringmodulator, zwei Hörspielverzerrern, einem Melochord und einem Monochord von Friedrich Trautwein. Die beiden letzteren wurden bald aus dem Studio entfernt. Die ersten kompositorischen Arbeiten von Robert Beyer und Eimert im Jahr 1952 hatten eher Versuchscharakter (Klangstudie I, II 221 Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik und III, Klang im unbegrenzten Raum, Ostinate Figuren und Rhythmen). Im Mai 1953 kam Karlheinz Stockhausen in das Kölner Studio. Die Möglichkeit der Sinustonerzeugung hatte Stockhausen zuvor in Paris bei Schaeffer erprobt. Ein Sinuston (Wellenform mit sinusförmigem Verlauf ) ist die einfachste Form einer Schallwelle und gilt gewissermaßen als »Atom« eines möglichen Klanges. Sie kann elektroakustisch nur näherungsweise erzeugt werden. Karel Goeyvaerts war bereits 1951 der Ansicht, dass in Zukunft das Komponieren von einem Sinuston ausgehen sollte (Sabbe 1994). In seiner Sonate für zwei Klaviere (1950–51) systematisierte Goeyvaerts neben den Ä Parametern Tonhöhe, Dauer und Intensität auch die Ä Klangfarbe. 1952 schrieb er nach demselben Prinzip die vermutlich erste Partitur für Sinustongemische: Compositie Nr. 4 med dode tonen (Komposition Nr. 4 mit leblosen Tönen) für Tonband (1952), die allerdings erst 1980 zusammen mit Herman Sabbe im IPEM (Instituut voor Psychoacustica en Elektronische Muziek) in Gent realisiert wurde. Die ersten Kompositionen mit Sinustönen am NDWR waren die Komposition 1953 Nr. 2, später bekannt als Studie I (1953) von Stockhausen und Nummer 5 met zuivere tonen (Nummer 5 mit reinen Tönen) für Tonband (1953), realisiert 1954 von Goeyvaerts (ebd.). Zu seiner Studie II (1954) veröffentlichte Stockhausen eine Partitur und machte damit den Kunstwerk-Anspruch an das neue Medium deutlich. In seinem fünfkanaligen Schlüsselwerk Gesang der Jünglinge (1955–56) entwickelte Stockhausen dann ein Kontinuum zwischen aufgenommenen Vokalklängen und synthetisch erzeugten Klängen, sodass der puristische ästhetische Ansatz der Jahre zuvor aufgegeben wurde. Neben Stockhausens Arbeiten entstanden in den 1950er Jahre weitere Schlüsselwerke der Elektronischen Musik u. a. von Gottfried Michael Koenig (Essay, 1957) und György Ligeti (Artikulation, 1958), wobei besonders für letzteren die Studioerfahrungen entscheidende Impulse für klangorientierte Orchestertexturen lieferten (Ligeti 1980/2007; Iverson 2010; Ä Orchester). Die Anschauung, den Sinuston als die kleinste Einheit, als das Atom eines musikalischen Klanges zu betrachten, hat ihre Wurzeln in der Fourieranalyse, die es erlaubt, jeden periodischen Schwingungsverlauf auf sinusförmige Schwingungen zurückzuführen. Möglichkeiten der Zerlegung eines Klanges in kleinste Einheiten, »Quanten« nach Dennis Gabor (Gabor 1947), die bereits 1917 von Albert Einstein (Einstein 1938/50, 296) und 1925 von Norbert Wiener (Wiener 1962/71, 91) vorgedacht worden war, waren in dieser frühen Zeit der synthetischen Klangerzeugung aber weder in Köln noch an den Bell Telephone Laboratories in Murray Hill NJ technisch realisierbar. 5. Klangsynthese / Computermusik 1 Im Bereich der Klangsynthese und -bearbeitung kamen wesentliche Impulse aus den USA. Ab 1957 entwarf Max V. Mathews an den Bell Laboratories, New Jersey die Software MUSIC-N und machte damit erstmals die digitalen Klangsynthese am Computer möglich. Bekannt wurde Mathews Klangsynthese des Lieds Bicycle Built for Two aus dem Jahr 1961 durch den sprechenden und singenden Computer Hal 9000 in Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey (1968). Folgeprogramme von MUSIC-N waren u. a. cmusic (Richard Moore / San Diego), Csound (Daniel Vercœ / MIT Boston; beide in der Programmiersprache C) sowie Common Music (Richard Taube, CCRMA Stanford / ZKM Karlsruhe). 1967 entdeckte John Chowning an der Stanford University die Frequenzmodulation oder FM-Synthese: Durch die Modulation einer Sinusschwingung durch eine andere Sinusschwingung können teiltonreiche Spektren entstehen, oft mit glockenartigem Charakter. Die Technologie wurde von der Firma Yamaha lizensiert, die 1983 mit dem DX7 einen Synthesizer produzierte, der – basierend auf der verwandten Technologie der Phasenmodulation – eine bis dahin unbekannte Fülle an Klangfarben produzieren konnte. Chowning setzte die Technologie in eigenen Werken ein, so in Klassikern der Computermusik wie Stria (IRCAM, 1977). 1975 hatte er das Center for Computer Research in Music and Acoustics (CCRMA) an der Stanford University gegründet. 6. Live-Elektronik Die Begriffe live electronics, live electronic music, LiveElektronik, live-elektronische Musik etc. entstanden Anfang der 1960er Jahre, um neue Formen der Konzertdarbietung zu bezeichnen, bei denen elektroakustische Musik mithilfe von Interpreten in Echtzeit auf der Bühne entstand (Massow 1990). Der Begriff ist abgeleitet aus einem Text von John Cage zu seiner Cartridge Music für verstärkte »small sounds« (1960), wo er eine von beiden Hauptintentionen des Stücks als »to make electronic music live« (Cage 1962/70, 145) bezeichnet. Live-elektronische Musik wird im deutschsprachigen Raum vor allem als eine Erweiterung der interpretenlosen elektroakustischen Musik angesehen, wobei zwei Grundformen zu unterscheiden sind: (1) Das elektronisch erzeugte Klangmaterial wird nicht mehr im Studio, sondern in Echtzeit auf der Bühne synthetisiert; (2) der Klang akustischer Instrumente oder der menschlichen Stimme wird während der Aufführung in Echtzeit elektronisch transformiert. In Nordamerika wird der Begriff dagegen weiter gefasst: Live electronic music ist hier bereits dann gegeben, wenn Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik zu einem oder mehreren Musikern ein bereits vorproduzierter Tonträger eingespielt wird. John Cages Imaginary Landscape No. 1 für zwei Schallplattenspieler mit variabler Geschwindigkeit, Test-Schallplatten mit Aufnahmen einzelner Sinustöne, Klavier und einem Becken (vier Spieler) (1939) kann in dieser Definition als die erste live-elektronische Musik gelten. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung liveelektronischer Musik waren technologische und SoftwareEntwicklungen am 1977 eröffneten Pariser IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique / Musique) wie etwa die durch Miller Puckette Ende der 1980er Jahre entwickelte objektbasierte Programmiersprache Max, die heute durch DSP (Digital Signal Processing)-Funktionen erweitert unter dem Namen Max / MSP als gängigstes Werkzeug zur Realisierung von Live-Elektronik gilt. Etwa zeitgleich entwickelte das IRCAM die Technologie des »score following« (erstmals eingesetzt in Philippe Manourys Jupiter für Flöte und Live-Elektronik, 1987), die eine präzise Synchronisation von Partitur und elektronischen Echtzeitklängen erlaubt. Mittels computergestützter Live-Elektronik entwickeln Ä Composer-Performer wie David Wessel, Karlheinz Essl oder Georg Hajdu auf der Bühne zahlreiche Formen im Grenzbereich zwischen Komposition und Ä Improvisation (Akkermann 2014). Zur Beschreibung von Praktiken der DJ culture und von Ensembles wie dem 2008 gegründeten Huddersfield Experimental Laptop Orchestra (HELO) oder Benoît and the Mandelbrots ist der Begriff (computergestützte) Live-Elektronik zwar zutreffend, wird jedoch zunehmend durch alternative Begriffe wie z. B. »live-coding« ersetzt (Ä Medien, Ä Intermedialität). 7. Algorithmische Komposition / Computermusik 2 Ein Algorithmus ist eine Handlungsanweisung, die von mechanisch oder elektronisch arbeitenden Geräten ausgeführt werden kann. Algorithmisch lösbar sind nur Problemstellungen, die exakt beschrieben werden können. Die Berechenbarkeitstheorie untersucht als Teilgebiet der Informatik, welche Problemstellungen algorithmisch lösbar sind und welche nicht. Einen Algorithmus, der auf einen Computer übertragen und mittels einer Programmiersprache formuliert wird, bezeichnet man als Computerprogramm bzw. Software. Programme werden in Programmiersprachen geschrieben wie bspw. C++, Java, Pascal, Perl, PHP u. a. Musikalische Software kann vielfältige Anwendungszwecke erfüllen: Komposition, interaktive Improvisation, Produktion, Ä Notation, Aufnahme, Abmischung, Mastering, Musikstreaming, Wiedergabe, Transkription, virtuelle Instrumente u. a. Aktuelle, musikbezogene Softwareeinheiten sind z. B. Max / 222 MSP (vgl. 6.), Ableton Live, Max for Live, PureData und SuperCollider. Die Ergebnisse des computergestützten algorithmischen Komponierens werden auch Computermusik, algorithmische Komposition oder computergestützte Komposition genannt (frz. C.A.O.: composition assistée par ordinateur). Die Klangsynthese mittels eines Computers, ebenfalls mitunter als »Computermusik« bezeichnet (vgl. 5.), kann dagegen heute auch als ein Teilbereich der elektroakustischen Musik betrachtet werden. Algorithmisches Komponieren bedeutet jedoch nicht zwangsweise die Anwendung eines Computers. Einem Algorithmus vergleichbare Verfahren verwendeten etwa die seit dem 18. Jh. bekannten »musikalischen Würfelspiele« (Reuter 2001). Auch zahlreiche serielle und postserielle Kompositionsverfahren haben Ähnlichkeit mit algorithmischen Prozessen. Ohne einen Computer zu verwenden, nennt Arvo Pärt seine Stücke »Computermusik«, bei denen nach der Art eines Algorithmus Muster verlängert, verkürzt oder permutiert werden (La Motte-Haber 1996). Algorithmische Prozesse können auch in elektroakustischer Musik ohne Computer nachgewiesen werden, so bei bestimmten Verfahrensweisen in analogen Studios und wurden dort als »halbautomatischer« bzw. »automatischer Prozess« des Komponierens beschrieben (Stockhausen 1965/71). Computergestütztes algorithmisches Komponieren kann sowohl zur Erzeugung eines elektroakustischen Klanges (Klangsynthese) als auch zur Errechnung einer Partitur für akustische Instrumente (Partitursynthese) verwendet werden. Diese Trennung enthält noch die tradierte Unterscheidung zwischen Partitur und Instrumentierung. Wird jedoch mit einem Computer etwa ein errechneter Klang A nach einer vorgegebenen Zeit stufenlos in einen Klang B verwandelt, so impliziert dies im Grunde beides: Klangsynthese aufgrund der elektroakustischen Klanglichkeit und »Partitursynthese« aufgrund der zeitlich organisierten strukturellen Transformation. Deutlich zeigt dies John Chownings computergenerierte, vierkanalige Lautsprecherkomposition Turenas (1972), bei der sich die Klangfarben stufenlos ändern. Betrachtet man die unterschiedlichen Methoden algorithmischen Komponierens, fällt auf, dass die Unterscheidung von Konstruktion und Erscheinungsform, von Idee und Ä Wahrnehmung, einen wichtigen Status beanspruchen kann. Die Differenz bzw. Entsprechung zwischen Algorithmus und Erscheinungsform ist dabei ein zentraler Aspekt. Nur in seltenen Fällen kann und soll der Prozess der Kompositionsgenerierung und damit die Konstruktion des Algorithmus beim Hören »erkannt« oder nachvollzogen werden. 223 Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Die Auswahl oder Erstellung von Algorithmen für Musikanwendungen kann in drei Kategorien eingeteilt werden: Modellierung existierender Kompositionsmodelle (7.1), Modellierung eigener, neuer Kompositionsmodelle (7.2.), Verwendung von Algorithmen aus außermusikalischen Disziplinen (7.3). 7.1 Modellierung existierender Kompositionsmodelle Zu den ersten Versuchen der Partitursynthese gehören die Experimente des Komponisten Lejaren A. Hiller (1924– 94). Ihm gelang die Arbeit mit dem Computer so gut, dass sich dabei neue Dimensionen eröffneten: Bei Hillers ersten drei Experimenten wurde nicht nur eine Komposition errechnet, sondern eine Klasse von Kompositionen, die einer bestimmten historischen Satztechnik entsprach. Bei seinem vierten Experiment wurden erstmals auch neue, nicht vorhersagbare Formen generiert (Supper 1997, 73– 75). Aus den vier Experimenten entstand die Illiac Suite für Streichquartett (1955–56) von Hiller und Leonard M. Isaacson. Die vier Sätze der Illiac Suite sind in ihrer Reihenfolge eine Dokumentation der vier verschiedenen Experimente. Beim ersten Experiment (Monody, two-part, and four-part writing) wurden 16 verschiedene Regeln (Gebote, Verbote, Lizenzen) programmiert. Hinzu kamen Regeln für einfache Mehrstimmigkeit. Beim zweiten Experiment (Four-part first-species counterpoint) wurden die Erkenntnisse des ersten Experimentes derart erweitert, dass unterschiedliche musikalische Stile generiert werden konnten. Bei der dritten Versuchsreihe (Experimental music) wurden serielle Strukturen und Reihentechniken programmiert. Die Methode des vierten Experimentes (Markov chain music) beruhte nicht auf Kompositionsregeln, sondern auf einer Folge abhängiger Zufallsgrößen, die nach dem Mathematiker Andrei Andrejewitsch Markow (1856–1922) als »Markowketten« bezeichnet werden. Durch Markowketten lassen sich Musikstücke als eine Folge von bedingten Wahrscheinlichkeiten darstellen. In der Künstlichen-Intelligenz-Forschung wird etwa versucht, neuronale Netze mit tradierter Musik zu trainieren. Diese trainierten, künstlichen Gehirne sind in der Folge tatsächlich in der Lage, im entsprechenden Stil selbstständig zu komponieren (Cope 1996). Die Anwendung von Markowketten hatte auch Einfluss auf spätere Arbeiten computergestützter Partitursynthese etwa bei Iannis Xenakis, der ab Analogique A für neun Streichinstrumente (1958) diese einsetzte (Xenakis 1992, 79–109). Markowketten wurden auch in jüngerer Zeit noch kompositorisch angewandt, etwa in Wheel of Fortune für MIDI-Klavier, Sampler, Computer und Live Elekronik (1993–95/2011) von Orm Finnendahl (Berweck 2012) und in Werken anderer Komponisten (Verbeurgt u. a. 2004; Nierhaus 2009, 67–82). 7.2 Modellierung eigener, neuer Kompositionsmodelle Wichtige Vertreter der frühen Partitursynthese sind Gottfried Michael Koenig (*1926) und Iannis Xenakis (1922–2001). Koenigs Programm Projekt 1 (PR1) (seit 1964) beruht auf postseriellen Prinzipien der Auswahl und Anordnung musikalischen Materials, wobei zwischen »unregelmäßigen« und »regelmäßigen« Ordnungskriterien gewählt werden kann. Koenig komponierte auf dieser Grundlage etwa Segmente 85–91 für Flöte, Bassklarinette und Violoncello (1983–84) sowie das Streichquartett 1987 (Koenig 1996). Xenakis entwarf ausgehend von der Idee einer »Stochastischen Musik« (Ä Zufall) eine große Fülle formalisierter Kompositionsprozesse mit Bezug auf mathematische Verfahren wie der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Pithoprakta für Orchester, 1955–56), der Mengenlehre (Herma für Klavier, 1960–61), der Gruppentheorie und der Siebtheorie (Nomos alpha für Violoncello, 1966) (Xenakis 1990, 1992; Baltensperger 1996; Ä Neue Musik und Mathematik). Die Kompositionsalgorithmen von Koenig oder Hiller sind darauf ausgelegt möglichst allgemeine musikalische Aufgaben zu lösen, sodass die Programme auch von anderen Komponisten eingesetzt werden können. Anders bei dem Komponisten Clarence Barlow (*1945). Die von ihm entwickelten Algorithmen haben den Charakter einer Privatsprache und wurden immer nur für eine einzige Komposition konstruiert. Die Algorithmen sind hier nicht mehr einfach nur Kompositionswerkzeug, sondern – auf einer abstrakten Ebene – selbst bereits Moment der konkreten Erscheinungsweise der Musik. Barlows zahlentheoretische Auseinandersetzung mit Tonalität und Metrik hat sich in seinem algorithmisch komponierten Klavierstück Çogluotobüsisletmesi (1978) niedergeschlagen (Barlow 1980, 1990). Am IRCAM wurde zum Zweck der Partitursynthese die Software PatchWork (1985–93), seit 1998 OpenMusic, eine objektorientierte Programmierumgebung basierend auf Common Lisp, entwickelt, die u. a. von Brian Ferneyhough und Tristan Murail intensiv verwendet wird (Feller 2004/12; Hirs 2011). Eine Sonderform algorithmischer Komposition stellen die etwa von Gerhard E. Winkler entwickelten real-time scores dar, die Spielvorlagen für Musiker in Echtzeit generieren (Winkler 2004; Ä Notation). Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik 7.3 Verwendung von Algorithmen aus außermusikalischen Disziplinen Die Anwendung außermusikalischer Algorithmen ist vielfältig. Populär sind L-Systeme nach dem Biologen Aristid Lindenmayer (1925–89), die auf den Grammatiken des Linguisten Noam Chomsky (*1928) basieren. Während Chomsky-Grammatiken die Generierung von Sätzen einer Sprache formalisieren, werden bei Lindenmeyer Wachstumsprozesse von Pflanzen modelliert (Prusinkiewicz / Lindenmayer 1990). Für Komponisten gibt es zwei Gründe, die Anwendung von L-Systemen in Betracht zu ziehen: Zum einen können Wachstumsprozesse durch sehr einfache Ableitungsregeln formuliert werden, zum anderen entstehen dabei nicht vorhersagbare, meist selbstähnliche Erscheinungsformen, die mit traditionellen Kompositionsmethoden nur schwer geschaffen werden könnten. Zu den bekannteren Kompositionen, die mittels L-Systemen generiert wurden, gehören Cells für Saxophon und Ensemble (1993–94) von Hanspeter Kyburz (Supper 1997, 104–110) sowie die Werke von Enno Poppe (Ä Struktur). Ein weiteres Beispiel für Algorithmen außermusikalischer Disziplinen sind die Modelle der »zellulären Automaten« (Supper 1997, 110–115). Sie werden zur Simulation dynamischer Systeme eingesetzt, bspw. zur Berechnung der Bewegung von Flüssigkeiten. Das Prinzip der zellulären Automaten hat verschiedene Komponisten angeregt, kompositorische Prozesse entsprechend zu modellieren, so etwa Peter Beyls: »As a composer I am interested in models of evolution and growth rather than in theories for structural design« (Beyls 1989, 34). Zelluläre Automaten sind auch für Xenakis ein Werkzeug, komplexe Strukturen mit einem Minimum an Mitteln zu konstruieren. Sie bestimmen bspw. den dynamischen Verlauf von Clustern in Horos für Orchester (1986) (Hoffmann 1994). 8. Informationstheorie und Kybernetik Bei den Versuchen von Hiller war die Informationstheorie die wichtigste wissenschaftliche Referenz (Hiller / Isaacson 1959; Hiller 1964). Diese Theorie der Nachrichtenübertragung wurde 1948 vom Mathematiker und Elektrotechniker Claude Elwood Shannon (1916–2001) in der Studie A Mathematical Theory of Communication (1948) eingeführt. Die Suche nach einer »exakten« Ästhetik führte in den Schriften des Philosophen und Schriftstellers Max Bense (1910–90) und des Informationstheoretikers Abraham A. Moles (1920–92) dann zur sog. Informationsästhetik (Bense 1969; Moles 1958/71; vgl. Borio 2005, 257–267). Mit ihrer Hilfe sollten schriftstellerische, künstlerische und musikalische Prozesse und Produkte beschrieben, bewertet und generiert werden. Einflussreich 224 für musikbezogene Anwendungen waren dabei auch die Arbeiten des Physikers Wilhelm Fucks (1902–90) (Fucks 1968, 1970). Eine verwandte Theorie mit Auswirkung auf die neue Musik war die Kybernetik, die 1948 vom Mathematiker Norbert Wiener als Wissenschaft der »Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine« eingeführt wurde (Wiener 1948/92). Ähnlich der Informationstheorie wurde die Kybernetik von mehreren Künstlern und Komponisten in den 1950er Jahren rezipiert. Die Steuerung musikalischer Prozesse mittels kybernetischer Modelle war bis in die 1970er Jahre populär und wurde von Komponisten wie Hiller und Roland Kayn (1933–2011) ebenso verwendet, wie von Peter Vogel (*1937) zur Steuerung seiner kybernetischen Klangobjekte (Vogel 1978; Supper 2009). Heute dienen kybernetische Prozesse teilweise dazu, interaktive Computermusik-Systeme zu kontrollieren. Solche interaktiven computerbasierten Systeme, mittels derer auch improvisiert werden kann, können als Sonderform des algorithmischen Komponierens angesehen werden (vgl. 6.). 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Neue Selbstverständlichkeiten Das Wechselverhältnis von Neuer Musik und Film bzw. Video ist insgesamt erheblich facettenreicher als oft angenommen – und verweist überdies auf eine jener Dimensionen des heutigen Komponierens, die von unzweifelhaft wachsender Bedeutung sind. Zu differenzieren sind dabei zumindest drei wesentliche Aspekte, die sich freilich auch überschneiden können: (1) das weite Feld der Verwendung von Neuer Musik in Spiel- oder Dokumentarfilmen (dies umfasst eigens für diese Filme entstandene Musik, aber auch vorher bereits existente Werke), (2) strukturelle oder ästhetische Analogien zwischen Filmen und Musikwerken, (3) integrale Film- bzw. Video-Elemente in Musikwerken (der seinerseits recht große Bereich der Video-Clips wird im Vorliegenden nicht ausführlich thematisiert, konvergiert und überschneidet sich aber mit einigen der hier dargestellten Entwicklungen). 1. Inspirationen Bereits im frühen 20. Jh. hat das Medium Film, gerade mit seinen damals als höchst innovativ empfundenen Möglichkeiten des Erzählens, einen Einfluss auf unterschiedlichste Komponisten gehabt (wobei einzuräumen ist, dass dieser oft eher erahnt als nachgewiesen werden kann). Dabei liegt es auf der Hand, dass filmische Werke und Techniken seither auch eine Vielzahl jener Komponisten inspirierten, in deren Œuvre es weder Filmmusiken noch sonstige konkrete filmische Bezüge gibt. Diese Entwicklung hat sich in der Neuen Musik nach 1945 fortgesetzt und intensiviert. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben einige bedeutende Filmemacher über ihre ästhetischen oder strukturellen Leitideen und ihre Filme auf verschiedenste Komponisten gewirkt. In nicht wenigen Fällen lassen sich solche Einfluss-Spuren auch konkret benennen. Als exemplarisch kann hierfür Luigi Nonos Orchesterwerk No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij (1987) gelten, das sich ausdrücklich auf die kunstvollen Entschleunigungsstrategien des im Werktitel genannten Filmemachers einlässt (Oy-Marra / Zenck 2006). Weitere bedeutsame Beispiele bieten auch die Musiktheaterwerke Schwalbe (2011) und Mauersegler (2013) von Manos Tsangaris, die erkennbar auf Erzähltechniken von Filmen Jean-Luc Godards bezogen sind und den Untertitel »Hörfilm« bzw. »Hörfilm remix« tragen (Hiekel 2015), sowie Mark Andres »Musiktheater-Passion« … 22,13 … (1999–2004), die nicht nur auf das Thema, sondern vor allem auch auf atmosphärische und erzähltechnische Aspekte von Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel (1957) rekurriert. Bei nicht wenigen Komponistinnen und Komponisten sind bestimmte Atmosphären oder Erzählstrategien, die sie in Filmen erlebten, prägend für Musikwerke geworden. Dies ist einerseits im Sinne gewisser Assoziationen zu verstehen, wie man sie schon lange auch aus Wechselbeziehungen zwischen Musik und Malerei kennt (Ä Neue Musik und bildende Kunst), aber andererseits auch im Sinne eines klarer gerichteten musikalischen Kommentars. Ein Beispiel für letzteres ist Markus Hechtles Werk Portrait. Erinnerung an einen fremden Traum für Klarinette, Violoncello und Akkordeon (2004), das auf die wie im Traum entstehenden Bilder in Jochen Kuhns Animationskurzfilm Neulich 4 (2003) bezogen ist – und zugleich typisch für einen jener Komponisten, in deren Schaffen die Inspiration durch andere Künste eher die Regel als die Ausnahme ist. In etlichen anderen Fällen kann man indes einen Einfluss feststellen, der sich weniger klar spezifizieren lässt und über ein einzelnes Werk deutlich hinausreicht. Dies gilt für John Cage, der 1937 mit Oskar Fischinger kooperierte, 1949–50 mit der Musik für präpariertes Klavier und Tonband zum Dokumentarfilm Works of Calder von Herbert Matter einen wichtigen Schritt in Richtung Geräuschund Zufallskomposition unternahm (Cage 1951/93) und schließlich 1992 gemeinsam mit Henning Lohner den neunzigminütigen Experimentalfilm One11 entwickelte, der mit oder ohne die gleich lang dauernde Musik von 103 für Orchester (1991) gezeigt werden kann (Sanio 1994). Aber es gilt etwa auch für Bernd Alois Zimmermann, dessen auf die Verschränkung von disparaten Gestaltungselementen zu einem nur scheinbar auf Synthese bedachten, widerspruchsvollen Ganzen gewiss in wesentlichem Maße von seinem Interesse nicht nur für Literatur und bildende Kunst, sondern auch für das Medium Film geprägt wurde. Ähnlich signifikant – und dabei noch konkreter als bei Zimmermann benennbar – ist die Verbindung zum Film für Bernhard Lang (Kager 2014), in dessen Schaffen, vor allem im Werkzyklus Differenz / Wiederholung (seit 1998), immer wieder Looptechniken bedeutsam sind. Diese sind 228 Film / Video von ungewöhnlichen Formen des Umgangs mit Wiederholungsprinzipien inspiriert, die sich im Werk des Experimentalfilmers Martin Arnold finden. 2. Integrale Verknüpfungen Die Wechselwirkungen von Neuer Musik und Film sind auch dort insgesamt ungemein vielschichtig, wo sie konkrete Momente der Anwendung zeigen. Dies gilt nicht nur für den breiten Bereich neuer Filmmusik, sondern auch für das in den letzten Jahrzehnten stark gewachsene Feld musikalischer Arbeiten, die auf filmische Elemente zurückgreifen  – welche dann bei Aufführungen zu zeigen sind (in manchen Fällen ist diese filmische Ebene freilich eine bloße Option). Gewiss verweisen die mit Film operierenden Projekte bei zahlreichen Komponisten auf den jeweiligen Kern ihres Schaffens. Dies gilt namentlich für Mauricio Kagel, der nicht nur Musik für bereits existierende Stummfilme schrieb (besonders bekannt ist seine Komposition Szenario, 1982, zu Luis Buñuels Film Un chien Andalou, 1929), sondern auch eine Reihe von eigenen Filmen geschaffen hat. Damit ist der in Kagels Generation überaus seltene Fall einer Personalunion zwischen Komponist und Filmemacher eingelöst. Zuweilen bestehen bemerkenswerte Querbezüge zwischen Kagels filmischem und seinem sonstigen Schaffen (Schnebel 1970; Klüppelholz / Prox 1985; Hillebrand 1996). Ein Beispiel für einen solchen Medienwechsel bietet das Kammermusikstück Match für drei Spieler (1964–66): In seiner filmischen Adaption hat der Komponist dem musikalischen Gefüge über alles Dekorative und Verdopplungen der musikalischen Abläufe hinaus eine ganz eigene, surreale Atmosphäre verliehen, durch welche die in Match verhandelte Grundsituation, die aus dem Prinzip des Ä Instrumentalen Theaters hervorgeht, noch einmal transzendiert wird. Dabei werfen Kagels Filme immer wieder ganz bewusst die zentrale Frage nach dem auf, was die verschiedenen Künste jeweils für sich leisten und wie sie sich mit elementaren szenischen Mitteln verbinden lassen. Über solche Fragen reflektierten auch andere Komponisten. Für B.A. Zimmermann etwa, der selbst auch Filmmusiken schrieb und dabei zum Teil experimentelle Ansätze erprobte (so etwa in Metamorphose für Kammerorchester, 1954, komponiert für den gleichnamigen Film von Michael Wolgensinger), war Musiktheater ohne Film nahezu undenkbar. Davon zeugt seine Oper Die Soldaten (1957–65), zu deren integralen Bestandteilen Filmeinblendungen gehören, ebenso wie ein unvollendet gebliebenes Medea-Projekt (nach Hans Henny Jahnn). Zimmermann forderte im Bewusstsein solcher künstlerischer Ambitionen in seinem Text Einige Thesen über das Verhältnis von Film und Musik überdies einen »neue[n] Begriff von Filmmusik«, den er wie folgt definierte: »Bild und Ton als gegenseitig sich bedingende, austauschbare, durchlässige Medien. Letztenendes ist der Komponist der Regisseur und umgekehrt« (Zimmermann 1967/74, 54). Diese Definition deutet auf eine integrale Verknüpfung der musikalischen und der filmischen Ebenen, die – beflügelt von neuen technischen Möglichkeiten  – eine Grundtendenz in der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte markiert. Letztlich geht es bei Verknüpfungen von Film und Musik dabei immer wieder auch um die Frage, inwieweit sich Musik jenseits von Funktionalität im Rahmen eines Films zu entfalten vermag. Aus Sicht der Musikwissenschaft ist gerade an diesem Punkte ein »schwieriges Verhältnis« (Zenck 2012, 65) diagnostiziert worden. Doch gibt es signifikante Tendenzen, die dafür stehen, dass aus dem schwierigen in jüngerer Zeit eher ein selbstverständliches Verhältnis wird (vgl. 9.) 3. Kooperationen Kontrovers wird oft der Einbezug von Werken György Ligetis in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) diskutiert. Wird Ligetis ohne Wissen des Komponisten vom Filmregisseur einbezogene Musik (verwendet werden vor allem Lux aeterna, 1966, das »Kyrie« aus dem Requiem, 1963–65, sowie das Orchesterwerk Atmosphères, 1960–61) zu bloßer »Sphärenmusik« degradiert – oder zu ihr sogar nobilitiert (Seeßlen / Jung 2001, 66; Schwehr 2012, 21)? Fest steht, dass Ligetis Musik durch 2001: A Space Odyssey, das vielen als eines der Musterbeispiele für die Verwendung Neuer Musik in Spielfilmen gilt (Heimerdinger 2007), zumindest in bestimmten Teilen der Welt (etwa in den USA) erst berühmt wurde  – zumal Kubrick in den Filmen Shining (1980) und Eyes Wide Shut (1999) erneut auf Werke Ligetis zurückgriff (hier auf Lontano, 1967, bzw. Musica ricercata, 1951–53). Doch kritisiert wurde vor allem die Verengung der Atmosphäre von Ligetis Musik auf eine bestimmte Semantik (Pauli 1984, 264). Als Vorbild, das im Gegensatz zur von Kubrick (und zahlreichen anderen Filmemachern) favorisierten Praxis weithin für ein gleichberechtigtes »transdisziplinäres« Zusammenwirken von Musik und Film steht, gilt oft die Kooperation Sergej Prokofieffs mit dem Filmemacher Sergei Eisenstein (Wünschel 2006). Gemeinsam realisiert wurden die letzten Filme (und einzigen Tonfilme) von Eisenstein, nämlich Alexander Newski (1938) und Iwan der Schreckliche (1945/46, nur Teil I und II der Trilogie). Ähnlich wie bei diesem historisch bedeutsamen Beispiel, das sich durch Experimente wie dynamische Verfremdung, Raumwirkungen und bewusste Verzerrungen auszeichnet, gibt es auch in den nachfolgenden Jahrzehnten immer 229 wieder Fälle, in denen Komponisten bewusst intendierten, ein Musikwerk zu einem Film zu schaffen, das auch unabhängig von diesem existieren kann. Exemplarisch hierfür steht etwa Josef Anton Riedls Schlagzeugmusik für den Film Geschwindigkeit von Edgar Reitz (1963). Dabei war die Kooperation zwischen Filmregisseur und Komponist, die sich auch auf zwei andere gemeinsame Projekte erstreckte (Huber 1975/2000, 69), gerade bei Geschwindigkeit auf die ästhetische Grundidee einer bewussten Suspendierung von Narrativität und Linearität gestützt. Dies war einer gewissen Unabhängigkeit von filmischer und musikalischer Ebene dienlich – bezeichnenderweise gibt es zum selben Film inzwischen auch eine Neukomposition Geschwindigkeit für Streichquartett von Juliane Klein, 2007, die mit bewusst gegenläufigen Tendenzen aufwartet und an vielen Stellen die durch das Optische evozierte Erwartungshaltungen nachdrücklich kontrapunktiert. 4. Musik zum Stummfilm Bis heute hat der künstlerische Umgang mit Stummfilmen  – Filmen, die keine technisch integrierte Tonspur besitzen  – für viele Komponistinnen und Komponisten nicht an Attraktivität eingebüßt. Neben Mauricio Kagel und Pierre Boulez (der 1955 eine Musik zu Jean Mitrys Film Symphonie mécanique komponierte) sind hier aus den nachfolgenden Generationen u. a. Carola Bauckholt, Detlev Glanert, Johannes Kalitzke, Dmitri Kourliandski, Benedict Mason, Misato Mochizuki, Olga Neuwirth, Michael Obst, Wolfgang Rihm, José Maria Sánchez-Verdú, Cornelius Schwehr und Martin Smolka zu nennen. Sie alle partizipieren  – teilweise mit sehr unterschiedlichen Ansätzen, die bis in den Bereich des Musiktheaters reichen – an jener in den letzten Jahren mehr und mehr gewachsenen Tendenz innerhalb des Musiklebens, die darin besteht, alte, zum Teil legendäre Filme aus der Stummfilmzeit musikalisch neu zu beleuchten – und dies in aller Regel für die Vorführung in Konzertsälen. Viele dieser Arbeiten konvergieren in der Intention, gerade die innovativen oder sogar experimentellen erzählerischen Elemente der alten Filme zu akzentuieren – ein Beispiel hierfür ist Smolkas Komposition Hats in the Sky (2004), die mit humorvollen Mitteln auf den surrealistischen Vormittagsspuk (1928) von Hans Richter reagiert. 5. Neue Filmmusik Es gehört zu den Topoi im Reden über das Zusammenspiel von Film und Musik, dass man erhofft, durch das Zusammentreffen der beiden Ebenen könne eine »wechselseitige Verwandlung« (Zenck 2012, 67) stattfinden. Wann aber, so fragte der Komponist Cornelius Schwehr in seinem Essay Neue Musik oder Neue Filmmusik, ist von einer »Neu- Film / Video en Filmmusik« zu sprechen (Schwehr 2012)? Und benötigt man einen solchen Begriff überhaupt? Für diesen Begriff bietet sich nach Schwehr vor allem die – in Analogie zur möglichen Bestimmung der Ä Neuen Musik formulierte – allgemeine Definition an, »dass etwas grundsätzlich anders ist als in der Musik davor« (ebd., 22). Von diesem Anderssein als Notwendigkeit war gewiss auch Arnold Schönberg überzeugt, als er seine berühmte Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 (1929–30) schrieb und das Visionäre daran betonte (Schönberg 1931/76)  – gemeint war damit wohl vor allem der Verzicht auf filmmusikalische Klischees. Dabei gehört es seit Schönbergs Zeiten zu den Grundimpulsen der Neuen Musik, sich gegenüber jener Tendenz zu behaupten, die oft (manchmal zu pauschal) mit dem Begriff »Hollywood« assoziiert wird: die kulturindustrielle Verwendung von Musik im Film (Adorno / Eisler 1944/76). Dass auch bei Musik in aufwendig produzierten Filmen (und selbst im Felde dessen, was als »Mainstream« gilt) manchmal erhebliche künstlerische Qualitäten ausfindig zu machen sind (Schwehr 2012), steht freilich inzwischen außer Frage (und diese Einsicht trug zu einem gewachsenen Interesse verschiedenster Komponisten an den musikalischen Strategien von Filmmusik gewiss bei). Doch erst recht gilt dies für manche Filmmusiken bedeutender Komponisten wie u. a. Dmitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke, Hanns Eisler, Morton Feldman, Hans Werner Henze, Georg Katzer, B.A. Zimmermann oder Tōru Takemitsu, obschon diese zum Teil primär als »Brotarbeiten« entstanden sind. Im Falle des zuletzt genannten Komponisten sei hier exemplarisch jene berühmte Schlachtszene in Akira Kurosawas Film Ran (1985) erwähnt, in welcher der Komponist statt irgendwelcher Anspielungen auf Schlachtenmusik elegisch-kontemplative Töne wählt – und diese plötzlich abbrechen, um die Geräusche der Realität zum Zuge kommen zu lassen. Wichtige Gründe für die Randständigkeit und die geringe Zahl filmbezogener Arbeiten innerhalb des Gesamtschaffens nicht weniger anderer Komponistinnen und Komponisten der heute mittleren oder älteren Generation dürften erstens in institutionellen Hemmnissen liegen, zweitens in der vergleichsweise schwierigen Handhabbarkeit des Mediums Film in früheren Zeiten, drittens aber auch in der weit verbreiteten Geringschätzung »funktionaler« Musik (die ja auch dazu beitrug, dass die Filmmusiken einiger der genannten Komponisten lange Zeit von der Musikforschung wenig beachtet wurden). 6. Wechselwirkungen Andererseits sollte man die Filmbezüge bei etlichen Komponisten Neuer Musik nicht unbeachtet lassen, nur weil diese im jeweiligen Gesamtschaffen eher Ausnahmen blie- 230 Film / Video ben. Denn selbst dann verweisen sie oft auf zentrale Aspekte der jeweiligen Ästhetik. Dies gilt etwa im Falle von Nicolaus A. Huber, der eine Zeitlang Mitglied in dem von Riedl initiierten Ensemble Musik / Film / Dia / Licht-Galerie war. Bei Huber steht das Interesse für das filmische Medium im Zusammenhang mit seiner Idee, eine Musik zu schaffen, die nicht nur zum Hören da ist (in Analogie zu Marcel Duchamps Idee einer »nicht-retinalen« Kunst). Dementsprechend greift Huber in verschiedenen Werken auf filmische Mittel zurück, etwa in dem ausdrücklich auf Duchamp bezogenen Ensemblestück l ’ inframince  – extended für Ensemble, Video- und CD-Zuspielungen (2014) sowie in Eröffnung und Zertrümmerung für Ensemble, Tonband und Videoprojektionen (1993). Im zuletzt genannten Werk geht es darum, das Visuelle und das Musikalische zunächst eng aufeinander zu beziehen, um dann »beide Sphären […] in ihrer Tendenz scherenförmig auseinander« laufen zu lassen (Huber 1993/2000, 273). An einem Beispiel wie diesem ist erneut ersichtlich, dass die Wechselwirkungen zwischen beiden Medien (Hiekel 2012) ein häufiges Thema von Musikwerken sind. Im Falle von Carola Bauckholts Komposition In gewohnter Umgebung III für Violoncello, Klavier und Video (1994) heißt dies, dass zwischen Bühnen- und Filmgeschehen Perspektivenwechsel auskomponiert werden. Das Stück, das seinen konzeptionellen Ausgangspunkt in der Tradition der Kammermusik hat, deutet bereits die Bezeichnung »Trio« im Sinne einer Medienintegration: Neben Klavier und Cello ist das Video der gleichberechtigte dritte Partner. Zum nicht ohne Ironie gesetzten Wechselspiel zwischen beiden Ebenen gehört die im Film artikulierte Frage »also was willst Du?« an einen der Musiker (Cloot 2014). Intermedialität, die sich anhand filmischer Elemente manifestiert, kommt besonders auch im Bereich der Ä Klangkunst zum Zuge. Dafür stehen verschiedene im Grenzbereich von Konzertaufführung und Klanginstallation angesiedelte Projekte von Franz Martin Olbrisch. In Schichtwechsel (2006, gemeinsam mit der Videokünstlerin Beate Olbrisch) etwa gibt es gleich drei mit Konvergenzen, aber zugleich mit prismatischen Brechungen verbundene Ebenen: eine musikalische mit konkreten wie nicht-konkreten Klängen, eine filmische mit verfremdeten Eindrücken einer Großstadt (Prag) und eine szenische, geprägt durch eine große begehbare Raumplastik mit vielerlei Spiegelwirkungen. Spezifische Filmbezüge finden sich auch im Schaffen verschiedenster anderer Komponisten, die im Musikleben vor allem mit Musik für den Konzertsaal präsent sind, so etwa bei Louis Andriessen (der besonderen Erfolg mit seinem Werk M is for Man, Music, Mozart für Jazzsänger und Ensemble, 1991, zum gleichnamigen Film von Peter Greenaway hatte), Johannes Kalitzke (der mit Edgar Reitz zusammen einen »musikalisch-filmischen Laborversuch« mit dem Titel Ortswechsel, 2007, unternahm) sowie bei Olga Neuwirth. Von Letzterer, die sich schon in jungen Jahren intensiv mit dem Medium Film beschäftigte, gibt es vielerlei film- und videobezogene Werke (so etwa !?dialogues suffisants!? – Hommage à Hitchcock für Violoncello, Schlagwerk, Tonband und neun Videomonitore, 1991–92, oder das mit Michael Kreihsl realisierte Film-Musik-Projekt The Long Rain für vier Solisten, vier Ensemblegruppen und Live-Elektronik, 1999–2000). Aber sie hat – darin gehört sie zu Kagels Nachfolgerinnen  – auch eigene (Musik-)Filme geschaffen (so etwa den 18-minütigen Film »…miramondo multiplo…«, 2007). Betrachtet man Neuwirths umfassendes filmbezogenes musikalisches Schaffen als Ganzes, so treten vor allem die vielfältigen Verschachtelungen und bewussten Inkohärenzen zwischen Zeit, Handlung und Musik hervor, die gewiss von filmischen Techniken inspiriert sind (Drees 2007/08). 7. Musiktheater Ein bevorzugtes Feld für den Einsatz filmischer Mittel ist seit langem das Ä Musiktheater. In diesem Felde gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg substanzielle Versuche, durch Filmeinblendungen die Erzählebenen zu weiten und anzureichern  – dies namentlich in Werken von Darius Milhaud (Christophe Colomb, 1930), Alban Berg (Lulu, 1928–35, vgl. Perle 1981) und Bohuslav Martinů (Les trois souhaites, 1929). Der dritte Akt des zuletzt genannten Werkes besteht im Wesentlichen darin, dass ein Film vorgeführt wird, der während der beiden Akte zuvor gedreht wurde. Typisch für das Musiktheater seit 1945 ist, dass Werke wie die hier genannten kaum je in den Spielplänen vorkommen (Martinů, Milhaud) bzw. in der Regel ohne die Filmebene aufgeführt werden (Berg). Zumindest punktuell aber gibt es in diesem Felde weiterhin auch Projekte mit substanziellen Filmbezügen. Außer auf Zimmermanns bereits erwähnte Oper Die Soldaten sei hier auch auf die US-amerikanische Tradition verwiesen. Einen Versuch, mit filmischen Mitteln eine neue Gattung zu kreieren, markieren Robert Ashleys Video-Opern bzw. TV-Opern. Diese – namentlich etwa Perfect Lives (1977–83) – gehören zu den frühesten Konzepten einer alltagsbezogenen, oft an die Soap-Operas erinnernden Musik für visuelle Ä Medien. Doch sie werden, da die intendierten Aufführungen im US-amerikanischen Fernsehen weithin unrealisiert blieben, zumeist in transformierter Version als Videoversionen von Kammeropernensembles aufgeführt 231 Film / Video (zu Perfect Lives entstand daher 1984 eine Videoversion). Größere Resonanz erfuhr Steve Reichs Video-Oper The Cave (1989–93, gemeinsam mit der Videokünstlerin Beryl Korot). Das Werk ist durchzogen von der Grundidee, auch das (dokumentarische) Filmmaterial, das auf verschiedene Leinwände aufgefächert wird, in jenes vielfältige – und manchmal bewusst ironische  – Spiel aus Wiederholungen und Phasenverschiebungen zu integrieren, das auch Reichs Musik bestimmt. Im Musiktheater der jüngsten Zeit gibt es einzelne Ansätze, die Wechselwirkungen zwischen musikalischer und filmischer Ebene noch komplexer zu gestalten. Ein Beispiel ist die Trilogie Ökonomien des Handelns des Komponisten Hannes Seidl und des Filmemachers Daniel Kötter, die sich aus den Teilen Kredit (2013), Recht (2015) und Liebe (2015–16) zusammensetzt. Auch hier gibt es eine dokumentarische Filmebene, allerdings eine, bei der die musikalischen Akteure auf raffinierte Weise integriert sind (wie bei Martinůs eben erwähnter Oper werden die Ebenen unauflöslich vermischt). Der erste Teil der Trilogie heißt im Untertitel »Stummfilm-Oratorium« und tatsächlich dienen oratorische Mittel dazu, einen (selbst gedrehten) Stummfilm zu illustrieren. Weitere Beispiele für Musiktheaterwerke, in denen die Videoebene zu einer wesentlichen Weitung der Perspektiven beiträgt, bieten Jörg Mainkas Voyeur (2004; Elzenheimer 2011), wo im Rückgriff auf Motive von Alain Robbe-Grillet und Ludwig Wittgenstein der Diskurs zwischen musikalischen und bildlichen Mitteln selbst zum Thema wird (letztere wurden bei der Uraufführung durch den Videokünstler Philip Bußmann beigesteuert), sowie verschiedene von der organischen Verknüpfung des Visuellen und Klanglichen bestimmte multimediale Arbeiten von Michel van der Aa, so etwa die Oper After Life (2005–06/09, vgl. Drees 2014). sik in Darmstadt, wo er 1958 Cage begegnete), dann aber »wohlweislich das Fach gewechselt« hat (Ablinger 2010, 236). Als Paik anlässlich seiner Video Opera (1993) zu diesem Bereich zurückkehrte und bei den Donaueschinger Musiktagen mit der Rockgruppe Einstürzende Neubauten zusammenarbeitete (1993), wagte er selbst die Prognose, dass »im kommenden Zeitalter der digitalen Revolution« (Paik 1993, 69) noch so einiges passieren würde – er meinte dabei konkret das Zusammenspiel von filmischer und musikalischer Ebene und wies auch ausdrücklich auf das Kostengünstige dieser Art von Multimedialität hin (ebd.). Heute, wo die digitale Revolution erheblich fortgeschritten ist (Lehmann 2012), ist das Zusammenwirken der Ebenen Musik und Film / Video erstens von einer leichten Handhabbarkeit und zweitens von einer neuen Selbstverständlichkeit und Häufigkeit geprägt. Viele Projekte der letzten 10 bis 15 Jahre entfernen sich denkbar weit von »klassischer« Filmmusik und zeichnen sich besonders durch eine enge Verklammerung von Video- und Musikelementen aus. Gefragt werden darf natürlich, inwieweit diese Tendenz eine modische Seite besitzt. Aber unbestreitbar ist, dass es verschiedenste kreative Möglichkeitsräume für die Verknüpfung von Musik mit Video gibt. Ganz besonders gilt dies auch für den Bereich des Musikvideos, bei dem es früher weithin üblich war, zugleich »Glanz und Elend« zu diagnostizieren (Wicke 1994). Nachdem er in nicht wenigen Teilen der Musikkultur wohl eine Zeitlang vor allem auf Misstrauen stieß (Barthelmes 1993), partizipieren an ihm zunehmend auch Komponisten, die zuvor eine »klassische« Ausbildung erhielten, aber die auch eine gewisse Vorliebe für Projekte außerhalb der klassischen Institutionen (wie etwa Opernhäuser und Sinfonieorchester) mitbringen (so etwa Olbrisch, Simon Steen-Andersen und Johannes Kreidler). 8. In und außerhalb der Institutionen 9. Neue Selbstverständlichkeiten Bedingt durch die Grenzen der meisten Institutionen des Musikbetriebs (namentlich auch jenen des Musiktheaters) gab es in früheren Jahrzehnten für Versuche der Kombination von Neuer Musik mit Film oder Video oft nur eingeschränkte Möglichkeiten. Das führte einerseits dazu, dass sich die Aktivitäten außerhalb der großen Musikinstitutionen entfalteten, namentlich in jenen der bildenden Kunst (etwa in Arbeiten von Wolf Vostell oder Phill Niblock). Aber es trug andererseits wohl dazu bei, dass der oft als »Vater der Videokunst« bezeichnete Nam June Paik, der zugleich auch ein wesentlicher Protagonist der Fluxuskunst war (Decker 1988; Stoos / Kellein 1991), zwar ausführlich im musikalischen Kontext in Erscheinung trat (er war ja auch studierter Komponist und als solcher Teilnehmer bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Mu- Durch die Verwendung von Material aus dem Internet geraten in erheblichem Maße Alltagsbezüge ins Spiel (vgl. Themen-Beitrag 4, 10.). Zuweilen dienen diese einem eher spielerischen, zuweilen aber auch einem kritischen Grundgestus  – ein viel beachtetes Beispiel für Letzteren ist etwa Generation Kill für Ensemble, vier Gamekontrollers, vier Videoprojektionen und Live-Elektronik (2012) von Stefan Prins, wo die Dominanz des Computers zum Thema wird (Ä Internet, 2.). Mit der Tendenz zu einem erheblich geweiteten Alltagsbezug hängt in vielen neueren Musikwerken der Rückgriff auf Darstellungsformen zusammen, die sonst eher aus der Welt des Fernsehens geläufig sind. Dies gilt erstens etwa für das bewusste Einblenden von Filmen, die an anderen Schauplätzen gedreht wurden, zweitens für Live-Schaltungen und drittens für 232 Film / Video jenen Trend der letzten Jahre, der durch den Rückgriff auf Elemente einer Fernseh-Show gekennzeichnet ist, etwa in Johannes Kreidlers Feeds. Hören TV (2010) oder Jennifer Walshes The Total Mountain (2014). Kennzeichnend für den Umgang mit Videoelementen ist nicht zuletzt aber die Tendenz, die Vermischung von Klang und Bild ins Hochvirtuose zu steigern. Die neue Vielfalt der digitalen Klang- und Bildbearbeitungsprogramme eröffnet schier unbegrenzte Möglichkeiten der Wechselwirkungen zwischen musikalischer und bildlicher Ebene – und die Kenntnis der ungewöhnlichsten Lösungen im Feld der Musikclips ist für jene unter den Vertretern der jüngeren Generation, die man heute (zumeist durchaus wertfrei) gern als »digital natives« bezeichnet, selbstverständlich. Hochvirtuos sind indes oft auch die Wechsel und Verschränkungen der Aufführungsebenen – dies ist etwa in den Arbeiten von Komponistinnen und Komponisten wie Michel van der Aa, Ondřej Adámek, Michael Beil, Annesley Black, Ricardo Eizirik, Patrick Frank, Neele Huelcker, Kreidler, Brigitta Muntendorf, Trond Reinholdtsen, François Sarhan, Alexander Schubert, Martin Schüttler oder Steen-Andersen zu beobachten. Manche der Genannten schufen Konzepte, deren Clou darin besteht, dass die gezeigten Videos so nah an die Bühnenwirklichkeit gerückt werden, dass es ständig neue Überschneidungen und eine verwirrende Vielfalt von Ebenen und Brechungen gibt. Beispiele dafür sind die (halb-)szenischen Werke von Frank oder Reinholdtsen, Muntendorfs Werkduo Hinterhall und Überhall (beide 2009), wo Alvin Luciers berühmtes Stück I Am Sitting in a Room (1969) in eine komplexere audiovisuelle Gesamtsituation transformiert wird (Wieschollek 2014), sowie Beils Arbeiten BLACK JACK für 17 Instrumente mit Live-Audio und Live-Video (2012) oder exit to enter für Ensemble mit Live-Audio und Live-Video (2013), aber auch die Arbeiten von Kreidler (so etwa Shutter Piece, 2012–13, für acht Instrumente mit Audio- und Videoplayback). In nicht wenigen Fällen  – beispielhaft genannt seien etwa Hans Thomallas The Brightest Form of Absence für Sopran, Ensemble, Live-Elektronik und Video (2011, gemeinsam mit William Lamson), van der Aas Up close für Violoncello, Streichensemble und Film (2010), Sarhans szenische Raumkomposition Zentral Park für neun Musiker, Elektronik und Video-Projektion (2014) oder das Klavierkonzert von Steen-Andersen (2014) – resultiert aus dem komplexen und jeweils wechselnden Miteinander von Klanglichem und Bildlichem eine ganz eigene Intensität der Wahrnehmung, die weit mehr ist als die Summe der Teilmomente. Fast trivial ist die Erkenntnis, dass die visuelle Ebene aus Stücken wie diesen nicht wegzudenken ist  – was natürlich auch für einen erheblichen Teil von Werken aus dem immer weiter wachsenden Bereich des (elektronischen) audiovisuellen Komponierens gilt. Von jenem zurückhaltenden oder sogar kleinmütigen Umgang mit filmischen Möglichkeiten, der in den »klassischen« Institutionen der Musikkultur zumindest früher zu bemerken war und die Verbindungen von Neuer Musik und Film oder Video vielerorts weithin marginalisierte, bewegen sie sich denkbar weit weg. Ä Themen-Beitrag 4; Intermedialität; Konzeptuelle Musik; Medien; Neue Musik und bildende Kunst Ablinger, Peter: Due Pratiche, in: Neue Musik und andere Künste (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 50), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2010, 236–244 „ Adorno, Theodor W. / Eisler, Hanns: Komposition für den Film [1944] (Gesammelte Schriften 15, 7–155), Frankfurt a. M. 1976 „ Barthelmes, Barbara: Das massenmediale Phänomen Videoclip als Gegenstand der Musikwissenschaft. Eine Kritik ihrer medientheoretischen Grundlagen, in: Film und Musik (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung 34), hrsg. v. 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Form und Formung „ 3. Fasslichkeit „ 4. Kontinuitäten und Brüche Der Begriff »Form« leitet sich ab von lat. »forma«, der gleich dem griechischen »morphé« leibliche Gestalt und Figur bedeutet. Auf Musik bezogen bezeichnet Form ebenfalls nicht primär ein Schema, sondern in morphologischem Sinne eine hörend erfahrbare Zeitgestalt, deren Gesamtheit sich erst nach Verklingen der Musik in der Erinnerung konstituiert (Ä Wahrnehmung, 2.). Traditionell versteht man unter musikalischer Form makrozeitliche Verläufe, strukturiert durch elementare Kategorien wie Anfang, Dauer, Ende sowie basale Relationen wie Ähnlichkeit und Differenz, Zu- und Abnahme, Wiederholung, Fortsetzung, Veränderung, Überleitung, Verzweigung, Verbindung und Kontrast. Deren Kombinationsmöglichkeiten wurden in den Kompositions- und Formenlehren des 18. bis 20. Jh.s zu allgemeinen Typen und Modellen abstrahiert. In der kompositorischen Praxis bestand Form jedoch weniger aus statischen Architekturen oder abstrakten Schemata, die gemäß bestimmter Gattungsnormen bloß mit Ä Material gefüllt wurden. Vielmehr sind Material, Technik, Ä Struktur, Form und Gehalt einander bedingende Faktoren des auf äußere Abgeschlossenheit und innere Kohärenz zielenden Kunstwerks. Das motivisch-thematische Komponieren der Klassik zielte – paradigmatisch in Beethovens Fünfter Sinfonie c-Moll op. 67 realisiert – auf organische Entfaltung von der Mikroform einer prägnanten Motivzelle über die nächst höheren Einheiten Phrase, Satz, Periode und Formteil bis zur Durchgestaltung der Makroform eines ganzen Satzes oder Sonatenzyklus. Solche Korrelation von Thema und Form bezeichnete später Arnold Schönberg als »musikalischen Gedanken« eines Werks (Schönberg 1930/92). Virulent wurde Formtheorie erst im Laufe des 18. Jh.s und verstärkt im 19. Jh., als in Abgrenzung zur wortgebundenen Vokalmusik die Instrumentalmusik zur »absoluten Musik« aufgewertet wurde. Bezog jene ihre formale Gliederung maßgeblich aus dem vertonten Text und der darauf bezogenen Ausgestaltung von Affekt, Semantik, Wortklang, Rhetorik und Deklamation, avancierte Form in der Instrumentalmusik dagegen zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie. Gemäß dem philosophischen und romantischen Idealismus (vor allem Schillers und Hegels) erhob erst Form die begriffslose Tonkunst über ihren bloß klanglichen Sinnesreiz zur Kunst und ermöglichte ihr die Darstellung von Gedanken und Ideen. Form war fortan eine mit eigenem Geist und Sinn zu gestaltende Dimension von Musik. Entgegen der später zu Formalismus und verengtem Formenkanon erstarrten akademischen Lehre erkannte Adolf Bernhard Marx im Hinblick auf die Musik von Haydn, Mozart und Beethoven in der »Form des Kunstwerks« zugleich die »Äußerung seiner Idee« (Marx 1838, 5). Und Eduard Hanslick erklärte in seiner Absage an die »verrottete« Gefühlsästhetik: »Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik« (1854, 32). 1. Form – Material – Gehalt Form bestimmt sich in Abhängigkeit von der geformten Materie. Zugleich wird Form ihrerseits zum Stoff weiterer Formung, sodass sie sich auf verschiedenen Ordnungs- 234 Form ebenen bestimmen lässt. Einzelne Töne erhalten durch die diatonische oder chromatische Tonleiter und deren Intervalle eine Form, die dann als Material zur Formung eines rhythmisch-melodischen Motivs dient, das wiederum als thematisches Material die Durcharbeitung eines Formteils oder gesamten Satzes bedingt. Solche Wechselwirkung der Ordnungsebenen verdeutlicht, dass die häufig komplementär gedachten Pole Form–Materie, Form–Technik, Form–Inhalt, Form–Werk und Form–Gattung keine starren Gegensätze sind, sondern korrelierende und zuweilen bis zur Identität deckungsgleiche Bezugsebenen. Die Fuge ist z. B. zugleich Technik, Gattung, Form und Werk sowie wegen der sprechenden Herkunft ihres Begriffs (lat. / ital. fugare: jagen, fliehen) in Einzelfällen sogar Gehalt und Aussage der Musik. Für Theodor W. Adorno sind bei der traditionellen Musik daher Form, Inhalt und Ausdruck »durcheinander vermittelt«, weshalb sich der »Rang der Werke« danach bemesse, »wie tief jene Vermittlung gelang« (1966/78, 608). Anhand der Ausdruckscharaktere Durchbruch, Suspension und Erfüllung bei Gustav Mahler skizzierte Adorno vor dem Hintergrund solcher »Vermittlung« die Idee »einer materialen Formenlehre, also der Deduktion der Formkategorien aus ihrem Sinn« (1960/71, 193). Weil abstrakte Formkategorien und harmonische Abläufe den musikalischen Verlauf zwar stützen, aber die historisch überkommenen Gerüste durch Überlagerung mit individuellem Material selber keinen Sinn mehr ergeben, kann »materiale Formenlehre« im Sinne strukturaler Hermeneutik insbesondere zur Analyse neuer Musik beitragen, die nach der Emanzipation von geschichtlich kodifizierten Formtypen auf je eigene Weise Form und Gehalt vereint (Danuser 2007). Mit dem Zerfall der formbildenden tonalen Spannungsverläufe und der an einen festen Kanon von Formmodellen gebundenen Gattungen verlor die neue Musik des 20. Jh.s den Bezugsrahmen, vor dem sich das Besondere des einzelnen Werks wahrnehmen ließ. Fortan gab es nur noch individuelle Formen ohne verbindlichen Vergleichsmaßstab. Pierre Boulez brachte dies 1960 auf den Punkt: »Dieses ganze Stützwerk von Schemata musste schließlich der Vorstellung einer in jedem Augenblick erneuerbaren Form weichen. Jedes Werk sollte seine eigene Form selbst hervorbringen, eine Form, die unausweichlich und irreversibel an ihren Inhalt gebunden war« (1960/85, 56 f.). Die teils schleichende, teils offensiv betriebene Auflösung des Werkbegriffs im Zuge von Ä serieller Musik, Aleatorik, Indetermination und Ä Zufall suspendierte unter dem Oberbegriff »offene Form« die elementarsten formkonstituierenden Faktoren Anfang, Dauer und Ende (Boehmer 1967). Form wurde als produktions- und rezeptionsästhetische Kategorie irrelevant, da Musik nur noch begann und abbrach ohne dass ihr Beginn ein eigens gestalteter Anfang gewesen wäre und ihr Schluss das Vorangegangene nachvollziehbar geschlossen oder beendet hätte. Eine Definition musikalischer Form, die in der Fülle individueller Formen das Allgemeine und Wesentliche zu benennen sucht, wurde dadurch unmöglich. Der Leiter der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt Ernst Thomas bezeichnete daher bei den 20. Ferienkursen 1965 das Kongressthema Form in der Neuen Musik als das »problematischste Thema der musikalischen Gegenwart« (1966, 7). 2. Form und Formung Wo ein Stück seine Form aus eigenen materialen Setzungen entwickelt, erscheint Form nur noch als Individualgestalt, die sich letztlich nicht mehr von der Gesamtheit des Materials und dessen Strukturen und Prozessen unterscheidet: »Weil keine Formen mehr sind, muss alles Form werden« (Adorno 1966/78, 624). Adorno setzte daher »Form im aktuellen Sinne« mit der »Totalität der musikalischen Erscheinung« gleich (ebd.). Ganz ähnlich bestimmte Hermann Erpf die Form eines Musikwerks mit der »Gesamtheit der im Hören erlebten Beziehungen seiner Töne« (1967, 14). Dagegen beharrte Carl Dahlhaus auf einem Verständnis von Form als einer primären und eigenständig zu gestaltenden Dimension, die sich nicht darin erschöpft, lediglich sekundäre Folge automatisierter Prozesse und materialer Vordispositionen zu sein. Hieraus erklärt sich auch Dahlhaus ’ Skepsis gegenüber den damals von Karlheinz Stockhausen neu eingeführten Formbegriffen, die statt der Form in Wirklichkeit bloß die »Formung« beschrieben, also nur die Genese, Kompositionstechnik und Strukturierung einzelner Teile: »Wer einzig die Hervorbringung von Musik akzentuiert und die Wechselwirkung von Formung und Form, Entstehung und Ergebnis vernachlässigt, tendiert zur Abschaffung von Formkategorien« (Dahlhaus 1966/2005, 428). In gleicher Weise beharrte Walter Gieseler darauf, alle Musik realisiere sich hierarchisch in den drei Schichten Material, Struktur und Form (1975, 130). Die parametrisch getrennte Organisation von Tonhöhe, Dauer, Stärke, Artikulation und Dichte (Ä Parameter) in Werken wie Boulez ’ Structures I (1951) oder Stockhausens Kontra-Punkte (1953) führte dazu, dass zwar alle Klangereignisse durch eine Gesamtkonstruktion determiniert waren, sich aber von Ton zu Ton ständig sämtliche Klangeigenschaften änderten und der Hörer tendenziell nur eine Folge zusammenhangloser Tonpunkte wahrnahm. Stockhausen prägte dafür im Anschluss an Herbert Eimert die Termini »punktuelle Form« bzw. »statistische Form«, um neben der Genese dieser Musik 235 ausdrücklich auch deren Ergebnis und Erscheinungsweise zu benennen (Stockhausen 1952/63; 1953/63, 59). Die von Dahlhaus formulierte und später vielfach fortgeschriebene Kritik (Kühn 1995, 634), Stockhausens Begriffe sagten wenig oder nichts über die Form und das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen (Dahlhaus 1966/2005, 428), ist daher nur teilweise zutreffend. Tatsächlich ging es Stockhausen bei der Weiterentwicklung der seriellen Musik vor allem um eine bessere Wahrnehmbarkeit von Form. Durch die »Gruppenkomposition« verband er mehrere Klänge zu übergeordneten und damit formal wirksamen Erlebnisqualitäten. Statt weiterhin nur isolierte Tonpunkte zu komponieren, deren permanent hohe Differenz letztlich Eintönigkeit bewirkt, behielt er für bestimmte Abschnitte eine oder mehrere gemeinsame Eigenschaften bei, sodass größere Material-, Zeit- und Erlebniseinheiten entstanden. Nach dem Motto »Nicht Gleiches in anderem Licht […], sondern immer Anderes im gleichen Licht« (Stockhausen 1955/63, 70) herrscht in jeder der 174 Tongruppen seiner Gruppen für drei Orchester (1955–57) eine bestimmte, formbildende Klangeigenschaft. Ähnliche Funktion hatten Boulez ’ »Formanten« als generelle Organisationsprinzipien und Auswahlkriterien, die innerhalb einer Großstruktur verschiedene Einzelereignisse zu kohärenten Feldern zusammenführen und so den Formverlauf der Musik artikulieren sollten (Boulez 1960/85, 58). Damit verschob sich der Blickwinkel von der bloßen Produktion zur Morphologie und Ä Rezeption der Musik unter Berücksichtigung informationstheoretischer Gesichtspunkte. Bereits die Idee der Einheit von Mikro- und Makrostrukturen, wie sie Stockhausen in seinen berühmten Aufsätzen …wie die Zeit vergeht… (Stockhausen 1957/63) und Momentform (Stockhausen 1960/63) formuliert hatte, stützte sich auf damals aktuelle wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse. Im Verlauf der 1960er und 70er Jahre stark von Komponisten rezipiert wurden insbesondere Texte von Max Bense sowie Abraham A. Moles ’ Studie Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung (Moles 1958/71; vgl. Borio 2005, 257–267). Nach dem von Moles ermittelten Schwellenwert für das menschliche Unterscheidungsvermögen verschiedener Dauern im Verhältnis 5:6 definierte z. B. York Höller für die Rhythmik seines Stücks Tangens für Violoncello, E-Gitarre, Klavier, E-Orgel und zwei analoge Synthesizer (1973) eine Zeitwerteskala und für den Formverlauf eine Folge charakteristischer Ereignisfelder mit Dauern zwischen einer halben Sekunde und drei Minuten (Höller 2004). Form 3. Fasslichkeit Auf dem »Gruppen«-Prinzip aufbauend entwickelte Stockhausen in Kontakte (1958–60) die »Momentform« (Ä Zeit). »Moment« definierte er als qualitativ selbstständigen Gedanken von unverwechselbarer Charakteristik und quantitativ variabler Zeitstruktur. Im Gegensatz zur dramatischen Finalgerichtetheit traditioneller Steigerungs-, Bogen- und Reihungsformen bildet sich die Momentform idealerweise aus rein gegenwärtigen Ereignissen, die alle gleich unmittelbar zum Zentrum des Werks stehen, d. h. trotz Korrespondenzen zueinander nicht Resultate des Vorangegangenen oder Vorstufen des Nachfolgenden sind. Laut Stockhausen kennt die Momentform daher weder Entwicklungsrichtung noch Anfang oder Ende. Stattdessen strebt sie nach ständiger »Konzentration auf das Jetzt« eines durchgehaltenen »Niveaus fortgesetzter ›Hauptsachen‹« (Stockhausen 1960/63, 199). Die Partitur von Stockhausens Momente für Sopran, 4 Chorgruppen, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 elektrische Orgeln und 3 Schlagzeuge (1962–64/69) besteht aus losen Bögen mit insgesamt 30 »Momenten« und 71 »Einschüben«, die in beliebiger Reihenfolge aufgeführt werden können. Mixtur für 5 Orchestergruppen, Sinuswellengeneratoren und 4 Ringmodulatoren (1964) existiert sowohl in einer »Vorwärts-« als auch in einer »Rückwärtsversion«, bei der alle Momente – die für sich genommen unangetastet bleiben – in umgekehrter Reihenfolge gespielt werden. Wegen solcher Offenheit des Verlaufs sprach Stockhausen auch von »offenen Formen«, »Jetztformen«, »unendlichen Formen« (ebd., 205) und »variabler Form« (Stockhausen 1961/63, 237). Beliebige Auswahl und Reihung von Formteilen bis hin zur Auflösung des traditionellen Verständnisses von Werk als verbindlich fixiertem Sinnzusammenhang finden sich u. a. auch bei Henri Pousseur, Morton Feldman, Christian Wolff und Earle Brown, etwa in dessen graphischen Notationen Folio (1952–54) und mobilen Available Forms I und II (1961–62), sowie radikalisiert bis zur Aufgabe jeglicher Vorgaben zu Art, Anzahl und Abfolge der Klangereignisse in den indeterminierten Werken von John Cage, etwa dem Concert for Piano and Orchestra (1957–58) oder den Variations I (1958). Durch Gruppen- und Moment- bzw. Formant-Komposition zielten Stockhausen und Boulez auf die Aufhebung der »Antinomie zwischen erdachter und erlebter Form« (Boulez 1960/85, 62) sowie auf eine Variabilität der Formteile, die von den Interpreten bei jeder Aufführung auszuwählen sind – teils frei nach Belieben, teils nach bestimmten Regeln. Auf der Grundlage anderer Materialität und Technik verfolgte György Ligeti mit der mikropolyphonen Klangfarbenkomposition ein ähnliches Anliegen. Im Or- 236 Form chesterwerk Atmosphères (1960–61) zeitigen sukzessive Veränderungen der Dichte, Dynamik, Lage, Instrumentation und Verwebungsweise von Netzen schnell repetierter Melodiefragmente und Liegeklänge einen teils gleitenden, teils kontrastiv umschlagenden Formverlauf, der dem von Adorno im Darmstädter Vortrag Vers une musique informelle (1961/78) skizzierten Ideal einer Ä »informellen Musik« nahe kommt, in der nicht abstrakt gesetzte, sondern ursächlich »von unten« aus dem Material hervortreibenden Formverläufe gefunden werden. Die Transformation und Ablösung unterschiedlicher energetischer Gewebe und Aggregatzustände kann dabei – wie auch in Werken der späten 1950er und 60er Jahre von Krzysztof Penderecki, Friedrich Cerha, Giacinto Scelsi und Tōru Takemitsu  – in verschiedene Richtungen und Räume verlaufen. Daher ließ sich auch von »vektoriellen Formen« sprechen. Beim Darmstädter Form-Kongress 1965 verwies Ligeti auf das im Vergleich zu klassischen Formen in neuer Musik grundsätzlich veränderte Verhältnis von Detail und Ganzem, weshalb es bei Fragen der Form nicht mehr um bloße Gliederung gehe, sondern mit der Wirkungsweise der Teile innerhalb des Ganzen die »Kategorie der Funktion« maßgeblich werde (Ligeti 1966/2007, 185). Materialimmenente Formverläufe zeitigen auch Konzeptstücke wie Ligetis Poème symphonique (1962), bei dem einhundert verschieden eingestellte mechanische Metronome eine polyrhythmische und sukzessive ausdünnende Impulsfolge bilden. Der klar gerichtete Verlauf dieser Massenstruktur bildet also eine Prozessform, ebenso wie die selbstständig ablaufenden technischen Anordnungen von Steve Reichs Tonbandstück It ’ s Gonna Rain (1965) oder Alvin Luciers Raum-Klang-Installation I Am Sitting in a Room (1969). Im Ä Minimalismus werden fortwährend repetierte Patterns – bei Reich etwa durch geringfügige Phasenverschiebungen (phase shifting) – sukzessive so gegeneinander versetzt, dass ein ständig pulsierender und sich fortwährend wandelnder Klangfluss entsteht. Werke wie Reichs Piano Phase (1967), Pendulum Music (1968) oder Music for Eighteen Musicians (1974–76) sind daher nicht allein das Ergebnis struktureller Überlegungen, sondern vollziehen sich wesentlich prozesshaft als Entfaltung einer Basisstruktur. Klang- und Formverlauf sind hier weitgehend identisch. Diese Tendenz zur Einheit von Klang und Form benennt auch Helmut Lachenmann mit dem Hinweis auf die Austauschbarkeit der Begriffe »Strukturklang« und »Klangstruktur« (1966/93/96, 17). Vielfach praktiziert  – wenn auch selten theoretisch reflektiert  – wird in neuer Musik das Theorem des russischen Formalismus und späteren Strukturalismus, wonach neue Formen nicht entstehen, um neue Inhalte auszudrücken, sondern um alte Formen abzulösen, die infolge ihrer Normierung der Wahrnehmung nicht mehr adäquat sind und die es daher zu stören bzw. zu verfremden gilt (Šklovskij 1916/1994). Dies könnte die zentrifugalen Tendenzen der immer weiter pluralistisch ausdifferenzierten Formgestaltung der neuen Musik erklären. Auch Niklas Luhmanns Systemtheorie beschreibt einen »differenztheoretischen Umbau des Formbegriffs«, der anstelle des wie auch immer geordneten Inhalts einer Form den Schwerpunkt auf deren Differenz legt, weil Wiederholung des Bestehenden keinen Informations- und Kommunikationswert habe, das System Kunst aber wesentlich auf Kommunikation basiere (Luhmann 1997, 49). Formale Experimente und Kreuzungen ursprünglich eigenständiger Modelle zu hybriden Mischformen wie Sonatenrondo, Fugenfinale oder Sonatenscherzo gab es schon in Beethovens späten Klaviersonaten und Streichquartetten sowie bei Robert Schumann, Johannes Brahms und an der Schwelle zur neuen Musik um 1900 bei Richard Strauss und Gustav Mahler. Schönberg überlagerte statische und dynamische Formtypen simultan, z. B. einen in sich krebsgängig zurücklaufenden Doppelkanon mit einer progredierenden Variationenfolge im Mondfleck des Pierrot lunaire op. 21. In Anlehnung an solche Doppelformen und das von Cage vielfach angewandte Konzept der Simultanaufführung mehrerer eigenständiger Werke prägte später Claus-Steffen Mahnkopf die dekonstruktivistische Idee des »Poly-Werks« (Mahnkopf 2002) und entwickelte Robert HP Platz seine »Formpolyphonie« (Platz 1993). In beiden Fällen können mehrere Werkteile oder ganze Werke sowohl getrennt als auch simultan oder überlappend aufgeführt werden. 4. Kontinuitäten und Brüche Ein zentraler Ansatz der neuen Musik ist auch das von Schönberg im Anschluss an Brahms geprägte Modell der entwickelnden Variation (Schönberg 1923–36/2006), bei der sich die Abwandlungen nicht auf dasselbe Thema als verbindlichen Ausgangspunkt beziehen, sondern jede Variation die jeweils vorherige weiter entwickelt, möglicherweise bis zu kompletter Unähnlichkeit mit dem Ursprung. Noch Mathias Spahlinger griff in seinem Orchesterwerk passage / paysage (1989–90) auf diese Technik bzw. Entwicklungsform zurück, indem er die normalerweise sukzessive aufeinander folgenden Variationsstadien trennte, ihre Reihenfolge umstellte und mit Stadien anderer Entwicklungsstränge interpolierte. Weitere wichtige Formprinzipien der neuen Musik sind Ä Collage, Montage, Reihung (Parataxe), Aphoristik, Fragmentarisierung (Ä Fragment), Desorganisation, Schablonen- und Modultechnik, vegetativ und rhizomatisch wuchernde Gebilde sowie stochastische und streng formalisierte, teils mithilfe 237 des Computers generierte Abläufe (Ä Elektronische Musik; Ä Neue Musik und Mathematik) wie bei Iannis Xenakis, James Tenney, Tom Johnson u. a. Ferner zu nennen sind die Prinzipien generativer Formung in Stockhausens »Formelkomposition« und York Höllers damit verwandte Arbeit mit Klang- und Zeitgestalten (Höller 2004) sowie Enno Poppes prozessuale Entfaltungen kleinster instrumentenspezifischer Keimzellen nach rekursiven Modellen und Fraktalen (Nonnenmann 2014). Eine Besonderheit bildet die gezielte Suspension jeglicher Formwahrnehmung durch extreme Längen (Ä Zeit), etwa in Werken La Monte Youngs oder Morton Feldmans, z. B. in dessen fünfstündigem String Quartet II (1983). Bei aller Neuerung und nominalistischen Vereinzelung der Werke kennt die neue Musik auch Fortschreibungen und Restaurationen traditioneller Formen. Nachdem Schönberg während seiner frei-atonalen Phase, zumal im expressionistischen Monodram Erwartung op.  17, eine von allen konventionellen Perioden- und Formbildungen befreite und wiederholungslos vorandrängende musikalische Prosa (Ä Sprache / Sprachkomposition) komponiert hatte, griff er in seinen ersten zwölftönigen Werken der 1920er Jahre auf barocke und klassische Formmodelle wie Sonate, Rondo, Variation, Menuett und Gavotte zurück. An tradierte Gattungen wie Sinfonie, Konzert, Streichquartett, Lied, Arie und Oper samt deren Formenkanon knüpften seit den 1970er Jahren im Zuge neo-romantischer Tendenzen auch einige um 1950 geborene west-deutsche Komponisten wie Hans-Jürgen von Bose, Wolfgang Rihm, Wolfgang von Schweinitz und Manfred Trojahn an, deren teils neotonale und auf unmittelbar erlebbaren Ausdruck zielende Werke seit dem gleichnamigen WDR-Festival 1977 mit dem Schlagwort »Neue Einfachheit« (Ä Komplexität / Einfachheit) etikettiert wurden. Hinzu kommt, insbesondere im Kontext von spirituell inspirierter neuer Musik, eine Tendenz zur Wiederbelebung symbolischer Formen, die auf bestimmten Symmetrien und Proportionen – etwa dem Goldenen Schnitt (Ä Neue Musik und Architektur) – basieren oder die, wie Sofija Gubaidulinas In croce (1979) und Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes (2000), einer das christliche Passions- und Heilsgeschehen symbolisierenden Kreuzung vertikaler und horizontaler Konstruktionsachsen folgen. Von nachhaltigem Einfluss auf die Formbildung der neuen Musik war schließlich die Rezeption außereuropäischer Formmodelle, insbesondere durch eine Aneignung ostasiatischer Philosophie und Musik. Dabei wurde vorwiegend eine (etwa im japanischen Zen-Buddhismus kodifizierte) orthodoxe klassische Ästhetik rezipiert, die auf eine Hinwendung zu Moment, Diskontinuität und unscharfer Symmetrie zielt. Neben John Cages aus der Form Rezeption des Zen- und Huayan-Buddhismus resultierendem Modell eines unbegrenzten Kontinuums aus Klang und Stille (Utz 2002, 71–116) wurden vergleichbare Figuren auch von führenden Komponisten des ostasiatischen Raums wie Isang Yun, Chou Wen-Chung oder Tōru Takemitsu in den Vordergrund gerückt (ebd., 222–311). Die kulturessentialistische Konzeptualisierung von asiatischen »Charakteristika« wie der fortwährenden Veränderung, Variation, Einfärbung des Einzeltons, der konstitutiven Bedeutung von Stille, anti-finalistischen Formkonzepten bzw. anti-kausalistischen Zeitauffassungen konvergierte mit einer allgemeinen Formskepsis in weiten Bereichen der neuen Musik, führte dabei jedoch teilweise zu verkürzenden national-kulturalistischen Zuschreibungen von Formmodellen (Ä Themen-Beitrag 9, 2.). Ä Themen-Beitrag  3; Analyse; Kompositionstechniken; Musiktheorie Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik [1960] (Gesammelte Schriften 13), Frankfurt a. 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Sein Auftauchen im philosophischen Diskurs über Kunst bzw. in der Theorie und Praxis der verschiedenen Kunstformen ist symptomatisch für eine kritische Neubewertung der Beziehung zwischen der Totalität und der sie konstituierenden Teile, nach der die Synthese der Mannigfaltigkeit in einem einheitlichen Ganzen in Frage gestellt wird (Ostermann 1991; Fetscher 2001). Damit verbunden ist eine Negierung des Hegelschen Ideals vom Schönen und Wahren als organische Totalität. Theodor W. Adorno formulierte dies in einem prägnanten Aphorismus: »Das Ganze ist das Unwahre« (Adorno 1951, 56). Diese Negierung erhält in der Kunstreflexion einen positiven Wert, z. B. bei Ernst Bloch (als »Vor-schein« einer utopischen Totalität; 1959, 250–255) und bei Adorno selbst (»Die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen«; Adorno 1970, 283). Wie in anderen Kunstformen, so ist auch in der Musik der Übergang zur modernen Ästhetik um die Wende vom 19. zum 20. Jh. in signifikanter Weise durch eine Krise des Begriffes des organischen Ganzen gekennzeichnet. Als eine sich in der Ä Zeit artikulierende Kunst macht Musik das Fragmentarische insbesondere auf formaler Ebene erfahrbar als Isolierung einzelner Teile vom Kontext und schlägt sich – als »momentan« bzw. »diskontinuierlich« – in der Hörerfahrung nieder (Ä Form, Ä Wahrnehmung). Durch die Krise der tonalen Sprache und die damit verbundene Schwächung der traditionellen formbildenden Zusammenhänge ist in der ersten Hälfte des 20. Jh.s eine Tendenz zum Fragmentarischen zu beobachten, die sich in der kompositorischen Praxis auf zwei gegensätzliche Kriterien stützt. Man könnte diese beiden Richtungen als »Fragmentierung von innen« und »Fragmentierung von außen« differenzieren (Cavallotti 2007, 216–223). Gemeint ist im ersten Fall eine Zurückweisung des ästhetischen Ideals eines organischen Kunstwerks als Ausdruck eines Unbehagens des kompositorischen Subjektes gegenüber dem veränderten Stand des musikalischen Ä Materials (»von innen«), die sich in der Ablehnung der mit diesem Ideal verbundenen Sinnzusammenhänge und musiksprachlichen Kriterien manifestiert. Beispielhaft sind hier die posttonalen expressionistischen Werke Arnold Schönbergs wie das Monodram Erwartung (1909), dessen Form als Folge von ein bis fünf Takte langen Abschnitten (Dahlhaus 1974/2005, 708) beschrieben werden kann, wobei jeder Abschnitt einen einzigartigen, unabhängigen und unwiederholbaren Moment darstellt (Wörner 1970, 102). Adorno interpretiert den expressionistischen Gestus Schönbergs als Resistenz des kompositorisches Subjekts gegen den Scheincharakter des bürgerlichen Kunstwerks; Schönbergs Musik dementiere »den Anspruch, Allgemeines und Besonderes seien versöhnt« (Adorno 239 Fragment Abb. 1: Bruno Maderna, Serenata per un satellite (© 1970 by Casa Ricordi, Milano) 1949/75, 45). In anderen musikalischen Tendenzen der ersten Jahrhunderthälfte erscheint dagegen eine Art der Fragmentierung, die von der Heterogenität der objektiven Realität ihren Ausgang nimmt (»von außen«) und durch Verwendung von aus anderen Kunstbereichen hergeleiteten technischen Verfahren wie Montage und Ä Collage die musikalische Formartikulation prägt. Dabei wird die Exposition von Materialien zulasten ihrer Entwicklung bevorzugt: Der Komponist zielt nicht auf die Herstellung logischer Verhältnisse in der Abfolge formaler Sektionen, sondern auf die Erzeugung neuer Sinnzusammenhänge durch Nebeneinanderstellen von heterogenen Momenten bzw. Fragmenten. Das geeignetste Mittel dafür ist auch in der Musik die Verwendung von Zitaten oder Stilimitationen (Ä Collage / Montage, Ä Stil). Beide Phänomene sind praktisch in jeder Epoche der westlichen Musik präsent, gewinnen aber im 20. Jh. zunehmend an Bedeutung (Lissa 1966, 1975), wie etwa in Werken von Erik Satie oder Charles Ives, wo eine Tendenz zur Zersplitterung des musikalischen Verlaufs durch die unvermittelte Behandlung der Zitate als stilistische Fremdkörper deutlich wird. Ein vergleichbares Phänomen stellen die Montagetechniken Igor Strawinskys vor allem in seiner sog. neoklassizis- tischen Periode dar. Sie basiert auf einer konstruktiven Poetik des Nebeneinanderstellens von heterogenen rhythmisch-motivischen Zellen bzw. formalen Abschnitten, wodurch die ursprüngliche Einheit der Modelle verfremdet wird (Scherliess 1983, 130–142). 2. Nach 1950 In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s gewinnt das Verhältnis zwischen Fragment und Totalität neue Konturen. Lässt sich in der frühen Phase der Ä seriellen Musik im Prinzip der strukturellen Stimmigkeit der Anspruch erkennen, die Teile im Ganzen zu integrieren, so forderte Pierre Boulez bereits 1954 auch für diese Musik »das Recht auf Zwischenbemerkungen und auf Kursivschrift« (Boulez 1954/72, 57), d. h. die Möglichkeit, heterogene Momente und diskontinuierliche Zeitabläufe auch innerhalb einer rigorosen globalen Organisation zuzulassen. Anfang der 1960er Jahre kam Karlheinz Stockhausen zu seiner theoretischen und praktischen Formulierung der »Momentform«; gemeint ist damit die Artikulation der Form als Folge von äußerst prägnanten Abschnitten bzw. von mit einem je eigenen Zentrum ausgestatteten Momenten, die zu der utopischen Vorstellung eines Werkes führen soll- 240 Fragment te, das »immer schon angefangen« hat und »unbegrenzt so weiter gehen« könnte (1960/63, 200). Dies legitimiert Stockhausen mit der Fragmentierung der musikalischen Erfahrung, da die Momentform »den Hörer von der Aufgabe [befreit], einen musikalischen Verlauf als tönenden Diskurs von Anfang bis Schluss zu verfolgen« (Danuser 2006/14, 445). Mit der Zufallspoetik John Cages (Ä Zufall) und deren Rezeption in Europa werden Fragmentierung und Diskontinuität Anfang der 1960er Jahre zu allgegenwärtigen Phänomenen, die sogar in der Ä Notation Spuren hinterließen – man denke an Earle Browns graphische Partituren oder an Bruno Madernas Serenata per un satellite für Ensemble (1969), in der die Notenzeilen kreuz und quer auf dem Notenblatt angeordnet werden und sich dabei an einigen Stellen auch überschneiden (Abb. 1). Ein extremes Beispiel fragmentarischer Musik ist Franco Donatonis Souvenir für Orchester (1967): Das Werk besteht aus insgesamt 363 Fragmenten von Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57), die auseinander geschnitten, dann in einer Schachtel gemischt, durch vollkommen arbiträre Verfahren bearbeitet (wie die Tilgung jedes Tons in Pianissimo usw.) und in zufälliger Reihenfolge wieder aneinander geklebt wurden. In den späteren 1960er Jahren häuft sich die Verwendung von Collagetechniken (Budde 1972) und es entstehen durch diese Verfahren einige der bekanntesten Werke der neuen Musik wie Luciano Berios Sinfonia für acht Solostimmen und Orchester (1968–69) oder Mauricio Kagels Ludwig van für variable Besetzung (1969–70). Auch in diesem Kontext konfiguriert sich das Verhältnis zwischen Teilen und Ganzem bei jedem Werk anders: Gerade weil die Collage eine Fragmentierung des musikalischen Diskurses erzeugt, bemühten sich einige Komponisten – wie z. B. Stockhausen in Hymnen für elektronische und konkrete Klänge (1966–67) oder Bernd Alois Zimmermann in Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) – (zum Teil serielle) Integrationssysteme zu entwickeln, um dem Heterogenen Kohärenz zu verleihen. 3. Seit den 1980er Jahren Aus dem pluralistischen Panorama der neuen Musik seit den 1980er Jahren seien hier noch zwei Tendenzen eines fragmentorientierten Komponierens herausgegriffen: (1) Ausgelöst durch die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975–2008), die das Fragmentarische im Werk Friedrich Hölderlins sichtbar machte, stieg in der Musik das Interesse für diesen Dichter – z. B. bei Komponisten wie György Ligeti, Wolfgang Rihm, Hans Zender und bei Luigi Nono in seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979–80) – in einem Maße, dass man »mit Blick auf die Kombination von ›Hölderlin‹ und ›Fragmenten‹ schon beinahe von einer Art Gattung sprechen [möchte]« (Meyer 2004, 286; Ä Neue Musik und Literatur). (2) Ab dem Ende der 1970er Jahre entwickelte sich (z. B. bei Donatoni und Brian Ferneyhough) eine Poetik des Fragments, die sich auf die nicht-signifikante Nebeneinanderstellung von stark geprägten und individuell gestalteten motivischrhythmischen Zellen bzw. »Figuren« stützt (Cavallotti 2006) und die mehr oder weniger explizit auf das im Kontext des französischen Poststrukturalismus entstandene Rhizom-Modell (Deleuze / Guattari 1980) verweist. Ferneyhough hat dabei besonders rigorose Strategien der Zersplitterung und Unterbrechung entwickelt, die »Momente, in denen unser Bewußtsein sich aus dem unmittelbaren Fluß der Ereignisse löst«, erzeugen sollen (Ferneyhough 1990, 14). In jüngeren Werken wie Plötzlichkeit für großes Orchester (2004–06), Chronos–Aion  – Konzert für Ensemble (2008) oder dem Sechsten Streichquartett (2010) ist diese Unterbrechungsstrategie radikalisiert zur »sausage-slicer technique« (Archbold 2011, 49), in welcher der musikalische Verlauf aus mehr als einhundert kleinen Zellen zusammengesetzt wird. 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Zum anderen ist der Gattungsbegriff wie kaum ein anderer geeignet, die unterschiedlichen Aspekte der musikalischen Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Institutionengeschichte, Stilgeschichte und Kompositionsgeschichte miteinander zu »vernähen«. Ein musikalischer Gattungsname kann auf einen Aufführungsort und -kontext (z. B. Kirche, Oper, Tänze), auf eine Besetzung (z. B. Ä Streichquartett, Bläserquintett), auf ein Stilniveau und Stilmerkmale (z. B. Messe als figuralmusikalische Gattung im christlichen Kultus), auf einen Formtypus (z. B. Sonate), auf kompositionstechnische und musikästhetische Normen (z. B. Fuge), auf einen Produkttypus des Musikalienhandels (z. B. Variationen über beliebte Opernmelodien) oder auf die Tradition und Geschichte der mit dem Gattungsnamen verbundenen Einzelwerke (z. B. John Cages Europeras, 1985–91) verweisen. Der systematische Ort des Gattungsbegriffs in der Ä Musikhistoriographie ergibt sich aus seiner Funktion, mehrere Werke epochenspezifisch oder -übergreifend anhand verallgemeinerbarer Kriterien zu einer Gruppe zusammenzufassen. 2. Gattungsbezüge und Gattungskritik in der neueren Musikgeschichte Für die neue Musik ist das Konzept der musikalischen Gattung nur vordergründig von untergeordneter Bedeu- tung (Dahlhaus 1969/2005; Danuser 1995, 1064–1066; Marx 2004, 2005; Mauser 2005). Während zwar zutrifft, dass mit dem Traditionsbruch, auf den sich Ä neue Musik stützt, das im 19. Jh. noch weitgehend stabile »System der Gattungen« (Dahlhaus 1973/2003, 388 f.) seine konstitutive Rolle verliert, so lässt sich doch zeigen, dass sich im Bereich der neuen Musik (1) ein Feld genuiner musikalischer Gattungen etabliert hat wie etwa das in der Regel einsätzige »Kammerensemblewerk«, dass (2) das traditionelle System der Gattungen weiterhin als Bezugs- und Orientierungsrahmen dienen konnte und dass schließlich (3) im Übergang in die Ä Postmoderne, die reflexive Ä Moderne oder das musikgeschichtliche 21. Jh. Tendenzen einer Rückkehr der Gattungen zu beobachten sind (Danuser 1995, 1065 f.). Dass das System der Gattungen des 19. Jh.s im Milieu der neuen Musik seine Verbindlichkeit verliert, bedeutet zunächst, dass Sonate, Konzert, Sinfonie, Lied, Oper und Ä Kammermusik keine Selbstverständlichkeit mehr beanspruchen können. Mit Blick auf die Sinfonische Dichtung, das Musikdrama Richard Wagners oder das poetische Klavierstück lässt sich Vergleichbares allerdings schon in der Musikgeschichte des 19. Jh.s nachweisen: »Daß die Gattungen überhaupt […] an Bedeutung einbüßten, ist geradezu eines der entscheidenden Merkmale, durch die sich die Zeit nach 1850 als Epoche von der Klassik und der frühen Romantik abhebt« (Dahlhaus 1973/2003, 381). Aufgrund der Tendenz, Gattungsnormen entweder dadurch zu lockern, dass man sie nach außen hin individualisiert (z. B. durch Individualisierung des Titels), dass man mit Mischformen experimentiert oder aber dadurch, dass der konstituierende Rahmen eines Formmodells bei Beibehaltung des Gattungsnamens intern aufgeweicht wird, beginnt das System der Gattungen lange vor dem Aufkommen der neuen Musik zu erodieren. Im Rahmen der neuen Musik wird sich diese Tendenz durch fortschreitende Individualisierung und Aufhebung von Normbesetzungen dann allerdings deutlich intensivieren. In dem Maße, in dem neue Musik ihre eigenen Ä Institutionen ausbildet, etabliert und verfestigt sich gleichzeitig jedoch ein äußerer Rahmen, der zur Entstehung genuiner Gattungen beiträgt. Interpreten als Auftraggeber und als Adressaten neuer Musik fixieren Normbesetzungen und vielleicht sogar Gattungsstile  – man denke etwa an den Einfluss, den das Arditti Quartett auf die Gattungsgeschichte des Streichquartetts nach 1980 hatte. Die Institution Ä Konzert definiert auf ihre Weise verschiedene Gattungsrahmen: Man wählt – oft schon im Zuge der Auftragserteilung  – zwischen der Besetzungsgröße klein – mittel – groß und lässt entsprechend Solisten / Kammermusiker – Ensembles – Orchester auftreten. 243 Diesen Normen entsprechen typische Aufführungsdauern. So hat sich deutlich erkennbar die Norm des etwa zwanzigminütigen Ensemblewerks oder (etwas weniger häufig) des eine Konzerthälfte füllenden größeren Orchesterwerks von etwa 45 Minuten Dauer herausbilden können. Mit Blick auf die hohe Individualisierung der Werktitel könnte man hier von Gattungen ohne Gattungsname sprechen. Im Unterschied zu den zentralen Gattungssträngen des 18. / 19. Jh.s (Sonate, Oper usw.) bleibt der musikalisch formale Aspekt dieser neuen Gattungen allerdings weitgehend frei von verbindlichen Modellen und Verarbeitungsweisen. Anders sieht es bei einem von Einzelwerken ausgehenden Gattungswachstum aus, das sich an vielen Beispielen aus der Geschichte der neuen Musik zeigen lässt. Wegweisende Werke wie Arnold Schönbergs Pierrot lunaire op.  21 für eine Sprechstimme, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier (1912) konnten gerade in ihrer Individualität gattungsnormativ werden: Durch Einflussnahme und kompositorisches Anschlusshandeln etablierte sich in den Jahren nach dem Pierrot lunaire die (Sub-)Gattung »Ensemblelied« (Meyer 2000). Auch die instrumentale Quintettbesetzung (ohne Stimme) wurde äußerst häufig aufgegriffen und sollte als »Pierrot-Besetzung« eine eigene Gattungs(sub)kategorie ausbilden (Ä Kammerensemble). Dass vor allem charakteristische Besetzungen eine gattungsprägende Wirkung hatten, gilt insgesamt für die Geschichte der neuen Musik, so auch im Gebiet der Solowerke für nahezu sämtliche Instrumente, insbesondere auch für jene, die vor 1945 kaum über ein eigenes Solorepertoire verfügten (Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen). Wenn man im Unterschied zur Musik des 18. und 19. Jh.s im Bereich der neuen Musik dennoch nicht von einem »System der Gattungen« sprechen kann, dann vor allem deshalb, weil das Konzept Gattung kaum noch als offener und öffentlicher Orientierungsrahmen dient, sondern allenfalls als nachträglich eingesetzte Kategorie musikhistoriographischer Analyse. Im allgemeinen Sprachgebrauch zerfällt das Gattungskonzept in die Einzelwerke einerseits, andererseits in die eher unbestimmten Kategorien des Repertoires bzw. übergreifender Musikformen oder technischer Voraussetzungen (Orchester- oder Ensemblewerke, musique concrète, Computermusik, Live-Elektronik etc.). Ein reflexives Bezugnehmen auf das traditionelle Gattungssystem ist ebenfalls bereits im 19. Jh. an Werken wie Liszts Sonate in h-Moll für Klavier (1852–53) zu beobachten, im 20. Jh. vergleichbar etwa mit Maurice Ravels »poème choréographique« La valse für Orchester (1919– 20). In beiden Fällen handelt es sich um Werke, deren Gattungsbezug »metamusikalisch« in dem Sinne genannt werden kann, dass hier Musik über eine Gattung oder die Gattung mit einer Gattung aufgerufene Welt vorliegt (Janz 2014, 239–265). Ähnliche Formen musikalischer Metaisierung liegen mit Luciano Berios Sinfonia für acht Stimmen und Orchester (1968–69), Jean Barraqués Sonate für Klavier (1950–52), John Cages Concert for Piano and Orchestra (1957–58) oder Alfred Schnittkes Erster Sinfonie (1969– 72) (Ä Polystilistik) vor. Distanz zu etablierten Gattungen ist vor allem dort erkennbar, wo in auffälliger Weise von standardisierten Werktiteln abgewichen wird, etwa wenn Helmut Lachenmann seine Werke als »Musik« bezeichnet und das Instrumentarium im (Unter-)Titel nennt: Air, Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968–69/94), Pression für einen Cellisten (1969–70), Accanto, Musik für einen Solo-Klarinettisten mit Orchester (1975–76) etc. In vielen Werken Lachenmanns stehen dabei »metamusikalische« Referenzen auf exemplarische gattungsprägende Werke im Zentrum, so auf Mozarts Klarinettenkonzert in Accanto oder auf Beethovens Neunte Sinfonie in Staub für Orchester (1985–87) (Nonnenmann 2000a, 230–293, 2000b). 3. Tendenzen einer Restabilisierung des Gattungssystems Bei aller Distanz dieser Werke zum aufgerufenen Gattungskontext besteht eine grundsätzliche Schwierigkeit jedoch darin, zwischen jenem metamusikalischen Bezug nach dem Traditionsbruch und einem nicht vollständig vollzogenen Bruch zu unterscheiden, der Gattungen wie die Sinfonie, das Streichquartett oder die Sonate noch im Rahmen der neuen Musik als verfügbare Modelle überdauern lässt. In Bezug auf ein »Ende der Sinfonie« im deutschsprachigen Raum nach 1945 (Ottner 2014) ist dabei nicht nur die Fülle an sinfonischen Werken im engeren Sinn zu bedenken, die, verstärkt seit den 1980er Jahren, auch in deutschsprachigen Ländern geschrieben wurden, etwa von Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze, Friedrich Goldmann, Isang Yun, Wolfgang Rihm oder Manfred Trojahn (Ä Orchester). Markant ist auch, dass nach der im Rahmen der frühen seriellen Musik notwendigen Abkehr von allen gattungsbedingten Einschränkungen schon bald, ausgehend von Karlheinz Stockhausens – auch in der Tradition der räumlich ausgreifenden Sinfonik des 19. Jh.s zu verstehenden – Gruppen für drei Orchester (1955–57) und einem abendfüllenden Orchesterzyklus wie Friedrich Cerhas Spiegel I–VII (1960–61) wieder größere orchestrale Dimensionen und zum Teil monumental-sinfonische Ausmaße erreicht wurden (z. B. in Dieter Schnebels Sinfonie X, 1987–92). Umgekehrt muss man davon ausgehen, dass gerade im Rahmen der fortlaufenden oder restabilisierten Tradition nicht mit jeder Titelbezeichnung »Sinfonie« die sinfonische Tradition im emphatischen 244 Gattung Sinn aufgerufen wird. Dies gilt etwa für Dmitri Schostakowitschs 14. Sinfonie für Sopran, Bariton, Streichorchester und Schlagzeug (1969), einen Liederzyklus mit Kammerorchester, oder auch für die Sinfonien 2–5 (1979–90) Galina Ustwolskajas (Ä Osteuropa). Wenn es insgesamt sicher zutreffend ist, dass die Gattung Sinfonie nach 1945 nicht mehr im Zentrum des musikalischen Diskurses steht (Blumröder 2002; Hüppe / Moseler 2002) – im Gegensatz zum breiter zu fassenden Bereich Ä Musiktheater, in dem von bedeutenden Komponisten nahezu aller Stilrichtungen »repräsentative« Hauptwerke vorgelegt wurden – so lässt doch gerade das Beispiel der Sinfonie erkennen, dass das Phänomen einer Restabilisierung des Gattungssystems ebenso zur Musikgeschichte des 20. Jh.s gehört wie das Verblassen des Gattungskonzepts. Neben der Sinfonie ließe sich dies an Gattungen wie der Oper und dem SoloKonzert in den USA, Großbritannien oder der Sowjetunion, vor allem nach dem Ende der klassischen Avantgarden nach 1930, zeigen (Roederer 2000, 287–405; Hüppe / Moseler 2002; Mauser 2006). Nicht allein eine jeweils andere Traditionsbindung oder die jeweilige politische Ideologie standen dabei im Hintergrund. Eine große Rolle für die musikgeschichtliche Relevanz von Gattungen im 20. und 21. Jh. spielte und spielt oft allein schon die Präsenz der Gattungen im allgemeinen Musikleben. Die posttonale Musik ist in diesem Sinne gleichzeitig eine postgenerische, da ihre Gattungskritik fortwährend in Zusammenhang mit einer Affirmation des traditionellen Gattungssystems in Musikleben und Medien verstanden werden muss. Vor diesem Hintergrund ist auch eine in den letzten Jahrzehnten spürbare Rückkehr der Gattungen zu sehen, eine Rückkehr, die von der postmodernen Abwendung vom Traditionsbruch der neuen Musik getragen wird. In Spielarten des Neo-Traditionalismus in den 1980er Jahren und der Gegenwartsmusik gewinnen Gattungen wie das Instrumentalkonzert eine zweite Unmittelbarkeit. Beispiele sind die György Ligetis späte Instrumentalkonzerte (Klavier, 1984–88, Violine, 1990/92, Horn, 1998–99/2002) und Klavieretüden (1985–2001), Instrumentalkonzerte bei Vertretern der jüngeren Generation wie Unsuk Chin oder Johannes Boris Borowski sowie der starke Gattungskonservativismus im Œuvre von Jörg Widmann oder Daniel Smutny, bei dem sich ein musikhistorischer Traditionalismus mit dem Aufgreifen von Verfahrensweisen aus der jüngeren populären Musik  – Remix, Mashup, BastardPop – verbindet (Jahn 2014). 4. Ausblick Dennoch ist es aus methodologischer Sicht meist angebracht, teilweise notwendig, bei der Betrachtung der jüngeren Musikgeschichte von einer althergebrachten Kategorisierung nach etablierten Gattungen Abstand zu nehmen. Nicht nur befinden sich zahlreiche aus der lebensweltlichen Orientierung der Ä Avantgarden hervorgegangene Ansätze wie die Ä Performance Art oder die Ä Klangkunst zumindest in dem Sinne »jenseits der Kunstgattungen« (La Motte-Haber 2008), dass deren nachträgliche Subsumierung unter klar unterscheidbare Gattungen an der historischen Wirklichkeit vorbeiginge. Die Durchdringung von etablierten und neu entstehenden Gattungsdiskursen erreicht zudem auch in vergleichsweise traditionellen Konzert- oder Musiktheaterformaten eine Dichte und Komplexität, die Deutungen im Sinne intertextueller Gattungsreferenz häufig als unzureichend erscheinen lassen. Ä Analyse; Form; Moderne; Musikwissenschaft; Orchester; Postmoderne Blumröder, Christoph von: Endstationen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, in: Die Symphonie im 19. und 20. Jh. Teil 2: Stationen der Symphonik seit 1900 (Handbuch der musikalischen Gattungen 3,2), hrsg. v. Christoph von Blumröder und Wolfram Steinbeck, Laaber 2002, 273–308 „ Dahlhaus, Carl: Die Neue Musik und das Problem der musikalischen Gattungen [1969], in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Laaber 2005, 33– 43 „ ders.: Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jh. [1973], in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Laaber 2005, 377– 433 „ Danuser, Hermann: Gattung, in: MGG2S, Bd. 3 (1995), 1042–1069 „ Hüppe, Eberhard / Moseler, Günter: Gattungspluralitäten, in: Die Symphonie im 19. und 20. Jh. Teil 2: Stationen der Symphonik seit 1900 (Handbuch der musikalischen Gattungen 3,2), hrsg. v. Christoph von Blumröder und Wolfram Steinbeck, Laaber 2002, 151–272 „ Jahn, Hans-Peter: Zappen ins Musikgeschichtliche. Einige Bemerkungen zu Daniel Smutnys neueren Kompositionen, in: NZfM 175/4 (2014), 20–24 „ Janz, Tobias: Zur Genealogie der musikalischen Moderne, Paderborn 2014 „ Lobanova, Marina: Musical Style and Genre. History and Modernity, Amsterdam 2000 „ La Motte-Haber, Helga: Klangkunst: Jenseits der Kunstgattungen. Weiterentwicklungen und Neubestimmungen ästhetischer Ideen, in: Klangkunst (MusikKonzepte Sonderband), hrsg. v. Ulrich Tadday, München 2008, 5–23 „ Marx, Wolfgang: Klassifikation und Gattungsbegriff in der Musikwissenschaft, Hildesheim 2004 „ ders.: Kriterien der Gattungsbestimmung, in: Theorie der musikalischen Gattungen (Handbuch der musikalischen Gattungen 15), hrsg. v. Siegfried Mauser, Laaber 2005, 269–293 „ Mauser, Siegfried: Expansion und Auflösung des Gattungsgefüges im 20. Jh., in: Theorie der musikalischen Gattungen (Handbuch der musikalischen Gattungen 15), hrsg. v. Siegfried Mauser, Laaber 2005, 239–244 „ ders. (Hrsg.): Musiktheater im 20. Jh. (Handbuch der musikalischen Gattungen 14), Laaber 2006 „ Meyer, Andreas: Ensemblelieder in der frühen Nachfolge (1912–17) von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire op. 21. Eine Studie über Einfluß und »misreading«, München 2000 „ Nonnenmann, Rainer: Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns OrchesterwerLiteratur 245 Gender ken, Mainz 2000 (2000a) „ ders.: Beethoven und Helmut Lachenmanns »Staub« für Orchester (1985/87), Saarbrücken 2000 (2000b) „ Ottner, Carmen (Hrsg.): Das Ende der Symphonie in Österreich und Deutschland (1900–1945). Symposium 2012, Wien 2014 „ Roeder, Michael Thomas: Das Konzert (Handbuch der musikalischen Gattungen 4), Laaber 2000 Tobias Janz / Christian Utz Gender Inhalt: 1. Gender und Komposition  „ 2. Gender und Aufführung „ 3. Gender und Rezeption Als Geschlechterkategorie, die sich sozial, diskursiv und performativ konstituiert, lässt sich gender mit allen Facetten des Musiklebens verknüpfen. Da gender nicht primär an das biologische, sondern vor allem an das soziale Geschlecht gebunden ist, treten historische und gegenwärtige Zuschreibungen, Wertungen, Vorstellungen, Selbstinterpretationen oder Klischeebildungen, die mit Geschlechteridentitäten verbunden sind, ins Blickfeld der Forschung. Dabei steht auch in der sozialen Konstruktion von Geschlechtern die Dichotomie von männlich und weiblich im Vordergrund, obwohl davon auszugehen ist, dass sich Genderkategorien überlagern können und die heterosexuelle Matrix nicht immer bestimmend ist (vgl. Brett u. a. 2006). Darüber hinaus ist kulturgeschichtlich die Ausprägung von männlichen und weiblichen Dominanzkulturen zu beobachten, in denen das biologische Geschlecht mit den gängigen Genderbildern und -stereotypen einer Gesellschaft oder einer community of practice zusammenfällt. Weil solche Verbindungen zwischen biologischem und sozialem Geschlecht im 19. Jh. als naturbedingt angesehen wurden, ist es in der Gegenwart mitunter noch immer schwierig, sex und gender getrennt zu betrachten. Versteht man musikwissenschaftliche Geschlechterforschung »als die Untersuchung musikbezogenen Handelns unter Geschlechteraspekten« (Grotjahn 2010, 775), so kann man für die Musik des 20. Jh.s unter »musikbezogenem Handeln« u. a. Komposition und Ä Improvisation, Aufführung und Ä Interpretation sowie Ä Rezeption, Theorie und Lehre neuer Musik oder Ä Klangkunst subsumieren. 1. Gender und Komposition Komposition war zu Beginn des 20. Jh.s ein künstlerisches Arbeitsgebiet, das eindeutig männlich konnotiert war. Im 19. Jh. hatte sich die Ansicht gefestigt, dass Frauen von Natur aus nicht fähig seien zu komponieren. »Die Wirkungsmacht, die vom Bild des Komponisten als Genie im 19. Jh. ausging und das Musikleben in seiner ganzen Vielfalt durchdrang – von Fragen der Ausbildung und Förderung, der Professionalisierung und Öffentlichkeit, der Rezeption und künstlerischen Selbstinszenierung bis hin zu Fragen der Musikästhetik, der Musikgeschichtsschreibung und der Kanonisierung –, ist kaum zu überschätzen« (Unseld 2010, 91; vgl. auch Rieger 1981). Insofern ist es nicht erstaunlich, dass in der Geschichte der neuen Musik und musikalischen Ä Avantgarde des 20. Jh.s Komponistinnen bis zur Jahrhundertmitte nur vereinzelt auftauchen und erst seit den 1970er Jahren allmählich größere Beachtung finden, darunter etwa Younghi Pagh-Paan, Adriana Hölszky, Jacqueline Fontyn, Pauline Oliveros oder Sofia Gubaidulina. Dabei bestand kein offizieller oder demonstrativer Ausschluss von Frauen – im Gegenteil, Kompositionsunterricht war für Frauen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jh.s möglich und viele namhafte Kompositionslehrer hatten Schülerinnen. Komponistinnen wurden aber in der Kanon- und Diskursbildung (Ä Kanonisierung) sowie in der Kompositionsgeschichte neuer Musik lange Zeit weitgehend marginalisiert (Ballstaedt 2003). Die Dominanzlinien der neuen Musik – ihre Entstehungsgeschichte und ihre musikhistorischen Erzählungen mindestens bis zum letzten Drittel des 20. Jh.s  – sind daher als männlich geprägt zu bezeichnen. Ihre Ausrichtung überschneidet sich mit Aspekten von (heterosexueller) Maskulinität, die sich in der westlich-europäischen Kultur mindestens seit dem 18. Jh. ausgebildet haben: Maskulinität wurde geknüpft an die Bereiche der Wissenschaft, Vernunft, Rationalität und Technologie, der Beherrschung, Gewalt und Dominanz, an eine zielgerichtete und fortschrittsgläubige Arbeitskultur sowie an eine Abwehr von Feminität (Connell 1995, 186–199). Diese Aspekte durchziehen Schriften und Auslegungen des Futurismus, der Dodekaphonie oder der Ä seriellen Musik bis hin zu aktuellen Abhandlungen über algorithmische Komposition. Es ist signifikant, dass Kritik an Musik (nicht nur an neuer Musik) zum Teil mit dem Vorwurf der Feminität verknüpft wurde. Damit konnte man das männlich geprägte Selbstverständnis von Komposition in Frage stellen (Shepherd 1987; vgl. auch Biddle / Gibson 2009). Homosexualität bzw. Sexualität blieb lange Zeit aus dem Diskurs ausgeblendet (OsmondSmith / Attinello 2007). Hatte Nam June Paiks Opera Sextronique 1967 mit Charlotte Moorman in New York einen Skandal ausgelöst, so erhoben sich skeptische Stimmen noch bei Werken wie Maria de Alvears Vagina für Stimme und Ensemble (1996), Sexo Puro für Ensemble (1998) oder ihrer Oper Colourful Penis (2008). Ä Improvisation entwickelte sich im 20. Jh. zu einem künstlerischen Gegenmodell zur komponierten neuen Musik, vor allem gegen die darin dominierenden Prinzipien von »Autorschaft, Ausarbeitung, schriftliche Fi- 246 Gender xierung, Geschlossenheit, Reproduzierbarkeit und Interpretation des Notierten« (Feißt 1997, 23). Wesentliche Merkmale von Improvisation wie etwa Einfall, Inspiration, Intuition werden im Bereich der Komposition neuer Musik unter- oder nachgeordnet. An diesem Punkt stellt sich eine Analogie zur Dichotomie zwischen männlich und weiblich ein, an die ähnliche Klischees herangetragen wurden (Ellmeier u. a. 2013). Vergleichbare Hierarchien bestehen zwischen Komposition und experimenteller Musik oder Ä Performance. In diesem Zusammenhang ist es jedoch von Bedeutung, dass viele Komponistinnen oder Ä Composer-Performer wie etwa Pauline Oliveros, Annea Lockwood, Meredith Monk, Diamanda Galás, Brenda Hutchinson, Shelley Hirsch oder Jennifer Walshe das Handlungsfeld der experimentellen Musik oder Performance genutzt haben, um mit der Ä Stimme oder mit dem Ä Körper zu arbeiten und einen eher undogmatischen Umgang mit dem musikalischen Ä Material zu verfolgen (Meyer-Denkmann 1992; Gann 1998; Edwards 2000; Weber-Lucks 2005; Brüstle 2013). Zudem sind in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Ä elektronischen Musik, elektroakustischen Musik und Computermusik viele Frauen aktiv, die sich damit allerdings in männlich konnotierten Handlungsfeldern (»male domains«) bewegen (Rodgers 2010, 2), darunter etwa Laurie Spiegel, Annette Vande Gorne, Maryanne Amacher, Éliane Radigue, Laetitia Sonami, Ana Maria Rodriguez, Antye Greie oder Elisabeth Schimana. 2. Gender und Aufführung Im Gegensatz zu Komponistinnen spielen Interpretinnen, allen voran Sängerinnen, auch im 20. und 21. Jh. in der zeitgenössischen Musik neben Musikern eine gleichgewichtige Rolle, also im Bereich der »dienenden« Ausführung, Aufführung, Realisation und Ä Interpretation von Musik. Tiefe und hohe menschliche Stimmen sind dabei nicht mehr eindeutig dem männlichen oder weiblichen Körper zuzuordnen, sondern es setzt sich vor allem in Musiktheaterkompositionen zunehmend auch eine dritte, androgyn erscheinende Stimmqualität durch, mit Vorläuferwerken bei Benjamin Britten, Harrison Birtwistle, György Ligeti oder Aribert Reimann etwa in Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexiko (1987–91), Péter Eötvös ’ Radames (1975/97), Three Sisters (1996–97) und Angels in America (2002–04), in Der gute Gott von Manhattan (2003–04), Countdown für Countertenor und Orchester (2007) und Böse Geister (2014) von Adriana Hölszky, in Luci mie traditrici (1996–98) und La porta della legge (2006–08) von Salvatore Sciarrino, in Schwarzerde (1997– 2001) von Klaus Huber, in Die schöne Wunde (2002–03) und Bluthaus (2014) von Georg Friedrich Haas, in Bählamms Fest (1997–99) und Lost Highway (2003–04) von Olga Neuwirth oder Lezioni di tenebra (2010) von Lucia Ronchetti (Herr u. a. 2012). Mit der Integration von hohen Männerstimmen im zeitgenössischen Musiktheater hat sich auch die gegengeschlechtliche Besetzungspraxis bei Inszenierungen im Sinne von »cross dressing« bzw. »cross gender« fortgesetzt, die in der Geschichte der Besetzungs- und Inszenierungspraxis von Opern einen bedeutenden Faktor darstellt (Knaus 2011; Herr 2013). Zahlreiche Musikerinnen haben Komponisten inspiriert und an der Entwicklung neuer Werkkonzeptionen aktiv mitgewirkt, darunter Albertine Zehme, Jeanne und Yvonne Loriod, Cathy Berberian, Carla Henius, Grete Sultan, Michiko Hirayama, Margaret Leng Tan, FrancesMarie Uitti, Suzanne Stephens und Kathinka Pasveer, Ute Wassermann u.v. a. Traditionsgemäß waren dabei neben der Stimme Klavier, Streich- und Holzblasinstrumente sowie Flöte und Harfe weiblich besetzte Handlungsfelder. Die stereotype Instrumentenwahl scheint sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert zu haben (Abeles 1978; Sinsabaugh 2005; Abeles 2009). In der zeitgenössischen Musik sind Ausnahmen bspw. die Kontrabassistin Joëlle Léandre, die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky oder die Trompeterin Sabine Ercklentz. Sie sind jedoch wie Akteurinnen in der Live-Elektronik, so etwa die Vokalkünstlerin und Violinistin Mia Zabelka, die Violinistin Barbara Lüneburg, die Pianistin Manon-Liu Winter, die Cellistin Hildur Guðnadóttir oder die Pianistin am Inside Piano Andrea Neumann, zumeist als weibliche Composer-Performer aktiv. Allmählich werden auch Dirigentinnen bekannt, die neue Musik aufführen, etwa Marin Alsop, Simone Young oder Graziella Contratto (vgl. Blankenburg 2003; Ä Dirigieren). 3. Gender und Rezeption Die Rezeption von neuer Musik erstreckt sich unter anderem auf Theorie- und Diskursbildung, Lehre und Ä Vermittlung sowie auf Reaktionen des Publikums (Ä Popularität). In allen Bereichen, auch beim Hören von Musik, sind Genderaspekte von Bedeutung, die sich mit weiteren Gesichtspunkten wie etwa Merkmalen einer länderspezifischen Musik- und Bildungskultur, Alter oder Interessenlagen der Rezipienten und Rezipientinnen überschneiden (Biddle 2013; Sofer 2014). Theorie- und Diskursbildung finden vor allem in der Ä Musikwissenschaft und Ä Musiktheorie, Lehre und Musikkritik (Ä Musikjournalismus) statt, die sich in ihrer westlich-europäischen Ausrichtung wenig geändert haben und eine »patriarchale Grundstruktur« (Rieger 1981, 256) zum Ausdruck bringen (vgl. auch Maus 1993). Erst mit der Entwicklung der Frauen- und Genderforschung in der Musikwissenschaft entstand ein feminis- 247 tischer Musikdiskurs und eine Auseinandersetzung mit Genderaspekten, die sich auch auf neue Musik beziehen lassen (McClary 1991; Rieger 1995; Cusick 1999; Nieberle / Rieger 2005). Genderaspekte der Rezeption ergeben sich verstärkt durch die Arbeit mit neuen Ä Medien, insofern dort die Rezipienten und Rezipientinnen als »User« besonders explizit ins Blickfeld geraten (Angerer / Dorer 1994; Gauntlett 2002; Schinzel 2005; Jansen 2005). Ä Interpretation; Musiktheater; Performance; Postmoderne Abeles, Harold F. / Porter, Susan Yank: The SexStereotyping of Musical Instruments, in: Journal of Research in Music Education 26 (1978), 65–75 „ Abeles, Hal: Are Musical Instrument Gender Associations Changing? in: Journal of Research in Music Education 57/2 (2009), 127–139 „ Angerer, Marie-Luise / Dorer, Johanna: Gender und Medien. Theoretische Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation. Ein Textbuch zur Einführung, Wien 1994 „ Ballstaedt, Andreas: Wege zur Neuen Musik. Über einige Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung des 20. 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Jh. kann in zweierlei Hinsicht gelesen werden: Einerseits in seiner Funktion als »das Andere« des jeweils dominierenden, kulturell ausgeprägten und gepflegten Klanges (Ä Themen-Beitrag 3, 1.), und dies oft mit einer parodistischen oder avantgardistischen Komponente, die zu einer wie auch immer gearteten »Anti-Musik« führen kann; andererseits als die Möglichkeit einer Erweiterung der jeweiligen Klangwelt, somit in Verbindung mit der Emanzipation der Ä Klangfarbe. Die eine Perspektive zielt auf Betonung eines Gegensatzes oder eine Schockwirkung, die andere auf Integration, Erweiterung und Fusion. So stehen sich in der ersten Hälfte des 20. Jh.s einerseits die Praxis eines Erik Satie in Parade (1917) gegenüber (Sirenen, Lotterierad, Schreibmaschine, Pistole, ein »bouteillophone«, also Flaschenklavier), andererseits der Versuch Luigi Russolos, Geräusche und Klänge genau zu klassifizieren (Russolo 1913/2003, 25) oder der Henry Cowells, Geräusche theoretisch als Elemente des Klanges zu definieren (Cowell 1929/2004, 22–24) und Toncluster (Cowell 1930/96, 117–139) wie Akkorde zu behandeln (etwa als Begleitung zu einer Melodie in The Tides of Manaunaun, 1917, ähnlich bei Charles Ives, Majority, 1921; vgl. Henck 2004, 64). Edgard Varèse sieht sich zwar als »teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man  – bis heute  – Geräusche genannt hat« (Varèse 1959/83, 154; Übersetzung Metzger / Riehn 1983, 3), sagt aber auch, dass er aus einem Klopfen auf Holz eine ganze Komposition machen könne (Julius 1978, 45). Seine Geräuschbehandlung liefert Beispiele für Fusion und Übergang, etwa durch Einsatz des Schlagzeugs als vermittelndes Glied zwischen Tonband und Orchester in Déserts (1949–54). Die Tradition der Erweiterung der Klangwelt ist zuerst eine vorwiegend amerikanische, etwa in Form von Schlagzeugmusik (John Cage, First Construction [in Metal], 1939, Lou Harrison, Fifth Symphony, 1939), von Erfindung eines neuen Instrumentariums (Harry Partch), oder, bei Cage, in Form einer Verbindung von Schlagzeug und über Schallplatten zugespielten Klängen (Sinustöne in Imaginary Landscape No. 1, 1939), durch die Integration zufälliger Geräusche und / oder von Musik aus dem Rundfunk (Imaginary Landscape No. 4 für zwölf Radios; vgl. Zeller 1978) oder durch das präparierte Klavier (ab Bacchanale, 1938/40). In 4'33" (1952) lauschen die Zuhörer dem vor seinem Klavier verharrenden Pianisten und somit ihren eigenen (Körper-)Geräuschen und denen der Umgebung. Zu Beginn von Cages Aufsatzsammlung Silence heißt es: »I believe that the use of noise to make music will continue and increase until we reach a music produced through the aid of electrical instruments which will make available for music purposes any and all sounds that can be heard […]. Whereas, in the past, the point of disagreement has been between dissonance and consonance, it will be, in the immediate future, between noise and so called musical sounds« (Cage 1937/78, 3 f.). Cages Werk fasst somit die verschiedenen Richtungen der Erweiterung der Klangwelt durch Geräusche zusammen: Schlagwerk, Basteln eines neuen Instrumentariums (wie man es z. B. in Joe Jones ’ »Solarorchester«, vgl. Gertich 1995, 8 f., oder bei Josef Anton Riedl wiederfindet), technische Fixierung der Klänge und Öffnung zum Rumor der Welt, wie er sich in der Faszination für die Klänge der Rundfunkarchive (Arnheim 1936/2001, 200) bis zur Nutzung aller im Ä Internet verfügbaren Klänge durch das ganze Jahrhundert zieht, und schließlich die Wichtigkeit eines neuen Hörens: Versenkung in Stille, in das »Ereignis« Geräusch (Ä Wahrnehmung). 2. Entgrenzungen Die Ereignishaftigkeit wird im Sinne einer protestierenden Radikalität ab Ende der 1950er Jahre von Happenings herausgestellt, so von Fluxus (Nyman 1981, 60–74; La Motte-Haber 1999, 55–59), wobei die »Rhythmen des Chaos« (La Belle 2006, 54–66) die Zerstörung von Instrumenten einschließen können, wie in Nam June Paiks One for Violin (1962) oder auch das Herausstellen eines einzigen Geräuschs, wie in Drip Music von George Brecht (1959– 62) (Ä Konzeptuelle Musik, Ä Performance). Aleatorische Musik (Ä Zufall) und graphische Ä Notation zielen häufig auf Geräuscherzeugung ab, so in Christian Wolffs Verbalpartituren Prose Collection (1969–85) oder Cornelius Cardews Treatise für variable Besetzung (1963–67), ebenso die Praxis der kollektiven Ä Improvisation, etwa bei Gruppen wie AMM, Musica Elettronica Viva (Nyman 1981, 107–112; Saladin 2014) oder New Phonic Art, ab Ende der 1980er Jahre auch bei John Zorn. Die anekdotische Verwendung des Geräuschs als Element einer Klangkulisse (Lokomotivpfeifen und Uhren in Hans Werner Henzes Elegie für junge Liebende, 1961) und seine Verwendung für komische Effekte ist insgesamt eine eher marginale Tendenz, wird aber von manchen Komponisten systematisch eingesetzt, so bei Mauricio Kagel (Antithese, 1962, für Darsteller und ein Tonbandstück mit bereits aufgenommenen Pfiffen, Husten, Gelächter; Improvisation ajoutée, 1961–62/68, ein Orgelstück mit von zwei Assistenten hinzugefügtem Husten und Klatschen; MM 51 für Metronom und Kla- 249 vier, 1976), wobei sich Kagel ebenso für die Geschichte des Clusters interessiert (Kagel 1959), für die Übergänge von Klang und Geräusch (Transición II für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder, 1958–59; Le Bruit. Invecticon pour toute sorte de sources sonores et expressions injurieuses, 1960; Streichquartett I–II, 1965–67; Acustica für experimentelle Klangerzeuger und Lautsprecher, 1968–70), oder den Bau eines neuen Instrumentariums (Zwei-MannOrchester, 1971–73). Wie eine späte Hommage an Saties Parade mutet die Hupen-Ouvertüre von György Ligetis Le grand macabre (1974–77) an. 3. Stimmgeräusche In die Vokalmusik werden die aus der Kunstmusik ausgeschlossenen Aktionen der Ä Stimme  – schreien, murmeln, keuchen, hecheln, husten, mit der Zunge schnalzen, stark einatmen usw.  – verstärkt einbezogen, in Stücken wie Cages Aria für Stimme solo (1958), Ligetis Aventures / Nouvelles Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1962–65), Pierre Henrys Variations pour une porte et un soupir für Tonband (1963), die das quietschende Türgeräusch in menschliche Laute verwandelt, Luciano Berios Sequenza III für Stimme solo (1966), Dieter Schnebels Maulwerke (1968–74; vgl. Heilgendorff 2008, 127 f.), Giacinto Scelsis TKRDG für drei Tenöre, drei Bässe, elektrisch verstärkte Gitarre und zwei Schlagzeuger (1968) und Canti del Capricorno  – 20 Gesänge für Frauenstimme, einzelne mit Instrument(en) (1962–72), die sich an außereuropäische Stimmtechniken anlehnen, Helmut Lachenmanns temA für Flöte, Stimme und Violoncello (1968) oder Peter Maxwell Davies ’ Eight Songs for a Mad King – Monodrama für Männerstimme und sechs Instrumente (1969). Dass Stimmgeräusche erst allmählich akzeptiert wurden, beweist eine Kritik von Stockhausens elektronischer Komposition Gesang der Jünglinge (1955– 56): »Eine vox humana, das edelste Geschenk der Gottheit an den Menschen, wird wie Dreck behandelt, den perversen Möglichkeiten der Apparaturen ausgeliefert, sie wird verzerrt, zerstückt […], zum Kreischen, Schreien, Stöhnen, Heulen verunstaltet und fetzenweise in dem höllischen Klangbrei verkocht« (zit. nach Blumröder 1993, 322). Werke solchen Typs, die oft im Ä Musiktheater mit Vermeidung des »bel canto« einhergehen, werden gegen Ende des 20. Jh.s zunehmend seltener. In dieser Tradition stehen etwa die konsonantische »Frierarie« in Lachenmanns »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96) oder das Concerto for Voice (moods IIIb) (2007) der Performerin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje. Geräusch 4. Geräusche in der neuen Musik Pierre Schaeffers Erfindung der musique concrète im Jahr 1948 entstammt dem Projekt einer »Symphonie de bruits« mit Geräuschen aus dem Rundfunkarchiv, Pfeifchen, Fahrradhupen, außereuropäischem Schlagzeug, Donnerblechs und speziell aufgenommenen Lokomotivmotoren in verschiedenen Gängen. Schaeffers Cinq études de bruits (1948) und seine Symphonie pour un homme seul (1949–50, mit Pierre Henry) sind erste Resultate, wobei Schaeffer zunehmend das Übergewicht des Ursprungs der Klänge in der Wahrnehmung stört, ihr »Anthropomorphismus«, ihr »anekdotischer« Charakter (Schaeffer 1952, 12, 18 f., 20 f., 28). Er fordert daher, dass das Geräusch »seinem dramatischen Kontext entrissen werden« solle (ebd., 46), um »eine Sprache der Dinge« hörbar werden zu lassen (ebd., 160), oder gar »ein Stück reinen Waggon im Rundfunk zu senden« (ebd., 20). Die Vorwürfe von Pierre Boulez, die musique concrète sei zur »Anarchie« verdammt (Boulez 1958/72, 273) und erscheine wie ein »Flohmarkt« der Klänge (ebd., 274), und der Stockhausens, sie sei »ein arg dilettantisches Glücksspiel« (Stockhausen [1952], in Sabbe 1981, 42), dürfte zwischenzeitlich von der reichen Produktion an musique acousmatique in Frankreich (François Bayle, Bernard Parmegiani, Luc Ferrari, Michel Chion, Denis Dufour u. a.) widerlegt worden sein. Boulez selbst bezieht geräuschartige Spieltechniken nur sehr sparsam in seine eigenen Instrumentalwerke ein (Livre pour quatuor, 1948–49). Die »Anregung«, die von Cage auf Boulez »hinsichtlich des Tonmaterials« ausging (Brief von Boulez an Cage vom 3. / 11. / 12. 1. 1950, Boulez / Cage 1990/97, 51), bleibt eine Episode und wird abgelöst von Werken mit Schlagzeug (Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht Gruppen, 1974– 75/87) und einer eher »vokalisch-harmonischen« Elektronik in Répons für sechs Solisten, Ensemble und LiveElektronik (1981–84/85). Stockhausen schreibt hingegen 1959: »Die Kategorie der Geräusche ist nicht weniger differenziert als die Kategorie der Klänge. Im Gegenteil: wir finden z. B. in einigen Sprachen ein Übergewicht der stimmlosen Konsonanten über die Vokale. Es ist natürlich, daß in der neuen musikalischen Sprache die aperiodischen Phasenverhältnisse alle Aspekte der Form bestimmen – im kleinen wie im großen; dadurch wird Periodizität zu einem Extremfall des Aperiodischen. Konsonantische, also geräuschhafte Schallphänomene spielen dabei eine äußerst wichtige Rolle; und ihre Bedeutung wird noch weiter zunehmen« (Stockhausen 1959/63, 145). Stockhausens »graduelles« musikalisches Denken – also in Polaritäten, Graden, Vermittlungen  – hält die zentripetalen, explosiven Komponenten des Geräuschs aber weitgehend in Schach, 250 Geräusch so in dem präzisen Abmischen von Klang und Geräusch in Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958–60) oder Mikrophonie I für sechs Spieler mit Tamtam, zwei Mikrophonen, zwei Filtern mit Reglern (1964) und Mikrophonie II für zwölf Sänger, Hammondorgel oder Synthesizer, vier Ringmodulatoren, Tonband (1965), den »strukturell verwendeten Clustern« in Klavierstück X (1967; vgl. Henck 2004, 68–73), in dem genau abgemessenen Klatschen in Momente für Solosopran, vier Chorgruppen und 13 Instrumentalisten (1962–69). Geräuschhafte Expressivität wird bei Luigi Nono in La fabbrica illuminata für Sopran und vierspuriges Tonband (1964) entbunden (Parolen, Schreie, Fabrikgeräusche) sowie bei Iannis Xenakis, der seine Werke auf Ureindrücke in der Natur zurückführt  – »Die Ausgangsidee [des Orchesterwerks Metastaseis] war die Masse, […] die ich in der Natur erlebt hatte, die Zikaden, der Regen, der Hagel, der Wind« (in Delalande 1997, 19, Übersetzung MK)  – oder auch auf Massendemonstrationen: »Der Fluss der Menschen skandiert eine Parole in einem einheitlichen Rhythmus. Dann wird eine neue vorn ausgeschrien und wandert nach hinten. Die Welle der Übertragung geht von vorn nach hinten. Der Lärm erfüllt die Stadt. […] Das ist ein äußerst gewaltiges Ereignis, schön wegen seiner Wildheit. […] Der perfekte Rhythmus der letzten Losung zerfällt in einer enormen Häufung chaotischer Schreie« (1963, 19, Übersetzung MK). Ab dem Orchesterwerk Metastaseis (1953–54), aber auch in elektronischen Stücken wie Bohor (1962), stellen Glissandi, Tonwolken, Cluster, harsche Dissonanzen eine solche Musik des Chaos dar, die oft wie die instrumentale Umsetzung menschlicher Laute wirkt. 5. Politisierung und Semantisierung In den 1960er Jahren wird die Erforschung des Geräuschs für viele Komponisten ein Mittel, um sich von der Ä seriellen Musik abzusetzen und zugleich die zunehmende Politisierung der Gesellschaft aufzufangen. Neue Spieltechniken (Spiel auf Steg und Saitenhalter, Handschlagen auf die Saiten usw.) werden von Krzysztof Penderecki erprobt (Anaklasis für Streicher und Schlagzeuggruppen, 1959–60, Tren ofiarom Hiroszimy [Threnos für die Opfer von Hiroshima], 1960) und oft zu pastosen Klangflächen gebündelt. Heinz Holliger setzt in Pneuma für Orchester mit Hammondorgel, shō und Radioapparaten (1970) die Idee eines atmenden Körpers und die Übergänge von weißem Rauschen zu komplexen Klängen um (Ä Körper). Michael von Biels drei Streichquartette (1962–65) sind ein Anknüpfungspunkt für Helmut Lachenmanns einflussreiche Ä musique concrète instrumentale. Der Prozess der Klangentstehung soll hörbar werden, aber es sollen dabei vor allem neue Geräusch-Kategorien entste- hen. Die herkömmliche Assimilation von Geräusch und Dissonanz als Ausdruck eines Pathos findet sich dagegen weiterhin bei Komponisten wie Aribert Reimann (Arbeit mit verschieden dichten Clustern, etwa in der Oper Lear, 1975–78) oder Jonathan Harvey (Ä Multiphonics der Oboe und gepresster Bogenklang, um in Death of Light / Light of Death, 1998, den Schmerz der Muttergottes zu versinnbildlichen). 6. Digitalisierung Der zweite Einschnitt in der Geschichte des Geräuschs (nach der technischen Fixierung) erfolgt Ende der 1970er Jahre durch die digitale Analyse des Klangs. Die präzise Visualisierung der harmonischen und inharmonischen Klangkomponenten ermöglicht es, den Klang als Prozess zu verstehen. Die Vorstellung des Geräuschs »dessen Geschichte vorbei ist, sobald es verklungen ist«, während mit dem Ton »eine Geschichte beginnt« (Ballif 1979, 72), sodass das Geräusch nur als ephemere Geste, Kontinuum oder Schleife eingesetzt werden kann, also nur eine Parataxe zulässt, wandelt sich, geht über in die Vorstellung einer zusammengestauchten Entwicklung auf Mikroebene, die entfaltet oder auskomponiert werden kann, also eine Ä musikalische Syntax ermöglicht. Die französische musique spectrale (Ä Spektralmusik) ist ein erstes Resultat dieser Wandlung, wobei hier das Geräusch zumeist innerhalb der Polarität harmonisch / inharmonisch eingesetzt wird, so bei Tristan Murail (weißes Rauschen am Ende von Éthers für sechs Instrumente, 1978) oder als Resultat eines Erosionsprozesses (Mémoire / Érosion für Horn und neun Instrumente, 1975–76). Auch die Computeranalyse eines Tam-Tams, einer der Ausgangspunkte von Pour adoucir le cours du temps für 18 Instrumente und Elektronik (2005) wird in die Instrumentation eingeschmolzen (Murail 2004, 17). Die Einbeziehung von Geräuschklängen in den Kompositionsprozess wird häufig. So arbeitet Michaël Levinas mit »verschmutzten« Klängen, etwa mit Trommeln als Resonatoren neben Instrumenten (Appels für elf Instrumentalisten, 1974, Ouverture pour une fête étrange für zwei Orchester, Tonband und Elektronik, 1979). Kaija Saariaho geht in Lichtbogen für Kammerensemble und Live-Elektronik (1985–86) von der Computeranalyse eines gepressten Violoncello-Tons aus, Magnus Lindberg in Joy für Kammerorchester und Elektronik (1990) von der Aufnahme der Zerstörung eines alten Klaviers, Philippe Hurel in Leçons de choses für Ensemble und Elektronik (1993) von der eines Kuchenblechs. 7. Gegenwart Das Ende des 20. Jh.s sieht einen Wechsel von Ä Komplexität und Organizität zum Klang als beherrschendem 251 Paradigma der Musik. Ä Klangkunst, Klangkomposition, Installationen oder soundscapes (Hildegard Westerkamp, Max Neuhaus, Christina Kubisch; vgl. La Motte-Haber 1999, 224 f., 232 f., 272 f.; LaBelle 2006, Kap. 4 und 5) stehen in engem Zusammenhang mit der Erforschung der Klänge und Geräusche durch die sound studies (Bull / Back 2003; Bijsterveld / Pinch 2012) und einer Poetisierung von Metropolen, von Stadt- oder Industrielandschaften als Inspirationsquelle. Andererseits verwischen sich die Grenzen zwischen verschriftlichter Kunstmusik und anderen populären Kunstformen, die das Geräusch einbeziehen, in erhöhtem Ausmaß. Für Komponisten zu Beginn des 21. Jh.s mag die Tradition des Punk (Sonic Youth), des Heavy oder Black Metal, des intelligent techno oder des noise (etwa Whitehouse, Merzbow, Aube; vgl. Hegarty 2007, 131–166) ebenso bestimmend (oder bedrohend) sein wie die der klassischen Moderne von Schönberg bis Lachenmann (Ä Pop / Rock). Die Idee eines »dionysischen« Eintauchens in einen harten Klang ist beiden Welten gemeinsam, eine Wandlung, die bereits Stockhausens Oktophonie. Elektronische Musik vom Dienstag aus Licht (1991) bezeugt, ebenso wie die Technik der Bandschleife und der Repetition kurzer Geräusche (vgl. etwa Aube, Ionosphere II, sowie Salvatore Sciarrino, Notturno no. 3 für Klavier, 1998, Bernhard Lang, Differenz / Wiederholung 2 für verstärktes Kammerensemble und drei Stimmen, 1999, oder Johannes Schöllhorn, rota für Kontrabassklarinette und Streichquartett, 2008, Ä Kompositionstechniken), die Technik des Sampling von Stimmen und Geräuschen (Steve Reich, Different Trains für Streichquartett, 1988; Heiner Goebbels, Suite für Sampler und Orchester, 1994; Simon Steen-Andersen, Piano Concerto, 2014), sowie der Geschmack an technischen Störgeräuschen, Knacksen, verschmutztem Klang (Georg Hajdu, CD Ugly Culture, 1992; Karen Tanaka, Wave Mechanics für 20 Instrumentalisten, 1994) oder übersteuertem Klang (bei den französischen »saturationistes« Franck Bedrossian, Rafaël Cendo, Yann Robin). Der Banalisierung des Geräusches wird einerseits durch den Versuch entgegengewirkt, es den Klanggemeinschaften der Popularmusik gleichzutun, in denen der »Sprachcharakter« des aggressiven Geräuschs eine wichtige Rolle für die Selbstidentifizierung spielt: »Geräusche geben dem Klang Zeichnung, Umriß, Eigenart. […] Sie geben der Musik jenen Sprachcharakter, der sie überhaupt erst zu einer Verständigung unter Menschen tauglich macht« (Dibelius 1998, 93). Andererseits wird verstärkt Zuflucht zu Bildern genommen, speziell zu Videos, wobei die Geräuschkunst multimedial auflöst wird (Hilberg 2014; Ä Film; Ä Intermedialität). Geräusch Ä Themen-Beiträge 3, 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Musique concrète instrumentale Arnheim, Rudolf: Rundfunk als Hörkunst [1936], Frankfurt a. 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Definition und (musik-)geschichtliche Voraussetzungen Unter Globalisierung wird die zunehmende globale Vernetzung von Menschen und Kulturen verstanden. So spricht etwa John Tomlinson von »complex connectivity« und »interconnectedness« (1999, 1–31) und David Harvey von »time-space compression« (1989, 240), also der Schrumpfung von Raum und Zeit. Als Faktoren werden der internationale Kapital- und Warenhandel, Kommunikationstechnologien, Medien, Tourismus und Migration sowie politische Bündnisse und Vereinigungen (wie etwa EU, UNO, ASEAN), aber auch international agierende Nichtregierungsorganisationen angesehen. Solcherlei weiträumige Verflechtung ist kein neues Phänomen: Einige Forscher (etwa Pitts / Versluys 2014) setzen den Beginn der Globalisierung mit den multi-ethnischen Imperien der Antike, andere mit der Seidenstraße (etwa Foltz 2010) an. Wieder andere gehen jedoch von einer Verknüpfung zwischen der Globalisierung und der Ä Moderne aus (vgl. Tomlinson 1999, 33). Dabei lassen sich in etwa drei Hauptphasen unterscheiden. Die erste Phase beinhaltet das Zeitalter der Entdeckungen und das Kolonialzeitalter, die zweite ist von der Dekolonisation geprägt und die dritte, die noch anhält, vom Ende des Kalten Krieges, der Entwicklung des Ä Internets und der Liberalisierung des Welthandels. Der Einfluss der Globalisierung auf kulturelle Entwicklungen ist mannigfaltig, komplex und häufig umstritten. So wird die Globalisierung oft unter dem Schlagwort der »Verwestlichung« mit der Homogenisierung der Kultur gleichgesetzt. Es haben sich etwa westliche Architektur, Kleidung, Fast Food, Kinofilme, Fernsehserien und Popmusik, sowie zum Teil auch Wertvorstellungen an vielen Orten weitgehend durchgesetzt. Allerdings wird bei der Homogenisierungsthese übersehen, dass auch westliche Gesellschaften umgekehrt aufgrund fremder Einflüsse Veränderungen durchmachen. Zudem werden den gleichen Konsum- oder Kulturgütern in unterschiedlichen kulturellen Kontexten oft verschiedene Bedeutungen zugesprochen. Weiterhin ist häufig zu beobachten, dass sich die Menschen unter dem Eindruck der Globa- 252 lisierung auf lokale Besonderheiten zurückbesinnen: Die Globalisierung wird somit paradoxerweise zu einem Antrieb der Lokalisierung. Diese gegenseitige Durchdringung von globalen Homogenisierungs- und lokalen Heterogenisierungsprozessen wird nach Roland Robertson auch als »glocalization« [Glokalisierung] (1995) bezeichnet. Zudem sollte der Begriff Globalisierung nicht auf das Wechselverhältnis zwischen dem Westen und dem »Rest der Welt« verengt werden, gibt es schließlich auch Globalisierungsprozesse, an denen der Westen unbeteiligt ist. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Kulturen sich einerseits mehr und mehr aneinander angleichen, dass aber umgekehrt die kulturelle Vielfalt innerhalb einer jeden Kultur, insbesondere in den Metropolen, zunimmt (vgl. Pieterse 2004, 52). Auch im Bereich der Musik ist der Einfluss der Globalisierung vielfältig und zwiespältig. Ebenso gilt hier, dass der Kulturaustausch in beide Richtungen, wenn auch nicht immer streng symmetrisch, stattfinden kann, und dass der Westen daran keinen direkten Anteil zu haben braucht. 2. Exotismus und Globalisierung in der Musik vom 17. bis zum 19. Jh. In der europäischen Musikkultur lassen sich spätestens seit dem 17. Jh. Anzeichen für den musikalischen »Exotismus«, also die Evokation fremder Musik, ausmachen (Locke 2011). Besonders in der Oper des 19. Jh.s war der Exotismus, mitunter in der Form des »Orientalismus«, populär, um fremde Kulturen darzustellen. Dabei ging es den Komponisten aber selten um musikethnologische Genauigkeit: Die für die Illustration einer bestimmten Region gewählten Stilmerkmale dienten meist mehr einer Unterscheidung vom Normalstil als einer getreuen Imitation der indigenen Musik der jeweiligen Region (Dahlhaus 1980, 295). Der in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s verstärkt einsetzende musikalische Nationalismus ist dabei ebenso relevant, wird hier doch der Vorstellung eines zumindest europaweit geltenden Universalstils durch die Berufung auf lokale Volksmusik entgegengetreten (vgl. Taruskin 2001). Insbesondere der Konflikt zwischen universellem Anspruch und dem Insistieren auf kultureller Differenz ist auch für die Globalisierungsdebatte von Belang. Im Zuge der Kolonisierung und Missionierung setzte etwa zur gleichen Zeit, gegen Ende des späten 18. und während des 19. Jh.s (in Ä Lateinamerika noch früher), umgekehrt die globale Verbreitung der europäischen Musik ein (Nettl 1985). Eine wesentliche Bedeutung für die Errichtung eines Musiklebens nach westlichem Vorbild kommt Ä Institutionen wie Konservatorien und Orchestern zu. Zu den ersten Konservatorien außerhalb Euro- 253 pas zählen Morelia (Mexiko, 1743), Rio de Janeiro (1847), Boston (1853), Mexiko-Stadt (1866), Kyoto (1880), Havanna (1885), Buenos Aires (1893), Melbourne (1895), Stellenbosch (Südafrika, 1905), Shanghai (1927) und Bagdad (1936). An anderen Orten wurde das westliche Modell des Konservatoriums auf traditionelle Musik angewendet. In vielen Regionen, etwa Ostasien und Teilen Südamerikas, hat die klassische Musik europäischen Ursprungs heute weitere Verbreitung als in Europa und Nordamerika. 3. Musikalische Globalisierung im Zeitalter des Kolonialismus Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. erlangt der musikalische Exotismus in der westlichen Kunstmusik eine neue Qualität. Ein Grund hierfür ist, dass während des Höhepunkts der Kolonialzeit das Bewusstsein, wenn auch nicht unbedingt der Respekt, für fremde Länder und Regionen geschärft war. Gleichzeitig lieferte die aufkommende vergleichende Musikwissenschaft (die spätere Ethnomusikologie) neue Erkenntnisse, die im Verlauf des 20. Jh.s zunehmend durch Klangaufnahmen ergänzt wurden. Zur gleichen Zeit nahm die Unzufriedenheit mit dem traditionellen System der harmonischen Tonalität zu, wodurch außereuropäische Musikkulturen als genuine Alternativen erschienen. Ein Schlüsselereignis in diesem Zusammenhang stellt die Pariser Weltausstellung von 1889 dar, auf der mannigfaltige »exotische« Musikdarbietungen präsentiert wurden. Hier lernte u. a. Claude Debussy javanische Gamelan-Musik kennen, was einen nachdrücklichen Einfluss auf seine eigenen Kompositionen ausübte (Fauser 2005). Der Unterschied zum weitgehend oberflächlichen Lokalkolorit des 19. Jh.s besteht darin, dass Debussys Bezugnahme auf außereuropäische Musik nicht mehr notwendigerweise illustrativ zu verstehen ist und über vereinzelte Effekte hinausgehend zu einer substanziellen Erneuerung der Kompositionstechnik beitrug. Andere Komponisten begaben sich auf lange Reisen, auf denen sie traditionelle Musik oft detailliert studierten und versuchten, sie mit westlichen Mitteln wiederzugeben. So war der französische Komponist Maurice Delage (1879–1961) von der Musik Indiens tief beeindruckt (Pasler 2000) und der Kanadier Colin McPhee (1900–64) verbrachte mehrere Jahre auf Bali und wurde zu einem der führenden westlichen Experten des Gamelan. Der Einfluss dieser Komponisten sollte nicht unterschätzt werden: Delage war unter anderem mit Strawinsky befreundet und McPhee eröffnete seinem Freund Benjamin Britten die Musik Balis, die dieser in vielen seiner Werke heraufbeschwor (Cooke 1998). Weitgehend unabhängig von europäischen Entwicklungen entdeckten auch amerikanische Komponisten, vor allem in Kalifornien, die Musik verschiedener Kulturen Globalisierung (Nicholls 1996). Als Pioniere wirkten hier Charles Seeger, Henry Cowell, Alan Hovhaness und Lou Harrison, die oft von Anfang an die europäische Kunstmusik als eine von vielen Musiksprachen kennenlernten. 4. Globalisierung in der neuen Musik Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte das Interesse an außereuropäischer Musik unter westlichen Komponisten auf beiden Seiten des Atlantiks einen neuen Höhepunkt. Hierbei muss systematisch zwischen verschiedenen Formen der Anleihe, des Zitats oder der Allusion unterschieden werden (vgl. Heile 2004; Ä Collage / Montage). So waren manche Komponisten, wie etwa John Cage und Helmut Lachenmann, stark von ostasiatischem Gedankengut beeinflusst, ohne sich notwendigerweise mit der Musik der jeweiligen Region substanziell auseinandergesetzt zu haben (Utz 2002, 71–116; Utz 2014, 234–258). Olivier Messiaen war von Transkriptionen von Elementen der indischen Musik, wie bspw. dem rhythmisch-metrischen System der tālas, das er in einer Enzyklopädie entdeckt hatte, inspiriert, ohne die Musik selbst kennengelernt zu haben (Shenton 2008, 54–58). Dagegen war Messiaens Schüler Pierre Boulez stark von der Klangwelt asiatischer Musik fasziniert, versuchte aber, diese mit den Mitteln europäischer Instrumente und Instrumentation hervorzurufen. Direkte Zitate und Transkriptionen außereuropäischer Musik finden sich etwa im Werk des schon erwähnten McPhee (Balinese Ceremonial Music für zwei Klaviere, 1934), aber auch, mit kritischer Absicht, bei Mauricio Kagel (Exotica für außereuropäische Instrumente, 1972). Die (westlich orientierte) Komposition mit außereuropäischen Instrumenten stellt eine weitere Form der Bezugnahme dar, lassen sich solche Instrumente doch aufgrund ihrer Stimmung und des Klangcharakters zumeist nicht ohne weiteres in überkommene Kompositionsweisen eingliedern. Hier leisteten besonders Cowell, Hovhaness und Harrison Pionierarbeit, wobei aber auch der Beitrag insbesondere von asiatischen Komponisten hervorzuheben ist. So komponierte der Koreaner Hoe-Gap Chong (1923–2013) 1961 Thema und Variationen [Chujewa Pyŏnjugok] für die koreanische Wölbbrettzither kayagŭm und Orchester (Ä Korea) und das von den New Yorker Philharmonikern 1967 aus Anlass ihres 125-Jahr-Jubiläums uraufgeführte November Steps für shakuhachi, biwa und Orchester des Japaners Tōru Takemitsu (1930–95) findet bis auf den heutigen Tag viele Nachfolger (Ä Japan). Besonders im deutschsprachigen Raum kommt der Debatte um das Konzept der »Weltmusik«, die von Karlheinz Stockhausen ausgelöst wurde, eine besondere Bedeutung zu (Ausländer / Fritsch 1981). Obwohl der Begriff selbst auf Georg Capellen und damit die Anfangszeit der Globalisierung Vergleichenden Musikwissenschaft zurückgeht, musste Stockhausens im Zusammenhang mit seinen Kompositionen Telemusik (1966) und Hymnen (1966–67) formulierte Idee, »nicht meine Musik zu komponieren, sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen«, mithin der Anspruch einer »höheren Einheit« und »Universalität« (1971/78, 75), wie Stockhausen ihn hier anmeldet, provozieren. In vielen Repliken erschien wohl zum ersten Mal eine dezidiert postkoloniale Position. Vielen Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, Stockhausen beschreibe nicht nur einen allgemeinen kulturellen Prozess, sondern maße sich darüber hinaus an, in seiner eigenen Musik selbst die heraufbeschworene Synthese verschiedener Musikkulturen vollziehen zu wollen. So distanzierten sich Komponisten-Kollegen wie Dieter Schnebel und Luigi Nono eindeutig, Boulez eher implizit, von Stockhausens Projekt (Heile 2009, 109–114). Auch unter Kritikern und Musikwissenschaftlern machte sich zunehmend Kritik an solchen Fortsetzungen des musikalischen Exotismus bemerkbar. So argumentierte etwa Ramón Pelinski, dass der musikalische Exotismus der Legitimation des Kolonialismus diene (1972). Die Diskussion tendierte zuweilen zur Polarisierung: Einerseits kann es kaum als progressiv gelten, die kulturelle Vielfalt der Welt komplett zu ignorieren und einzig am unaufhaltsamen Fortschritt des Ä Materials einer allein auf sich selbst bezogenen westlichen Ä Avantgarde weiterzuarbeiten; andererseits war jede Anleihe von außereuropäischen Quellen dem Verdacht der imperialistischen Ausbeutung ausgesetzt. Nur wenige Kommentatoren, wie Hans Oesch, der die außereuropäische Musik als eine »fruchtbar mißverstandene Innovationsquelle« (1984) der neuen Musik betrachtete, sahen die Möglichkeit eines Mittelweges. Einige Komponisten versuchten mit ihrer Bezugnahme auf außereuropäische Musik die realen ökonomischem und politischen Machtverhältnisse, die so oft durch scheinbar neutrale Begriffe wie »Synthese«, »Integration« und »Kulturaustausch« verschleiert wurden, mit zu reflektieren. So kann man etwa manche Werke von Mauricio Kagel, wie bspw. sein Musiktheaterstück Mare nostrum (1975), das Hörspiel Die Umkehrung Amerikas (1976) sowie den Zyklus Die Stücke der Windrose für Salonorchester (1989–94) sowohl als Auseinandersetzungen mit der Musik fremder Kulturen als auch als Reflexionen auf das komplexe Verhältnis zwischen dem postkolonialen Westen und dem »Rest der Welt« deuten. Andere Komponisten, wie Erik Bergman oder Henri Pousseur haben eine offene Stilpolyphonie entwickelt, in der auch der (vermeintliche) Personalstil genuinen Veränderungen unterworfen ist und dem nicht mehr das »fremde« Material 254 von vorneherein untergeordnet ist oder einverleibt wird (Heile i.V., Pousseur 1989). Zur selben Zeit setzte sich auch die amerikanische Tradition der Komposition mit Musik nicht-westlichen Ursprungs fort: Zu nennen wären hier etwa Steve Reich, der u. a. die Musik Westafrikas und jüdische Thora-Rezitationen in Ghana bzw. Israel studierte (Griffiths 2001). Die wie Reich dem Ä Minimalismus zuzurechnenden La Monte Young und Terry Riley studierten viele Jahre bei Pandit Pran Nath nordindische Vokalmusik und avancierten sogar zu Dozenten (Welch 1999; Strickland 2001; Grimshaw 2001). Für die weitere Entwicklung noch entscheidender war das Auftreten von Komponisten aus anderen Kontinenten auf der internationalen Bühne. Waren bis dahin die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, dem Selbst und dem Anderen, dem Eigenen und dem Fremden scheinbar klar gezogen und die Richtung des Kulturaustauschs weitgehend vorgegeben, so entfaltete die Globalisierung nun eine neue geographisch-kulturelle Dynamik. Schon während der ersten Hälfte des 20. Jh.s traten Komponisten vor allem aus Ä Lateinamerika, wie etwa Alberto Ginastera und Juan Carlos Paz (Argentinien), Heitor Villa-Lobos (Brasilien) sowie Silvestre Revueltas und Carlos Chávez (Mexiko), und aus Ä Japan (Kósçak Yamada, Saburō Moroi) hervor. Jedoch unterschied sich in Lateinamerika die Spannbreite von Paz ’ an der kosmopolitischen Moderne orientierten Position bis zum neoklassizistisch inspirierten folkloristischen Nationalismus der anderen genannten Komponisten nicht wesentlich von den damals in Europa und Nordamerika beobachtbaren Tendenzen (wobei allenfalls Chávez ’ Interesse an der präkolumbischen Kultur Mexikos hervorsticht). Spätestens ab der Mitte des Jahrhunderts, mit dem Auftreten einer neuen Komponisten-Generation in vielen Teilen der Welt, wie etwa in Japan (Toshirō Mayuzumi, Tōru Takemitsu, Jōji Yuasa), änderte sich dies nachhaltig. Entscheidend für die Entwicklung einer globalisierten Musikkultur war zudem die Tätigkeit von Migranten, die oft als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen wirkten, darunter Chou Wen-Chung (China, USA), Toshi Ichiyanagi (Japan, USA), Isang Yun (Südkorea, Deutschland), Akin Euba (Ghana, Deutschland, Großbritannien, USA), Toshio Hosokawa (Japan, Deutschland), Kevin Volans (Südafrika, Nordirland), Tan Dun (China, USA) und Younghi Pagh-Paan (Südkorea, Deutschland). In den 1990er Jahren erreichte das Konzept des »interkulturellen Komponierens« einen Höhepunkt (vgl. Kimberlin / Euba 1995; Utz 2002, 2014). Stand dabei anfangs nach wie vor zumeist die Idee der Fusion oder Integration im Vordergrund, die häufig symbolisch als Möglichkeit 255 der Versöhnung betrachtet wurde, so wird von einigen Komponisten zunehmend die Unvereinbarkeit verschiedener Musikkulturen als produktives Moment wahrgenommen (vgl. etwa Bhagwati 2000). Trotz der fortbestehenden Dominanz des Westens kann die musikalische Globalisierung weiterhin nicht mehr mit dem Verhältnis zwischen dem Westen und dem Rest der Welt gleichgesetzt werden. So erfreut sich etwa die mit dem indischen Bollywood-Film verbundene Filmi-Musik in weiten Teilen der Welt, wie etwa in Westafrika, großer Beliebtheit. Der geographisch-kulturelle Status der neuen Musik zu Anfang des 21. Jh.s lässt sich am besten mit einem Begriff, der sowohl in der Philosophie von Gilles Deleuze wie auch in der Kulturanthropologie verbreitet ist, als »deterritorialisiert« bezeichnen. Angesichts ihrer globalen Verbreitung kann sie nicht mehr als »westlich« bezeichnet werden, ohne dass dadurch Komponisten aus anderen Weltregionen deklassiert würden. Diese Ansichtsweise entspricht auch dem Stand der Theoriedebatte, nach dem die Moderne nicht als genuin westlich anzusehen ist, sondern der kulturell eigenständige, alternative Ausprägungen der Moderne vorsieht (vgl. Gaonkar 2001). Genauso ist davon auszugehen, dass unterschiedliche geographisch-kulturelle Ausprägungen der neuen Musik koexistieren können, ohne dass eine einen Vorrang für sich beanspruchen könnte. Zwar wäre es voreilig davon auszugehen, dass das Gefälle zwischen Zentren und Peripherien insgesamt der Vergangenheit angehört, doch ist die Dynamik komplizierter und die Vorstellung einer Universalkultur obsolet geworden. Wie für die globalisierte Welt als Ganzes gilt aber, dass eine verstärkte lokale Differenzierung der Musikkultur eine Abnahme internationaler Vielfalt nicht unbedingt verhindert. Mit anderen Worten: Die neue Musik ist weltweit an die urbanen Zentren und an kulturelle Eliten gebunden, die sich mitunter voneinander weniger unterscheiden als von ihren direkten Nachbarn. Dies bedeutet auch, dass Vorstellungen von »Reinheit« und »Authentizität« problematisch geworden sind. Musik war und ist immer verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, wozu auch der Kulturaustausch gehört. Die Entstehung hybrider Formen ist die Norm, nicht die Ausnahme. Die neue Musik kann auf globaler Ebene nur als pluralistischer Begriff Bestand haben. Ä Themen-Beitrag 9; Institutionen / Organisationen; Musikhistoriographie; Musikwissenschaft; Postmoderne Agawu, Kofi V.: Representing African Music. Postcolonial Notes, Queries, Positions, London 2003 „ Ausländer, Peter / Fritsch, Johannes (Hrsg.): Weltmusik, Köln 1981 „ Bellman, Jonathan (Hrsg.): The Exotic in Western Music, Boston Literatur Globalisierung 1998 „ Bhagwati, Sandeep: Musik  – eine Weltsprache? Eine Polemik, in: NZfM 161/4 (2000), 10–13 „ Born, Georgina / Hesmondhalgh, David (Hrsg.): Western Music and Its Others. Difference, Representation, and Appropriation in Music, Berkeley 2000 „ Cooke, Mervyn: Britten and the Far East. Asian Influences in the Music of Benjamin Britten, London 1998 „ Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. 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Tonhöhen zu einem Mehr- bzw. Zusammenklang, andererseits auch das Kombinieren dieser (Zusammen-)Klänge zu Klangfolgen. Im deutschen Sprachraum besteht zwischen den Begriffen »Harmonik« und »Harmonie« meist ein gradueller Bedeutungsunterschied: Harmonik gilt als der allgemeinere Begriff und akzentuiert die strukturellen Eigenschaften des Zusammenklangs; Harmonie bezieht sich dagegen stärker auf die »Wohlgeformtheit« des Klanges, meist im Sinne eines gemäß der europäischen Dur-Moll-Tonalität in Terzen geschichteten Drei- oder Mehrklangs bzw. Akkordes. Der Begriff Harmonielehre bezeichnet als Lehre von strukturellem Aufbau und übergeordneter Zusammenhangsstiftung die didaktisch-pädagogische Seite der Harmonik (Rummenhöller 1996). Die Begriffe Polyphonie und Kontrapunkt (von lat. punctus contra punctum: Note gegen Note) werden gelegentlich synonym gebraucht und bezeichnen die Mehrstimmigkeit bzw. den Zusammenklang von eigenständigen Einzelstimmen, wobei der Begriff Polyphonie meist stärker auf das Phänomen der Mehrstimmigkeit selbst abzielt, während der Begriff Kontrapunkt dagegen vorwiegend die didaktisch-pädagogische Seite im Sinne eines Regelwerks beschreibt. Die Begriffe Harmonielehre und Kontrapunkt werden gelegentlich auch unter den Oberbegriffen Satzlehre, Satztechnik bzw. Tonsatz zusammengefasst. Polyphonie bzw. polyphoner Satz wird insbesondere auch als ein die rhythmische Unabhängigkeit der Stimmen akzentuierender Gegensatz zu Homophonie bzw. homophonem Satz (mehrere Stimmen im gleichen Rhythmus) verstanden sowie als Abgrenzung von Begriffen wie Monophonie (Einstimmigkeit bzw. Musik im Unisono) und Heterophonie (seit Stumpf 1901; Satztechnik, bei der ein melodisches Gerüst durch mehrere Stimmen in unterschiedlicher Weise umspielt wird). Als Satztechniken dur-moll-tonaler Musik können Harmonik und Kontrapunkt spätestens seit der sog. »harmonischen Tonalität« ab dem 17. Jh. (als Gegensatz zur vorangegangenen »melodischen Tonalität«; Dahlhaus 1968/2002, 21) kaum gesondert verhandelt werden, da sich kontrapunktische Linienführung und harmonische Klanglichkeit stets gegenseitig ergänzen und bedingen (Frobenius 1980; Cooke 2001). Über diese generelle Interdependenz hinaus lässt sich im 20. Jh. die wachsende Tendenz beobachten, dass eine plausible Grenze zwischen Harmonik und Polyphonie schwindet und die beiden Phänomene oft unter dem allgemeineren Oberbegriff »Klang« bzw. »Klangkomposition« zusammengefasst werden (vgl. 5., Ä Themen-Beitrag 3). Harmonik kann dann tendenziell auf statische Klangqualitäten, Polyphonie stärker auf die Unabhängigkeit einzelner Klangprozesse oder Linien im zeitlichen Verlauf verweisen; solche Phänomene können aber auch als das Ineinandergreifen von Klangereignissen, Klangfolgen und Klangtransformationen beschrieben werden (Utz / Kleinrath 2015, 570–576). In diesem Zusammenhang wird auch die Grenze zwischen Ton, Ä Geräusch, (Zusammen-)Klang und Ä Klangfarbe zunehmend hinterfragt und die hörpsychologische Seite von Harmonik und Polyphonie stärker akzentuiert (Ä Wahrnehmung). Zur Beschreibung dieser vielfältigen Tendenzen wurde auch der Begriff »Klangorganisation« vorgeschlagen, der sowohl die produktions- als auch die rezeptionsästhetische Seite von Harmonik und Polyphonie einschließt (ebd., 564–570; Ä Themen-Beitrag 3, 2.1); denkbar wäre es daneben auch von »(musikalischen) Strukturtypen« zu sprechen. 2. Tendenzen Bisher liegen nur wenige umfassende Schriften über harmonische bzw. polyphone Verfahren und Ä Kompositionstechniken des 20. und 21. Jh.s vor. Dies mag zum einen mit einem zunehmenden Stilpluralismus zusammenhängen, der auf musiktheoretischer Seite einen weitgehenden Verzicht auf generalisierende Ansätze zur Folge hat (Ä Musiktheorie): Angesichts des hohen Individualitätsgrades kompositorischer Verfahren in der neuen Musik scheint es kaum möglich, von »der Harmonik des 20. Jh.s« (im Singular) zu sprechen. Versuche, in der neuen Musik normative harmonische Systeme zu etablieren, stellen entsprechend die Ausnahme dar. Zum anderen muss be- Harmonik / Polyphonie rücksichtigt werden, dass viele der im 20. Jh. eingesetzten kompositorischen Verfahren noch vergleichsweise jung sind und erläuternde Texte häufig von Komponisten aus Sicht der kompositorischen Praxis verfasst wurden und noch kaum kritisch reflektiert wurden. Eine umfassende systematische und historische Aufarbeitung des Gebietes steht somit aus. In der ersten Hälfte des 20. Jh.s entstanden mehrere Abhandlungen über Harmonik, Harmonielehren und ästhetische Schriften mit Bezug zu Fragen der Harmonik, die zum Teil als Reaktion auf die sog. »Auflösung« der Tonalität verstanden werden können, darunter Ferruccio Busonis einflussreicher Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907), in dem erste Überlegungen zu Sechsteltonsystemen und Ä elektronischer Musik angestellt werden. Wegweisend war besonders Arnold Schönbergs Harmonielehre (1911), in der Schönberg in erster Linie versuchte, seine zum Teil grundlegenden harmonischen Neuerungen durch den Bezug auf Satzprinzipien der Dur-Moll-Tonalität zu legitimieren. Dennoch nimmt die am Ende des Buchs skizzierte Idee der »Klangfarbenmelodie« auch spätere kompositionstechnische Entwicklungen des 20. Jh.s wie die Auflösung der Grenze zwischen Harmonik und Ä Klangfarbe vorweg (Schönberg 1911/22, 506 f.). Damalige neueste Tendenzen beschrieb Hermann Erpf in seinen Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik (1927), wobei allerdings der Rahmen funktional-tonaler Deutung kaum verlassen wurde. Weitere Abhandlungen zu neuen harmonischen Systemen, die allesamt von Komponisten verfasst wurden, sind u. a. Josef Matthias Hauers Zwölftontechnik. Die Lehre von den Tropen (1926), Alois Hábas Neue Harmonielehre des Diatonischen, Chromatischen, Viertel-, Drittel-, Sechstel- und Zwölftel-Tonsystems (1927) sowie Paul Hindemiths Unterweisung im Tonsatz (1937/39), die nochmals versuchte, eine aus der Teiltonreihe abgeleitete »Naturklangtheorie« zu etablieren (vgl. 4.1), und natürlich Olivier Messiaens Technique de mon langage musicale (1944). Im Zusammenhang mit der Ä seriellen Musik der 1950er Jahre ist gelegentlich von einer »harmonischen Krise« (Menke 2004, 61) die Rede. Pierre Boulez erklärte 1960: »kontrapunktische[r] und harmonische[r] Satz (im traditionellen Sinn) […] sind seit Webern tot« (1960/63, 112), und Theodor W. Adorno schrieb noch in den 1960er Jahren: »Offen indessen ist die Frage nach der Dimension des Simultanen in der Musik insgesamt, die zum bloßen Resultat, einem Irrelevanten, virtuell Zufälligen degradiert worden war; der Musik wurde eine ihrer Dimensionen, die des in sich sprechenden Zusammenklangs, entzogen, und nicht zuletzt darum verarmte das ungemessen bereicherte Material« (1970, 61). Walter Gieseler argumentier- 258 te, »die seriellen (zuweilen restriktiven) Verfahren ließen keinen Raum für simultane Gebilde […]. Was simultan resultierte, war bei den unterschiedlichen Reihenabläufen nicht vorauszusehen und damit ›wie zufällig‹. […] Die Bedeutung dieser Phase ist unbestritten, nur harmonisch blieb sie stumm« (1996, 53). Derartige Äußerungen zielen auf die Tendenz zu Automatismus und Indetermination (Ä Zufall) der seriellen Kompositionsverfahren und werfen damit die wichtige Frage auf, ob unter derartigen Prämissen ein Begriff wie »Harmonik« noch Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. 3.4; Gratzer 1993). Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang auch die Ä elektronische Musik bleiben, die entscheidende Impulse für ein neues Verständnis von Harmonik, Klang und Klangfarbe sowie der Simultaneität von Klangereignissen und deren Wahrnehmung setzte (Ä Themen-Beitrag 5). Viele Komponisten neuer Musik bauten auf ihren Erfahrungen im elektronischen Studio auf und wandten Verfahren wie z. B. Schnitttechniken, Looping, Phasenverschiebung, Ringmodulation oder das rückwärtige Abspielen eines Klanges zunehmend auch auf instrumentale Musik an. Spätestens nach Kompositionen wie Karlheinz Stockhausens Studie I (1953), in der serielle Reihentechnik auf Verfahren der additiven Synthese angewandt wird, oder György Ligetis erster Orgeletüde Harmonies (1967) muss die Frage nach den Grenzen zwischen Harmonik, Klang, Klangfarbe und Geräusch neu verhandelt werden (Gieseler 1996, 23). Im Zuge der neuen (Zusammen-)Klangmöglichkeiten werden auch neue Klangterminologien diskutiert, welche die traditionellen Konzepte »Harmonik« und »Polyphonie« erweitern. Neben der Typomorphologie von Klangobjekten (objets sonores) Pierre Schaeffers (1966) ist hier vor allem die Klangtypologie Helmut Lachenmanns zu nennen (vgl. 4.2), die sich mit Begriffen wie »Einschwingvorgang«, »Schwingungsphase« und »Ausschwingvorgang« direkt auf Termini der elektronischen Klangerzeugung bezieht und mit Konzepten wie »Strukturklang«, »Farbklang« oder »Kadenzklang« allgemeine Beschreibungsmöglichkeiten für bestimmte Eigenschaften von Klängen anbietet, aber auch als kompositionspoetischer Katalysator fungierte (Lachenmann 1966/93/96; Ä Themen-Beitrag 3, 2.4). Walter Gieselers Buch Harmonik in der Musik des 20. Jh.s. Tendenzen  – Modelle (1996) verfolgt einen vorwiegend deskriptiven Ansatz, versteht sich also nicht als eine »Harmonielehre im strikten Sinne« (Gieseler 1996, 5). In seiner Systematik geht Gieseler von »Modellen und nicht von Systemen« aus, wobei er den »mehr individuellen Charakter« von Modellen hervorhebt (ebd., 27). Diese »strikte Unterscheidung von System und Modell« (ebd., 259 52) als bewusster Bruch mit normativen Beschreibungsversuchen früherer dur-moll-tonaler Harmonielehren (wie z. B. Hugo Riemanns oder Heinrich Schenkers) ist paradigmatisch für theoretische Ansätze im Zusammenhang mit posttonaler Musik, wobei die Herausforderung darin besteht, aus der rein deskriptiven Auflistung von Einzelphänomenen zu einer plausiblen synoptischen Kategorisierung zu kommen (Utz / Kleinrath 2015, 569 f.). Die folgende Darstellung harmonischer und polyphoner Verfahren versteht sich in diesem Sinne als eine Zusammenstellung besonders einflussreicher, weitreichender oder allgemeiner Modelle und Topoi des 20. und 21. Jh.s, erhebt jedoch angesichts des vielgestaltigen Spektrums des Terrains keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Dabei wird aus pragmatischen Gründen die Unterscheidung in harmonische (3.) und polyphone Verfahren (4.) beibehalten, deren fortgesetzte Durchdringung voraussetzend. 3. Harmonische Verfahren Unter harmonischen Verfahren werden im Folgenden Kompositionstechniken neuer Musik verstanden, die sich vorwiegend auf die vertikale Dimension musikalischer Strukturen auswirken und damit den Zusammenklang, Klangcharakter sowie die Klangfarbe entscheidend beeinflussen. Obwohl viele der hier angesprochenen Verfahren mit traditionellen Kompositionstechniken vergleichbar sind oder sogar aus ihnen hervorgingen, sollten sie nicht im Sinne eines eindimensionalen »evolutionären« historischen Narrativs missverstanden werden. Vielmehr bieten vielfältige historische Querbeziehungen Belege dafür, dass Komponisten unterschiedlicher Epochen bisweilen durchaus vergleichbare harmonische Strategien entwickelt haben. 3.1 Struktureller Aufbau von Zusammenklängen Akkorde bzw. Zusammenklänge anhand einer bestimmten Intervallstruktur aufzubauen gehört wohl zu den rudimentärsten Methoden, harmonischen Zusammenhang zu stiften. Daneben wird dieses Verfahren auch häufig als eine jener Tendenzen genannt, die wesentlich zur Erosion der Dur-Moll-Tonalität beigetragen haben. So lässt sich u. a. bei späten Werken Franz Liszts beobachten, dass Akkordstrukturen, die aus äquidistanten oder periodisch alternierenden Intervallen bestehen oder von diesen abgeleitet wurden (z. B. verminderter Septakkord, übermäßiger Dreiklang, Ganztonleiter und -akkorde) dazu tendieren, die hierarchische Beziehung auf die Tonika aufzubrechen (Kleinrath 2010b). Die damit einhergehende »Distanzharmonik« (Gárdonyi 1993), die u. a. für Claude Debussy, Béla Bartók und Olivier Messiaen charakteristisch war, wurde Harmonik / Polyphonie !' 1 E' 13 13 G 10 !' G ' 13 !' 5 6 7 11 ' 11 !' 11 4 E' 13 11 !' 8 G 13 3 9 ' 2 !' 11 !' 11 Abb. 1: Edgard Varèse, Skizze »Berlin, 1910«, Teiltranskription mit Hinzufügung der Intervallklassen (© Paul Sacher Stiftung Basel, Sammlung Edgard Varèse; Utz / Kleinrath 2011, 79) nicht zuletzt in Schönbergs Erster Kammersinfonie für 15 Soloinstrumente op. 9 (1906) auf die Spitze getrieben, indem sich ein Quartenakkord zu einem Zwölftontotal vervollständigt und Interaktionen zwischen Ganzton-, Terzen- und Quartenharmonik stattfinden (Dale 2000). Von symmetrischen Akkorden sowie damit verwandten Klangkonstellationen (z. B. die sog. »akustische« Tonalität bzw. Skala c-d-e-fis-g-a-b und der sog. »mystische Akkord« Skrjabins) ausgehend, wurden von Komponisten im 20. Jh. in unterschiedlichsten Zusammenhängen distanzharmonische Prinzipien eingesetzt und weiterentwickelt. Dies lässt sich etwa an »schiefsymmetrischen« Klangkonstellationen bei Edgard Varèse beobachten. Auf einer frühen Skizze Varèses aus dem Jahr 1910 wird ein Klangmodell entworfen, bei dem Intervalle mittels Zyklen großer Septimen und kleiner Nonen ineinander geschachtelt sind (Abb. 1; Utz / Kleinrath 2011, 78–89). Aus diesem »Grundklang« lassen sich eine Fülle von subsets (Teilgruppen) ableiten, die Varèses harmonische Sprache bestimmen, darunter auch die in der Skizze vertikal aufscheinende »Fibonacci«-Intervallkonstellation 3–8–5 [3–5–8–13–21], die in zahlreichen Varianten und Erweiterungen bei Varèse, aber auch bei Bartók und anderen häufig auftritt. Auf Zyklen äquidistanter Intervalle basiert daneben u. a. auch George Perles System der »Twelve-Tone Tonality« (Perle 1977/96). Weitere harmonische Verfahren des 20. und 21. Jh.s, die sich wesentlich auf die Struktur von Zusammenklängen auswirken, sind u. a.: (1) das freie Zusammenstellen von Intervallstrukturen, das z. B. während der Phase der sog. »freien Atonalität« im Zeitraum ca. 1908–1920 wesentlich war (u. a. der im Schönberg-Kreis beliebte »Groß- Harmonik / Polyphonie Septimen-Klang« mit der Intervallstruktur 5–6 oder 6–5 und seine Varianten); (2) der bewusste Verzicht auf bestimmte Klangqualitäten (wie z. B. konsonante Dreiklänge oder Intervalle in vielen dezidiert atonalen Stilen); (3) das Ableiten der Intervallstruktur eines Zusammenklangs aus der Intervallstruktur eines vorangehenden Klangs z. B. durch Variation der Intervalle oder durch Hinzufügen / Weglassen einzelner Töne, wobei Stimmführung und Harmonik eng ineinandergreifen; (4) die Möglichkeit zur Bildung von Komplementärklängen, die sich gemeinsam zu einem gegebenen Tonvorrat wie etwa dem chromatischen Total ergänzen; (5) das Filtern von Tonhöhen aus einem gegebenen Tonvorrat, das u. a. auch in der Ä elektronischen Musik bei der subtraktiven Synthese als Gegenstück zur additiven Synthese wesentlich ist (Ä ThemenBeitrag 3, 2.2); (6) das Übereinanderschichten mehrerer Klänge, um so einen neuen Zusammenklang zu erhalten (bi- und polytonale Klänge, etwa durch die Synchronität mehrerer Dur- und / oder Moll-Dreiklänge finden sich u. a. bereits bei Liszt und frühen Werken Strawinskys); (7) das Ausweiten bzw. »Spreizen« des Tonumfangs eines gegebenen Zusammenklangs durch Verlegen der Töne in höhere und / oder tiefere Registerlagen sowie das Verkleinern des Tonumfangs durch Transposition der Töne in eine gemeinsame Oktavlage; (8) die von Henry Cowell erstmals eingeführten Cluster als Spezialfall eines auf engsten Raum »komprimierten« Zusammenklangs; (9) die Umkehrung, Permutation oder Transposition eines gegebenen Zusammenklangs. Anders als in dur-molltonaler Musik, bei der die Umkehrung eines Akkords meist wesentliche Merkmale der Klangqualität beibehält, ist in posttonaler Musik die Klangidentität oft wesentlich von der absoluten und relativen Lage der Einzeltöne abhängig. Als grundlegende harmonische Kompositionstechniken werden die hier beschriebenen Verfahren zum strukturellen Aufbau von Zusammenklängen im 20. und 21. Jh. nicht nur auf die zwölf Töne des gleichstufigen Tonsystems angewendet, sondern auch auf andere Tonvorrate wie z. B. Modi, Skalen oder alternative Tonsysteme (vgl. 3.2, 3.4). Zudem können strukturelle Überlegungen auch in Kombination mit dodekaphonen, seriellen, statistischen oder aleatorischen Verfahren wesentlich zur Entscheidungsfindung des Komponisten beitragen (vgl. 3.5). 3.2 Modalität Ein weiteres Verfahren, das zum Teil darauf abzielt die Strukturen der Dur-Moll-Tonalität zu durchbrechen, ist das Einschränken des zur Verfügung stehenden Tonvorrats auf vorgegebene Skalen oder Modi. Auch dieses Verfahren blickt auf eine lange Tradition zurück: Neben 260 den acht Modi des Gregorianischen Chorals, die bis ins 16. Jh. die europäische Kunstmusik prägten, ist diese Technik auch ein Wesenszug vieler Werke um 1900 von u. a. Debussy, Erik Satie, Strawinsky, Bartók, Leoš Janáček oder Sergej Prokofieff, teilweise auch als Resultat einer Rezeption von modalen Kunst- und Volksmusiktraditionen. Bei geordneten Tonvorräten wie Skalen tragen insbesondere die darin enthaltenen Intervallstrukturen wesentlich zum klanglichen Gesamteindruck bei. Dabei rufen viele modale Skalen, je nach Verwendung, mehr oder weniger starke Assoziationen an die harmonische Tonalität hervor. Wesentlich für den Grad der Nähe bzw. Distanz zum tonalen System sind hierbei insbesondere das Vorhandensein von diatonischen Halbtonschritten, die als Leittöne interpretiert werden können, sowie die Möglichkeit innerhalb des Tonvorrats Dur- und Molldreiklänge zu bilden. Als Kompositionstechnik neuer Musik wurden die Möglichkeiten modaler Komposition insbesondere von Olivier Messiaen mit seinen sieben »Modi mit begrenzter Transponierbarkeit« systematisiert (Messiaen 1944/66, 56–61, 2012). Messiaens (zweimal transponierbarer) achttöniger zweiter Modus greift dabei die seit den Jahrzehnten um 1900 weit verbreitete oktatonische Skala auf (Taruskin 1985), die aus alternierenden Ganz- und Halbtonschritten besteht und die Bildung von je vier Dur- und Molldreiklängen sowie von verminderten Akkorden in unterschiedlichen Varianten erlaubt. In Messiaens sechstönigem fünften Modus (sechsmal transponierbar), der auf verschachtelten Quarten bzw. einer Tritonustransposition des ersten Trichords basiert (c–cis–f–fis–g–h), sind dagegen Dur-und Molldreiklänge von vornherein ausgeschlossen. Dabei ist hervorzuheben, dass sowohl bei Messiaen als auch bei den anderen zuvor Genannten Modalität im engeren Sinn selten stabil bleibt, sondern vielmehr dazu tendiert, durch die Kombination, Überlagerung und Fragmentierung von Modi eine spezifische Form der modalen »Interaktion« (van den Toorn 1987) bzw. der »Polyskalarität« (Tymoczko 2002, 84–92) auszubilden. Da nur selten verschiedene Modi oder Tonalitäten etabliert werden, ist es meist nicht sinnvoll, von »Polymodalität« oder »Polytonalität« im strengen Sinn zu sprechen, vielmehr liegt, etwa in Strawinskys Le sacre du printemps (1911–13), eine neuartige Hybridharmonik vor, in der modale »Färbungen« mehr oder weniger deutlich hervortreten können (Utz / Kleinrath 2015, 594 f.). Skalen und Modi finden, wie die meisten hier vorgestellten Verfahren, sowohl als Klangvorrat für die horizontale Linienführung (vgl. 4.1) als auch für die Zusammenstellung von Zusammenklängen Verwendung. Auch bei modaler Kompositionstechnik kann der Akkordbau dabei wesentlich von strukturellen Überlegungen wie Symme- 261 trien oder äquidistanten Intervallen geleitet sein, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass nun aus einem vorgegebenen Tonhöhenvorrat geschöpft wird und für die Struktur des Zusammenklangs nicht mehr unbedingt absolute Intervalldistanzen, bezogen auf die zwölf Stufen der gleichstufigen Skala, sondern auch relative Intervalldistanzen im Sinne der Leiterstufen des jeweiligen Modus in Betracht kommen können. 3.3 Klangzentrum Die Zentralklangtechnik war um 1900 u. a. bei Komponisten wie Alexander Skrjabin und Bartók sowie in der freien Atonalität wesentlich. Dabei ist ein Klangzentrum zu verstehen als ein »nach Intervallzusammenhang, Lage im Tonraum und Farbe bestimmte[r] Klang, der im Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser Klang, der meist ein dissonanter Vielklang von besonderem Klangreiz ist, […] den Charakter eines klanglichen Zentrums, von dem die Entwicklung ausgeht, und in das sie wieder zurückstrebt« (Erpf 1927, 122; vgl. Lissa 1935). Als Beispiel für diese Technik diskutiert Erpf Schönbergs Klavierstück op. 19,6 (1911), in dem er den Zusammenklang g–c 1–f 1–a1–fis2–h2 als Zentralklang interpretiert (ebd., 197 f., Ä Analyse, 1.). Anton Weberns erstes Lied der Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4 (1908–09) ist ein weiteres Beispiel für die Technik des Klangzentrums. Die Akkordstruktur des Zentralklangs im ersten Takt dient dort den übrigen Klängen als Modell; besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang die dominierenden Quartstrukturen (Kleinrath 2010a, 58 f.). Weitere Beispiele für Klangzentren in posttonaler Musik finden sich u. a. bei Dane Rudhyar (1895–1985), Alan Hovhaness (1911–2000), Giacinto Scelsi sowie in Morton Feldmans letzten Werken wie Coptic Light für Orchester (1985) und For Samuel Beckett für Ensemble (1987), die »monolithische Situationen« (Claren 2000, 466) entfalten, wobei tendenziell nur ein einziger Zentralklang in fortgesetzt neuen Färbungen und Schattierungen beleuchtet wird. 3.4 Alternative Tonsysteme, Mikrotonalität und Spektralmusik Eine Möglichkeit der harmonischen Zusammenhangstiftung, die sowohl in europäischen als auch in außereuropäischen Musiktraditionen historisch weit zurück reicht, ist das Zurückgreifen auf nicht gleichstufig temperierte Tonsysteme sowie auf Mikrointervalle (Meyer 2014; Ä Themen-Beitrag 7). Im Rahmen der Diskussionen über die Reinheit von Intervallen und Versuchen einer Wiederbelebung antiker griechischer Tonsysteme wurden insbesondere im 15. und 16. Jh. zahlreiche alternati- Harmonik / Polyphonie ve Stimmungen entwickelt bis hin zu Nicola Vicentinos gleichstufigem System aus 31 Stufen (Grundlage ist der fünfte Teil eines mitteltönigen Ganztons [ca. 38,6 Cent], der die Bildung reiner Großterzen [386 Cent] von allen Skalenstufen aus erlaubt; Cordes 2007), wobei Vicentino auch Vokalkompositionen in seinem System anfertigte und mit dem archicembalo ein Instrument zu dessen instrumentaler Realisierung entwarf (Meyer 2014, 48–51). Unter den nicht-temperierten alternativen Skalen außereuropäischer Musikkulturen wurden seit dem Ende des 19. Jh.s insbesondere die Tonsysteme des javanischen und balinesischen Gamelan, sléndro und pélog, von europäischen und nordamerikanischen Komponisten rezipiert (Sumarsam 2013). Bei den im 20. und 21. Jh. entwickelten Konzepten und Systemen mikrotonaler Harmonik wird der Anspruch auf Innovation der Ä neuen Musik besonders deutlich, werden hier doch nicht einfach neue harmonische Verfahrensweisen vorgeschlagen, sondern das in der Praxis der Konzertmusik etablierte Tonsystem wird von Grund auf neu definiert. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen drei Typen von mikrotonalen Systemen oder Konzepten: (1) Systeme, denen eine Temperierung zugrunde liegt, die mit der temperierten Zwölftönigkeit kompatibel ist (Viertel- und Achteltönigkeit); (2) Systeme, denen (meist temperierte) Ganztöne zugrunde liegen, die aber nicht halbtönig, sondern (in der Regel) drittel-, sechstel- oder zwölfteltönig geteilt werden; (3) nicht-temperierte Systeme, die meist an Tonstufen der Teiltonreihe und damit an spektraler Harmonik orientiert sind. Dem entsprechen unterschiedliche Intentionen bzw. ästhetische Grundhaltungen: Während die in (1) und (2) gefassten Systeme häufig in dem Sinn einer fortschreitenden Differenzierung bzw. »Ultrachromatik« das moderne Grundprinzip der Innovation aufgreifen – paradigmatisch dafür sind die Ansätze Ivan Wyschnegradskys und Alois Hábas –, drückt sich in den unter (3) gefassten Systemen häufig eine fortschrittsskeptische Haltung aus, die, etwa bei Harry Partch oder La Monte Young, zur Entscheidung führte, antike Stimmungssysteme neu zu beleben bzw. sich der just intonation im Sinne einer Kontemplation reiner Intervallstrukturen zu widmen, was mit einem weitgehenden Verzicht auf den Gedanken harmonischer Fortschreitung einhergeht (Ä Themen-Beitrag 7, 4.). Freilich haben viele Komponisten die durch diese Kategorisierung vorgegebenen Grenzen längst überschritten. So basieren die Verfahren der französischen Ä Spektralmusik zwar in der Regel auf dem Tonvorrat aus Teiltonspektren, wobei im Sinne eines »harmonie-timbre« (Grisey 1991/2000, 51) der Grenzbereich zwischen Klangfarbe und Harmonik ausgelotet wird (vgl. 5.). Dabei Harmonik / Polyphonie 262 Abb. 2: Boulez, Klangmultiplikation b x b (Klangkomplexfelds Aλ von Le marteau sans maître) können aber die Lagen des zugrunde liegenden Teiltonspektrums verändert und die Spektren können Umkehrungen, Permutationen oder Verformungen (Spreizung, Stauchung) unterworfen werden, sodass der Klangcharakter starke Wandlungen erfahren kann – ein ursprünglich »reiner« Klang kann so in einen schärferen bzw. »verzerrten« Klangeindruck umschlagen oder sogar zu einem Geräusch transformiert werden. Ein Wechselspiel zwischen »reinen« und transformierten Spektren kann bewusst als kompositorisches Gestaltungsmittel eingesetzt werden. In Gérard Griseys Partiels für 16 oder 18 Musiker (1975) finden mehrfach solche Wechsel zwischen Spektralklang und Geräuschklang statt (Ä Themen-Beitrag 7, 8.). Mikrointervalle können auch im Sinne von Klangfärbungen bzw. -schattierungen zur quasi-heterophonen Entfaltung einer Linie beitragen (etwa in Werken Giacinto Scelsis oder Luigi Nonos) oder allgemein einer »Eintrübung« von ansonsten nicht mikrotonal konzipierter Harmonik dienen. Zu nennen sind auch die Bedeutung von Mikrointervallik im Zusammenhang mit Ä Multiphonics sowie Verfahren der Ä elektronischen und elektroakustischen Musik. Bekannt und in Ansätzen erforscht sind auch die Schwierigkeiten Mikrointervalle auf traditionellen Instrumenten exakt zu reproduzieren und das eingeschränkte Vermögen Mikrointervalle wahrzunehmen (Knipper / Kreutz 2013). 3.5 Dodekaphone, serielle und postserielle Harmonik Eine der großen Herausforderung dodekaphoner Verfahren ist die Frage, wie Harmonik aus Reihen bzw. allgemein aus einer gegebenen Vorordnung von Tonhöhen gewonnen werden kann. Zu den unterschiedlichen Strategien, die Komponisten des 20. Jh.s hierzu entwickelten zählen insbesondere: (1) die »Vertikalisierung« von Reihenstrukturen; z. B. beginnt Schönbergs Klavierstück op. 33a (1928–31) mit sechs anfangs rein homophon exponierten vierstimmigen Akkorden aus zwei Reihenformen (bestehend jeweils aus den Tönen 1–4, 5–8, 9–12 beider Reihenformen); diese sechs Akkorde bleiben im Werk auch in der Folge als Tongruppen bestimmend, werden aber zunehmend polyphon aufgelöst (Fearn 2002, 505–508); (2) die Kombination von zwei oder mehr horizontal verlaufenden Reihenformen in einem weitgehend homophonen Satz, ggf. mit komplementärer Ergänzung zum Zwölftontotal, z. B. zu Beginn von Anton Weberns Variationen op.  27 (1936), 1. Satz; (3) Harmonik als Resultat einer vorwiegend polyphonen Setzweise parallel verlaufender Reihen (vgl. 4.1); (4) das Fixieren einzelner Reihentöne in bestimmten Registerlagen; diese Technik wurde in der seriellen Musik aus dem Spätwerk Anton Weberns übernommen (Ä Analyse, 3.2; Mosch 2004, 244–247). Zudem gewinnen zahlreiche weitere Komponisten mit unterschiedlichen dodekaphonen Verfahren harmonische Grundelemente, so etwa die Transpositions-Rotationsmethode Ernst Kreneks und Igor Strawinskys (rotational arrays, Ä Zwölftontechnik, 2.). Charakteristisch ist auch die Arbeit mit symmetrischen bzw. systematisierten Zwölftonakkorden, so etwa bei Elliott Carter (der 88 spiegelsymmetrische und 60 parallelsymmetrische Allintervallzwölftonakkorde unterscheidet, Carter 2002, 18) oder bei Witold Lutosławski (Homma 1996). Je mehr musikalische Ä Parameter reihenmäßig organisiert werden, desto mehr ist die Harmonik Resultat kompositorischer Vorentscheidungen. Es wäre jedoch voreilig, serieller Musik pauschal das Vorhandensein harmonischer Strukturen abzusprechen. So führt z. B. selbst bei Boulez ’ Structures Ia für zwei Klaviere (1951), das oft als Musterbeispiel eines streng seriellen Kompositionsprozesses herangezogen wird, die kompositorische Entscheidung, gemeinsame Töne der unterschiedlichen Reihenformen in ihrer Oktavlage zu fixieren, zu sehr markanten harmonischen Strukturen, die zum Teil sogar die Gestalt quasi-tonaler Akkorde annehmen (z. B. Abschnitt 6, T. 65–72). Bereits zu Beginn der 1950er Jahre hatten John Cage und Boulez unabhängig voneinander begonnen, nicht mehr Einzeltöne, sondern Klangkonstellationen zur Grundlage ihrer Kompositionsverfahren zu machen. In den zur Komposition von Cages Music of Changes für Klavier (1951) verwendeten acht aus je 64 Feldern bestehenden Klangtabellen bilden je vier vertikal oder horizontal aufeinander folgende Felder das Zwölftontotal, wobei dasselbe Prinzip auch »dreidimensional« gilt: Wenn durch eine Zufallsentscheidung die aktive Tabelle als »mobil« eingestuft wird, wird sie beim nächsten Ablesen gegen die 263 »darunter« liegende ausgetauscht. Je vier »untereinander« liegende Felder ergänzen sich ebenfalls zum Zwölftontotal. Da bis zu acht Tabellen gleichzeitig hörbar werden, hat die Zwölftönigkeit aber nur »statistische« Auswirkungen auf das klangliche Endergebnis (Schädler 1990; Pritchett 1993, 78–88; Bernstein 2012; vgl. 4.4). Zur Generierung seiner u. a. bei der Komposition von Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) verwendeten Klangkomplexe (complexes de sons, blocs sonores) führte Boulez das Verfahren der »Klangmultiplikation« ein (Boulez 1960/63, 33 f.). Dabei werden fünf Segmente einer in Ein-, Zwei- oder Dreitongruppen unterteilten Zwölftonreihe miteinander »multipliziert«, womit eine Transposition der Intervallstruktur eines Klangs auf jeden seiner Töne gemeint ist. Um also den Klangkomplex bb [b x b] zu erzeugen, wird der Klang b auf jeden der vier Töne von b transponiert, Tonverdopplungen werden gelöscht, sodass im dargestellten Fall (Abb. 2) ein neuntöniger Klangkomplex resultiert. Durch dieses Verfahren wird erreicht, dass Klangkomplexe innerhalb einer Matrix aus 25 Feldern an korrespondierenden Positionen in Bezug auf eine diagonale Symmetrieachse einander entsprechen. Bei der Übertragung in die Partitur werden die Klangkomplexe nach einem bestimmten »Abtastschemata« durchlaufen, zum Teil überlagert und in melodische Linien aufgelöst (Mosch 2004, 45–67). Brian Ferneyhough kritisierte das Verfahren aufgrund seines »tautologischen Charakters« (1982/95, 228; Ä Struktur), entwarf aber selbst vergleichbare Verfahren von noch erheblich gesteigerter Komplexität (Cavallotti 2006, 140–152; Paetzold 2010, 83–93, 218–228). Generell ist die Arbeit mit gruppierten Tonhöhen (sets), die sowohl als linearer Verlauf als auch als Simultanklang interpretiert werden können, für zahlreiche Formen serieller, postserieller und posttonaler Musik charakteristisch und wird durch die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der set theory reflektiert (Forte 1973; Ä Analyse, 3.1). Eine stärker »globale« Ausrichtung der seriellen Methoden entwickelte auch Stockhausens »Gruppenkomposition«, die zu einer feldartigen Harmonik (vgl. 4.4) führt, »bei der mehrere Klänge durch eine oder mehrere gemeinsame Eigenschaften zu übergeordneten Erlebnisqualitäten verbunden werden« (Stockhausen 1955/63, 63). In den Gruppen für drei Orchester werden die Felder u. a. durch unterschiedliche Tempi, Dichtegrade, Registerbreite und Ä Instrumentation voneinander abgehoben und bewirken so zusammen mit der räumlich verteilten Aufstellung ein Wechselspiel von Ähnlichkeiten und Kontrasten. Feldhafte bzw. texturhafte Harmonik kennzeichnet auch die aus diesen Tendenzen hervorgehende »Klangkomposition«, wobei aus der elektronischen Musik übernommene Tech- Harmonik / Polyphonie Abb. 3: Helmut Lachenmann, Mouvement (– vor der Erstarrung) für Ensemble, Takte 417 ff. (vgl. Piencikowski 1988, 112) niken wie Filterung, additive Synthese oder der Übergang von Impuls zu Ton im instrumentalen Medium weiterentwickelt werden. Anstelle harmonischer Fortschreitungen tritt ein Wandel von unterschiedlichen Klang- und Texturtypen, wechselnder »Klangbreite« und »Klangdichte« (z. B. Ganzton-, Halbton-, Vierteltoncluster; unterschiedliche Filterungen aus einem Grundklang oder -cluster usf.) und die Organisation von »Massenbewegungen« (Ä Themen-Beitrag 3, 2.2). Feldhafte Harmonik liegt auch häufig in manchen Formen des Ä Minimalismus sowie in manchen Werken der (new) complexity vor, wobei auch hier Harmonik häufig als Resultat einer dichten Polyphonie erscheint (Ä Komplexität / Einfachheit). Originäre, noch kaum dokumentierte harmonische Gestaltungsweisen finden sich seit Anfang der 1960er Jahre im Werk Helmut Lachenmanns (Zink 2002, 40 f.; Cavallotti 2006, 114–124; Lachenmann u. a. 2008, 43–48). Sie weisen Spuren sowohl der Tradition der Distanzharmonik als auch serieller Praktiken auf. Generell zu unterscheiden sind dabei »Kontinuanten« (sukzessiv an- oder absteigende Intervallgrößen), »Konstanten« (Zyklen äquidistanter Intervalle) sowie »spektrale« Intervallkonstellationen. Im Ensemblewerk Mouvement (– vor der Erstarrung) (1982– 84) etwa wird die kontinuante Akkordstruktur 4–5–6–7–8 (T. 417) auf die in derselben Intervallfolge absteigenden (Bass-)Töne transponiert und an eine in Gegenbewegung aufsteigende kontinuante Melodielinie (1–2–3–4–5–6) gekoppelt (Piencikowski 1988, 112, Abb. 3). In der Serynade für Klavier (1997–98/2000) wird ab Takt 19 ein symmetrisch aufgebauter »zyklischer« Akkord mit dem Grundmaterial der oktatonischen Skala exponiert (Abb. 4). 264 Harmonik / Polyphonie Abb. 4: Helmut Lachenmann, Serynade, Takte 19 ff. 3.6 Postmoderne Harmonik als Neukontextualisierung von Tonalität Lachenmanns im weitesten Sinn posttonale Verfahren sind als »Spiel mit den vertrauten Klängen« (Lachenmann u. a. 2008, 48) zu unterscheiden von affirmativ neotonalen oder neoexpressiven Tendenzen; dennoch inszenieren zahlreiche harmonische Ansätze der Ä Postmoderne »konsonante Klänge« der Tonalität als zwar deutlich präsentes Vokabular, aber dennoch gewissermaßen auch als Unerreichbares (Ä Postmoderne, 7.). In diesem Zusammenhang lassen sich u. a. folgende Tendenzen ausmachen: (1) Seit Beginn der 1960er Jahre finden zunehmend Elemente dur-moll-tonaler Harmonik in Form von Zitaten (z. B. Berios Sinfonia für acht Stimmen und Orchester, 1968–69, in der im dritten Satz das Scherzo aus Mahlers Zweiter Sinfonie als Strukturfolie durchgängig präsent ist), Ä Collage / Montage (Stockhausens Hymnen für elektronische und konkrete Klänge, 1966–67 sowie Bernd Alois Zimmermanns Zitatcollagen, etwa in den Dialogen für zwei Klaviere und Orchester, 1960–61, Paland 2006, 25–211) oder auch Ä Polystilistik (u. a. bei Alfred Schnittke und Olga Neuwirth) Verwendung. Auch werden vertraute dur-moll-tonale Elemente wie typische Akkordtypen (z. B. Dur, Moll, vermindert, übermäßig) oder charakteristische harmonische Wendungen (Kadenzen, Sequenzen, Klauseln) als »Relikte« in eine ansonsten »fremde« harmonische Umgebung eingebettet und können dann z. B. als tonale »Inseln« (Gieseler 1996, 38) oder auch in Form simultan exponierter harmonischer Schichten auftreten. Beispiele finden sich u. a. in Karel Goeyvaerts’ De stemmen van de Waterman – Les Voix du Verseau für Sopran, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1985), Alfred Schnittkes Zweitem Konzert für Violoncello und Orchester (1990) und Hans Werner Henzes Requiem (1990–92) (ebd., 47 f.). (2) Dur-moll-tonale Klänge oder Elemente können als integraler Bestandteil des kompositorischen Verfahrens den harmonischen Verlauf bereichern. Die Verfahren hierzu sind vielfältig und reichen von einem vorübergehenden, kaum wahrnehmbaren Ein- und Ausblenden to- naler Reminiszenzen innerhalb eines dichten polyphonen Gewebes (z. B. der As-Dur-Dreiklang in Lachenmanns Zweitem Streichquartett Reigen seliger Geister, 1989, T. 39) bis hin zu Situationen, in denen z. B. Dreiklänge oder Konsonanzen so gesetzt werden, dass das Ausbilden eines tonalen Zentrums vermieden wird, wie etwa in HansChristian von Dadelsens Sentimental Journey (1978), Luca Lombardis Faust, un Travestimento (1986/90) oder Ligetis Klavieretüde Désordre (1985) (ebd., 49–51). (3) Häufig sind Verfahren, die harmonische Hierarchien im Sinne der Dur-Moll-Tonalität zu einem gewissen Grad (re)etablieren oder auf traditionelle Stimmführungsregeln oder -konstellationen wie z. B. Vorhalte, Leittöne oder Nebentöne zurückgreifen. Hierzu zählen teilweise Verfahren bei jungen westdeutschen Komponisten der 1970er Jahre und 80er Jahre wie Wolfgang Rihm oder Hans-Jürgen von Bose, Verfahren des Ä Minimalismus und Postminimalismus sowie diesen Tendenzen nahestehende Verfahren bei Komponisten wie Henryk Górecki, Arvo Pärt (»Tintinnabuli«-Technik; Ä Themen-Beitrag 8, 5., Ä Osteuropa, 4.) oder John Tavener. Derartige Verfahren werden in der Literatur zum Teil auch mit Begriffen wie »Neotonalität« oder »Neoromantik« in Verbindung gebracht, wobei tonale Prinzipien im engeren Sinn nur in den seltensten Fällen ungebrochen reinstalliert werden (Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität). 4. Polyphone Verfahren Polyphonie umfasst als Oberbegriff sämtliche Satztechniken, bei denen (»horizontale«) melodische Linienführung und (»vertikale«) Harmonik in einer kompositorischen Methode zusammengedacht werden, etwa im Sinne einer »diagonalen Dimension« (Boulez 1960/63, 99–103; Mahnkopf 2002, 40). Schwierigkeiten in der Anwendung des Terminus auf die Musik des 20. und 21. Jh.s ergeben sich (1) aufgrund der Tatsache, dass eine tonalem oder modalem kontrapunktischem Denken zugrunde liegende »strikte Beachtung von Konsonanz-Dissonanz-Verhältnissen« (Krützfeld 2005, 325) zur seltenen Ausnahme geworden ist, (2) polyphone kompositorische Techniken und polyphone Wahrnehmung im Sinne einer Unterscheidung von Linien sich (unter Umständen gemäß den Intentionen des Komponisten) keineswegs immer entsprechen müssen, und (3) in posttonaler Musik keine allgemeinen Orientierungspunkte wie Kadenz, Tonart bzw. tonales Zentrum mehr vorausgesetzt werden können, die als gemeinsamer Bezugspunkt einzelner Stimmen oder Linien gelten könnten. Für die Herausbildung atonaler Harmonik und zahlreiche Strömungen der neuen Musik bedeutsam ist demnach die Vorstellung von Polyphonie als der Unabhängigkeit einander gleichgestellter Stimmen (Adorno 265 Harmonik / Polyphonie Abb. 5: Berio, Sequenza VIII; tonaler Prozess der ersten acht Systeme 1957/78, 147 f.). im Gegensatz zu einer (hierarchischen) Abhängigkeit zwischen Stimmen (Mahnkopf 2002, 39). Daneben kann allerdings auch in der neuen Musik die Bezogenheit der einzelnen Stimmen auf ein dodekaphones, serielles oder auch (poly-)modales Bezugssystem unter Umständen nicht unwesentlich dazu beitragen, dass die polyphone Struktur (auch) als übergeordnete Einheit wahrgenommen werden kann, selbst dann, wenn gleichzeitig der Gedanke der Linerität radikalisiert wird (4.1). Boulez beschreibt das Zusammenwirken musikalischer Stimmen in seriellen Strukturen als »Konstellation von Ereignissen, die einer bestimmten Anzahl gemeinschaftlicher Kriterien gehorchen; als eine Anordnung von Strukturfamilien im Entwicklungsstand, die sich in beweglicher und diskontinuierlicher Zeit vollzieht, variable Dichte und nichthomogene Klangfarbe besitzt« (Boulez 1960/63, 112 f.). 4.1 Linearität Es verwundert wenig, dass kontrapunktische oder satztechnische Lehrbücher meist jenen Komponisten des 20. Jh.s den Vorzug gaben, deren Werke im Sinne traditioneller Kontrapunktlehren eine regelbasierte Abhängigkeit zwischen verschiedenen Stimmen aufweisen (LaMotte 1981; Salmen / Schneider 1987). Dazu zählt gewiss Paul Hindemith, in dessen Lehrbuch Unterweisung im Tonsatz (1937/39) eine Reihe von Stimmführungsregeln und Anweisungen zur Melodiegestaltung an die traditionellen Satzlehren anschließen, etwa das Gebot eines »Stufen- und Sekundgangs« (Hindemith 1937, 222–236, 1939, 18, 29; Krützfeld 2005, 316 f.). Aber auch bei stärker modern gesinnten Komponisten wirken Prinzipen tonaler Stimmführung nach, die man als »Linienlogik« (ebd., 314) bezeichnen kann, etwa im Sinne dessen, was Ernst Kurths Energetik »Spannkraft der Linieneinheit« nannte (Kurth 1917/22, 49–51). So wurde nachgewiesen, dass die Werke Giacinto Scelsis polyphone intervallische Prinzipien ausbilden, die durchaus auf die bis ins Mittelalter zurückrei- chende Intervalllehre des contrapunctus simplex beziehbar sind, diese Intervallverhältnisse aber gleichsam »in Zeitlupe« inszenieren und damit das fächerartige archaische Prinzip eines »Ausschreitens« in Mehrstimmigkeit und wieder Zurücksinkens in den Einklang zu einem ihrer Grundprinzipien machen (Menke 2014). In ähnlicher Weise werden in Luciano Berios Sequenza VIII für Violine (1976) zwei Zentraltöne (a1 und h1) sukzessive mit Nebentönen angereichert. Dabei wird der Tonraum in beide Richtungen ausgeweitet, um zum Schluss wieder in die Ausgangslage zurückzukehren (Abb. 5). Verwandte Verfahren treten auch im Spätwerk Feldmans auf, wo manche Werke wie z. B. For Bunita Marcus für Klavier (1985) sich über lange Strecken nur auf ein enges Umspielen von Einzeltönen konzentrieren. In solchen Fällen liegt also die quasi polyphone Ausfaltung eines Klangzentrums (vgl. 3.3) vor. Vergleichbar mit diesen Prinzipien ist die kompositorische Rezeption der Heterophonie vor allem aus dem Kontext der traditionellen ostasiatischen Musik, wo Ensemblestrukturen wie etwa in der japanischen Hofmusik gagaku häufig heterophonen Prinzipien folgen. Neue kompositorische Lesarten solcher Strukturen finden sich seit Gustav Mahlers Lied von der Erde (1908) zuhauf, etwa in Toshio Hosokawas Koto-Uta (1999) für Gesang und koto oder in Tori mo tsukai ka für shamisen und Orchester (1993) von Yūji Takahashi (Utz 2014, 186 f., 267 f.). Für Boulez war das Prinzip der Heterophonie – im Sinn einer Ordnung der Stimmen »nach verschiedenen Schichten, und zwar etwa so, als ob mehrere Glasscheiben übereinanderlägen, auf denen dieselbe Figur in Varianten aufgezeichnet ist« (1960/63, 101) – Grundlage einer Überwindung des Gegensatzes zwischen einer reinen Homophonie bzw. Flächenharmonik und einer linearen Polyphonie ohne Berücksichtigung des Klangresultats; besonders in Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht Gruppen (1974–75/87) spielen Techniken der Heterophonie eine zentrale Rolle (Goldman 2011, 103 f.). Harmonik / Polyphonie Während Kurth den »linearen Kontrapunkt« im Rahmen eines organizistischen Musikbegriffs begriffen hatte, in dem die »Gesamtheit, zu der die Linien ineinander geflochten sind, […] keine Summe, sondern ein Ganzes darstellt« (1917/22, 351), war spätestens seit einem Werk wie Schönbergs Erstem Streichquartett (1907) die Tendenz unverkennbar, dass die Linearität der Stimmführung zur Erosion der tonal-formalen Integration beitrug. Dies wurde von Schönberg kurz darauf explizit gemacht: »anscheinend […] wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu, und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung sein: Rechtfertigung durchs Melodische allein!« (1911/22, 465) – eine Tendenz gegen die sich Kurth im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches explizit aussprach, wenn er gegen das »harmoniefreie […] Zusammenflicken von Tonlinien« polemisierte (1917/27, XVI). Nach Einführung der Zwölftontechnik – und in Auseinandersetzung mit Kurth – radikalisierte Schönberg darauf den Gedanken der Linearität, indem er postulierte: »Selbständigkeit der Stimmen ist nicht bloß so aufzufassen, dass sie nach ihrem horizontalen Verlauf von einander nicht abhängen […], sondern dass sie auch in harmonischer Beziehung voneinander unabhängig sein sollen; d. h. […] c) dass sie womöglich dissonnante [sic!] Zusammenklänge ergeben sollen (als äußeres Zeichen der Unbekümmertheit), d) dass das Entstehen harmonischer (›registrierbarer‹) Folgen wie z. B. Cadenzen, oder sonst benennbarer Fundamentalschritte nicht anzustreben ist und für ihre Funktion unmaßgeblich ist« (1931). Tatsächlich geht in dodekaphonen Verfahren das Konzept der Linie im Konzept der Reihenkonstruktion auf. Als grundlegend für mehrstimmige Dodekaphonie können folgende Verfahren gelten: (1) horizontal ablaufende Reihenabschnitte werden auf mehrere Stimmen verteilt und resultieren in einem komplexe Gewebe, so im dritten Satz [Variationen] von Schönbergs Serenade op. 24 (1920–23), wo Reihensegmente aus vier Grundreihenformen mosaikartig verschachtelt sind (Sichardt 1990, 67–70); (2) parallel zueinander ablaufende Reihenformen werden selbstständig geführt, d. h. jeder Stimme wird eine Reihenvariante zugewiesen: In Schönbergs Variationen für Orchester op.  31 (1926–28) besteht das Thema (T. 34–57) aus den vier aufeinander folgenden Reihenformen G0-KU9-K0-U9, wobei jede Reihenform durch eine invers-hexachordgleiche Reihenform begleitet wird, sodass Zwölftonfelder einander ablösen. Die Intervallstruktur der Reihe hat in beiden Fällen grundlegende Auswirkungen auf die resultierende Harmonik, was an einem Vergleich von Bergs Reihe im Violinkonzert (1935), die bekanntlich auf eine Folge von vier Dreiklängen und einem Ganztonsegment beruht, und Weberns rekursiv-symmetrischen 266 Reihenstrukturen, die in der Regel Sekund- bzw. Septimund Tritonusintervalle bevorzugen, sehr deutlich wird. Gerade dieser Rest von »systemischer« Bezogenheit des Gesamtklangs auf die Intervall- und »Klang«-Charakteristik der Reihe wird in seriellen Systemen weitgehend aufgegeben, da sich durch die multiparametrische Anlage eine Vielzahl neuer sekundärer Beziehungen und Verschränkungen ergibt, die durch das Prinzip eines »monistischen« »Bezugssystems« (Dahlhaus 1970/2005, 452 f.), wie es die Zwölftonreihe noch sein mochte, nicht mehr angemessen fassbar sind. Vielmehr wuchs im Zusammenhang mit der seriellen Methode und insbesondere durch die Arbeit mit elektronischer Klanggenese das Bewusstsein dafür, »Klang« schlechthin zu komponieren. 4.2 Textur und Struktur Damit freilich war der Diskurs über die ästhetische Wertigkeit und die kompositionstechnischen Methoden der Unabhängigkeit bzw. Verschmelzung von Einzelstimmen innerhalb einer musikalischen Struktur keinesfalls erschöpft. Dabei spielte zunehmend der Gedanke einer im Gesamtklang aufgehenden polyphonen Verdichtung eine Rolle, wie sie bereits durch die »Monumentalpolyphonie« der Renaissance, etwa in Thomas Tallis ’ berühmter vierzigstimmiger Motette Spem in alium (1568–69) vorgezeichnet war. Einen Zusammenhang von polyphoner Linienführung und übergeordneter Textur machte bereits der Beginn von Schönbergs bekanntem Orchesterstück Farben op.  16, 3 (1909) deutlich. Die Stimmen sind hier im Sinne eines Kanons konzipiert, jedoch dient die polyphone Methode dem übergeordneten Zweck einer kontinuierlichen Klangtransformation, der Kanon selbst wird dagegen kaum wahrgenommen, was auch wohl nicht intendiert war; es resultiert eine spezifische Art der »Klangfarbenlogik« (Haselböck 2013, 150–153). Dieses Prinzip radikalisiert die sog. »Mikropolyphonie«, die György Ligeti seit Apparitions (1958–59) bis zu Lux aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor (1966) laufend weiterentwickelte und die aus einer gleichsam »statistischen« polyphonen Schichtung und Verzweigung von Einzellinien besteht, die, zum Teil den Mensurbzw. Proportionskanon der Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jh.s aufgreifend (Johannes Ciconia, Johannes Ockeghem), in einer sich stark dynamisch wandelnden Textur resultieren, wobei freilich auch hier keine isolierte Wahrnehmung der Einzellinien mehr möglich oder beabsichtig ist (Ä Themen-Beitrag 3, 2.2). Helmut Lachenmann, der Ligetis Mikropolyphonie als »Texturklang« bzw. »Fluktuationsklang« beschrieb und gemeinsam mit anderen Tendenzen der Klangkomposition um 1960 der Kategorie »Klang als Zustand« zuordnete 267 (Lachenmann 1966/93/96, 8–15), insistierte im Gegenzug zu solchen »Neutralisierungstendenzen« mit seiner bekannten Definition des »Strukturklangs« als »Polyphonie von Anordnungen« (ebd., 18) auf einem Modell, in dem »wir eine Menge unterschiedlicher Details, Einzelklänge [erfahren], die keineswegs identisch sind mit dem Gesamtcharakter des Klangs, vielmehr im Hinblick auf ihn zusammenwirken. […] Es ergibt sich ein vom Detail verschiedenes und zugleich abhängiges Gesamtbild, das nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mehr ist als die Summe seiner Komponenten« (ebd.). In Lachenmanns komponierten Strukturklängen sind verschiedene »Klangfamilien«, die als einander überlappende und oft mehrdeutige Komponenten den Strukturklang konstituieren, durch den Hörer verfolgbar, was zum Eindruck einer Art Montage unterschiedlicher Strukturen führt, die jeglichen Sinn für Hierarchie oder Priorität unterlaufen und bei jedem Hören neu und anders »abgetastet« werden können (Heathcote 2003, 29; Ä Themen-Beitrag 3, 2.4). 4.3 Streaming Die Wahrnehmung einer komplexen polyphonen Struktur schwankt also in der Regel zwischen der Konzentration auf den globalen Gesamteindruck und dem Verfolgen einzelner Stimmen oder Linien. In der Wahrnehmung werden Töne im selben Register tendenziell zu einem »stream« zusammengefasst, selbst wenn sie durch Töne in anderen Lagen zeitlich voneinander separiert werden (auditory streaming, Bregman 1990). Streaming-Effekte können auch in einstimmiger Musik zum Tragen kommen (ebd., 457 f.), so etwa in der »impliziten« oder »virtuellen Mehrstimmigkeit« der Solo-Suiten und Sonaten J.S. Bachs, die bereits von Johann Mattheson beobachtet und von Kurth ausführlich als »Scheinpolyphonie« beschrieben wurde (Kurth 1917/22, 302–348; Schwab-Felisch 2005). Beim Hören wird dabei eine Stimme in mehrere polyphone Linien aufgeteilt. Vergleichbare Effekte finden sich in posttonaler Musik relativ häufig, zum Teil mit bewusstem Bezug auf musikpsychologische und ethnomusikologische Forschungen, so etwa in der Rezeption der sog. »resulting patterns« in westafrikanischer Trommelmusik durch Steve Reich oder der »inherent patterns« in der AmadindaMusik Ugandas durch György Ligeti (Ä Afrika, 5., Ä Akustik / Psychoakustik, 3., Ä Rhythmus / Metrum / Tempo, 4.). In beiden Fällen liegt die Aufmerksamkeit auf übergeordneten Mustern, die durch die Interaktion mehrerer Linien in meist sehr schnellem Tempo durch den Streaming-Effekt entstehen (Utz 2003; Klein 2014). Aber auch für serielle Musik kann der Streaming-Effekt relevant werden. Denn durch die häufig angewandte Fixierung der Oktavlagen ergibt sich  – etwa in Boulez ’ Structures Ia und Le Harmonik / Polyphonie marteau sans maître – aufgrund des auch hier meist sehr raschen Tempos eine klar verfolgbare mehrfache Wiederkehr derselben Tonhöhen in derselben Lage, wobei nahe beieinander liegende Töne zu übergeordneten streams bzw. »Gestaltknoten« zusammengefasst werden (Utz 2013, 89–92; Ä Analyse, 3.2). 4.4 Simultaneität Dass gerade in der Zurückweisung eines hierarchischen kontrapunktischen Regelsystems, das gleichzeitige Stimmen beschränkt und »diszipliniert«, eine Grundfigur der frühen Ä Moderne sichtbar wird, nämlich die Erfahrung von Simultaneität, ist offensichtlich (Ä Zeit, 2.2). Dem entsprach die vor allem in der amerikanischen Avantgarde bei Charles Ives früh auftretende Überlagerung unterschiedlicher Zeitschichten und Idiome, meist vor dem Hintergrund einer »zeitlosen« diatonischen Schicht, die ein transzendentes Prinzip repräsentierte (Ä Rhythmus / Metrum / Tempo, 4.). Die »anti-satztechnische« Stoßrichtung solcher Simultanerfahrungen wird von John Cage zu Ende formuliert. Wenn in den Music of Changes, in einer Entsprechung von Boulez ’ s Bild der übereinander gelegten Glasscheiben (vgl. 4.1), bis zu acht Schichten unterschiedlicher Dichte im Sinne einer Simultaneität unterschiedlicher Texturen auskomponiert werden, so ist dies noch im Sinne der nahezu zeitgleichen »Feldkomposition« Stockhausens oder »Formantkomposition« Boulez zu verstehen, die im Gegenzug zum frühseriellen Pointillismus versuchten, verstärkt »globale« Strategien zu entwickeln (vgl. 3.4). Radikalisiert wird dieses Prinzip dann aber im Gedanken der Simultanaufführung von Werken, die zwar in der Regel nach ähnlichen Grundprinzipien entstanden sind, aber keineswegs mehr ein monistisches »Bezugssystem« im Sinne eines Klangzentrums oder einer Reihe besitzen, so erstmals in den zwischen 1953 und 1956 entstandenen sog. »time-length pieces« (von Cage auch in Anspielung auf die daoistische Philosophie als »the ten thousand things« bezeichnet; Pritchett 1993, 95–102). Diese Art von »superimposition« erklärt Cage als Konsequenz aus seiner Forderung den »Kontrapunkt aufzugeben«: »Giving up counterpoint one gets superimposition and, of course, a little counterpoint comes in of its own accord. How I wouldn ’ t know« (Cage 1954/78, 164). Der Impuls, die »Befreiung« musikalischer Schichten oder Linien von übergeordneten Hierarchien zu erreichen und damit musikalische Gleichberechtigung als gleichsam sozialpolitisches Modell zu proponieren, überlebt auch in den Konzepten des »Poly-Werks« (Claus-Steffen Mahnkopf ) oder der »Formpolyphonie« (Robert HP Platz), in denen ebenfalls weitgehend voneinander unabhängige Werke in simultanen Aufführungen erklingen können (Ä Form, 3.). Harmonik / Polyphonie 5. Klangkomposition In Werken wie Schönbergs Farben, Boulez ’ Structures Ia, Cages »time-length pieces«, Ligetis Lux aeterna oder Lachenmanns Orchesterwerk Kontrakadenz (1970–71) stehen die polyphone »Anordnung« von Einzelstimmen bzw. -schichten und das Erleben eines Gesamtklangs in je unterschiedlichen und im Verlauf der Kompositionen sich wandelnden Verhältnissen. Von der »Harmonik« dieses Gesamtklanges, etwa als Produkt einer »rein linearen« Stimmführung, zu sprechen, wäre ebenso verfehlt wie das Klangerlebnis auf das Phänomen der Klangfarbe reduzieren zu wollen. Die kontinuierliche Transformation des Klangs, die sich ständig ändernden Nuancen der Teiltonstruktur, die hervor- und wieder zurücktretenden »Individuen« sind mehr als lediglich »Harmonik«, »Polyphonie« oder »Klangfarbe«. Im Sinne einer Tendenz zur Identität von Klang und Form, von verräumlichter Klanggestalt (Morphologie) und zeitlichen Klangbeziehungen (Syntax), wie sie etwa Ligeti und Lachenmann entwarfen (Ä Themen-Beitrag 3, 2.3–2.4), können die Beziehungen zwischen einzelnen Klangereignissen bzw. Linien und dem Gesamtklang als musikalische »Morphosyntax« verstanden werden (Utz 2013; Utz / Kleinrath 2015). Musik, die sich in solchem Sinn als Transformation eines Gesamtklangs auffassen lässt, wird gelegentlich auch unter dem Begriff »Klangkomposition« zusammengefasst, der – trotz seiner Etablierung als musikhistorischer Terminus – nicht zwingend auf eine Kompositionstechnik oder -ästhetik abzielen muss, sondern all jene Facetten in sich vereinen kann, die in zahllosen Werken der neuen Musik Grenzbereiche zwischen Harmonik und Klangfarbe, Polyphonie und Homophonie, Ton und Geräusch erkunden und entgrenzen. Eine Interaktion von harmonischen und polyphonen Grundprinzipien ist dabei stets als selbstverständlich vorausgesetzt. Ä Themen-Beiträge 3, 7; Analyse; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Klangfarbe; Kompositionstechniken; Material; Melodie; Serielle Musik; Zwölftontechnik Adorno, Theodor W.: Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik [1957], in: Klangfiguren. Musikalische Schriften I (Gesammelte Schriften 16, 7–247), Frankfurt a. 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Kongressbericht der IX. Jahrestagung der Gesellschaft für Musiktheorie, hrsg. v. Jürgen Blume und Konrad Georgi, Mainz 2015, 564–596 „ Van den Toorn, Pieter C.: Stravinsky and the Rite of Spring: The Beginnings of a Musical Language, Berkeley 1987 „ Zink, Michael: Strukturen. Analytischer Versuch über Helmut Lachenmanns »Ausklang«, in: MusikTexte 96 (2002), 27–41 Dieter Kleinrath / Christian Utz Humor Inhalt: 1. Begriffsbestimmung „ 2. Ernste vs. unernste Musik  „ 3. Humor in neuer Musik  „ 3.1 Gattungsspezifischer Humor  „ 3.2 Parodistische Züge ohne deutlichen Gattungsbezug  „ 3.3 Ironische Spiegelung gesellschaftlicher Zustände und Ideale  „ 3.4 Humor in außerkompositorischen Aktivitäten „ 3.5 Rezeptionsphänomene 1. Begriffsbestimmung Die immer wieder anzutreffende Rede vom »Humor in der Musik« (Absil 1968; Flothius 1983; Daschner 1986; Scher 1991/2004) könnte auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen. Das Gegenteil ist der Fall, und dies aus mindestens zwei Gründen: Zum einen zeitigt der »inflationä- 270 Humor re Wortgebrauch« (Hörhammer 2001, 67) von »Humor« gegenwärtig im Alltag wie in der Wissenschaft markant unterschiedliche Bedeutungsnuancen. Zum anderen ist es fraglich, inwiefern – auch unabhängig von inner- oder interkulturell divergierenden Rezeptionsszenarien  – von Humor »in« Musik gesprochen werden sollte: Ob etwa für strukturell evidente, verfremdende Bezugnahmen auf ältere Musik (wie in Alfred Schnittkes Moz-Art-Werken, 1975–90) Attribute wie »grotesk« »ironisch« oder »komisch« (Gratzer 2005, 744 f.) passend erscheinen, hängt nicht unwesentlich von den Vorannahmen jener ab, die solche Attribute wählen bzw. beurteilen. Zur Vorgeschichte der im deutschen Sprachraum erstmals für das späte 17. Jh. nachweisbaren Verwendung des Begriffs »Humor« gehören die beiden antik-lateinischen Substantivvarianten humor (Sammelbegriff für Körpersäfte wie Blut oder Schweiß) bzw. humores (Gewohnheiten, Manieren). Die wohl mit altfranzösischen und englischen Wortprägungen einhergehenden Bedeutungszuschreibungen unernsten bzw. ironischen Handelns waren spätestens im 4. Jh. v. Chr. Anlass von Reflexionen (u. a. Aristoteles, Poetik, 1449a; Nikomachische Ethik, 1128a; Rhetorik, 1419b). In Gang gesetzt wurden solche Debatten u. a. durch Beobachtungen von Lachen als alltäglichem Ausdrucksverhalten und durch literarische Zeugnisse wie Homers Erwähnung göttlichen »unlöschbaren Gelächters« im 8. Jh. v. Chr. (u. a. Ilias, 1. Gesang / Vers 599; Odyssee, 8. Gesang / Vers 342). Die wechselhafte Verwendungsweise des Wortes »Humor« ist mit Blick auf die lange, sich in verschiedenen Sprachen vollziehende Wortgeschichte durchaus erklärlich. Dabei zeigt sich u. a. eine schwankende Konjunktur von  – semantisch ihrerseits veränderlichen  – Synonymbildungen. Worte wie bspw. »Frohsinn«, »Ironie«, »Komik«, »Nonsense«, »Scherz« oder »Witz« gehören demselben Begriffsbezirk »Heiterkeit« an. Dabei offenbart der Vergleich etymologischer Befunde unter Umständen erhebliche historische Differenzen. Ähnliches gilt für teilweise synonym verwendete Adjektive wie »humorvoll«, »humoristisch« bzw. »humorig«, des Weiteren z. B. »fröhlich«, »grotesk«, »heiter«, »ironisch« »komisch«, »lachhaft«, »lächerlich«, »launig«, »lustig«, »spaßig« oder »witzig«. In den Sprachwissenschaften wird dem historisch gewachsenen Klärungsbedarf mittlerweile mit zahlreichen  – auch für die Musikwissenschaften relevanten – Studien (Nagy 2013; Carlin / Pettenhofer 2014) begegnet, wobei sich jüngst Befunde häufen, die für eine diskursanalytische, interkulturell sensibilisierte, transdisziplinär ausgerichtete Differenzierung sprechen und universalistischen Definitionen von »Humor« oder »Heiterkeit« entgegen treten. Dies gilt gleichermaßen für die Auseinandersetzung mit Humor im Zusammenhang mit Entstehungs- und Rezeptionsformen von Musiken unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters, mithin auch für zeitgenössische Musikformen. Gilt es mit Blick auf letztere zunächst eine Merkmalsbestimmung der Begriffsfamilie »Humor« vorzuschlagen, so wird an dieser Stelle mit Odo Marquart davon ausgegangen, dass Heiterkeit im Kontext künstlerischer Handlungen »gar nicht das Gegenteil des Ernstes [ist], sondern eine bestimmte Weise, mit dem Ernste zu leben«, indem die Kunst »das, was in der Wirklichkeit des offiziellen Ernstes nichts gilt und das Nichtige ist, geltend macht, und indem [sie] das, was in dieser offiziellen Wirklichkeit alles ist und totale Geltung beansprucht, in dieser totalen Geltung negiert« (Marquart 1976, 135 f.). Zudem findet folgender Erfahrungswert Berücksichtigung: Egal, ob einer Person (z. B. Han Bennink, der im Zuge seiner Schlagzeug-Performances gerne damit Gelächter hervorruft, dass er spontan dazu übergeht, Inventarobjekte wie Abfalleimer oder Teppiche zu bespielen) oder einem Gegenstand (z. B. W.A. Mozarts Ein musikalischer Spaß KV 522) Eigenschaften wie »humoristisch« oder »ironisch« zugesprochen werden, meist zielen solche Einschätzungen darauf, Unernst signalisierende Reaktionen (u. a. lachen, lächeln, schmunzeln) als angebracht erscheinen zu lassen. Ob im konkreten Einzelfall die intendierten Eigenschaften vom Rezipienten als Zeichen menschlicher Unzulänglichkeit (im Sinne unfreiwilliger Komik) oder  – gerade umgekehrt  – als Zeichen besonderer Virtuosität gedeutet werden, bleibt in auffällig vielen Fällen fraglich, selbst wenn – auf historisch veränderlichen Gestaltungskonventionen basierende – Zuschreibungen wie »Farce«, »Groteske«, »Humoreske«, »Parodie«, »Satire«, »Slapstick« oder »Witz« semantische Präzision suggerieren. Entsprechend den abweichenden emotionalen Intensitätsgraden und den jeweils als passend empfundenen Ausdrucksformen kann zwischen zurückhaltend-heiteren bis hin zu sarkastisch-aggressiven Produktions- und Rezeptionsformen unernsten Handelns eine breite Skala von Abstufungen angenommen werden. 2. Ernste vs. unernste Musik Ob »komische« musikalische Ä Gattungen existieren, die einschlägigen literarischen oder bildnerischen Gattungen entsprechen (wie z. B. die meist instrumentale Gattung der Humoreske), wurde im Falle von zeitgenössischer Musik, sofern damit sog. Ernste Musik gemeint ist, bislang erst in Ansätzen erforscht. Dies könnte u. a. damit zu tun haben, dass die etablierte, wiederholt kritisierte, verwertungsrechtlich jedoch weitgehend unverändert zementierte Rubrizierung bestimmter Formen von Kunstmu- 271 sik als sog. E-Musik die Sicht darauf verstellt, dass nicht alleine sog. U-Musik unterhaltsam zu wirken vermag. Zudem signalisiert das Sprachspiel etlicher namhafter Diskussionsbeiträge über komponierte neue Musik (wie Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik, Adorno 1949/75, Pierre Boulez ’ Leitlinien, Boulez 1989/2000, Helmut Lachenmanns Musik als existentielle Erfahrung, Lachenmann 1996, oder Claus-Steffen Mahnkopfs Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jh.s. Eine Streitschrift, Mahnkopf 1998) weit öfter ein Interesse an den »Problemen« bzw. »Schwierigkeiten« oder gar an einer »Krise« des Metiers als an einem heiter-gelassenen Umgang mit diesem. Ähnlich verhält es sich mit Carl Dahlhaus ’ Formulierung einer »Problemgeschichte« des Komponierens (Dahlhaus 1974; Breig u. a. 1984). Dass dies mitunter zu einseitigen Vorannahmen führt, die den Blick für ironische Facetten in neuer Musik und ihrem Diskurs verstellen können, mögen zwei Beispiele andeuten: (1) zum einen die überaus ernsthaft geführte, kontroverse Rezeption einer Äußerung von Boulez (»Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre?«, Boulez 1967, 172), die ohne sein Zutun als Titelformulierung herausgestellt, zudem von der Redaktion verändert wurde: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!« (ebd., 166); darauf später angesprochen, relativierte Boulez verallgemeinernd: »Oft habe ich es mit Humor versucht, aber Schlagzeilen sind leider humorlos« (Boulez 2010); (2) zum anderen das klischeebelastete Verständnis einer musikalischen Ä Postmoderne als humorvoll im Gegensatz zu einer von »Lachfeindlichkeit« (Killmayer 1990) geprägten musikalischen Ä Moderne. Für eine solch pauschale LagerOpposition Moderne vs. Postmoderne bliebe etwa Karlheinz Stockhausens bereits in frühen Arbeiten erkennbarer Sinn für Komik unverständlich (z. B. im zweiten der Drei Lieder für Altstimme und Kammerorchester, 1950, und in Harlekin für Klarinette, 1975, sowie in etlichen Texten bzw. Interviews; Gratzer 1994). Stockhausens Kritik an Olivier Messiaens Oper Saint François d’Assise (1975– 83): »Da war leider nichts von Humor zu spüren. […] Es wurde nur die eine Seite des Gottesgläubigen gezeigt. […] Es fehlte Humor, dieses verrückte Tänzchen« (Stockhausen 1989, 284) gibt umgekehrt zu bedenken, wie individuell bzw. unkonventionell der Sprachgebrauch von »Humor« (und verwandten Formen von Heiterkeit) im konkreten Einzelfall zu wirken vermag. Man sollte im Gegenzug zur weit verbreiteten Annahme einer »Problemgeschichte des Komponierens« indes nicht in das andere Extrem verfallen und jegliche neue Musik in das Licht einer Kulturgeschichte des Humors (Bremmer / Roodenburg 1997/99) zu rücken versuchen Humor (vgl. Blumröder 2010). Es geht im Folgenden vielmehr darum, das heiteren Äußerungen innewohnende Potenzial eines »contre-discours« (Evrard 1996, 135) gegen den Normalfall ernsthafter Kommunikation im Hinblick auf eine differenziertere Geschichte neuer Musik zu prüfen. 3. Humor in neuer Musik Eine umfassende Geschichte des Verhältnisses zwischen Humor und neuer Musik ist bislang nicht vorgelegt worden. Neuere musikwissenschaftliche Studien zum Humor betrafen überwiegend Musik vor 1945, insbesondere Kompositionen von Joseph Haydn, Robert Schumann und Paul Hindemith (Lafenthaler 1980; Flothius 1983; Daschner 1986; Scher 1991/2004; Schadendorf 1993; Lister 1994; Geck 1995; Krones 1995; Ballstaedt 1998; Borris 2000; Casablancas Domingo 2000; Key 2006; Loriot 2009; Hein / Kolob 2010) sowie semiotische Fragestellungen (Gruhn 1983; Dalmonte 1995). Im Bereich neuer Musik wurde Humor bislang am stärksten im Zusammenhang mit Mauricio Kagel thematisiert (u. a. Rötter 2001; Heßler 2009). Eine Behebung dieses Desiderats würde es u. a. erlauben, bislang wenig beachtete Tendenzen in größeren Zusammenhängen zu verorten. So könnten etwa Radu Malfattis extrem leise Kompositionen (u. a. claude lorrain 1 für Posaune, 1997), die u. a. mit der Lebenseinstellung »fröhlicher Gelassenheit« des Komponisten korrespondieren (Malfatti 2015, 58), als Beispiel für neue Musik mit ästhetischer Affinität zu bestimmten Formen ostasiatisch inspirierter Heiterkeit Beachtung finden oder Simon Steen-Andersens Piano Concerto für Klavier, Sampler, Video und Orchester (2014) als Beispiel für slapstickähnliche Erheiterungsaktionen in der Tradition des Fluxus verortet werden. Bei der Realisierung eines solchen Projekts wäre zunächst grundsätzlich zwischen Humor-Phänomenen in Entstehung, Aufführung und Rezeption zu differenzieren. Dabei sind je nach Gesichtspunkt bzw. Schwerpunktsetzung unterschiedliche Geschichtsdarstellungen zu erwarten. Mindestens die folgenden fünf (kombinierbaren) Strategien der Integration von Humor und neuer Musik könnten dabei Berücksichtigung finden. 3.1 Gattungsspezifischer Humor Die üblicherweise mit dem 19. Jh. assoziierte Humoreske lebt in der Kompositionsgeschichte nach 1945 gewandelt fort: Zwar sind Rückbezüge auf ältere Werke nicht ausgeschlossen – Roger Smalleys Cello Concerto für Violoncello und 17 Spieler (1985–96) etwa fußt auf Robert Schumanns Humoreske op. 20 (1838–39) –, doch sind mehrfach Weiterentwicklungen des Gattungsprofils und entsprechender Gestaltungsmittel zu entdecken (wie im Falle von Dmitri Smirnows auffällig knapper Canon-Humoresque Humor 272 Abb. 1: Werner Pirchner, Do You Know Emperor Joe?, 15. »Idylle und Krawalle«, Wien 1989, 34 (Ausschnitt) op.  14d für drei Saxophone, 1975/85). Ähnliches gilt für die Gattungen des Scherzos (wie die Bearbeitung des Scherzo-Satzes aus Mahlers Zweiter Sinfonie im dritten Satz von Luciano Berios Sinfonia, 1968–69), der Burleske (u. a. Kagel, Burleske für Baritonsaxophon und gemischten Chor, 1999–2000) oder des Divertimentos (wie dieses u. a. in Hans Werner Henzes Divertimenti für zwei Klaviere, 1964, aus dessen Oper Der junge Lord fortlebt; Henze trug wie elf weitere Komponisten  – darunter Luciano Berio und Roman Haubenstock-Ramati – einen Abschnitt zum 1956 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführten Divertimento für Mozart bei, vgl. Dibelius 2002). Und öffnete man den Blick auf sog. unterhaltsame Gattungen im weiteren Sinn, so böte sich Gelegenheit, Sofia Gubaidulinas in zwei Versionen existierende Gelegenheitsarbeit Ein Walzerspaß nach Johann Strauß für Klavier (1987–89) Hans Reichels Welcome würgl waltz als achter Teil seines Werks Shanghaied on Tor Road. The world ’ s 1st operetta performed on nothing but the daxophon (1992, vgl. Gratzer 2015, 314 f.) oder Wolfgang Rihms mannigfaltigen Walzer-Assoziationen gegenüberzustellen (Mehrere kurze Walzer für Klavier zu vier Händen, 1979–88, 3 Walzer für Orchester, 1979–88, Brahmsliebewalzer für Klavier bzw. für Orchester, 1985–88, Auf- und Wiederhören. Ein verabschiedender Walzer für Manfred Reichert für zwölf Spieler, 2007). Anders stellt sich die Situation im Falle von Mauricio Kagel dar, wenn dieser musikalische Gattungen kari- kiert, denen üblicherweise nicht Heiterkeit zugeschrieben wird (z. B. 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen für Bläser und Schlagzeug, 1978–79; Fanfanfaren für vier Trompeten, 1993). 3.2 Parodistische Züge ohne deutlichen Gattungsbezug Hierbei ist zunächst an Werke zu denken, bei welchen bereits ein ironisch gefärbter Titel unernste inhaltliche Assoziationen zu wecken im Stande ist. Solche Assoziationen entsprechen in den Jahrzehnten nach 1945 auffällig gehäuft entmythologisierenden Ambitionen. Dieses Interesse, als Folge weitgehend unveränderter historistischer Tendenzen im Musikleben deutbar, kann verschiedene Gegenstände und Funktionen haben: (1) die Inszenierung von Künstlerpersönlichkeiten als Heroen (u. a. Kagels Film und Filmmusik Ludwig van, 1969–70, oder Olga Neuwirths Hommage à Klaus Nomi – a songplay in nine fits, 2007, von der Komponistin im Entstehungsjahr als »ein mit Zweifeln gepicktes, leichtes, ironisches Requiem auf einen Visionär« [Neuwirth 2007, 350] beschrieben); (2) die ironische Spiegelung von kanonischen Musikwerken (z. B. Werner Thomas-Mifunes Komisches Streichquartett über die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, 1990) oder Gattungen (z. B. Kagels Variationen ohne Fuge über »Variationen und Fuge« über ein Thema von Händel für Klavier op. 24 von Johannes Brahms (1861/62) für großes Or- 273 chester, 1971–72); (3) verbale Äußerungen (u. a. Otto M. Zykan, Polemische Arie für verschiedene Besetzungen, 1968–69/89/2000, über den Schönberg zugeschriebenen Satz »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist«); (4) Institutionen des Musiklebens (u. a. Werner Thomas-Mifunes Kurzfassung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker, 1989). Eine Analyse von Entstehungs-, Aufführungs- und Rezeptionsdetails solcher Beispiele müsste auf die Konstruktion geschichtlicher Zusammenhänge zielen. Gleiches gilt für Musiken, deren Titel in andere als unernste Richtung weisen, die aber dennoch unernste Assoziationen erlauben. So könnten bspw. das exorbitant hohe Maß spieltechnischer Hürden in Kompositionen Brian Ferneyhoughs und die daraus erwachsenden interpretatorischen Unzulänglichkeiten im Zuge von Aufführungen bei werkkundigen Spielern oder Zuhörern heitere Reaktionen hervorrufen, ohne dass damit zwingend Kritik an der Kompositionstechnik einherginge. 3.3 Ironische Spiegelung gesellschaftlicher Zustände und Ideale Zu dieser Kategorie zählen Werke wie z. B. Kagels szenische Komposition Staatstheater (1967–70), Zykans zunächst als TV-Film zum Skandalstück avancierte Staatsoperette (1977/2000; Gratzer 2002), Werner Pirchners Two War- and Peace-Choirs für Chor, Ballett und Orchester, freundliches Personal und Publikum (1986) und sein Solostück Anstatt eines Denkmals für den Bruder meines Lehrers, der im Krieg, weil er sich weigerte, Geiseln zu erschießen, ermordet wurde für Flöte (1986) oder István Anhalts Bühnenstück Millennial Mall (2000), in dem das zunehmend globalisierte Shopping-Phänomen eine satirische Nachzeichnung erfährt. Wie hier sind bei etlichen musiktheatralen oder musikalisch-filmischen Werken Gestaltungsmittel zu erkennen, die geeignet sind, den Eindruck einer Groteske zu begünstigen (bei Adriana Hölszky z. B. Monolog für Frauenstimme und Pauken, 1977, oder die Oper Der gute Gott von Manhattan, 2003– 04, bei Olga Neuwirth der in Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek entstandene Film Die Schöpfung, 2010). Und wenn György Ligeti 1996 angesichts von Friedrich Cerhas verwandten Zyklen Keintate I / II für mittlere Stimme (Chansonnier) und Instrumente (1980–82/83–85) und Eine Art Chansons für Chansonnier, Schlagzeugspieler, Klavier und Kontrabass (1985–87) anerkennend Cerhas »extrem melancholische[n] Humor« ansprach (Ligeti 1996/2007, 477), so verweist diese Einschätzung exemplarisch auf oftmals zu bemerkende Mischformen von Humor mit emotional scheinbar gegensätzlichen Ausdrucks- Humor Abb. 2: Tom Johnson, Puzzle Page, Rätsel 2 (MusikTexte 32 [1989], 19) (© Tom Johnson) formen. Ligeti kreierte selber solche Mischformen, als er etwa in Aventures und Nouvelles Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1962–65) mit – der literarischen Farce nicht unähnlichen – Verfremdungsmaßnahmen einen ungewöhnlichen Blick auf »gesellschaftliches Benehmen« (Ligeti 1966/2007, 200) frei gab. 3.4 Humor in außerkompositorischen Aktivitäten In diesen Bereich fallen etwa Leserbriefe (u. a. Zykans aberwitzig pointierte Stellungnahmen in Tageszeitungen, darunter »Drum singe, wem Gesang gegeben!«, in: Der Standard, 30. 9. 2005), bildnerische Schöpfungen (z. B. Pirchners Karikaturen in Partituren und auf Tonträgern, z. B. im Autograph von Do You Know Emperor Joe?, 1982, Abb. 1), als sarkastische Protestnote deutbare Aktionen im öffentlichen Raum (u. a. Johannes Kreidlers product placements, 2008 [Ä Collage / Montage] oder Kreidlers Call Wolfgang, 2008) bis hin zur Veröffentlichung von unorthodoxen, mit lakonischen Erläuterungen versehenen Musikrätseln (»Puzzle Pages«) des Komponisten Tom Johnson, durch die Diskurse über neue Musik, die auf Ä musikalische Logik abheben, subversiv-spielerisch kontrapunktiert erscheinen (Abb. 2; zusammen mit sieben kurzen Notenbeispielen erhielt die Zeitschrift MusikTexte die Nachricht: »Die Aufgabe besteht einfach darin, die falschen Noten herauszufinden. Ich kann euch die Lösung nennen, wenn ihr wollt, aber es kommt mir so vor, als könnte es interessanter sein, die Rätsel ohne Lösungen zu veröffentlichen«, Johnson 1989, 19). 3.5 Rezeptionsphänomene Humorbezogene Rezeptionsphänomene umfassen u. a. die im Falle Stockhausens gehäuften Karikaturen, darunter He ’ s listening to Stockhausen again (in: Punch, 16. 12. 1981 bzw. in: Süddeutsche Zeitung, 16. / 17. 1. 1982) oder Humor Scampel, Clamp, Playlist (in: The Guardian, 24. 4. 2004), sodann Sketche über Verständnishürden im Falle neuer Musik (z. B. Hape Kerkelings Fernseh-Comedy Hurz, 1991) oder Fotografien wie jene, die das herzhafte Lachen John Cages dokumentieren, wie es etwa den Komponisten Michael Denhoff beeinflusste: »seltsamerweise hat sich [Cages Lachen] mehr in meine Erinnerung eingegraben als all seine Musik« (Denhoff o. J.). Sind in ein und demselben musikalischen Œuvre gehäuft Kompositionen anzutreffen, die auf eine verstärkte Neigung zu musikalisch artikuliertem Unernst schließen lassen, so wäre es naheliegend, Überlegungen zu personalstilistischen Konstanten anzustellen (besonders bei Kagel, Pirchner, Schnittke, Zykan oder Kurt Schwertsik). Paradigmatische Bedeutung genießt in dieser Hinsicht das umfangreiche  – bildnerisch, literarisch und musikalisch gleichermaßen ausgeprägte, zu Zeiten der Wiener Gruppe (ca. 1954–64) teilweise durch Gemeinschaftsarbeiten bereicherte  – Schaffen Gerhard Rühms (Brügge u. a. 2007; Fisch 2010), das in maßstäblicher Konsequenz über Jahrzehnte die künstlerische Erprobung von Spielarten des Grotesken, Ironischen, Komischen, Satirischen, Sarkastischen oder bloß Witzigen dokumentiert (vgl. bspw. die in variantenreicher Form reduktionistischen, für konventionelle Erwartungshaltungen ironisch wirkenden Konzepte wie das musikalische eintonstück für Klavier, 1952, die typographischen ein-wort-tafeln, u. a. BILD, 1955, das Sprechduett eine cimarosa sonate gesprochen für eine Frauen- und eine Männerstimme, 2003, sowie die mehrschichtig intertextuell angelegte Arbeit reagans humor, 1984). Ä Gattung; Konzeptuelle Musik; Musiksoziologie; Popularität; Rezeption Absil, Jean: L ’ humour dans la musique, in: Académie Royale de Belgique. Bulletin de la classe des beaux–arts 50 (1968), 226–241 „ Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ Attardo, Salvatore: Linguistic theories of humor [1994], Berlin 2009 „ Bachmaier, Helmut (Hrsg.): Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart 2010 „ Ballstaedt, Andreas: »Humor« und »Witz« in Joseph Haydns Musik, in: AfMw 55 (1998): 195–219 „ Blumröder, Christoph von: Die Rückkehr des Humors in die Neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Musik und Humor. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung in der Musik. Wolfram Steinbeck zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Hartmut Hein und Fabian Kolob, Laaber 2010, 333–344 „ Boulez, Pierre: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!«, in: Der Spiegel 21/40 (1967), 166–174 „ ders.: Leitlinien. 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Hybride Improvisation ist keine Erfindung des 20. Jh.s. In vielen, wenn nicht gar allen Kulturen spielt Improvisation, in idiomgebundener Form, eine Rolle. Auch in der europäischen Kunstmusik war das Improvisieren bis ins 19. Jh. u. a. in Form von Verzierungstechniken oder Kadenzen Teil sowohl der Ä Interpretation als auch der Komposition. Die Entwicklung der Ä Kompositionstechniken und damit verbundener ästhetischer Prämissen, darunter die Ablösung vom Dur-Moll-System, führte Anfang des 20. Jh.s dann zu einer nahezu vollständigen Verdrängung des Improvisierens aus der Kunstmusik. Improvisation und Komposition sind im 20. und 21. Jh. meist getrennte Sphären geblieben. Doch gibt es vielfältige Wechselwirkungen. Eine Beschäftigung von Komponisten mit Improvisation lässt sich verstärkt in zwei Generationen beobachten. Eine erste Komponistengeneration entwickelte ihre kompositorisch-improvisatorischen Ansätze in direkter Reflexion und Antwort auf die konzeptionelle Strenge der Ä seriellen Musik und der Aleatorik (Ä Zufall) in den 1960er und 1970er Jahren. Eine zweite Generation von Komponisten, die oft auch in Personalunion als Improvisatoren aktiv sind (Ä Composer-Performer), bezieht sich seit Beginn des 21. Jh.s in unterschiedlicher Art und Weise auf Improvisation. Man kann hierbei auch von einer ersten und zweiten Renaissance der Improvisation in der Kunstmusik sprechen. Erfahrungen aus der Improvisationspraxis und Prinzipien der Improvisation können auf unterschiedliche Art in das Musikschaffen von Komponisten einfließen. Generell lassen sich dabei drei Formen unterscheiden, wobei tendenziell (1) der älteren und (2) der jüngeren Generation zugeordnet werden kann, während sich Beispiele für (3) quer durch die Generationen finden: (1) Weiterschreiben des Gedankens eines offenen Kunstwerkes: Mit dem Ziel, sich von deterministischen Strukturen zu befreien experimentiert vor allem die ältere Generation mit Gestaltungsformen wie Indetermination, musikalischer Graphik 1. 1960–1990 Die erste Wiederentdeckung der Improvisation in der Kunstmusik der 1960er und 1970er Jahre war keine lineare Fortschreibung oder ein Wiederaufgreifen einer Tradition. Denn die einst strenge Idiomgebundenheit improvisierter Musik war nun nicht mehr Ziel und Kern des Improvisierens. Die Entstehung dessen, was heute unter verschiedenen Hilfsbegriffen wie »freie Improvisation« oder »Echtzeitmusik« firmiert, fällt in diese Zeit und ist in enger Wechselwirkung und teilweise als Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen in der komponierten Musik zu verstehen. Ein weiterer, ebenso wichtiger Quell zur Ausformung freier Improvisationsidiome bildeten Formen des Free Jazz (Ä Jazz). Aleatorik und offene Werkstrukturen waren früh ein Teil des Interessengebietes von Komponisten. Musikalische und konzeptionelle Experimente mit ungewissem Ausgang hatten bereits in den 1950er Jahren ein wichtiges Feld der Neuorientierung gebildet. In der Arbeit mit graphischen und indeterminierten Partituren und unter Einsatz systematischer Zufallsverfahren suchten Komponisten neue Wege der Ä Notation und Prozessgestaltung, zum Teil mit dem Ziel, die strengen Hierarchien von Komponist und Interpret aufzuweichen (Müller 1994; Feißt 1997). Einige Komponisten, wie etwa Earle Brown (1926–2002), Tony Conrad (*1940) oder in Europa etwa Bernd Alois Zimmermann (1918–70), ließen sich dabei vom Jazz bzw. Free Jazz inspirieren, andere wie John Cage (1912–92) oder Morton Feldman (1926–87) lehnten diesen als Inspirationselement vor allem aufgrund seiner Expressivität und Subjektivität ab (Kostelanetz 2003, 228–230; Feldman / Young 1987, 162; Ä Jazz). Vorwiegend in Europa entwickelte sich zur selben Zeit die sog. »freie Improvisation« (Wilson 1999). Hauptquellen waren der Free Jazz einerseits und die Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunstmusik andererseits. Wichtige Pioniere sind u. a. John Stevens (1940–94), Derek Bailey (1930–2005), Tony Oxley (*1938) sowie Evan Parker (*1944), Keith Rowe (*1940) und Eddie Prévost (*1942) in England, Peter Brötzmann (*1941), Peter Kowald 277 (1944–2002) oder Alexander von Schlippenbach (*1938) in Deutschland und Misha Mengelberg (*1935), Han Bennink (*1942) und Willem Breuker (1944–2010) in Holland. Wichtige frühe Formationen waren u. a. das Spontaneous Music Ensemble, AMM, der Instant Composers Pool oder das Globe Unity Orchestra. Wege aus der kompositorischen Determination führten über verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. Für die Improvisation bedeutend wurden graphische Notation und Spielkonzepte, die, je nach Ausprägung, mehr oder weniger strukturierten Improvisationen gleichkommen konnten (Earle Brown, Cornelius Cardew [1936–81], vor allem Treatise, 1963–67, Roman Haubenstock-Ramati [1919–94]). Andere Komponisten versahen ihre Graphiken zum Teil mit sehr exakten Interpretationsanweisungen, etwa Anestis Logothetis (1921–94, u. a. ExpansionKontraktion, 1960, Integration, 1966). Für einige gingen solche Ansätze jedoch nicht weit genug, sie wollten sich völlig vom Notentext lösen und dem Interpreten damit nicht nur Freiheit, sondern auch Selbstverantwortung übertragen. Franco Evangelisti (1926–80) gründete 1964 das aus Komponisten bestehende Improvisatorenkollektiv Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Ziel war es, mittels Improvisation neue nicht notierte Werke im Kollektiv zu schaffen. Nuova Consonanza improvisierte ohne dezidierte verbale oder graphische Vorgaben, probte jedoch intensiv und diskutierte Klangtexturen, Prozessverläufe und »Verbote« (Wagner 2004; Anderson 2013). Der Komponist und Posaunist Vinko Globokar (*1934) wandte sich dagegen mit dem 1969 gegründeten Improvisatorenkollektiv New Phonic Art komplett von der Komposition und dem Werkbegriff ab. Spontan Unvorhergesehenes, Neues zu improvisieren galt als Ziel. Improvisiert wurde auf Basis eines impliziten Verbotskataloges, ohne je darüber zu diskutieren. New Phonic Art löste sich nach einigen Jahren auf, als die Musiker feststellten, dass das ausschließliche Spielen von Noch-Nie-Dagewesenem sich in seiner radikalen Ausformung nicht durchhalten lässt. Erfahrungen des freien Improvisierens und Interagierens flossen in viele Werke Globokars ein. Verschiedene Formen der Interaktion zwischen Musikern, der Prozessgestaltung, aber auch der Erweiterung von Spieltechniken integrierte Globokar z. B. in seine Werkreihe Laboratorium (1973–85) oder aber in die Modellsammlung Individuum – Kollektivum (1979–86), die der Komponist nicht als Werk, sondern als Studien- und Impulsgeber zur Entwicklung eigener Kreativität von Improvisatoren wie Interpreten versteht (Globokar 1998; Beck 2012). Die Komponisten Frederic Rzewski (*1938), Alvin Curran (*1938), Richard Teitelbaum (*1939) u. a. gründeten 1966 das Kollektiv Musica Elettronica Viva. Experi- Improvisation mente mit Live-Elektronik, Ä Performance und Happening standen im Spannungsfeld von Improvisation und Komposition (Rzewski 2007). Die »intuitive Musik« von Karlheinz Stockhausen mit seinen Textkompositionen Aus den sieben Tagen (1968) und Für kommende Zeiten (1970) wird ebenfalls oft im Zusammenhang mit Improvisation genannt. Stockhausen beharrte jedoch auf seiner alleinigen Urheberschaft und unterschied klar zwischen Improvisation und seiner Form der mittels Textvorlage gelenkten und ermöglichten »intuitiven Musik« (Stockhausen 1974/78). Die Möglichkeiten einer Re-Konfiguration improvisierter Musik durch die Aufnahmetechnik nutzten u. a. Luigi Nono (1924–90) und Giacinto Scelsi (1905–88). Nono komponierte sein La lontananza nostalgica utopica futura für Violine und acht Tonbänder (1988–89) aus Improvisationen Gidon Kremers. Scelsi nahm TonbandAufnahmen seines Ondiolaspiels als Materialstudien oder auch als konkrete Basis für viele seiner durch Assistenten bzw. Co-Komponisten verschriftlichten Kompositionen (Marrocu 2013). Welche Konzepte Scelsi seinen Aufnahmen zugrunde legte, ist bislang nicht vollständig geklärt; die Deutungen reichen von der These, Scelsis Ondiolaspiel sei deutlich von Improvisationsmodellen geprägt (Dickson 2011), bis hin zur Annahme, dass seinem Spiel komplexe Überlegungen und Vorstrukturierungen auf der Basis kompositorischen Denkens zugrunde lagen (Jaecker 2011, 2014). 2. Entwicklungen seit den 1990er Jahren Nach diesen Versuchen, improvisatorische Aspekte innerhalb des Komponierens wiederzubeleben oder neu zu formen, schien das Interesse an der freien Improvisation deutlich nachzulassen, sodass die beschriebenen Tendenzen der 1960er und 1970er Jahre von der Musikwissenschaft tendenziell als zeitverhaftet betrachtet wurden. Seit mehreren Jahren findet sich allerdings verstärkt ein neues Interesse an Improvisation bei diversen Komponisten der mittleren und jüngeren Generationen, wobei häufig eine persönliche aktive Erfahrung mit Improvisation eine Rolle spielt (Polaschegg 2013). Die Re-Konfiguration von Aufnahmen improvisierter Musik spielt im Zuge eines vereinfachten Zugangs zu technischen Medien seit den 1990er Jahren dabei verstärkt eine Rolle (Wilson 2000). Neuere Ansätze re-konfigurierenden Komponierens verfolgte schon in den 1990er Jahren u. a. Bob Ostertag (*1957). Er kompilierte aus Aufnahmen von Soloimprovisationen virtuelle Triobesetzungen (Say No More, 1993–96, Verbatim, 1996). Das Schweizer Trio Karl ein Karl, bestehend aus versierten Improvisatoren, gestaltet seine CD-Produktionen als Komponistenkollektiv, 278 Improvisation indem sie Aufnahmen von konzeptuell vorstrukturierten Improvisationen zum Teil akribisch re-konfigurieren, mit ihnen strukturell, aber auch klanglich komponieren (Karls Fest, 1991, Ja, 1996, Bio-Adapter, 2008). Zunehmend schreiben Komponisten jüngerer Generationen gezielt für Improvisatoren oder bauen in ihre Werke Freiräume ein. Zu diesen Komponisten zählen u. a. Karlheinz Essl (*1960), Gerhard E. Winkler (*1959), Jorge Sánchez-Chiong (*1969) und Stefan Prins (*1979) in Europa und Anthony Braxton (*1945), Elliott Sharp (*1951), George Lewis (*1952), John Zorn (*1953) und Gene Coleman (*1958) in den USA. Für die Umsetzung der von diesen Komponisten entwickelten Konzeptionen ist ein flexibler Interpret gefragt, der die Präzision in der Umsetzung von komplexer Notation mit der Fähigkeit zur freien oder gebundenen Improvisation verbindet. Komponistinnen wie Elisabeth Harnik (*1970) und Katharina Klement (*1963) oder der Komponist Michael Maierhof (*1956) lassen sich von Strategien, Materialien, Texturen, Interaktionsphänomenen und Prozessen inspirieren, die sie selbst als meist aktiv Improvisierende erfahren, notieren ihre Werke aber streng aus. Elisabeth Harnik dienen im Kompositionsprozess oft Algorithmen als imaginärer Kommunikationspartner, dessen Vorgaben sie, ganz wie in einem Improvisationsduo, aufgreifen, bestätigen, negieren oder auch ignorieren kann. Katharina Klement arbeitet mit klanglichen Texturen und Verlaufsprozessen, die sie kompositorisch anders formt und strukturiert. Michael Maierhof »er-improvisiert« klangliches und texturales Material, um dieses dann zu präzisieren und mit ihm in einem völlig anderen kompositorischen Kontext zu arbeiten. In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass sich immer mehr Ensembles bilden, die sich neben dem Einsatz neuer Ä Medien gezielt auch neuen Interpretationsanforderungen stellen, wobei die Fähigkeit zur Improvisation eine entscheidende Rolle spielt. Dabei tritt auch das Interesse an neuen intermedialen Präsentationsformen wieder in den Vordergrund, die laufend weiter entwickelt, neu gedacht und auch von der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen werden (Ä Intermedialität). Beispielhaft hierfür sind die belgischen Ensembles Champ d ’ action, Besides und Nadar, aber auch das österreichische Ensemble PHACE oder das 2009 von Cat Hope gegründete Ensemble Decibel aus Australien. 3. Hybride Die beschriebenen Wechselwirkungen von Improvisation und Komposition lassen sich auch als Hybride verstehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich solche Hybride etwa über die Verwendung von Computeralgorith- men ergeben können, die sich auf autopoietische Systeme beziehen und in direkte Interaktion mit den Musikern treten (z. B. in Projekten von Essl). Ein solches Hybrid kann aber auch entstehen, wenn die Interpreten Freiräume vorfinden, lose Spielanweisungen, die Aufforderung zur Improvisation innerhalb eines sonst ausnotierten Stücks oder wenn Improvisatoren und (an notierter Musik geschulte) Interpreten aufeinandertreffen und gezielt die Spannungsfelder der verschiedenen musikalischen Äußerungen thematisiert werden (z. B. in Werken von Winkler, Prins, Bernhard Lang, *1957 oder Wolfgang Mitterer, *1958). Hybride entstehen auch dann, wenn Improvisationen in eine Partitur übertragen oder elektroakustisch fixiert, ergänzt oder (etwa durch weitere Improvisationen) »überschrieben« werden (z. B. bei Ostertag und Sánchez-Chiong). Nicht zuletzt kann eine solche Hybridisierung auch versteckt geschehen – über indirekte Einflüsse oder sich überschneidende Inspirationsquellen oder über die Übertragung von Strategien aus der Improvisation auf kompositorisches Arbeiten (wie bei Harnik, Maierhof und Klement). Diese vielfältigen Möglichkeiten, Improvisation ins Spannungsfeld der Komposition zu rücken lässt die Frage nach einem aktualisierten Werkbegriff aufkommen. Miteinzubeziehen in eine solche Diskussion wären teilfixierte Kompositionen zahlreicher Improvisatoren, von denen sich viele neben dem freien Spiel intensiv mit Fragen der Strukturierung und Prozessgestaltung auseinander setzen und diese, ob solistisch oder im Kollektiv, teilweise auch vorab fixieren (als Kollektiv z. B. Polwechsel, Subshrubs, les femmes savantes, aber auch das London Jazz Composers Orchestra oder das multiple joy[ce] orchestra). 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Es gibt nahezu keine institutionell etablierte pädagogische, geschweige denn wissenschaftlich-kritische Beschäftigung mit nichtindischer Musik. Die »klassische« Musik Europas wird in Indien von einigen religiösen bzw. sozialen Minderheiten (Parsen, Christen) zur identitären Abgrenzung genutzt, ohne diskursiven Ehrgeiz. Das einzige professionelle Sin- fonieorchester Indiens in Mumbai versammelt zu seltenen Konzertphasen eingeflogene Gastmusiker. Die raren Konzerte dieses Orchesters und tourender westlicher Ensembles in einigen Großstädten sind teure Status-Events für Reiche und für westliche Expatriates, meist maßgeblich von westlichen Kulturinstitutionen finanziert  – indische Musiker können sich einen Besuch kaum leisten. Überdies konzentriert sich die gelegentlich anzutreffende inhaltlich-intellektuelle Neugierde auf diese Musiktradition auch in gebildeten Kreisen in erster Linie auf das klassische Kernrepertoire, nicht auf avantgardistisch-globalisierte Tendenzen neuer Musik. Diese Eigenständigkeit indischer Kunstmusik beruht u. a. auf einer radikal anderen kulturellen Bewertung musikalischer Innovation. Während im »eurologischen« Kontext auch geringe Abweichungen vom Gängigen schon als innovativ markiert werden, weil im Selbstverständnis der neuen Musik als institutionalisierte Revolution künstlerische Bedeutung sich vor allem durch Neuerungen manifestiert, versuchen Akteure im indischen Kontext bis heute, auch wesentliche Veränderungen des Praxis als nur scheinbar neu wegzuerklären. Das Neue ist hier eben nicht als solches wertvoll, erst eine Verortung in der Tradition macht künstlerische Aussagen bedeutsam. Dabei unterscheiden sich die beiden wichtigsten Kunstmusiktraditionen Indiens systematisch: Während in der oralen Praxis nordindischer Musik Neuerungen oft als arkanes Unterrichtsmaterial verstorbener Lehrer deklariert werden, das nunmehr sozusagen als Erinnerung auftaucht, beruht das Denken der häufiger notierten karnatischen Musik auf einem übergreifenden Ordnungssystem musikalischer Phänomene (melakarta) aus dem 17. Jh., innerhalb dessen jede mögliche musiksprachliche Innovation letztlich einen bereits vordefinierten Platz einnimmt. Aus all diesen Gründen findet man eine lebendige, nachhaltige Szene neuer eurologischer Kunstmusik in Indien derzeit nicht vor – auch wenn vielfältige Einflüsse der globalisierenden Moderne des 20. Jh.s selbstverständlich auch das Musikleben Indiens tiefgreifend verändert haben. Die indische Kunstmusik von heute ist ein Resultat von Modernisierungsprozessen  – eine durchaus »neue Musik«, deren konkrete klangliche, musikpraktische und -ästhetische Ausprägung im indischen Kontext allerdings nicht dem westlichen Modell entspricht. Wenn im Folgenden also Aspekte der Beziehung zwischen neuer Musik und Indien dargestellt werden, muss klar sein, dass man von marginalen und ephemeren Phänomenen spricht. Dabei kann man mehrere Stränge unterscheiden, über die man im Weiteren allerdings nicht separat berichten kann, da sie sich vielfach überkreuzen und bedingen: (1) Versuche, eurologische neue Musik in Indien vorzustellen und Indien zu etablieren; (2) Versuche, indische Kunstmusik in westlicher Fortschrittslogik zu »modernisieren«; (3) Versuche von Akteuren mit starkem biographisch-kulturellem Bezug zu Indien, im Kontext neuer Musik außerhalb Indiens transtraditionelle Musikkonzepte zwischen eurologischer und indischer Kunstmusik zu entwickeln – diese sind oft die im Westen zugänglichsten und bekanntesten Beispiele der Interaktion zwischen neuer Musik und Indien; sie spielen allerdings für das Musikleben in Indien selbst bislang keine prägende Rolle. 2. Entwicklungen im 20. Jh. Während der britischen Kolonialherrschaft (1813–1947) gerieten im frühen 20. Jh. viele Fürsten unter kulturellen und wirtschaftlichem Anpassungsdruck und entließen ihre Hofmusiker, die bislang in geographischer Isolation diverse zum Teil inkompatible Kunstmusiktraditionen (gharanas) entwickelt hatten (Neuman 1980). Diese Musiker suchten in urbanen Zentren neue Mäzene, was jedoch nur teilweise gelang (Pradhan 2014). Im Bemühen, den Kolonisatoren die Gleichrangigkeit indischer Musik zu beweisen, organisierte Vishnu Narayan Bhatkande (1860–1936) ab 1916 eine Reihe von All-India-Music Conferences, die zum einen Kunstmusik als bürgerlichen Beruf etablieren, zum anderen aber auch mittels westlicher (musik)wissenschaftlicher Methoden, Klangmessungen und Taxonomien die Traditionen der unterschiedlichen gharanas unter einem modernen und umfassenden Gesamtkonzept indischer Musik vereinen sollten (Bakhle 2005). Die Vielfalt der Kunstmusiktraditionen wurde auf zwei große Ströme reduziert – die Hindustani-Tradition (Nordindien) und die karnatische Tradition (Südindien). Dennoch bestehen bis heute einige gharanas als delokalisierte Lehrer-Schüler-Traditionen (guru-shishya parampara) fort. Ein weiterer Modernisierungsschub erfolgte ab den 1930er Jahren durch die vom deutschen Exil-Komponisten Walter Kaufmann (1907–84), der von 1934–46 in Indien lebte, maßgeblich geprägte Musiksparte des All-IndiaRadio. Klanglichkeit und Zeitempfinden wurden durch die technologischen Grenzen und Möglichkeiten des Mediums neu definiert (Kürzung der Darbietungen von mehreren Stunden in den Minutenbereich, Verstärkung leiser Spieltechniken und Absenkung der durchschnittlichen Gesangstonhöhe bei Sängern etc.), wodurch neue formale und klangästhetische Ansätze entstanden (Bade Ghulam Ali Khan, Kumar Gandharva, Kishori Amonkar, Dagar Brothers). Musiker wurden in Honorargrade eingeteilt, wodurch auch im Konzertleben ein Star-System entstand, das die persönliche Bindung an Mäzene lockerte, aber auch das einst vielfältige Repertoire an Formen und rāgas 280 auf wenige »beliebte« Modelle konzentrierte. Als experimentell und innovativ verstand man weniger (r)evolutionär-historische Prozesse, sondern vielmehr die vielfältigen lateralen Transferversuche zwischen gharanas, Volksmusiktraditionen und urbanen Genres. Besonders die aufkommende Filmindustrie zwang und inspirierte »klassische« Musiker zu vielfältigen Kooperationen mit Volksmusik, Jazz und anderen westlichen Musikformen (sog. »Fusion«-Musik). Als diskursbestimmende Gegenbewegung entstand in der unmittelbaren Nachkolonialzeit ein bis heute wirksamer anti-kommerzieller ästhetischer Purismus der Kunstmusikszene mit starker Skepsis gegenüber Neuerungen aller Art (Farrell 1997). Während des Kalten Krieges wurde Indien als führende blockfreie Nation von Ost und West heftig umworben  – vor allem durch große Infrastrukturprojekte und eine große Dichte aktiver Kulturinstitute, die ab und zu auch Konzerte mit durchreisenden Ensembles westlicher Musik veranstalteten. 1965 wurde Hans-Joachim Koellreutter (1915–2005) Direktor des Goethe-Instituts Neu Delhi – ein Komponist, der für seinen nachhaltigen Einfluss auf neue Musik in Brasilien seit den 1940er Jahren bekannt war (Ä Lateinamerika). Koellreutter gründete u. a. die New Delhi School of Music (1965–69), an der u. a. der später im Westen aktive Komponist Param Vir (*1952) eurologisches Komponieren erlernte (Hughes 2004). Als Koellreutter 1969 wieder nach Brasilien ging, hatte er durch seinen theoretisch-praktischen Unterricht indische Interessierte mit westlichen Ästhetiken und Techniken bekannt gemacht. Mangels einer professionellen westlich-klassischen Musikszene konnte solcherart Gelerntes allerdings nur beim Film angewandt werden – praktisch alle notenlesenden Musiker auf westlichen Instrumenten arbeiteten dort. Vanraj Bhatia (*1927) z. B., der in den 1950er Jahren bei Nadia Boulanger studiert hatte, wurde ein beliebter Filmkomponist; Kersi Lord (*1935), ein Kursteilnehmer in elektronischer Musik am Goethe-Institut, war als Klangpionier in Filmmusiken z. B. von Rahul Dev Burman (1939–94) tätig, der für seine Experimentierfreude mit neuen Klängen bekannt war. Ab den 1970er Jahren globalisierte sich die Kunstmusikszene Indiens: Regelmäßige Konzerttourneen zu dem insbesondere seit der Begeisterung der Beatles für indische Musik stark angewachsenen Publikum in Europa, Japan und Amerika schufen neue Chancen für Austausch, Begegnung und Kooperation. Musiker-Komponisten wie Nikhil Ghosh (1919–95), Ravi Shankar (1920–2012), Ali Akbar Khan (1922–2009), Lakshminarayana (L.) Subramaniam (*1947) und Lakshminarayana (L.) Shankar (*1950) modernisierten die indische Kunstmusikpraxis sowohl klanglich-konzeptionell (Orchestrierung, Elek- 281 tronik, reihenorientierte rāgas etc.) als auch pädagogischinstitutionell (modern organisierte Musikschulen in den Metropolen, Ali Akbar Khan Colleges in Basel und San Francisco). Vormalige Begleitinstrumente wie sarangi, santoor, tabla, mohan vina (Slide-Gitarre) wurden durch Ausnahmevirtuosen (Ram Narayan, Shivkumar Sharma, Zakir Hussain, Vishwa Mohan Bhatt) spieltechnisch-klanglich erweitert und als Soloinstrumente etabliert. Viele dieser Entwicklungen wurden allerdings in Indien wenig rezipiert und fanden vorrangig im Westen Resonanz, wo bald eine neue Generation westlicher Meisterschüler (Ken Zuckerman, Amelia Cuni, Payton McDonald) mit indischer Musik experimentierte. Kaum jemand rührte jedoch an die fundamentale rāga-Bezogenheit indischer Musik. Einzelne weitergehende Experimente wurden kaum beachtet: So wurde die sog. »Ethno-Musique Concrète« (Tonbandcollagen aus ethnologischen Feldaufnahmen) des namhaften Musikwissenschaftlers Nazir Ali Jairazbhoy (1927–2009) aus den 1960er Jahren erst nach seinem Tod publik. Symptomatisch für die meisten transkulturellen Experimente indischer Musiker war eher das aus Filmmusikern bestehende Madras String Quartet und seine modalen Arrangements karnatischer kritis (strophenartiger Formtyp der südindischen Tradition). Auch unter neugierigen Musikern blieb es jedoch Konsens, dass die posttonale Musik Europas ästhetisch problematisch sei – in Ritwik Sanyals Philosophy of Music (1987), einer transkulturellen Musikphilosophie aus indischer Perspektive, wird die neue Musik des Westens gar als künstlerischer Ausdruck des kaliyug, der eschatologischen Endzeit, diskutiert. Auch aus solchen Gründen blieben gelegentlich offiziell organisierte Indienbesuche prominenter Komponisten, wie z. B. 1984 Karlheinz Stockhausens in Calcutta, in der indischen Kunstmusikszene weitgehend folgenlos, wie auch diverse Solokonzerte für indische Instrumente und europäisches Sinfonieorchester (Ravi Shankars Concerto for sitar and orchestra, 1970; Peter Michael Hamels Klangfarben [Colours of Sound] für Streichorchester und indische Saiteninstrumente, 1978, für den Sarangi-Solisten Ram Narayan; Eero Hämeenniemis Layapriya für indische Perkussion und Orchester, 1996, oder Daniel Schells Concerto for sarangi and strings, 2001, für den Sarangi-Solisten Dhruba Ghosh), die alle mit der Nonchalance nordindischer Solisten gegenüber Notation und Dirigenten kämpften – und kaum je in Indien erklangen. Wer sich in Indien für neue Musik interessierte, musste zum Studium in den Westen – und blieb dann meistens dort: z. B. Vir, Clarence Barlow (*1945) oder Naresh Sohal (*1939) (Nath 2010). Die meisten dieser Emigranten blieben anfangs musiksprachlich stets in bewusster, skeptischer Distanz zur Indien indischen Tradition. Synthesen zwischen westlicher und »ihrer« Tradition entstanden erst später, meist in Reaktion auf kulturalistische Erwartungen des westlichen Musikbetriebs (Bhagwati 2013), z. B. Sohals Three Songs from Gitanjali für Sopran, Streichquartett und tabla (2004) oder Virs Raga Fields für sarod und großes Ensemble (2014). Indienbegeisterte westliche Komponisten waren da unbefangener: In den oben zitierten Solokonzerten und anderen Werken mit indischen Instrumenten wurde die Klangästhetik Indiens appropriiert, während in die Musik z. B. Olivier Messiaens, Karlheinz Stockhausens, Terry Rileys oder Jonathan Harveys vor allem theoretische Konzepte indischer Musik einflossen. Barlow hingegen äußerte sich stets kritisch zu solchen Versuchen. In seinem mit Peter Pannke produzierten Hörspiel Einführung in die außerindische Musik (1989, Hessischer Rundfunk, Sender Freies Berlin) wendet er stereotype westliche Rezeptionsmuster gegenüber indischer Musik satirisch auf die Musik Europas an. Hatte sich die indische Kunstmusik in kolonialer Zeit und danach noch vor allem mit defensiven Reflexen legitimiert, stärkte der rasche Aufstieg von einstmals lokalen gharana zu einer global rezipierten Konzertmusik nach 1970 das kulturelle Selbstbewusstsein indischer Kunstmusiker (Lavezzoli 2006): Die erste Generation von »global natives« seit den 1980er Jahren (u. a. Zakir Hussain, Shivkumar Sharma, Amjad Ali Khan, Dhruba Ghosh) kooperierte ohne Scheu mit Musikern anderer Traditionen, wobei allerdings auch andere Austauschformen neben den hochkulturellen Dialog mit dem Westen traten, etwa die Zusammenarbeit und Beschäftigung mit ostasiatischen und afrikanischen Musikformen sowie mit experimentellen Praktiken in Jazz oder Electronica (Shubha Mudgal, Taufiq Qureshi, Bikram Ghosh, Niladri Kumar). Gleichzeitig schuf Ashok Ranade (1937–2011) die Grundlagen für eine systematische, kritische und soziologisch-aktivistische indische Musikwissenschaft jenseits hierarchischer kulturalistischer oder nationalistischer Diskurse, unterstützt von den seit den 1990er Jahren regelmäßig stattfindenden Foren der ITC [Imperial Tobacco Company] Sangeet Research Academy (ITC-SRA), deren Organisator Arvind Parikh (*1927) Musiker, Wissenschaftler und Kenner indischer Musik inner- und außerhalb Indiens neueste Entwicklungen kontrovers diskutieren ließ. In diese Zeit fielen auch diverse aktivistische Bewegungen, die Musikschöpfern fundamentale Rechte wie Urheberschutz und Tantiemen etc. sichern wollten – wegen der improvisatorischen Natur vor allem der nordindischen Musikpraxis kein leichtes und daher auch noch immer nicht befriedigend gelöstes Thema. 282 Informelle Musik 3. Situation und Ausblick Bis zur Jahrtausendwende hatte es vor allem drei asymmetrische Stränge des indisch-eurologischen Austauschs über Musik gegeben: (1) Der Westen informierte und belehrte Indien über eurologische Musik; (2) einzelne westliche Musiker lernten die indische Tradition und gaben sie im Westen respektvoll bewahrend weiter; (3) westliche Musiker erfanden kurzlebige Musikprojekte, die indische Musik oder Musiker integrierten. In den frühen 2000er Jahren suchten vor allem westliche ausgebildete Musiker der indischen Diaspora wie Rajesh Mehta (*1964) und Sandeep Bhagwati (*1963) nach neuen, nachhaltigen und symmetrischen Formen intermusikalischen Dialogs. Mehta, ein experimenteller Improvisationstrompeter und Medienkünstler, gründete 2006 in Mumbai sein Institut für interdisziplinäre Musik orka-m, das Seminare, Projektentwicklung und Ausbildung in experimentellen Medientechnologien anbot, allerdings 2009 nach Singapur übersiedelte, wo es im Gegensatz zu Indien eine öffentliche Kunstmusikförderung gibt. Bhagwati, der auch in einigen seiner Werke wie Atish-e-Zaban für sechs Stimmen a cappella (2006) indische Musizierweisen für westliche Musiker realisierbar machte (Ä Themen-Beitrag 3), leitete 2001–08 das Rasalila-Projekt, in dem etablierte indische Musiker nach ausgiebigen Workshop-Phasen und mithilfe »musikalisch zweisprachiger« Partiturassistenten in mehreren Iterationen Werke für das Ensemble Modern komponierten – die allerdings wiederum nur in Europa gespielt wurden. (Einer dieser Assistenten, Francis Silkstone, leitete ein Folgeprojekt unter dem Titel Arranging Marriages, 2007–12, am Goldsmiths College in London.) Seit 2014 verfolgt Bhagwati mit der Gründung eines von indischen und westlichen Institutionen unterstützten Ensembles in Pune einen neuen Ansatz, bei dem nordindische Musiker vertraute Kompositionskonzepte evolutionär und transtraditionell weiterentwickeln, wie auch der Ensemblename Sangeet Prayog (Musik der Erforschung) andeutet. Schon seit Anfang der 1990er Jahre und verstärkt seit der Wahl des hindu-nationalistischen Narendra Modi zum Premierminister (2014) erlebt Indien eine Phase zunehmender Militanz gegen die als Infiltration wahrgenommene Präsenz muslimischer und westlicher Kultur. Im öffentlichen Diskurs gewinnen hindu-kulturalistische Stimmen an Gewicht, lokale Bücherverbote und Drohungen gegen Intellektuelle und Künstler werden häufiger, In der Kunstmusik Nordindiens, hervorgegangen aus der Konfluenz persischer und indischer Musik seit dem 13. Jh., sind und waren viele Muslime tätig  – es kommt hier immer häufiger zu verbalen Attacken, ja selbst zu Grabschändungen alter muslimischer Meister. In diesem Klima ist derzeit kaum zu erwarten, dass die oben angesprochenen Entwicklungen zu einer indischen Moderne an Tempo aufnehmen – das konservativer und neoliberal gewordene Kulturleben fungiert als Verstärker eines kommerziell ausgerichteten Mainstreams, auch wenn weiter denkende Musiker inzwischen stark von neuen globalen Netzwerken profitieren. Es bleibt abzuwarten, ob die genannten Ansätze zu einer neuen Praxis die indische Musik auch in Indien konzeptuell umgestalten können – oder ob sie weiterhin vor allem im Westen wahrgenommen werden und gedeihen. Ä Themen-Beitrag 9; Globalisierung Bakhle, Janaki: Two Men and Music. Nationalism in the Making of an Indian Classical Tradition, New York 2005 „ Bhagwati, Sandeep: Musik aus einem schnellen Land. Polemische Paralipomena zur global existierenden Musik der Gegenwart, in: ÖMZ 68/4 (2013), 9–15 „ Farrell, Gerry: Indian Music and the West, New York 1997 „ Hughes, Bernard: Magical Theatres: The Music of Param Vir, in: Tempo 58/228 (2004), 2–13 „ Lavezzoli, Peter: Bhairavi. The Global Impact of Indian Music, New York 2006 „ Menon, V.K. Narayana: Languages of Music, New Delhi 1994 „ Mishra, Pankaj: Temptations of the West. How to be Modern in India, Pakistan, Tibet and Beyond, New York 2006 „ Nath, Dipanita: Music of War & Peace (Naresh Sohal), in: The Indian Express, 18. 1. 2010, http://archive.indianexpress.com/news/music-of-war-&-peace/568360 (4. 9. 2015) „ Neuman, Daniel M.: The Life of Music in North India. The Organization of an Artistic Tradition [1980], Chicago 1990 „ Pradhan, Aneesh: Hindustani Music in Colonial Bombay, Gurgaon 2014 „ Ranade, Ashok: Hindustani Music, New Delhi 1997 „ Rao, Suvarnalata (Hrsg.): Seminar on Globalization & Indian Music. Proceedings ITC-SRA (Western Region) Forum 2002, Mumbai 2002 „ Sanyal, Ritwik: Philosophy of Music, Mumbai 1987 „ Weidman, Amanda J.: Singing the Classical, Voicing the Modern. The Postcolonial Politics of Music in South India, Durham 2006 Literatur Sandeep Bhagwati Informelle Musik Mit dem Ausdruck »informelle Musik« wird in unterschiedlicher Weise auf die Situation der Ä Avantgarde Anfang der 1960er Jahre Bezug genommen. In seinem Vortrag Vers une musique informelle fordert Theodor W. Adorno bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt 1961 die Abkehr von vorgefertigten Formen und die Suche nach neuen Verfahren zur Erzeugung musikalischer Spannung (1961/2014; 1962/78). Etwa zeitgleich führt Umberto Eco das »Informelle« als Aspekt des offenen Kunstwerks (1962/74, 154 f.) an, welches er als ein »hypothetisches Modell« (ebd., 12) beschreibt, das mit 283 neuen Arten der Ä Rezeption verbunden sei. Gianmario Borio dagegen bestimmt informelle Musik vor allem als kompositorische »Gewichtsverschiebung« (1993, 169) von Ä Struktur zu Textur. Als »informelle Musik« entwirft Adorno ein utopisches »Ideal« (1962/78, 540) einer »Musik, die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat« (ebd., 496) und dennoch zwingend und nicht beliebig verlaufe. Der Zusammenhang von musikalisch Einzelnem und Ganzem soll als »Prozeß einer werdenden Einheit« (ebd., 526) gestaltet werden. Diese Perspektive sei bereits in der Phase der freien Ä Atonalität »um 1910« (ebd., 497) ansatzweise eröffnet worden. Informelle Musik wird als »aserielle[n] Musik« (ebd., 495) von seriellen Kompositionsweisen abgegrenzt, die darin bestünden, »alles bis auf die Parameter des Einzeltons abzubauen und dann […] das Ganze wiederaufzubauen« (ebd., 520). Dagegen sei an den musiksprachlichen Charakter motivisch-thematischer Arbeit anzuschließen: »Nur zwischen musikalischen Setzungen, die selber so eindringlich sind wie einmal die Gestalten thematischer Musik, kann jene Spannung fühlbar werden, in der musikalisches Zeitbewußtsein sich aktualisiert« (ebd., 533). Es gelte, neue Verfahren zu entwickeln, um »aus der Tendenz des Einzelereignisses das herauszuhören, was darauf folgen muß« (Adorno u. a. 1999, 318). In ähnlicher Weise spricht Adorno auch von der »Idee einer integralen Form«, die »aus den spezifischen Tendenzen alles musikalisch Einzelnen« aufsteige und sich somit »von unten nach oben, nicht umgekehrt« entfalte (Adorno 1966/78, 624; Ä Form). Anders als Adorno bezieht sich Eco bei seiner Bestimmung des Informellen zentral auf Werke der Literatur und Malerei sowie positiv auf bestimmte serielle Ansätze. Als Beispiele für die »offenen musikalischen Strukturen der nachwebernschen Musik« (1962/74, 155) nennt er u. a. Werke von Henri Pousseur, Luciano Berio und Karlheinz Stockhausen, bei denen es »keine bevorzugten Richtungen« (ebd., 171), sondern einen mehrdeutigen »Botschaftstyp« (ebd., 172) gebe. Dem Interpreten biete sich somit »ein zu vollendendes Werk« (ebd., 55). Das Modell des informellen, offenen Kunstwerks beschreibt bei Eco demnach keine »angebliche objektive Struktur der Werke«, sondern »die Struktur einer Rezeptionsbeziehung« (ebd., 15). Im Unterschied zu Adorno und Eco, die zeitnah eine je spezifische ästhetische »Tendenz« (Adorno 1962/78, 496; Eco 1962/74, 12) utopisch bzw. modellhaft skizzieren, entwirft Borio drei Jahrzehnte später eine »Theorie der informellen Musik« in Auseinandersetzung mit Werken der Avantgarde um 1960. Dabei betont er die Bezüge zur bildenden Kunst: In der italienischen Zeitschrift Collage sei das Informelle als »gattungsübergreifende Grundfra- Informelle Musik ge der Zeit« (Borio 1993, 119) behandelt worden. Ähnlich wie bei der informellen Malerei gehe es in der Musik um die »Ablösung der Struktur durch die Textur« (ebd., 87). So sind die informellen Kompositionen Morton Feldmans deutlich von der Auseinandersetzung mit »Arbeits- und Rezeptionsweisen von Gemälden« (ebd., 148) beeinflusst, insbesondere des Abstrakten Expressionismus. Borio sieht in Feldmans beiden Piano Pieces 1956 Verfahren der Klangkomposition angelegt, wie sie in Orchesterwerken von Iannis Xenakis (Metastaseis, 1953–54, Pithoprakta, 1955–56) und György Ligeti (Apparitions, 1958–59, Atmosphères, 1960–61) »für eine Geschichte der informellen Musik exemplarisch« (ebd., 160) ausgearbeitet worden seien. Als »Schlüsselwerk des informellen Komponierens« (ebd., 114) bezeichnet Borio Glossolalie 61 (1961–64) von Dieter Schnebel, das von Schnebels Adorno-Rezeption geprägt sei (ebd., 109). Glossolalie 61 ist die Ausarbeitung eines in glossolalie für Sprecher und Instrumentalisten (1959–60) angelegten Materialkatalogs, in dem sich »Reste des seriellen Denkens mit der grundsätzlichen aleatorischen Konzeption des Werkes verbinden« (ebd.). Ob Ligetis Aventures und Nouvelles Aventures (1962–65) als »informell« charakterisiert werden können und inwiefern dies mit dem Dialog von Ligeti und Adorno zusammenhängt, diskutierte Martin Zenck bereits 1979 (156–163; vgl. Paland 2004). Ä Themen-Beiträge 1, 3, 4; Form; Serielle Musik; Zufall Adorno, Theodor W.: Vers une musique informelle [1961], in: Kranichsteiner Vorlesungen (Nachgelassene Schriften 4,17), Frankfurt a. M. 2014, 381–446 „ ders.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 493–540 „ ders.: Form in der neuen Musik [1966], in: Musikalische Schriften III (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1978, 607–627 „ Adorno, Theodor W. / Ligeti, György / Stephan, Rudolf / Brün, Herbert / Rosenberg, Wolf: Internes Arbeitsgespräch (1966). Zur Vorbereitung eines geplanten Kongresses mit dem Themenschwerpunkt »Zeit in der Neuen Musik«, in: Darmstadt-Dokumente I (Musik-Konzepte Sonderband), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999, 313–329 „ Borio, Gianmario: Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik, Laaber 1993 „ Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk [1962], Frankfurt a. M. 1974 „ Paland, Ralph: »… eine sehr große Konvergenz«? Theodor W. Adornos und György Ligetis Darmstädter Formdiskurs, in: Kompositorische Stationen des 20. Jh.s. Debussy, Webern, Messiaen, Boulez, Cage, Ligeti, Stockhausen, Höller, Bayle, hrsg. v. Christoph von Blumröder, Münster 2004, 87– 115 „ Zenck, Martin: Auswirkungen einer »musique informelle« auf die neue Musik. Zu Theodor W. Adornos Formvorstellung, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 10/2 (1979), 137–165 Literatur Kim Feser 284 Institutionen / Organisationen Institutionen / Organisationen Inhalt: 1. Voraussetzungen  „ 2. Vereine und Interessenverbände vor 1945  „ 3. Internationalisierung  „ 4. (Neu-)Aufbau der Institutionen seit 1945 „ 5. Institutionskritik 1. Voraussetzungen Die Entwicklung von Institutionen und Organisationen der neuen Musik verdankt sich ursprünglich der Eigeninitiative von Musikern oder Theoretikern. Auch die Kritik an solchen institutionellen Selbstbehauptungsprozessen durch andere Gruppierungen oder Generationen führte nicht selten zur Gründung neuer Einrichtungen. Sämtliche mit der Ausbildung, Entstehung, Verbreitung, Ä Vermittlung und Verwertung von neuer Musik befassten Institutionen, Vereine und Verbände streben nach einer zweckmäßigen Bündelung von personellen, logistischen, finanziellen, juristischen und kulturpolitischen Mitteln, um ihr jeweils spezifiziertes Gemeinschaftsziel besser erreichen zu können (Ä Kulturpolitik). Die ersten Vereinigungen und Festivals neuer Musik – vielerorts entweder Resultat oder Ursache der Bildung geographischer Ä Zentren der neuen Musik – wurden nach dem Ersten Weltkrieg zunächst vor allem im deutschsprachigen Raum und in den USA sowie bald darauf auch international ins Leben gerufen. Eine zweite Gründungswelle erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg und eine dritte nach dem Ende des Kalten Kriegs vor allem in Ä Osteuropa. Vorbilder fanden diese Gründungen in den bürgerschaftlich getragenen Konzertgesellschaften, Musikvereinigungen und Musikfesten des 19. Jh.s, die im Zuge des erstarkenden öffentlichen Musiklebens entstanden und teils bis zum 20. Jh. Bestand hatten. Bis heute existieren z. B. die 1888 ins Leben gerufenen Nordic Music Days, das weltweit älteste Festival neuer Musik, das kooperativ von Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island an jährlich wechselnden Orten veranstaltet wird (Ä Nordeuropa). Doch schon ab der Generation nach Beethoven führten Prozesse der Ä Kanonisierung dazu, dass das Konzertleben immer stärker von der Musik der Vergangenheit dominiert wurde. Der Wandel von der Produktionskultur früherer Epochen zur Reproduktionskultur des 20. Jh.s – den die modernen Speicher- und Reproduktionstechnologien forcierten – verschärfte das Ungleichgewicht zwischen der aktuell komponierten Musik und einer ständig wachsenden Überlieferung. Die schon im 19. Jh. sich abzeichnende und mit dem Schritt in die Ä Atonalität um 1910 eklatant werdende Kluft zwischen professionellen Musikern und Laien versuchte man mit neuen Publikationen, Verlagen, Vorträgen und Musikfesten zu schließen. Als wirkungsmächtig erwiesen sich die 1817 durch Kunstfreunde der Städte Aachen, Düsseldorf und El- berfeld begründeten Niederrheinischen Musikfeste, bei denen zahlreiche Erst- und Uraufführungen stattfanden und an denen sich ab 1821 auch Köln bis zur vorübergehenden kriegsbedingten Unterbrechung 1915 und endgültigen Einstellung 1958 beteiligte. Zu einer deutschlandweiten Organisation wurde der nach zwei erfolgreichen Musikfesten von Franz Liszt und dem Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik Franz Brendel 1861 in Weimar gegründete Allgemeine Deutsche Musikverein (ADM), der bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten 1937 bestand. Dessen jährlich in verschiedenen Städten stattfindende Tonkünstlerfeste präsentierten überwiegend zeitgenössische Werke vor einem nationalen, teils auch internationalen (Fach-)Publikum mit entsprechendem Presseecho (Stephan 1973). Während der 1920er Jahre wurden hier u. a. Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern, Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Ernst Krenek (ur)aufgeführt. Die Vereinsstruktur diente außerdem der Förderung des Kontakts und Informationsaustauschs zwischen Komponisten, Musikern, Verlegern und dem Publikum, um – vom wachsenden Nationalgedanken gestützt  – der Vereinzelung der Musikschaffenden und ihrer Separierung in lokale Musikszenen entgegenzuwirken. In dieser Tradition stehen auch die nach dem Ersten Weltkrieg gebildeten lokalen und internationalen Vereinigungen und Festivals der neuen Musik, die damit keineswegs historische Einzelfälle oder gar »Ghettobildungen« (Vujika 1973) sind. 2. Vereine und Interessenverbände vor 1945 Der im November 1918 gegründete Verein für musikalische Privataufführungen (Stein 1966/89; Ä Kammerensemble; Ä Konzert; Ä Vermittlung), als dessen Initiator, Präsident und musikalischer Leiter Arnold Schönberg bis zur Auflösung – infolge der Hyperinflation – im Dezember 1921 fungierte, reagierte mit fast zehnjähriger Verspätung auf die massiven Anfeindungen, welche die atonalen Werke Schönbergs und seiner Meisterschüler Anton Webern und Alban Berg seit 1908 durch Publikum und konservative Musikkritik erfahren hatten (Eybl 2004). Gründungsmotive waren die Ablehnung des altbekannten Repertoires, Star- und Cliquensystems im herrschenden Musikbetrieb und die Teilnahmslosigkeit des Publikums dem Neuen gegenüber. Obwohl als »Verein für das Publikum« definiert, wurden die von Alban Berg formulierten Statuten (Berg 1919/84) häufig als Beispiel für die sektiererisch-elitäre Unzugänglichkeit und intellektualistische Publikumsverachtung der neuen Musik angeführt, zumal nur Ä Kammermusik und kleinbesetzte Bearbeitungen von Orchesterwerken aufgeführt wurden, was indes nicht aus Snobismus geschah, sondern als Folge mangelnder 285 ökonomischer Möglichkeiten (Stephan 1973, 12). Obwohl der Wiener Verein nur drei Jahre bestand, wirkte sein Anspruch, die künstlerische Substanz der Werke durch exemplarische Aufführungen zur Kenntnis zu bringen, vorbildhaft für andere Vereine, Festivals und Spezialensembles für neue Musik, die zeitnah in Bremen, Dresden, Hamburg, Köln, Prag und anderswo entstanden. In Berlin z. B. gründete der Dirigent Hermann Scherchen 1919 die Neue Musikgesellschaft, 1920 die Zeitschrift Melos und 1936 den Verlag Musica viva. Bereits 1918 hatte Alfredo Casella die Società Italiana di Musica Moderna gegründet. 1921 fanden die ersten Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst statt, um jungen Komponisten Aufführungsmöglichkeiten zu verschaffen und im Zuge des Weltkriegs abgebrochene internationale Kontakte wiederherzustellen (Häusler 1996, 13). Im Rahmen des Musikfests wurden zudem Vorträge gehalten, die auch manch späteren Musikfestivals den Charakter von Arbeitstagungen gaben. Nach der Gleichschaltung des Festivals 1933 durch die Nationalsozialisten wurden die nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründeten »Donaueschinger Musiktage« durch die Zusammenarbeit der Gesellschaft der Musikfreunde Donaueschingen mit dem seit 1950 künstlerisch und finanziell verantwortlichen Südwestfunk Baden-Baden zu einem zentralen Forum der Nachkriegsavantgarde. Die Beteiligung des SWF-, später SWR-Sinfonieorchesters führte dabei zu einer Akzentverschiebung von Kammerzu Orchestermusik. 1920 gründete E. Robert Schmitz in New York die Franco-American Musical Society (1925 in Pro Musica umbenannt), der sich in Frankreich und den USA fast 40 Ortsgruppen anschlossen (Oja 2000, 177–200). Ebenfalls in New York riefen Edgard Varèse und Carlos Salzédo 1921 die International Composer s’ Guild (ICG) ins Leben. Allen zeitgemäßen Komponisten sollte unabhängig von ihrer stilistischen Ausrichtung ein Forum geboten werden (Meyer 2006, 84). Publizistisch unterstützt wurde die ICG durch die von Salzédo herausgegebene Zeitschrift Eolian Review (ab 1925 Eolus). Als Abspaltung der ICG ging 1923 die League of Composers hervor, die mit der Vierteljahresschrift The League of Composers ’ Review (ab 1925 Modern Music) ebenfalls über ein eigenes Sprachrohr verfügte. Namhafte Mitglieder wie Aaron Copland, Roger Sessions, Walter Piston und andere Neoklassizisten und ehemalige Kompositionsschüler von Nadia Boulanger zielten hier auf eine systematische Verankerung allgemein verständlicher Musik im Kulturleben der Vereinigten Staaten. 1928 begründete Varèse mit Henry Cowell, Carl Ruggles, Emerson Whithorne und Carlos Chávez die Pan American Association of Composers (PAAC), deren Institutionen / Organisationen Leitung im zweien Jahr Henry Cowell übernahm. Bis zur Auflösung 1934 widmete sich diese Organisation – Dank finanzieller Hilfe von Charles Ives – der Verbreitung von Werken zeitgenössischer Komponisten aus Nord- und Ä Lateinamerika. Nachhaltige Wirkung entfaltete vor allem die 1925 als Ableger der ICG von Cowell in Los Angeles gegründete New Music Society of California. Maßgeblich von Ives und Nicolas Slonimsky finanziert, entwickelte sich die Initiative durch eine eigene Konzertreihe sowie die Publikation neuer Partituren in der 1927 gestarteten New Music Edition und der zwischen 1932 und 1939 erschienenen New Music Orchestral Series zum wichtigsten Forum neuer Musik an der amerikanischen Westküste. 1933 startete Cowell zusätzlich die New Music Workshops sowie im Jahr darauf die Schallplattenserie New Music Quarterly Recordings. 3. Internationalisierung Bei den Internationalen Kammermusikaufführungen Salzburg 1922 gelangten Werke von 54 zeitgenössischen Komponisten aus 15 Nationen zur Aufführung. Wie beim Donaueschinger Kammermusikfestival des Vorjahres wollte man eine Momentaufnahme des schöpferischen musikalischen Geistes der Epoche zeigen (Réti 1922). Das persönliche Zusammentreffen von zwanzig Komponisten  – darunter etliche des Wiener Verlags Universal Edition und des kurz zuvor aufgelösten Vereins für musikalische Privataufführungen  – ließ den Wunsch aufkommen, ein internationales Musikfest zur ständigen Einrichtung zu machen, um die kriegsbedingte künstlerische Isolierung zu überwinden. Am 11. August 1922 gründeten die anwesenden Komponisten daher die International Society of Contemporary Music (ISCM) bzw. die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Vereinsgründungen in anderen Städten und Ländern fanden in der IGNM eine geeignete internationale Kommunikations-, Informations- und zum Zweck der Veranstaltung der jährlichen World Music Days geeignete Organisationsform (Haefeli 1973, 29). Heute setzt sich die IGNM aus 49 nationalen Sektionen zusammen, denen wiederum zahlreiche Ortsvereinigungen angehören. Vorbilder dieser Internationalisierung waren der 1919 gegründete Völkerbund und der 1921 ins Leben gerufene Club der Poets, Essayists, Novelists (P.E.N.), der sich dank des Engagements herausragender Schriftsteller schnell zu einem internationalen Autorenverband entwickelte. Wie der P.E.N.-Club wollte auch die IGNM den Chauvinismus in der Kunst überwinden und voreingenommene ästhetische Parteinahmen verhindern: »als Vereinigung von Komponisten, Interpreten und interessierten Musikfreunden gegründet zur Förderung zeitgenössischer Musik aller ästhetischen Richtungen und Institutionen / Organisationen Tendenzen  – ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politische Ansicht ihrer Mitglieder« (Haefeli 1982, 53). Dennoch gab es immer wieder Konflikte zwischen nationalen und stilistischen Gruppierungen. Die Programme der Weltmusikfeste wurden und werden zuweilen weniger nach künstlerischen Qualitätskriterien ausgewählt als vielmehr nach Nationenproporz, Schulbildung sowie persönlichem Verdienst oder politischem Einfluss von Komponisten, die oft zugleich als Funktionäre ihrer Ländersektionen agieren. 4. (Neu-)Aufbau der Institutionen seit 1945 Zu wichtigen Treffpunkten avancierten lokale, regionale und internationale Festivals in wachsendem Ausmaß auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie bündelten Künstler- und Publikumskreise sowie Produktions- und Werbeetats, um neuer Musik größere Akzeptanz und Ausstrahlung zu verschaffen. Noch heute erfüllen Musikfestivals trotz LiveÜbertragungen und Ä Internet die Funktion von musikalischen »Leistungsschauen« oder »Mustermessen«, bei denen ein Fachpublikum aus Komponisten, Interpreten, Redakteuren, Veranstaltern, Verlegern, Journalisten und Musikwissenschaftlern eine Vielzahl neuer Musik kennenlernt und ggf. durch Berichterstattung, Übernahmen oder Folgeaufträge einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht. Zunächst für Westdeutschland und dann weltweit bedeutend wurden – dank diskursbestimmender Theoriebildungen und Aufführungen wegweisender Werke – die seit 1946 jährlich, seit 1970 im Biennale-Rhythmus stattfindenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt (Borio / Danuser 1997; Iddon 2013). Das Office of Military Government, United States (OMGUS) trug nicht unwesentlich zum Wieder- bzw. Neuaufbau musikalischer Institutionen und zur Förderung der Ä Avantgarde im Nachkriegseuropa bei. Z. B. unterstützte das Office neben dem Aufbau der Darmstädter Kurse auch aktiv die von Karl Amadeus Hartmann geleitete Münchener Konzertreihe musica viva (Beal 2006), sowie den Aufbau des Pariser Musiklebens (Carroll 2003), nicht zuletzt in der Hoffnung, durch die Unterstützung künstlerischer Freiheit mit dem Kommunismus sympathisierende Intellektuelle für die amerikanische Kultur zu gewinnen. Der von hier aus seinen Anlauf nehmende Prozess einer »Institutionalisierung der Avantgarde« (Born 1995) gipfelte 1977 in der Eröffnung des von Pierre Boulez initiierten und vom französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou aktiv geförderten IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique / Musique) im Zentrum von Paris. Das IRCAM vereint wissenschaftliche Forschung im Bereich von computergestützter Komposition, Analyse und Klangverarbeitung mit pädagogischen Programmen, 286 künstlerischer Produktion und einer breiten Veranstaltungstätigkeit. Es erhielt – auch in Kooperation mit dem Centre Pompidou und dem Ensemble intercontemporain – herausragende Bedeutung für die Entwicklung der neuen Musik insgesamt. Damit wurde es zu einem Symbol für die Chancen, aber auch für die Tendenzen zu Erstarrung und Standardisierung, die mit der Institutionalisierung einhergehen (ebd.). Eine zentrale Rolle in Osteuropa spielten der 1956 gegründete Warschauer Herbst sowie ab 1961 die Musikbiennale Zagreb, wo sich Komponisten und Interpreten der sowjetischen Machtsphäre über aktuelle kompositorische und aufführungspraktische Entwicklungen der internationalen Avantgarde informieren konnten und ihrerseits (etwas durch neue Impulse in der Klangkomposition und »begrenzten« Aleatorik in den 1960er Jahren) auf westeuropäische Tendenzen zurückwirkten. Ähnliche Wirkung entfalten Künstler-Austauschprogramme wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) oder Veranstaltungen im Rahmen von Städtepartnerschaften, Goethe-Instituten, Japan Foundation, französischen und italienischen Kulturinstituten. Internationale Kulturbeziehungen werden auch von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mitgestaltet, z. B. Böll-, Adenauer-, Bertelsmann- oder Bosch-Stiftung, die zuweilen schneller und flexibler als staatliche Stellen und unabhängig von diplomatischen Kommunikationswegen agieren können. Komponisten aus Japan, Taiwan, Hong Kong und Korea gründeten 1973 in Hong Kong die Asian Composers League (ACL) zur Förderung neuer asiatischer Musik. Ziel war »to promote, preserve, and develop the musical cultures of the Asia-Pacific region, particularly in the field of music composition […] and to achieve recognition of their rights in national and international law« (Asian Composers League). In den Mitgliedsländern Australien, Hong Kong, Indonesien, Israel, Japan, Südkorea, Malaysia, Neuseeland, Philippinen, Singapur, Taiwan und Thailand existieren zudem nationale Komponistenvereinigungen, die an jährlich wechselnden Orten Konferenzen und Festivals veranstalten (Ä China / Taiwan / Hong Kong; Ä Japan; Ä Korea; Ä Südostasien). Eine Schlüsselrolle bei der Etablierung und Verbreitung neuer Musik spielten nach 1945 die nationalen oder regionalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (Nauck 2004) mit eigenen Klangkörpern, Studios für elektronische Musik sowie speziellen Festivals, Konzert- und Sendereihen neuer Musik. Als demokratische Nachfolgeinstitutionen der fürstlichen und bürgerlichen Musikeinrichtungen des 18. und 19. Jh.s widmen sich auch städtische und staatliche Orchester, Konzert- und Opernhäuser neuer Musik. Durch die öffentliche Hand oder private Un- 287 ternehmen und Stiftungen getragen werden auch Wettbewerbe, Musikpreise, Stipendien, Residenzen, Kurse und Kongresse unterschiedlicher Programmatik und Ausstrahlung. Wichtige Institutionen der neuen Musik sind ferner Musikschulen, Musikhochschulen, Universitäten, Akademien sowie teils hoch spezialisierte Archive und Bibliotheken (z. B. Paul Sacher Stiftung Basel), Forschungsund Dokumentationszentren (z. B. Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe), Zeitschriften und Internetportale sowie Verlage, Labels, Agenturen, Instrumentenbau und -handel. Hinzu kommen Organisationen zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte wie die deutsche GEMA oder die österreichische AKM, die durch Wahrung gesetzlich geregelter Urheberrechte ihren Mitgliedern (Komponisten, Interpreten, Produzenten, Verlagen) die ihnen zustehende Wertschöpfung zukommen lassen. Schließlich sind sämtliche am Musikleben beteiligte Berufsgruppen in Verbänden, Vereinen, Behörden und kulturpolitischen Gremien organisiert und gibt es auf Regional-, Landes-, Bundes-, europäischer und internationaler Ebene in Gestalt von Musikräten Dachverbände zur Förderung von Musik. Die International Association of Music Information Centres (IAMIC) vereinigt 40 nationale Musikinformationszentren weltweit. 5. Institutionskritik Teils in bewusster Opposition gegenüber den als zu etabliert und eng empfundenen Programmen der Rundfunkanstalten, Philharmonien und Hochschulen (Adorno 1953/73) entstanden seit den 1960er Jahren freiberuflich arbeitende Ä Kammerensembles und Ä Streichquartette sowie selbstverwaltete Spielstätten, Veranstaltungsreihen, Verlage und Labels ohne feste vertragliche Arbeitsverhältnisse. Jenseits institutionell verkrusteter Organisationsund Verwaltungsstrukturen wurden alternative Formen der Produktion, Präsentation und Distribution neuer Musik entwickelt, die zur Herausbildung freier Musikszenen führten (Soltau 2010). Einfluss auf die Entstehung selbstbestimmter Initiativen hatte auch die Ablehnung des bürgerlichen Musik- und Kunstsystems durch Avantgardeströmungen wie Konzeptualismus, Situationismus, Minimalismus, Aleatorik und Konkretismus (Ä Konzeptuelle Musik, Ä Performance, Ä Zufall). Statt bloß vorausgegangene Ä Stile zu überwinden, zielten Fluxus, Happening, Free Jazz, Ä Improvisation, Ä Klangkunst und Environment auf radikale Kritik an der »Institution Kunst« (Bürger 1974, 29) bzw. an deren Institutionen »Museum«, »Konzert«, »Werk«, »Autorschaft«, »Genie«, »Schönheit« (Ä Musikästhetik). Die Kritik systemisch bedingter Praktiken wurde zu künstlerisch praktizierter Kritik an den bürgerlichen Institutionen und deren hierarchischen, Institutionen / Organisationen ökonomischen, ideologischen und repräsentativ-sozialen Funktionen (Buchloh 1990). Vor dem Hintergrund der Emanzipations- und Protestbewegungen der 1960er und 70er Jahre wurden Institutionen nicht mehr nur als Mittel zur Ermöglichung künstlerischer Arbeit begriffen, sondern auch als bürokratische Formen der Reglementierung und Musealisierung, die es zu reformieren oder ggf. durch andere Produktionsund Präsentationsweisen zu ersetzen galt (Hoffmann 2001). In den USA hatte z. B. die universitär verankerte Lehre der Ä Zwölftontechnik eine regelrechte Akademisierung der neuen Musik zur Folge (Straus 1999), wovon sich Komponisten wie John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, James Tenney und David Tudor radikal absetzten. Das durch Institutionen arbeitsteilig organisierte Musikleben führt bis in die Gegenwart zu hochgradiger Professionalisierung und Partikularisierung mit Abhängigkeiten. Es entstehen Entfremdungen und Separierungen der Akteure und Publikumskreise, die in einem zunehmend saturierten und teils regelrecht »anästhetisierend« wirkenden Kulturbetrieb zum Verlust an Öffentlichkeit führen (Nonnenmann 2009). Zugleich machen sich Institutionen die an ihnen geübte Kritik der Avantgarden zu eigen. Indem sie systemkritische Kunstformen in sich aufnehmen, verwandeln sie sich selbst zu Institutionen der kritischen Selbstreflexion der Systeme Kunst und Musik (Fraser 2005). Die Kritik, die neue Musik sei im Laufe der Ä Postmoderne zu einem künstlich reproduzierten Resultat ihrer eigenen Institutionalisierung geworden (Mahnkopf 1998; Kreidler u. a. 2010), ist daher verkürzt und zudem oft von Partikularinteressen gelenkt. Auch die Thesen von einer »Krise der Institutionen« oder gar »Entinstitutionalisierung« der neuen Musik, wie sie in Zusammenhang mit der durch die Digitaltechnologie verbundenen Verbilligung, Miniaturisierung und Mobilisierung der Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten vertreten wurden (Lehmann 2012), greifen ohne Berücksichtigung der Pluralisierung und Enthierarchisierung der gesamten Kultur zu kurz. Ein spezifisches Merkmal neuer Musik ist gerade ihre Verbindung von Institutionalisierung und Institutionskritik. Schließlich verdanken sich auch jüngere Gründungen verschiedenen Anliegen, die sich im Rahmen institutionalisierter Produktions-, Distributions- und Rezeptionsmechanismen nicht umsetzen ließen. Manche Initiativen grenzen sich von bestehenden Bewegungen ab, indem sie mit neuen ästhetischen Konzepten auf die veränderten technischen und aufführungspraktischen Entwicklungen von Elektronik, Computer, Video, Multimedia und Internet reagieren wie z. B. die Formationen asamisimasa, Decoder, Garage, nadar, Stock11, Electronic ID. Andere Institutionen / Organisationen Unternehmungen sind eher gesellschafts- und kulturpolitisch motiviert, wie etwa der 1978 in Köln gegründete Internationale Arbeitskreis Frau und Musik, der 1984 ein erstes Frauen-Musik-Festival veranstaltete und das Archiv Frau und Musik in Frankfurt am Main aufbaute, um die im männlich dominierten Musikleben unterrepräsentierten zeitgenössischen Musikerinnen zu fördern (Ä Gender). Eben diese Ausdifferenzierung in unterschiedlich profilierte Institutionen und Organisationen ist ein Beleg für die Dynamik immanenter Institutionskritik und die gesamtgesellschaftliche Verankerung der neuen Musik (Ä Musiksoziologie). Ä Kulturpolitik; Moderne; Neue Musik; Zentren neuer Musik Adank, Thomas / Steinbeck, Hans (Hrsg.): Schweizer Musik-Handbuch. 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Obwohl Kagel von Cage und dessen Idee der »disciplined action«, die sowohl Instrumentalspiel als auch Alltagshandlungen miteinschließt, stark beeinflusst war, ist sein Gebrauch des Begriffs eng mit seinen eigenen kompositorischen Absichten verknüpft. Der Terminus wird zuweilen als Oberbegriff für verschiedene, verwandte Strömungen und Formen des experimentellen Musiktheaters verwendet, häufig jedoch speziell auf Kagel bzw. auf sein näheres Umfeld bezogen, was zu Unklarheiten führen kann. Andere, verwandte Begriffe sind »szenische Komposition« (Danuser 1992, 347) und »komponiertes Theater« (Rebstock / Roesner 2012). Während beim traditionellen Musiktheater, wie etwa der Oper, aber auch in deren der Ä Moderne verpflichteten Nachfolge-Formen, das Instrumentalspiel strikt von der Bühnenhandlung getrennt ist, wird im Instrumentalen Theater die Bühnenhandlung durch die Spielaktionen der Musiker konstituiert. Bei Kagel heißt es dazu: »Das Podium, auf dem der Instrumentalist spielt, unterscheidet sich theoretisch nicht von dem eines Theaters. […] Die neue Aufführungspraxis beabsichtigt, das Spiel der Instrumente mit einer schauspielerischen Darstellung auf der Bühne eins werden zu lassen« (1963). Demnach entfallen im Instrumentalen Theater viele Aspekte, die für das traditionelle Drama bzw. die Oper konstitutiv sind: szenische Illusion, Rollenspiel, dramatische Charaktere und Libretto bzw. Dialog. Stattdessen ist das Instrumentale Theater eher mit Formen des experimentellen Theaters, der Ä Performance Art und des postdramatischen Theaters (Lehmann 1999) verwandt. In Kagels Ausprägung kristallisieren sich von Anfang an zwei Herangehensweisen heraus. Bei der von Marianne Kesting so bezeichneten »Theatralisierung der Musik« (1969) wird die Aufmerksamkeit auf die dem Instrumen- talspiel ohnehin innewohnende Theatralik gelenkt, indem etwa die gewohnte Kopplung von Spielgeste und Klangresultat unterlaufen wird. So haben die Instrumentalisten von Sonant (1960 / …) (1960) für Gitarre, Kontrabass, Harfe und Fellinstrumente virtuose Passagen zu vollführen, die aber gleichzeitig laut der Partitur »so leise wie möglich« klingen sollen. Ein ganzer Satz kann vollkommen still gespielt werden, wobei aber alle in der Partitur verzeichneten Töne richtig gegriffen werden müssen. Der visuelle Effekt des Spiels ist somit nicht mehr mit dem akustischen Resultat in Einklang zu bringen. Umgekehrt wird bei der »Musikalisierung des Theaters« musikalische Aufführung in einem fiktionalen, szenischen Rahmen präsentiert, wie dies Kagel zum ersten Mal im »Kammermusikalischen Theaterstück« Sur scène (1959–60) verwirklichte. Spätere Werke, wie Match für drei Spieler (1964; Filmfassung 1966) und die »Szenische Komposition« Staatstheater (1967–70) kombinieren die beiden Vorgehensweisen. Kagels Instrumentales Theater ist mit der »visuellen Musik« Dieter Schnebels eng verwandt. Ebenso gibt es Ähnlichkeiten zum Fluxus, zum Werk von Sylvano Bussotti, Georges Aperghis und, in den USA, mit den Komponisten der ONCE-Gruppe (Robert Ashley, Gordon Mumma, Roger Reynolds) und der Sonic Arts-Gruppe (Ashley, David Behrman und Alvin Lucier). Kagels Schaffen hat auf seine Schüler wie Giorgio Battistelli, Carola Bauckholt, Manos Tsangaris und Maria de Alvear einen direkten Einfluss ausgeübt, scheint aber auch auf andere Komponisten nachfolgender Generationen, wie etwa Hans-Joachim Hespos, Heiner Goebbels oder Gerhard Stäbler gewirkt zu haben (Ä Musiktheater). Ä Themen-Beitrag 6; Musiktheater Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jh.s (NHbMw 7), Laaber 1984 „ Fetterman, William: John Cage ’ s Theatre Pieces. 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In der relativ jungen Geschichte dieses Begriffs und des entsprechenden Fachs wurde immer wieder kontrovers über seine Bedeutung und sein Verhältnis zur Komposition diskutiert (Hesselager 2004). Einen theoretischen Ansatz für die definitorische Grundlage im Kontext der neueren Musikgeschichte liefert erst eine grundsätzliche Erweiterung des Begriffs, die Instrumentation als das »In-Klang-Setzen überhaupt« bzw. die »Konkretion musikalischer Ereignisse« versteht (Gieseler u. a. 1985, 119). In diesem Sinne gibt es im Extremfall »Instrumentation« auch in einem Stück für Solo-Instrument. Gemeint ist also die Formung der klanglichen Gestalt einer Komposition sowie klangkonstitutive und wahrnehmungsrelevante Entscheidungen über Tonhöhe, Tonlage, Dynamik, Ä Klangfarbe, Artikulation und zeitliche Gestaltung in ihrem Zusammenwirken als musikalische Ä Struktur. In diesem Sinne ist auch ein Klavierstück stets in einer bestimmten Weise »instrumentiert«. Die Polarität von Klang und Ä Struktur (Ä Themen-Beitrag 3, 1.2), Grundlage vieler musikästhetischer Positionen im 19. und auch im 20. Jh., scheint damit zunehmend hinfällig zu werden (Janz 2006, 32–39). Es verbleibt dennoch die Frage, ob Instrumentation als Klangformung einer (eventuell vorexistierenden) musikalischen Idee zu verstehen ist, d. h. ob die »Idee« von ihrer Klanggestalt abstrahierbar oder aber von ihr untrennbar ist. Eine solche Frage ist allerdings außerkontextuell nicht zu beantworten und muss daher in konkreten Einzelfällen betrachtet werden. 1. Klang und Struktur Die Herangehensweisen an den Bereich Instrumentation waren während der vergangenen 70 Jahre sehr unterschiedlich und individuell, wobei keine dominierende Strömung  – wie »fortschrittlich« einzelne Tendenzen auch erscheinen mögen – ausgemacht werden kann. Spezifische Wege hin zu einer Aufhebung der Unterscheidung zwischen (Instrumental-)Klang und kompositorischer Struktur waren etwa die »Strukturalisierung« bzw. Parametrisierung der Instrumentation bzw. der Ä Klangfarbe in der Ä seriellen Musik und ihre extreme Individualisierung durch das Schaffen neuer klanglicher Kategorien in der Ä musique concrète instrumentale Helmut Lachenmanns und in vergleichbaren Ansätzen, so etwa in der auf der Spezifik von »Klangobjekten« basierenden Sprache Chaya Czernowins. Ihre Idee eines aus stark kontrastierenden Timbres zusammengesetzten hybriden »MetaInstruments«, realisiert etwa in Die Kreuzung für ū [jap. Mundorgel], Altsaxophon und Kontrabass (1995), ist von Brian Ferneyhoughs und Lachenmanns verwandten Konzepten zu unterscheiden: Czernowin löst die kulturellen, klangfarblichen und gestischen Kontraste zwischen den Instrumenten nur momentweise in Geräuschfeldern auf (Jena 2011, 262), während der Gedanke eines »Super-Instruments« in Ferneyhoughs Second String Quartet (1980) und Lachenmanns Zweitem Streichquartett »Reigen seliger Geister« (1989) vom Gedanken einer Neutralisierung instrumentaler Identität bestimmt ist (Ferneyhough 1982/98, 119 f.; Lachenmann 1994/96, 130–137). Ein weiteres Moment völlig neuartiger Instrumentenbehandlung, bei der es nicht um die »Instrumentation« einer vorab ausgebildeten Struktur ging, bildete die »Klangkomposition« der 1960er Jahre (György Ligeti, Friedrich Cerha, Krzysztof Penderecki, Ä Orchester), in deren Rahmen  – und nicht zuletzt unter Einfluss elektronischer Klangtexturen  – orchestrale Mischfarben zwar immer wieder zu einem holistischen Gesamtklang »neutralisiert« wurden, zum anderen aber gerade der Wechsel orchestraler Texturen zum wichtigsten Aspekt kompositorischer Formung avancierte. Klangbezogene Komponierweisen in der neuen Musik können in Hinblick auf die Relevanz des Konzepts »Instrumentation« sehr unterschiedlich ausfallen: Bei der französischen musique spectrale liefern computergestützte Analysen von Klangspektren ein Grundmaterial, das in der Regel erst nachträglich »instrumentiert« wird, sodass der Instrumentationsbegriff hier noch sinnfällig bleibt. In Werken wie Pierluigi Billones Zyklus Legno.Edre für Fagott (2003–04) dagegen entwickelt sich die Komposition im Sinne von Lachenmanns musique concrète instrumentale grundsätzlich aus einem ergebnisoffenen Experimentieren mit den grifftechnischen und sonstigen Möglichkeiten des Instruments heraus – »Instrumentation« ist hier letztlich gleichbedeutend mit dem komplexen Gesamtzusammenhang »Komposition«. 291 Insgesamt ist die Tendenz hin zu einer unauflösbaren Einheit der kompositorischen Idee mit ihrer Verklanglichung jedoch keinesfalls im Sinne eines makrogeschichtlichen »Telos« zu sehen. Nicht nur waren und sind Ad libitum-Besetzungen, wie sie u. a. in der amerikanischen Avantgarde um John Cage oder anderen Tendenzen indeterminierten Komponierens praktiziert wurden, in der neuen Musik ausgesprochen häufig, eine Großzahl von Komponisten hält auch heute an einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen musikalischer (Grund-)Struktur und Instrumentation fest, was sich etwa in der Tatsache zeigt, dass weiterhin Klavierauszüge zu Musiktheaterund anderen Vokalwerken publiziert werden. 2. Instrumentation als Orchestration: Pädagogische Traditionen und Entwicklungen Als »Hauptfeld« der instrumentatorischen Betätigung wird geschichtlich der Bereich des Ä Orchesters betrachtet, und dies aus guten Gründen. Das überlieferte und in der Praxis permanent neu angeeignete Wissen über die einzelnen Instrumente und ihr Zusammenwirken, über Fragen der Balance, der Instrumentenspezifik und der Klangvorstellung findet im Orchester das ideale Medium. In Hinsicht auf eine genuine Instrumentationstechnik ist die Fortsetzung einer großen (von Hector Berlioz [Grand traité d ’ instrumentation et d ’ orchestration modernes, 1844] begründeten und von Charles Koechlin [Traité de l ’ orchestration, 1941/54–59] ins 20. Jh. vermittelten) französischen Tradition zu konstatieren, die bei Komponisten wie Olivier Messiaen, Henri Dutilleux und Pierre Boulez, später auch bei Philippe Manoury, Tristan Murail und Marc-André Dalbavie fortwirkt. Der Farbenreichtum und der spezifische Einsatz der Registercharakteristik in der russischen Tradition (Nikolai Rimski-Korsakow [Grundlagen der Orchestration, 1913]; Igor Strawinsky) scheint wiederum nicht ohne Folgen auf das Klang-Denken von Komponisten wie Ligeti oder Witold Lutosławski geblieben zu sein, auch wenn die Bezüge hier gewiss weniger offensichtlich sind. Luciano Berio und Komponisten jüngerer Generationen wie Magnus Lindberg und Hanspeter Kyburz gehören daneben zu jenen, die dem Orchester mit höchster kompositorischer Virtuosität und großem Erfindungsreichtum begegnen. Im Bereich einer zeitgemäßen Instrumentationslehre liegt der Schwerpunkt auf der Verbindung »quantitativer« und »qualitativer« Elemente: Akustische Voraussetzungen und klanganalytische Daten sind unentbehrlich, um das klangliche Verhalten von Instrumenten und Instrumentenkombinationen zu begreifen. Ebenso unerlässlich aber ist ein kompetentes »Verbalisieren« instrumentatorischer Sachverhalte, das die klanglichen Phänomene in Instrumentation ihren funktionalen, strukturellen und klangästhetischen Aspekten betrachtet, und dies durchaus auch »qualitativ« und »subjektiv«. Bezüglich der Instrumentationsanalyse scheinen darüber hinaus statistische Ansätze (Schäfer 1982; Reuter 2002) potenziell in der Lage, große Datenmengen zu strukturieren und instrumentationsstilistische Strategien zu stützen. Eine Folge davon sind auch computergestützte Instrumentationsverfahren (computer-assisted orchestration), etwa in dem am IRCAM entwickelten Software-Prototyp Orchidee bzw. Ato-ms (Maresz 2013). Das an den Musikhochschulen oft stiefmütterlich behandelte Fach Instrumentation hat somit vielfältige Aufgaben und Ziele: Vermittlung von handwerklichen Grundlagen, Betrachtung unterschiedlicher kompositorischer Probleme in Bezug auf spezifische instrumentatorische bzw. orchestrale Lösungen, Kenntnis der historischen Erscheinungen orchestralen Denkens und ihrer Entwicklungsprinzipien, Schulung der Klangvorstellung und einer differenzierten Wahrnehmung von Klangfarben sowie eine Vertrautheit mit den aktuellen instrumentalen Möglichkeiten, auch im Grenzbereich zu elektronischen Medien. Zu den zentralen Aufgaben eines zeitgemäßen Instrumentationsunterrichts gehören dementsprechend eine plausible Stellungnahme gegenüber diesen vielfältigen Herausforderungen und – der komplexen Natur der Klangfarbe gemäß  – eine holistische und integrierende Herangehensweise, die die Organisation des Klanglichen sowohl in ihrer historischen als auch in ihrer aktuellen Dimension beleuchtet und das wie auch immer geartete Verhältnis kompositorische Idee / klangliche Gestalt adäquat thematisieren kann. Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen; Klangfarbe; Kompositionstechniken; Orchester; Struktur Adorno, Theodor W.: Funktion der Farbe in der Musik [1966], in: Darmstadt-Dokumente I (Musik-Konzepte Sonderband), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999, 263–312 „ Barrière, Jean-Baptiste (Hrsg.): Le timbre, métaphore pour la composition, Paris 1991 „ Burghauser, Jarmil / Spelda, Antonin: Akustische Grundlagen des Orchestrierens. 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Zupfinstrumente  „ 4.1 Spieltechnik  „ 4.2 Repertoire  „ 4.3 Interpretinnen und Interpreten  „ 5. Akkordeon  „ 5.1 Spieltechnik  „ 5.2 Repertoire  „ 5.3 Interpretinnen und Interpreten  „ 6. Tasteninstrumente  „ 6.1 Spieltechnik  „ 6.2 Repertoire  „ 6.3 Interpretinnen und Interpreten  „ 7. Schlaginstrumente  „ 7.1 Spieltechnik  „ 7.2 Repertoire  „ 7.3 Interpretinnen und Interpreten In keiner Zeit der Musikgeschichte war die Beziehung zwischen Komposition und Instrumenten enger als im 20. / 21. Jh. Einerseits erfolgte seit dem Beginn der Ä Moderne eine starke Erweiterung des Instrumentariums, die vor allem Ä Schlaginstrumente, elektronische Instrumente aller Art sowie die Generierung von Klängen mithilfe neuer Technologien umfasste (Ä Elektronische Musik, Ä Themen-Beitrag 5). Diese Erweiterung – in Zusammenhang mit der kompositorischen Einbeziehung des Ä Geräusches – führte zu einer Entgrenzung des traditionellen Instrumentenbegriffs: Nahezu jeder physikalische Körper, der Schallereignisse produzieren kann, konnte als »Musikinstrument« verwendet werden. Damit korrespondiert die Entwicklung, dass Komponisten zunehmend ihre eigenen Instrumente bauen (lassen) bzw. dass durch entsprechende Software, etwa die IRCAM-Software Modalys, virtuelle Instrumente entworfen werden können. Eine zweite, ebenso entgrenzende Erweiterung betraf die Spieltechnik der tradierten Instrumente. Ein erstes Beispiel dafür lieferte Igor Strawinsky in Le sacre du printemps (1911–13) durch die Umwandlung des (noch weit- gehend postromantischen) Sinfonieorchesters in einen riesigen Schlagzeugapparat. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s rückten dann die sogenannten »erweiterten Spieltechniken« immer mehr in den Vordergrund, wobei viele dieser Spieltechniken in grundsätzlichem Widerspruch zur traditionellen Instrumentaltechnik stehen, und zwar sowohl bezüglich der physischen Klangerzeugung als auch bezüglich der Klangästhetik. Die daraus entstandenen, zum Teil heftigen Auseinandersetzungen führten seit den 1960er und 70er Jahren zur Bildung von einander antagonistisch gegenüberstehenden »Lagern«. Erst gegen Ende des 20. Jh.s zeigt sich eine gewisse »Synthese« mit der Verbreitung eines Instrumentalistentypus, der klassische und »erweiterte« Spieltechnik beherrscht bzw. sowohl »klassisches« als auch zeitgenössisches Repertoire anspruchsvoll aufzuführen vermag. Hierfür waren Fortschritte in der Pädagogik maßgeblich: Immer mehr Hochschulen bieten qualifizierten Instrumentalunterricht in zeitgenössischer Musik durch die Zusammenarbeit mit professionellen Interpreten und Ensembles an. Auch Workshops und Masterclasses leisten hierzu wichtige Grundlagenarbeit. Daneben ist Klang allgemein zum maßgeblichen identitätsstiftenden Faktor vieler musikalischer Stile avanciert. Zu dieser Entwicklung führte u. a. ein Paradigmenwechsel in der Komposition: Der Klang selbst (bzw. das Instrument als Klangerzeuger) wurde immer mehr zum Ausgangspunkt und »Generator« des musikalischen Gedankens. Der Verlust von »Transkribierbarkeit« (ein »musikalischer Gedanke« konnte nicht mehr adäquat auf andere Besetzungen »uminstrumentiert« werden; Ä Instrumentation) bedeutete eine Zunahme an Konkretion – klangliche Individualität schien musikalische Selbstständigkeit zu garantieren. Dieser Paradigmenwechsel wurde wiederum dadurch gefördert, dass Klanganalyse, -synthese und -transformation immer präziser durchgeführt werden konnten, u. a. mithilfe von (Computer-)Technologien, wobei dies nicht nur für die Klangerzeugung, sondern auch für die Instrumentalmusik nutzbar gemacht wurde, etwa bei György Ligeti oder den Komponisten der Ä Spektralmusik. In diesem Sinne steht ein Diskurs über die Instrumente und ihre Entwicklungen in direktem Zusammenhang mit der Kompositionsgeschichte des 20. und 21. Jh.s und ist für ihr Nachvollziehen unentbehrlich. 1. Streicher 1.1 Spieltechnik Streichinstrumente stehen aus mehreren Gründen ununterbrochen im Fokus des kompositorischen Interesses. Ihr Klang ist außerordentlich nuancenreich und bietet einen nahezu unerschöpflichen Reichtum an Farbwerten. Ebenso vielfältig ist die Spieltechnik, die im Zusammenwirken 293 von rechter und linker Hand, aber auch in der Verselbständigung jeder einzelnen Hand viele Momente aufweist, die der kompositorische Eingriff grundlegend modifizieren kann, um eine neue Spiel- und Klangidiomatik auszuprägen. Von der Technik der rechten Hand ausgehend wäre zunächst die Auseinandersetzung mit der klangbestimmenden »Kontaktstelle« zu erwähnen: der traditionelle Bereich des sul tasto  – ordinario  – sul ponticello wurde durch das Spiel auf und hinter dem Steg, aber auch durch die Ausnutzung des gesamten Griffbretts erweitert. Der Streichvorgang (arco bzw. col legno sowie Mischformen) konnte nunmehr nicht nur auf den Saiten, sondern auf allen Instrumententeilen angewandt werden. Ebenso wurde mit den bestimmenden Faktoren des Streichens (Bogendruck und -geschwindigkeit) experimentiert. Eine allmähliche Überschreitung der regulären Obergrenze (Überdruck) im kontinuierlichen Übergang von einem harmonischen zu einem stark geräuschhaften Klang offenbarte das enge Verhältnis zwischen der »Physik« der Spieltechnik und der Kontinuität zwischen verschiedenen Klangqualitäten. Die Faktoren der Streichtechnik, die im »traditionellen« Spiel durch eine klare Wechselbeziehung zueinander geregelt sind, wurden von verschiedenen Komponisten »parametrisiert«, d. h. konzeptionell getrennt und oft seriell behandelt, wobei dies bis hin zu einer vollständigen Deregulierung der klassischen Spieltechnik führte (Klaus K. Hübler, Aaron Cassidy u. a.). Die Bogentechnik wurde auch durch den Einsatz der Spannschraube in ihren perkussiven Möglichkeiten erweitert (Helmut Lachenmann). Weiterhin wurde mit der Spannung des Bogenhaars und mit der Saitenspannung (Skordaturen jeder Art) experimentiert. Auch das Pizzicato wurde durch Auswahl der Zupfstelle und der zupfenden Materie (Finger, Fingernagel, Plektrum etc.) erheblich variiert. Zur Technik der linken Hand gehören das traditionelle Linke-Hand-Pizzicato, das Spiel ohne rechte Hand, das unter gewissen Umständen zwei Töne (bitones) produziert, Legato-Bindung ohne Zuspiel der rechten Hand, unterschiedliche Grade des Niederdrückens zwischen normal gegriffenem Ton, leichtem Flageolett-Ansatz bis hin zum resonanzlosen, »erstickten« Klang, Niederdrücken der Saite mit dem Fingernagel (statt Fingerkuppe), Aufsetzen der Finger neben den Saiten (ohne Niederdrücken), Verwendung von Fingerhüten zur Herstellung stark verfremdeter Klänge u. a. Vibrato als zentrale Spieltechnik wurde sehr unterschiedlich gehandhabt: vom rigoros vibratolosen Klang (u. a. bei Iannis Xenakis) bis hin zu einem expliziten Spiel mit verschiedenen Graden von VibratoBreite und -Geschwindigkeit (etwa in Werken Giacinto Scelsis), wobei nicht alle Komponisten diesbezüglich klare Anweisungen geben. Das Glissando wurde vervielfacht Instrumente und Interpreten / Interpretinnen und mit anderen Techniken kombiniert (gleichzeitige Glissandi, zweidirektionales Glissando, Glissando mit Trillern, mit unabhängigen Bogenaktionen, FlageolettGlissando etc.) und bisweilen so konstitutiv eingesetzt (Xenakis), dass es klang- und stilbildend wirkte. Perkussive Techniken aller Art und mit allen möglichen »Anschlagsmitteln« wurden verwendet und führten das fort, was im Sacre prototypisch geschah: Strawinsky übertrug einen perkussiven Duktus auf die Streichinstrumente unter Beibehaltung der herkömmlichen Streichertechnik, später wurde genuine Schlagzeugtechnik auf die Streichinstrumente übertragen (Strange / Strange 2001, 97–111). Das Flageolett-Spiel wurde durch weniger typische Griffe erweitert, die auch entferntere Partialtöne erzeugten. Durch Experimentieren mit Bogendruck, -geschwindigkeit und Streichstelle konnte man auch Töne einer »Untertonreihe« produzieren (ebd., 24–29), so George Crumb im vierten Satz (»Devil-music«) von Black Angels – Thirteen Images from the Dark Land für elektrisch verstärktes Streichquartett (1970), der solche Töne hier als »pedal tones« bezeichnet. Im Bereich der Mikrotonalität ergaben sich die unterschiedlichsten Herangehensweisen: feinere »Temperierung« mit Viertel- und Achteltonchromatik, variativ und färbend wirkende mikrointervallische Abweichungen, Intonation in reinen Intervallen mit Anlehnung an die Teiltonreihe u. a. Auch verschiedene Präparierungen (u. a. nach dem Cageschen Vorbild des präparierten Klaviers) und Dämpfertypen (u. a. die bei György Kurtág und Gérard Grisey [Vortex temporum für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello und Klavier, 1994–96] klangtypisch eingesetzten Metalldämpfer, »Wolfsdämpfer« u. a. in Brian Ferneyhoughs Funerailles für sieben Streicher und Harfe, 1969/78/80, sowie Scelsis speziell angefertigte Dämpfer [Zweites Streichquartett, 1961]) entlockten den Streichinstrumenten vollkommen neue Klänge. Daneben entwickelte sich das Zusammenwirken von Streichinstrumenten und (Live-) Elektronik rasant und zu großer Vielfalt (Ä Elektronische Musik). 1.2 Repertoire Musik für Streicher ist in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s sehr zahlreich komponiert worden, von Solo-Kompositionen über Ä Streichquartette und weitere kammermusikalische Besetzungen bis hin zu Solo-Konzerten. Hier sollen nur bestimmte Entwicklungsstränge angedeutet werden, die besondere »Verdichtungsmomente« darstellen. John Cages Freeman Etudes (1977–80) für Solovioline bspw. sind nicht nur ein Meilenstein »transzendentaler« Virtuosität völlig neuer Prägung, sondern sie schufen zudem in ihrer an Utopie grenzenden Rigorosität eine eigentümliche »Violinistik«, die sich auch in anderer Weise in Instrumente und Interpreten / Interpretinnen Salvatore Sciarrinos Sei Capricci (1975–76) findet. Ligetis Viola-Sonate (1994) entlockt dem Instrument eine große Vielfalt klanglicher und technischer Möglichkeiten und konsolidierte damit Entwicklungen, die die Viola zu einer vollwertigen Selbstständigkeit geführt hatten (Paul Hindemith, Béla Bartók, Luciano Berio). Berios Kompositionen für Solo-Streichinstrumente (Sequenza VI für Viola, 1967, Sequenza VIII für Violine, 1976, Sequenza XII für Violoncello, 1995) verbinden eine genuine Instrumentenspezifik mit unterschiedlichen Aspekten von Virtuosität. Lachenmann legte in seinen Solo-Kompositionen für Violoncello (Pression, 1969–70) und Violine (Toccatina, 1986) seine (spiel-)technische und ästhetische Neudefinition des Streichinstrumentenspiels nieder. Stefano Scodanibbios doppeltes Schaffen als Instrumentalvirtuose und Komponist setzte neue Impulse für das Kontrabass-Repertoire und versinnbildlicht die in den letzten Dekaden zu beobachtende Tendenz einer zunehmenden kompositorischen Betätigung von Interpreten (Ä Composer-Performer). Aus der Vielzahl der Kompositionen für Streichinstrumente und Elektronik sind Pierre Boulez ’ Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik (1997) und Philippe Manourys Partita 1 für Viola und Live-Elektronik (2006) und Partita 2 für Violine und Live-Elektronik (2012) als Beispiele für einen besonders differenzierten Umgang mit »gemischten« Klangquellen zu nennen. Das Komponieren für und mit Streichquartett wurde nahezu bruchlos aus der ersten Jahrhunderthälfte, wo es u. a. in der Wiener Schule und bei Bartók zentrale Gattung war, fortgeführt und brachte eine Fülle neuer Entwicklungen, die sowohl Haupttendenzen der Moderne individuell weiterentwickelten als auch völlig neue Wege gingen. Das gewichtige Quartettschaffen Elliott Carters (fünf Streichquartette, 1951–95) führte das Erbe Arnold Schönbergs weiter und reicherte es durch eine genuine rhythmischmetrische Ä Komplexität an. Auch Ferneyhoughs sechs Quartette (1967–2010) gehören durch ihren klanglichen, formalen und satztechnischen Reichtum und nicht zuletzt durch die enormen kompositorischen und spieltechnischen Anforderungen an die Interpreten zu den Höhepunkten der Quartettkomposition. Kurtág integrierte in seinen Kompositionen für Streichquartett (1951–2005) Bartóksche und Webernsche Prägungen und erreichte dabei eine unverwechselbare, oft rätselhafte Expressivität und Klangpoetik. Auch Ligeti ging von einer souveränen Beherrschung der Bartókschen Tonsprache aus (Erstes Streichquartett, 1954–58), während das Zweite Streichquartett (1968) infolge der Erfahrung mit Klangtexturen und Mikropolyphonie zu neuen »Verästelungen« führte. Xenakis ’ Werke für Streichquartett (u. a. Tetras, 1983) mit ihrer zupackenden Gestik, dem vorherrschenden 294 Glissando und der konsequenten Vibratolosigkeit zeichnen sich durch einen unverwechselbaren, gelegentlich Akkordeon-ähnlichen und in stetigem Übergang sich befindenden Grundklang aus. Das Streichquartett-Schaffen Lachenmanns (inklusive der »konzertanten« Tanzsuite mit Deutschlandlied für Orchester und Streichquartett, 1980) hat die Gattung sowohl spieltechnisch als auch klangästhetisch revolutioniert (drei Quartette, 1971–2002). Scelsi setzte in seinen fünf Streichquartetten (1944–85) den Klang und seine physikalische Verhaltensweise bzw. seine psychischen Wirkungen in den Vordergrund. In den Streichquartetten Jonathan Harveys wiederum werden spektrale Prägungen mit einer teilweise verdichteten Satzstruktur kombiniert, wobei die (Live-)Elektronik im Vierten Streichquartett (2003) auf minuziöse Details des Streicherklangs fokussiert, indem sie diese verstärkt, transformiert und verräumlicht. Die kompositions- und instrumentaltechnische Vielfalt der Konzertkomposition kann aufgrund einiger Werke für Violoncello und Orchester versinnbildlicht werden: Henri Dutilleux, Witold Lutosławski, Ligeti, Friedrich Cerha, Magnus Lindberg, Bernd Alois Zimmermann und Lachenmann haben hier mit grundverschiedenen und anspruchsvollsten Kompositionen die Gattung bereichert und erweitert. Schließlich sei auf das Violinkonzert Ligetis (1990/92) als eine der bemerkenswertesten Konzertkompositionen der letzten Dekaden hingewiesen, die unter Verzicht auf erweiterte Spieltechniken das traditionsreiche Instrument gänzlich neu kontextualisiert (Einbettung in Mixturen, Stimmungssysteme, Verhältnis des Solo-Instruments zum Orchester u. a.; vgl. Vlitakis 2013). 1.3 Interpretinnen und Interpreten Kompositorische Entwicklungen stehen immer in direktem Verhältnis zum Stand des Instrumentenbaus und der Instrumentaltechnik. Die neue Musik des 20. Jh.s wurde von Beginn an von engagierten Interpreten-Persönlichkeiten getragen, so etwa von Rudolf Kolisch und dem Kolisch-Quartett sowie von Eduard Steuermann, weiterhin von den Dirigenten Hermann Scherchen, Hans Rosbaud, Boulez, Péter Eötvös und vielen anderen (Ä Dirigieren). Im Bereich der Streichinstrumente wäre zunächst der Cellist Siegfried Palm zu nennen, der durch seine langjährige konzertierende und pädagogische Tätigkeit viele Interpreten ausgebildet und zahlreiche Violoncello-Kompositionen angeregt hat. Auch Mstislaw Rostropowitsch war an vielen Uraufführungen als Solist und Auftraggeber beteiligt. Der neueren Cellisten-Generationen gehören u. a. FrancesMarie Uitti, die auch vielfältig experimentiert (u. a. durch das Spiel mit zwei Bögen etc.), Jean-Guihen Queyras und Anssi Karttunen an. Zu den Violinisten, die sich im Be- 295 reich der zeitgenössischen Musik große Verdienste erworben hatten, zählen u. a. Irvin Arditti und Saschko Gawriloff. Arditti führte sowohl als Solist als auch als Primarius des Arditti Quartet zahlreiche Kompositionen auf und setzte auch im Quartettspiel höchste Aufführungsmaßstäbe durch. Gawriloff arbeitete u. a. mit Ligeti während der Komposition des ihm gewidmeten Violinkonzerts zusammen. Beide Violinisten trugen wesentlich durch ihre Lehrtätigkeit (u. a. bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt) maßgeblich zur Verbreitung zeitgenössischer Musik bei. Bemerkenswert scheint zu sein, dass zunehmend auch Solisten, die sich vorwiegend dem klassisch-romantischen »Kernrepertoire« verpflichtet fühlen, neue Werke in ihr Repertoire aufnehmen und mit zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeiten, so bspw. Gidon Kremer, Anne-Sophie Mutter, Frank Peter Zimmermann, Christian Tetzlaff, Hilary Hahn u. a. Gleichzeitig werden die Vertreter des eingangs erwähnten Instrumentalistentypus, die im »alten« und »neuen« Repertoire gleichermaßen bewandert sind, immer zahlreicher (Caroline Widmann, Patricia Kopatchinskaja u. a.). Auch im Bereich des Violaspiels waren es ausgezeichnete Instrumentalisten, die zur Erweiterung des technischen Standes und des Repertoires für Viola beitrugen: die zeitweilig in renommierten Ensembles tätigen Gérard Caussé, Garth Knox sowie Tabea Zimmermann, Yuri Bashmet, Antoine Tamestit u. a. Zu den führenden Kontrabassisten gehören (außer dem oben erwähnten und früh verstorbenen Scodanibbio) weiterhin die vielfältige Joëlle Léandre und Uli Fussenegger. Das Quartettspiel zeitgenössischer Musik gewann seit dem letzten Viertel des 20. Jh.s erheblich an Schwung und Qualität; außer dem epochemachenden Arditti Quartet und dem für die Verbreitung neuer Musik in den USA prägenden Kronos Quartet mit seinem genre-übergreifenden Repertoire sind hier die außergewöhnlichen jüngeren Formationen JACK Quartet und Diotima Quartet zu nennen. Bezeichnend für die Entwicklungen der letzten Jahre ist auch die Tatsache, dass Spitzen-Ensembles wie das Artemis Quartett und das Minguet Quartett klassisches und zeitgenössisches Repertoire gleichermaßen auf höchstem Niveau präsentieren können. 2. Holzbläser 2.1 Spieltechnik Die Entwicklungen im Bereich der Holzblasinstrumente in den letzten Jahrzehnten waren sehr vielfältig, wodurch sich die Spieltechnik und das Repertoire für diese Instrumente beträchtlich erweiterten. Eine allgemeine Entwicklung betrifft die Einbindung des Ä Geräusches: unterschiedliche Mischungen von Ton und Luftgeräusch Instrumente und Interpreten / Interpretinnen bis hin zu reinen Luftklängen, perkussive Artikulationen und Spielweisen (Slap, Tongue Ram, Klappengeräusche etc.). Diese Entwicklungen wurden durch die allgemeine Tendenz einer »Emanzipation« des Geräusches angeregt, aber auch durch ostasiatische Bläsermusik, die Atem- und Luftgeräusche als integralen Bestandteil des Tons betrachtet. Eine weitere Kategorie der neuen Spieltechnik betrifft die Mehrklänge (Ä Multiphonics), die ebenso für alle Holzblasinstrumente erforscht wurden. Diese Technik bildete in ihrer schillernden Mehrdeutigkeit zwischen Akkord und Ä Klangfarbe ein psychoakustisches Schwellenphänomen, das als Kompositionsparadigma anregend wirkte. Auch Mikrotonalität spielte zunehmend eine Rolle. Neben einem verbreiteten Ansatz, der (wiederum häufig in Anlehnung an ostasiatische Musik) Mikroglissandi in den Spielduktus integrierte, wurden Grifftabellen für Viertel- und sogar Achtelton-Chromatik erstellt. Die Erforschung alternativer Griffmöglichkeiten erweiterte auch die Zahl der sogenannten Farbgriffe und ermöglichte so Klangfarbentriller und einen erheblichen Reichtum an Klangwerten. Auch die »traditionellen« Elemente der Spieltechnik wurden erweitert: verschiedene Ausführungen des Vibratos, oft mit Bestimmung seiner Breite und Geschwindigkeit, Erweiterung des Glissandos, Doppelflageoletts, Doppeltriller und »Trillerfiguren«, weitere Artikulationsmöglichkeiten u. a. Manche Techniken sind instrumentenspezifisch realisierbar, so bspw. Klänge mit Zahnansatz oder Spiel ohne Rohr bei den Rohrblattinstrumenten oder Jet Whistle (kraftvolle Luftattacke mit abgedecktem Mundloch), Tongue Ram (explosiver Effekt mit ebenso abgedecktem Mundloch) und Whistle Tones (leise Pfeiftöne im hohen Register) bei der Flöte (Levine 2003). Andere Techniken können wiederum voneinander abweichende Klangresultate erbringen, wie die Unterschiede in Klangstärke und Resonanz beim Slap Tongue (Zungenschlag) an Saxophon und Oboe zeigen. Bei nahezu allen Holzblasinstrumenten sind Techniken wie simultanes Spielen und Singen und die immer mehr verbreitete Zirkularatmung zu realisieren. Rückblickend lässt sich beobachten, dass die anfänglich explosionsartige Entwicklung erweiterter Spieltechnik seit den 1960er und 1970er Jahren zu einer zunehmenden Differenzierung und Vertiefung geführt hat (dazu trug die entsprechende Literatur substanziell bei, vgl. Rehfeldt 1994/2003; Veale / Mahnkopf 1994/2005; Levine / Mitropoulos 2002/03/04; Gallois 2009; Weiss / Netti 2010 u. a.), sodass über eine oberflächliche »Effekt«-Wirkung hinaus heute Voraussetzungen dafür geschaffen sind, solche Spieltechniken kompositorisch plausibel einzusetzen. Weitere Möglichkeiten ergeben sich durch das Zusammenspiel mit Live-Elektronik. Auch im Instrumentenbau Instrumente und Interpreten / Interpretinnen gibt es neuere Entwicklungen, wie die von Julián Elvira entwickelte Pronomos-Flöte zeigt (pronomosflute.com/ about). Auch die Blockflöte ist in jüngerer Zeit vermehrt im Kontext der neuen Musik anzutreffen, nicht zuletzt motiviert durch die stark erweiterten Möglichkeiten neuer Instrumente wie den seit den 1970er Jahren entwickelten Paetzold-(Sub-)Bassblockflöten. Auf vergleichbar große Resonanz stoßen neue Instrumententypen wie das 1999 von Benedikt Eppelsheim entwickelte Kontrabassbzw. Subkontrabasssaxophon Tubax (eppelsheim.com/ instrumente/tubax-eb) und das ebenfalls von Eppelsheim gemeinsam mit Guntram Wolf gebaute Kontraforte (eppelsheim.com/instrumente/kontraforte), das sich gegenüber dem Kontrafagott durch präzisere Intonation und erweiterte dynamische Möglichkeiten auszeichnet. 2.2 Repertoire Dem gesteigerten kompositorischen Interesse entsprechend ist ein umfangreiches Repertoire für Holzblasinstrumente entstanden. Im Bereich der Solo-Komposition markieren Berios Sequenze (I für Flöte, 1958; VIIa für Oboe und Schallquelle, 1969; VIIb für Sopransaxophon, 1993; IXa für Klarinette und Digitalfilter, 1980; IXb für Altsaxophon, 1981; XII für Fagott, 1992–95) eine Denkweise, die instrumentale »Immanenz« als Ausgangspunkt nimmt und eine teilweise neu gewonnene Instrumentenspezifik in innovative Formen einspannt. Berios Landsmann Franco Donatoni bereicherte das Repertoire für Holzbläser mit eloquenten rhythmisch-linear angelegten Stücken sowohl für die einzelnen Instrumente als auch für Bläserquintett. Boulez trug auch in diesem Bereich Wichtiges bei: Sonatine für Flöte und Klavier (1946), …explosante-fixe… für MIDI-Flöte, zwei Flöten solo, Kammerensemble und station informatique musicale (1991–93) mit der Auslotung der vielfältigen Möglichkeiten von Solo- und Midi-Flöte innerhalb des Ensembles, ebenso Domaines (1968) für Solo-Klarinette und großes Ensemble sowie Dialogue de l ’ ombre double (1982–85) für Klarinette und Tonband. Ligetis Werke für Bläserquintett, die Sechs Bagatellen (1953) aus Musica ricercata und die Zehn Stücke (1968), könnten unterschiedlicher nicht sein: Die humoristisch-ironischen Bagatellen sind von einer präzisen Klangcharakteristik gekennzeichnet, die an Strawinsky denken lässt, während die Zehn Stücke Ligetische Komponierweisen der Zeit in der alternierenden Form von Gruppe und hervortretendem Solo präsentieren. Die eingangs angedeuteten Einflüsse ostasiatischer Bläsermusik sind u. a. in vielen Kompositionen Isang Yuns und Toshio Hosokawas zu hören. Allein der hohe Anteil der Komposition für Blasinstrumente beider Komponisten bezeugt ihre enge Verbindung zum Bläserklang. Im Zyklus Legno. Edre I–V (2003–04) 296 für Fagott demonstriert Pierluigi Billone die Möglichkeiten eines Komponierens, das aus der physischen Erfahrung mit dem Medium / Instrument heraus erwächst. Die Klarinette ist wiederum das von Lachenmann am meisten berücksichtigte Holzblasinstrument, und dies vom Solo bis zum »Konzert«: Dal niente (Intérieur III) für einen Solo-Klarinettisten (1970), Allegro sostenuto, Musik für Klarinette (auch Bassklar.), Violoncello und Klavier (1986–88) und Accanto, Musik für einen Solo-Klarinettisten mit Orchester (1975–76). Unter den zahlreichen Kompositionen von Ferneyhough für und mit Holzblasinstrumenten wären hier die »Konzertkompositionen« für Soloinstrument und Kammerensemble bzw. -orchester La chute d’Icare (mit Soloklarinette, 1987–88), Allgebrah (mit Solooboe, 1990–96) und Carceri d’Invenzione II (mit Soloflöte, 1982–85) zu nennen. Ebenso konzertant angelegt sind das virtuose Konzert für Klarinette und Ensemble (1996) von Carter und Hanspeter Kyburz ’ Cells (1993–94) für Saxophon und Ensemble. Die Situation im Saxophonspiel ist eine besondere: Einerseits »zwingt« der Mangel an historischem Repertoire zu einem vorwärts gerichteten Blick, andererseits wirken die popularmusikalische Prägung des Instruments wie auch seine Verbindung mit einem »leichten« neoklassizistischen Repertoire besonders nachhaltig. Diese Aspekte als auch seine klangliche Variabilität und die vielfältigen Möglichkeiten erweiterter Spieltechnik führten zu einem umfangreichen Repertoire sowohl für verschiedene Saxophone in Solo- bis Konzertkomposition als auch im klangfarblich besonders homogenen Saxophonquartett. In dieser Gattung wäre bspw. Georg Katzers Wie ein Hauch, doch manchmal (1993) zu nennen. In Georges Aperghis ’ Rasch (2001) für Viola und Saxophon wiederum zeigt sich die Flexibilität und Wandlungsfähigkeit des Instruments im kammermusikalischen Spiel. Sciarrinos Studi per l ’ intonazione del mare (2000) integriert neben je vier solistischen Flöten und Saxophonen auch große orchestrale Klangflächen aus je 100 Flöten und Saxophonen. Unter den Werken für neu entwickelte Instrumente sticht Chaya Czernowins Triptychon Maim für großes Orchester, Solistenquintett und Elektronik (2001–2007) hervor, in dem der (vorab aufgenommene) Tubax-Part im Zentrum steht. 2.3 Interpretinnen und Interpreten Zu den führenden Instrumentalisten der Nachkriegsgeneration gehörte der Flötist Severino Gazzeloni, der durch seine Darmstädter Dozententätigkeit auch weitere Interpretengenerationen geprägt hat. Aurèle Nicolet und Karlheinz Zöller waren weitere Flötisten dieser Generation, die sowohl neues Repertoire angeregt und (ur)aufgeführt 297 haben als auch pädagogisch tätig waren. Den jüngeren Generationen, die auf ein sehr umfangreiches und vielfältiges Flötenrepertoire zurückgreifen können, gehören u. a. Robert Aitken und die auch in Darmstadt tätigen Pierre-Yves Artaud und Carin Levine an, weiterhin Sophie Cherrier, Roberto Fabbriciani, Dietmar Wiesner, Eberhard Blum, Irmela Nolte und der Soloflötist der Berliner Philharmoniker Emmanuel Pahud. Blockflötistinnen sind häufig als Composer-Performer aktiv, oft an den Grenzen zwischen Komposition und Improvisation (Eva Reiter, Pia Palme) oder arbeiten eng mit Komponisten zusammen (Susanne Fröhlich, Dorothee Oberlinger). Die Situation im Oboenspiel wurde vor allem durch Heinz Holliger geprägt. Der vielfältige Künstler pflegte gleichermaßen »klassisches« und zeitgenössisches Repertoire, war maßgeblich an der Entwicklung erweiterter Spieltechnik beteiligt und konnte als erstrangiger Komponist und Dirigent auch kompositorische Akzente für sein Instrument setzen. Burkhard Glaetzner wiederum regte die Entstehung eines Oboen-Repertoires in der DDR und Osteuropa an. Jüngere Oboisten wie Peter Veale und Christian Hommel kombinieren solistische und Ensemble-Tätigkeit mit der inzwischen üblich gewordenen Selbstverständlichkeit. Maßgeblich an der Entwicklung neuen Repertoires und erweiterter Spieltechnik beteiligte sich der Klarinettist Eduard Brunner, der eng mit Komponisten zusammenarbeitete, ebenso Hans Deinzer, Hermut Gießer und Alain Damiens, die u. a. Boulez ’ Werke für Klarinette uraufführten. Eine Reihe ausgezeichneter Instrumentalisten wie Ernesto Molinari, François Benda, Nina JanßenDeinzer u. a. führen die Belange des Instruments in (nicht nur) neuer Musik weiter, wobei Theo Nabicht sich um die in den letzten Jahren rasant entwickelte Kontrabassklarinette verdient gemacht hat. Jörg Widmann wiederum bezeugt in seiner Personalunion von Solist und Komponist, dass »Spezialistentum« in unterschiedlichen Bereichen durchaus realisierbar ist. Jean-Marie Londeix trug wesentlich zur Entwicklung des Saxophons in der Nachkriegszeit bei, bevor Claude Delangle und Marcus Weiss sich dezidierter dem neuen Repertoire zuwandten und ihre prägenden Erfahrungen an eine neue Generation weitergaben. In einer stark wachsenden Saxophonisten-Szene wären weiterhin John Harle, Daniel Kientzy, Johannes Ernst, Rico Gubler, Sascha Armbruster und Nikola Lutz oder Ruth Velten zu nennen. Für die nur sehr allmählich stattfindende Auslotung der außergewöhnlich vielfältigen Möglichkeiten des Fagotts durch Komponisten setzten sich u. a. Pascal Gallois (ohne dessen Zusammenarbeit mit Berio die bahnbrechende Sequenza XII nicht hätte entstehen können), Lo- Instrumente und Interpreten / Interpretinnen relei Dowling und Johannes Schwarz ein. Es ist zu erwarten, dass das verhältnismäßig »überschaubare« Repertoire dieses komplexen Instruments in der kommenden Zeit deutlich wachsen wird. 3. Blechbläser 3.1 Spieltechnik Im Bereich der Blechbläser gestalten sich die Entwicklungsstränge ziemlich individuell. Das Horn wurde von den Komponisten weniger als Experimentierfeld zur Entwicklung neuer Spielarten betrachtet, sondern viel mehr als klang- und ausdrucksstarkes Instrument, bei dem es primär galt, seinen Klang neu zu kontextualisieren. Die hierzu maßgeblichen Kompositionen, Ligetis Trio für Violine, Horn und Klavier (1982) und sein Hamburgisches Konzert für Horn und Kammerorchester (1998–99/2002), schöpfen aus immanenten Möglichkeiten des Instruments wie der Naturstimmung und einer davon abgeleiteten Harmonik (Hornkonzert) und erweitern eine instrumentenspezifische Virtuosität. Anders verlief die Entwicklung bei der Trompete und Posaune: Die durch ihre Wirkung im Ä Jazz errungene klangliche Experimentierfreudigkeit, die konstruktionsbedingten Möglichkeiten zur Erweiterung der Spieltechnik und das Wirken von Ä Composer-Performern wie Vinko Globokar führten zu einer nachhaltigen Entgrenzung der instrumentalen Möglichkeiten. Einige der alten und neuen technischen Bereiche in Bezug auf die Posaune werden hier aufgelistet (Dempster 1994), wobei sie teilweise auch auf die anderen Blechblasinstrumente übertragbar sind: unterschiedliche Möglichkeiten des Stimmeneinsatzes, »Mehrklänge«, Klangfarbenbeeinflussung durch Einsatz bestimmter Vokale und Konsonanten, verschiedene Glissandotypen und Vibratomöglichkeiten, Mikrointervallik, Triller-, Shake- und Tremolotechniken, Slap- und Flatterzunge, »organische« Geräusche, Perkussives, Zerlegen des Instruments in seine Teile und Spiel mit den einzelnen Instrumententeilen oder mit einer ungewöhnlichen Zusammensetzung, Einsatz von Wasser (Wassergong-ähnliche Klänge etc.), differenziertes Dämpferspiel, externe Erweiterungen des Instruments (Klavierresonanz, Elektronik, Gartenschlauch etc.), theatralische Momente usw. Zu den aufregendsten Entwicklungen im Blechblasinstrumentenbau der letzten Jahre zählt die Doppeltrompete, die Marco Blaauw bauen ließ (Blaauw 2011). Das Instrument hat durch zusätzliche Ventile die Möglichkeit, griffsichere Vierteltonchromatik zu spielen, sehr schnellen Wechsel zwischen verschiedenen Klangfarben (z. B. zwischen offenem und gedämpftem Schallbecher) zu realisieren, und es kann sogar verschiedene Klangfarben mischen (Halbventil-Position) wie auch den Klang in Instrumente und Interpreten / Interpretinnen verschiedene Richtungen abstrahlen. Christine Chapman ließ wiederum ein Horn mit doppeltem Schallbecher und vergleichbaren Möglichkeiten bauen (Chapman 2012). Dadurch, dass der zweite Schallbecher ein Bassposaunenbecher ist, kann die ganze Vielfalt der Posaunendämpfer verwendet werden, sodass die Klangfarbenmöglichkeiten des Hornspiels erheblich erweitert werden. Auch im Tuba-Spiel sind die meisten der schon besprochenen erweiterten Spieltechniken ausführbar, manche lassen sich aufgrund des großen Korpus sogar noch effektiver realisieren (Luftgeräusche, Stimmeneinsatz, perkussive Klänge etc.). 3.2 Repertoire Im Hornrepertoire sind außer den schon erwähnten Kompositionen Ligetis das Hornsolo Appel interstellaire aus Des canyons aux étoiles für Klavier, Horn, Xylorimba und Orchester (1971–74) von Olivier Messiaen, der bemerkenswerte Einsatz eines solistischen Hornquartetts im Epilogue (1985) von Grisey und die Konzertkompositionen Campana in Aria (1998) von Lindberg und Moment of Blossoming (2010) von Hosokawa zu nennen. Aus dem ziemlich umfangreichen Trompetenrepertoire sind u. a. Berios Sequenza X für Trompete und Klavierresonanz (1984) und die darauf bezogene Komposition Kol Od (Chemins VI) (1995–96) für Trompete und Kammerorchester, Zimmermanns frühes Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see (1954; Ä Jazz) und die zahlreichen Kompositionen Karlheinz Stockhausens inner- und außerhalb des Licht-Zyklus hervorzuheben. Die Möglichkeiten der Doppeltrompete sind in Eötvös ’ Snatches of a Conversation für Doppeltrichter-Trompete und Ensemble (2001) und insbesondere im Trumpet Concert (2010) Fabián Panisellos gut zu hören. Zum ebenfalls sehr umfangreichen Posaunenrepertoire gehören u. a. Berios Sequenza V (1965) mit der Kombination bzw. Verschmelzung von gesprochenen und gespielten Klängen und mit der Einführung musiktheatraler Elemente, die eine gewisse »Tradition« in der Posaunenmusik begründeten, die Konzertkomposition SOLO (2000) des gleichen Komponisten, Xenakis ’ Solowerk Keren (1986) und Posaunenkonzert Troorkh (1991) sowie Marco Stroppas From Needle ’ s Eye für Posaune, Doppelquintett und Schlagzeug (1996–2001/2008). Globokar betrachtete in seinen Stücken oft das Instrument als Erweiterung des menschlichen Körpers (oder auch umgekehrt). Die Möglichkeiten einer elektronischen Erweiterung des Posaunenklangs loten Luca Francesconi in Animus für Posaune und LiveElektronik (1995) und Nicolas Collins in den Werken für seine seit 1986 entwickelten trombone-propelled electronics aus (Collins 1991). 298 Das weniger umfangreiche Repertoire für Tuba umfasste Werke wie das virtuose Capriccio (1980) von Krzysztof Penderecki sowie die Konzertkompositionen The Cry of Anubis (1994) von Harrison Birtwistle und Harmonika (1981–83) von Lachenmann. Luigi Nonos Post-prae-ludium n.1 »per Donau« für Tuba und Live-Elektronik (1987) erweitert den Klang des Instruments zu einer breit angelegten Raumkomposition. Auch das Komponieren für Blechbläserensemble unterschiedlichster Zusammensetzung spielte eine zunehmend wichtige Rolle. Scelsi übertrug mit I Presagi für acht Blechblasinstrumente, Saxophon und Schlagzeug (1958) seinen seit den frühen 1950er Jahren entwickelten klangorientierten Ansatz von den zunächst verwendeten Solobzw. kleinen Besetzungen auf eine in tiefen und tiefsten Registern wogende, u. a. nach dem Vorbild tibetischer Ritualmusik konzipierte Folge breit inszenierter »KlangWellen«. Eötvös ’ Brass – The Metal Space (1990) erkundet räumliche und abstrahlungstechnische Aspekte. Lindbergs klangreiche Ottoni für Blechbläserensemble (2005) und Carters komplexes Brass Quintet (1974) demonstrieren das Potenzial solcher Besetzungen. Wolfgang Rihms Sine nomine I für fünf Blechbläser (1985) steht wiederum in der spezifischen Tradition der Varèseschen Blechbläsermusik, die für einen großen Teil der neuen Musik des 20. Jh.s prägend war. Darüber hinaus wäre erneut Stockhausen mit seinen zahlreichen Blechbläserkompositionen zu nennen, etwa den verschiedenen Fassungen der Solokomposition In Freundschaft (1977, Versionen u. a. für Horn, Trompete, Posaune und Tuba). Zusammenfassend zeigt sich in neuer Musik für Blechbläser im Vergleich zu früheren Zeiten eine außerordentliche Nuancierung und Erweiterung von Spieltechniken und Klangmöglichkeiten. Durch ihre Klangstärke und die starke Direktionalität ihrer Schallabstrahlung sind Blechblasinstrumente auch für das Einbeziehen räumlicher Aspekte besonders geeignet. Nicht zuletzt lassen die neueren Entwicklungen der »Doppelinstrumente« auch zukünftig eine umfangreiche kompositorische Produktion in diesem Bereich erwarten. 3.3 Interpretinnen und Interpreten Auch bei den Blechblasinstrumenten sind für die Weiterentwicklungen bedeutende Interpretinnen und Interpreten sowie ihre Zusammenarbeit mit Komponisten (manchmal in Personalunion) auschlaggebend, so bspw. Marie-Luise Neunecker, Christine Chapman (Horn), Reinhold Friedrich, Markus Stockhausen, Marco Blaauw, Bill Forman (Trompete), Vinko Globokar, Stuart Dempster, Christian Lindberg, Benny Sluchin, Uwe Dierksen, Mike Svoboda (Posaune), Melvyn Poore, Robin Hayward 299 (Tuba) u. a. Bezeichnend für die Entwicklung eines neuen Instrumentalistentypus ist die Kombination verschiedener Elemente wie das sehr hohe technische Niveau und die potenzielle Ausweitung der Virtuosität auf alle Bereiche der Spieltechnik, eine ästhetische Neugier und Offenheit, das Beherrschen eines breiten Repertoires und oft auch die Verbindung zu improvisatorischen Praktiken, die bei Trompete und Posaune durch den Ä Jazz nahegelegt wird (Ä Improvisation). Alle diese Faktoren förderten neue Entwicklungen in einem Instrumentalbereich, der ansonsten generell von einer gewissen Skepsis gegenüber Erneuerungen geprägt war (und ist), auch wenn er sie immer wieder getragen hat (man denke z. B. an die »Revolution« der Ventilinstrumente im 19. Jh.). 4. Zupfinstrumente 4.1 Spieltechnik Die Harfentechnik erfuhr in den letzten 60 Jahren eine grundlegende Weiterentwicklung, die in verschiedenen Strängen verlief. Die tradierte Technik gewann durch zunehmende Differenzierung und Ausweitung (verschiedene Flageolettklänge, xylophonartige und weitere »gedämpfte« Klänge, »horizontale« und »vertikale« Glissandi u. a.) einen großen Reichtum an Klangwerten und Artikulationen, die einzeln oder kombiniert eingesetzt werden. Für das Zupfen bzw. Schlagen, Kratzen etc. wurden nicht nur die Fingerkuppe, sondern auch Fingernägel und zusätzliche Utensilien aller Art verwendet. Ebenso wie die Klangerzeugung wurde der Generator selbst (Saiten) durch verschiedene Präparierungen verändert; eine grundsätzliche Möglichkeit der primären Veränderung des Tonmaterials ergeben auch vielfältige Skordaturen, die bei der Harfe sehr gut realisierbar sind. Nicht zuletzt wurden Elemente aus dem (experimentellen) Ä Musiktheater in Zusammenhang mit dem Harfenspiel gebracht. All dies und eine Reihe hochwertiger Kompositionen wandelten das im klassisch-romantischen Repertoire hauptsächlich »toposhaft« eingesetzte Instrument in eine vielfältige Klangquelle um, die den verschiedensten kompositorischen Konzepten gerecht wird. Auch die Bedeutung der Gitarre hat sich im Laufe der letzten Dekaden stark verändert. Das Instrument, das zuvor nur eine marginale Rolle in der europäischen Kunstmusik gespielt hatte, wurde mit anspruchsvollen Kompositionen bedacht und hat auch im Ensemble immer wieder einen Platz gefunden. Die Spieltechnik entwickelte sich auch hier vielfältig: Die Erweiterung und Ausdifferenzierung der traditionellen Spielweise, die Aufnahme von Techniken aus dem Bereich der Volks- und Popularmusik sowie aus der außereuropäischen Kunstmusik stehen neben der Entwicklung völlig neuer Spieltechniken. So sind Instrumente und Interpreten / Interpretinnen inzwischen Mikrotonalität, unterschiedliche Ausführungen von Vibrato, Tremolo, Arpeggio, Pizzicato, perkussive Klänge, Einsatz der verschiedensten Zupf-, Anschlag- und Streichmittel, Verwendung von Dämpfern, Präparierung usw. Bestandteile der zeitgenössischen Gitarrentechnik. Immer häufig findet auch die E-Gitarre Verwendung. 4.2 Repertoire Auch für die Harfe war die Produktion Berios aus den 1950er und 1960er Jahren in Solo-, Kammermusik- und Konzertkompositionen wegweisend (Différences für fünf Instrumente und Tonband, 1958–59/67; Circles für Frauenstimme, Harfe und zwei Schlagzeuger, 1960; Sequenza II, 1963; Chemins I für Harfe und Orchester, 1964). Bei Boulez (Improvisation I&II sur Mallarmé, 1957, und die konzertante Komposition Sur Incises, zweite Fassung für drei Klaviere, drei Harfen und drei Perkussionisten, 1998) ist eine gewisse »Weiterführung« der durch technische Durchdringung des Instruments und klangliche Feinheit gekennzeichneten französischen Tradition zu finden. Yun, Tōru Takemitsu, Carter, Holliger, Donatoni, Lachenmann (Concertini für Ensemble, 2004–05, mit u. a. konzertanter Harfenpartie) haben weitere wichtige Beiträge zur Harfenmusik geleistet. In der Konzertkomposition sind u. a. die Doppelkonzerte für Oboe, Harfe und Orchesterensembles unterschiedlicher Größe von Yun, Hans Werner Henze und Lutosławski zu nennen. Crumb, Mauricio Kagel und Sylvano Bussotti wiederum loteten überwiegend experimentelle Aspekte des Harfenspiels aus. Das Gitarrenrepertoire gewann ab den 1950er Jahren deutlich an Qualität und Differenzierung, wobei verschiedene Entwicklungsstränge bemerkbar sind. In Boulez ’ Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952– 55) sollte die Gitarre in mancher Hinsicht an die japanische koto erinnern, deren Repertoire allerdings keine Auswirkung auf die Kompositionsweise hatte (Boulez 1963/72, 138). In Hosokawas Gitarrenkonzert Voyage IX, Awakening (2007) dagegen werden idiomatische Elemente ostasiatischen Zupfinstrumentenspiels auf die Gitarre übertragen. Auch in Kagels Ä Instrumentalem Theater spielte die Gitarre bzw. der Gitarrist Wilhelm Bruck eine wichtige Rolle, etwa in Sonant (1960/…) für Gitarre, Harfe, Kontrabass und Fellinstrumente (1960). In Berios Sequenza XI (1988) sind »volkstümliche« Elemente wie das flamencotypische rasgueado, Tremoli etc. mit musiksprachlichen Elementen der Moderne kombiniert. Lindberg lieferte mit Mano a mano (2007) eine virtuose Solokomposition, die kaum über die Grenzen der klassischen Gitarrentechnik hinausgeht. Lachenmanns Salut für Caudwell für zwei Gitarristen (1977) dagegen verzichtet fast vollständig auf traditionelle Spieltechnik und lässt die gedämpften Gitar- 300 Instrumente und Interpreten / Interpretinnen renklänge sich an einen Sprechduktus annähern. Mit Mikrointervallik im Gitarrenrepertoire haben Klaus Huber (Dritteltönigkeit in Plainte  – Lieber spaltet mein Herz I für Viola [d ’ amore], Gitarre und Schlagzeug, 1992, und Plainte – Lieber spaltet mein Herz II für Altflöte, Gitarre und Schlagzeug, 1993) und Georg Friedrich Haas (reine Stimmung im Quartett für vier Gitarren, 2004) gearbeitet. Wichtige Beiträge zum Gitarrenrepertoire leisteten weiterhin Benjamin Britten (Nocturnal after John Dowland, 1963), Donatoni, Henze (Royal Winter Music, Erste und zweite Sonate über Gestalten von Shakespeare, 1975/79), Roman Haubenstock-Ramati, Goffredo Petrassi, Takemitsu u. a. Zusätzlich wurde die E-Gitarre immer wieder und mit unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen kompositorisch eingesetzt, so etwa in Fausto Romitellis Professor Bad Trip: Lesson I–III für Ensemble mit elektroakustischen Instrumenten (1998–2000) oder in Kompositionen von Helmut Oehring. Romitelli vermeidet nicht die toposhaften Verbindungen des Instruments zur Popularmusik; durch eine spektral geschulte, raffinierte Klangausarbeitung und durch die kompositorische Reflexion erhalten diese Topoi aber doch eine ganz neue Perspektivierung. Stellvertretend für viele weitere Kompositionen mit EGitarren-»Schwerpunkt« kann Billones Sgorgo-Zyklus für Solo E-Gitarre (2012–13) genannt werden. 4.3 Interpretinnen und Interpreten Ursula Holliger prägte (auch im gemeinsamen Musizieren mit ihrem Ehemann, das u. a. zur Entstehung der oben erwähnten Doppelkonzerte führte) die Entwicklung einer modernen Harfenmusik maßgeblich. Auch bei ihr überzeugte das hohe musikalisch-technische Können im gesamten (Harfen-)Repertoire, das eine Brücke zur neueren musikalischen Produktion bilden konnte und ihre Akzeptanz förderte. Zu den brillantesten Interpretinnen gehören weiterhin die Harfenistin des Ensemble Intercontemporain Frédérique Cambreling, die zahlreiche Uraufführungen neuerer Werke realisiert hat, und die Harfenistin der Berliner Philharmoniker Marie-Pierre Langlamet. Elliott Fisk ist einer der prägendsten Interpreten, der durch Transkriptionen das Gitarrenrepertoire historisch erweiterte und durch sein bahnbrechendes Spiel namhafte Komponisten für sein Instrument gewinnen konnte. Weitere Interpreten, die brillantes Spiel mit akzentuiertem Interesse für neue Musik verbinden, sind Wilhelm Bruck, Fred Frith, Franz Halász, Timo Korhonen, Tom Powels, Jürgen Ruck und der auch gerne mit E-Gitarre experimentierende Seth Josel, ebenso der Gitarrist und Leiter des israelischen Ensemble Nikel Yaron Deutsch. 5. Akkordeon 5.1 Spieltechnik Die Entwicklungen des Akkordeons in der neuen Musik können als rasant bezeichnet werden. Das Instrument, zuvor ausschließlich in der Popularmusik beheimatet, faszinierte aufgrund seiner vielfältigen Möglichkeiten viele Komponisten, wobei ein umfangreiches Repertoire entstand. Die Vorteile liegen auf der Hand: großer Umfang, erheblicher Reichtum an Klangfarben und Registerkombinationen, exzellente dynamische Bandbreite und Klangkontrolle, virtuoses Potenzial. Dazu kommen spezifische Möglichkeiten durch die Verwendung des Balgs (Balgrhythmus, -vibrato, -tremolo, Luftgeräusch), idiomatische Arten des Glissandos und der »Verstimmung« durch Manipulation des Blasdrucks wie auch perkussive Geräusche. Eine wichtige Weiterentwicklung für die Akkordeon-Komposition bedeutet das auf eine Idee Krassimir Sterevs zurückgehende Viertelton-Akkordeon (Strubinsky 2008). 5.2 Repertoire Herausragende Bedeutung für das neue AkkordeonRepertoire besitzt das Schaffen Hosokawas, der das Akkordeon offensichtlich als Pendant der ostasiatischen Mundorgel shō ansah (die chinesische Mundorgel sheng, Vorläuferin der shō, zählt tatsächlich zu den historischen Modellen des Akkordeons) und mit einer Reihe von Kompositionen für verschiedene Besetzungen seine klanglich-harmonischen Möglichkeiten idiomatisch erforschte. Berio verband in seiner Sequenza XIII (Chanson) (1995) kunst- und popularmusikalischen Duktus und integrierte bruchlos das von Komponisten sonst oft gemiedene Standardbassmanual. Die vielfältigen Möglichkeiten der Verbindung von Akkordeon mit dem Streicherklang loteten u. a. Yun, Rihm und Matthias Pintscher aus. Kagel leistete mit Episoden, Figuren – Solo für Akkordeon (1993) einen virtuosen und geistreichen Beitrag; mit ähnlichem esprit gewann Uroš Rojko der »heiklen« Kombination von Akkordeon und Klavier faszinierende Klangnuancen ab (Bagatellen, 1994, Tangos, 1995). Substanziell an der Entwicklung eines breit gefächerten Repertoires beteiligten sich weiterhin Czernowin, Globokar, Holliger, Adriana Hölszky, Klaus Huber, Nicolaus A. Huber, Lindberg, Gerhard Stäbler, Michael Hirsch u. a. 5.3 Interpretinnen und Interpreten Teodoro Anzellotti und Stefan Hussong (beide Schüler von Hugo Noth) sind die überragenden Interpreten der letzten Dekaden, die das Instrument so nachhaltig im Instrumentarium der neuen Musik verankerten, dass ein füh- 301 rendes Ensemble wie das Klangforum Wien eine Akkordeonistenstelle ständig besetzt (Krassimir Sterev). Auch hier waren eine makellose virtuose Beherrschung und eine starke musikalische Intelligenz maßgeblich, wobei die absichtsvolle Interdependenz von Altem und Neuem in speziell konzipierten Programmen mit alter (Barock-) und neuer Musik verschiedene Hörweisen miteinander verband und die polyhonen und klanglichen Fähigkeiten des Instruments neu beleuchtete. Zu den hervorragenden Interpretinnen und Interpreten gehören weiterhin Pauline Oliveros, Eva Zöllner, Janne Rättyä, Gerhard SchererRügert, die vielfältig ausgebildete Christine Paté u. a. 6. Tasteninstrumente 6.1 Spieltechnik Einen grundsätzlichen Aspekt zeitgenössischer Pianistik bildet die Komplexität des Klaviersatzes, wie er sich vor allem in seriellen und postseriellen Tendenzen manifestierte (Boulez, Stockhausen, Berio, Ligeti, Xenakis, Ferneyhough). Diese Komplexität betraf überwiegend rhythmische Organisation und die Überlagerung verschiedener Schichten, was mitunter zur Ä Notation in drei oder mehr Systemen führte. Extrem ausdifferenzierte Dynamik bis in kleinste »Partikel« hinein und eine absolute »Verfügung« des gesamten Tonraums mit teils sehr sprunghafter Schreibweise trugen weiterhin dazu bei, dass die Aufmerksamkeit für das Detail extrem geschärft, eine Darstellung des wie auch immer gearteten Zusammenhangs dabei aber entsprechend erschwert wurde. Bereits zu Beginn des 20. Jh.s auftretende Erweiterungen der traditionellen Spieltechnik wie Glissandi, Cluster, differenzierter Pedalgebrauch, Aktionen im Klavier und die vielfältigen Resonanzmöglichkeiten wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte weiter erforscht und systematisiert. Die Präparierung des Klaviers (Cage, seit 1938) brachte eine zunehmende Perkussivität und die Brechung der HalbtonTemperierung und der Homogenität der Klangfarbe. Auch die »Ausschaltung« der Hammermechanik durch direkten Zugriff auf die Saiten (Anschlagen, Dämpfen, Streichen, Zupfen, Reiben, Kratzen) entlockte neue Klanglichkeiten und kann als Übertragung der Spieltechnik anderer Instrumente auf das Klavier gesehen werden. Diese Übertragung wurde zum Teil radikalisiert, indem nahezu vollständig auf den Generator (Saiten) verzichtet wurde (Lachenmann, Guero, 1970/88). Historisch gesehen sind viele der erweiterten Spieltechniken von Henry Cowell erfunden und praktiziert worden, der pionierhaft damit arbeitete, so z. B. in Aeolian Harp (1923) (vgl. Cowell 1930/96). Als Beginn einer experimentellen Orgelmusik können die 1960er Jahre gesehen werden, wobei Bengt Hambraeus, Ligeti und Kagel Stücke schrieben, die die Orgelspiel- Instrumente und Interpreten / Interpretinnen technik revolutionierten (Verwendung von weiträumigen Clustern, sehr differenzierter Registergebrauch, Spiel mit reduziertem Winddruck, synthetische Produktion des Geräusches sowie Herausfilterung von Einzelklängen aus großen Klangmassen, Einbindung von Geräuschelementen, Kombination mit elektronischen Klangquellen etc.). Auch der Orgelbau reagierte teilweise auf solche neuen Anforderungen, indem Perkussionsregister und Vorrichtungen zur Erzeugung von flexiblem Winddruck eingebaut sowie die Möglichkeiten der Obertonregister erweitert wurden (Faber / Hartmann 2002). Noch stärker als die historische und funktionale Bindung der Orgel ist das Cembalo als (Haupt-)Instrument der Barockzeit konnotiert. Die eineinhalb Jahrhunderte lange »Lücke« in der Geschichte des Instruments wurde am Anfang des 20. Jh.s durch eine »Renaissance« beendet, wobei zunächst ein ahistorischer, auf Klaviererfahrungen basierender Instrumentenbau gepflegt wurde (Meer 1995, 526–528; Trinkewitz 1995, 533 f.). Anforderungen nach mehr Klangstärke, Farbenreichtum, intonatorischer Stabilität und dynamischer Modulationsfähigkeit diktierten die (nicht immer erfolgreichen) instrumentenbaulichen Veränderungen der neuen, industriell hergestellten Cembali. Auch wenn solche Instrumente heute kaum mehr benutzt werden, da sich etwa ab der Jahrhundertmitte allmählich eine Rückbesinnung auf die historischen Instrumente durchsetzte (ebd.), ist dafür ein Repertoire entstanden, das zu einer geschichtlichen Aktualisierung des Instruments wesentlich beitrug. Die Spieltechnik entwickelte sich eher durch immanente Kompositionsweise (ungewöhnliche Rhythmik, Registerbehandlung und Besetzungswahl, Cluster, spezielle Stimmungen u. a.) und weniger durch direkte Eingriffe ins Instrument (Präparierung) und in seine grundlegende Spieltechnik, die sich in diesem Sinne wenig »erweiterte«. 6.2 Repertoire Auch wenn das Klavier in Bezug auf eine klanglich »dynamische« Komponierweise, wie sie im 20. Jh. oft praktiziert wurde, deutliche Nachteile mit sich bringt (eine gewisse Starrheit in Klangerzeugung, -modulation und Intonation), ist das Klavierrepertoire seit den 1940er Jahren außerordentlich umfang- und facettenreich. So markieren oft Klavierstücke oder Werke mit Klavier den Abschluss einer Studienzeit (Boulez, 12 Notations, 1945; Stockhausen, Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger, 1951), die Findung einer ersten gültigen Sprache oder einen Wendepunkt (Carter, Piano Sonata, 1946; Boulez, Deuxième Sonate, 1946–48; Stockhausen, Klavierstücke I–IV, 1952–53), das Experimentieren mit neuen kompositorischen Mitteln und Möglichkeiten, so bspw. mit Instrumente und Interpreten / Interpretinnen seriellen Techniken (Messiaen, Quatre études de rythme, 1949–50; Boulez, Structures I für zwei Klaviere, 1951), Ä Zufall und Aleatorik (Cage, Music of Changes, 1951; Stockhausen, Klavierstück XI, 1956), elektronischen Klangquellen (Stockhausen, Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug, 1958–60; Babbitt, Reflections for piano and synthesized tape, 1975), Klangerweiterung (Cage, Sonatas and Interludes for Prepared Piano, 1946–48). Sogar spektrale Konzeptionen, für die das Klavier zunächst »untauglich« erscheinen mochte, haben das Klavier prominent einbezogen, etwa Tristan Murail in Territoires de l ’ oubli (1976–77) und (im Ensemble) in Treize couleurs du soleil couchant für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier mit Elektronik ad libitum (1978) sowie Grisey in Vortex temporum (1994–96) und Hugues Dufourt in zahlreichen Komposition für und mit Klavier. Messiaen schuf eine unverwechselbare, von rhythmisch-klanglicher Energie und Farbigkeit gekennzeichnete Pianistik (Vingt Regards sur l’Enfant Jésus, 1944, die verschiedenen »Vogelstimmen«-Kompositionen, Turangalîla-Symphonie für Solo-Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester, 1946–48 u. a.). Conlon Nancarrow entwickelte, einer Idee Henry Cowells folgend (Cowell 1930/96, 65, 104), die in den 1910er und 20er Jahren u. a. durch Strawinsky und Hindemith begonnene Tradition der Komposition für mechanisches Klavier mit seiner Reihe der Studies for Player Piano (ca. 1948–1977) zu äußerster rhythmisch-metrischer Komplexität. Für Ligeti war das Klavier das Instrument der kompositorischen Neuorientierung der 1980er Jahre: das Klavierkonzert (1984–88) und seine 18 Klavieretüden (1985–2001) sind von Polyrhythmik und -metrik durchdrungene Kompositionen, die u. a. vom Nancarrowschen Impuls und einer Rezeption afrikanischer Musik (Ä Afrika) ausgehend an die virtuose Pianistik des 19. Jh.s anknüpften. Auch Xenakis schrieb eine eigentümliche, sowohl komplexe als auch zupackende, in die verschiedensten Besetzungen eingebettete Klaviermusik (u. a. Herma für Klavier, 1960–61, Eonta für Klavier und Blechbläserquintett, 1963–64). Kurtág benutzte das Instrument in seinem »tagebuchartigen« work in progress Játékok (1973–). Die Liste der Komponisten, die Substanzielles zur neueren Klavierliteratur beitrugen, ist sehr lang, nur einige können in diesem Rahmen erwähnt werden: Jean Barraqué, Berio, Birtwistle, Crumb, Paul-Heinz Dittrich, Pascal Dusapin, Morton Feldman, Ferneyhough, Michael Finnissy, Hosokawa, Kagel, Kyburz, Lutosławski, Manoury, Nono, Rihm, Sciarrino, Mathias Spahlinger, Stroppa, Walter Zimmermann, Yun u. a. An die von Charles Ives, Alois Hába und Ivan Wyschnegradsky initiierte Tradition des Vierteltonklaviers knüpften in der zweiten Jahrhunderthälfte u. a. Haas und Alain Bancquart an. 302 Überragende Bedeutung im Orgelrepertoire besitzt das außerordentlich reiche Werk Messiaens, das auch »abstrakte« Kompositionen wie das Livre d ’ orgue (1951) kennt. Ausschlaggebend für experimentelle Entwicklungen waren Hambraeus ’ Interferenzen (1962), Ligetis Volumina (1961–62/66) und Kagels Improvisation ajoutée (1961–62/68). Cage, Xenakis, Yun, Theo Brandmüller und Juan Allende-Blin, Petr Eben, Stäbler, Hans-Joachim Hespos haben das noch verhältnismäßig überschaubare neue Orgelrepertoire erweitert. Bezeichnend für eine neue Cembalomusik, die einerseits instrumentenspezifisch ist und andererseits verblüffend »anders« klingt, sind Ligetis Kompositionen Continuum (1968), Passacaglia ungherese (für mitteltönig gestimmtes Cembalo) und Hungarian Rock (beide 1978). Xenakis konnte das Instrument vielfältig in verschiedene Besetzungen einbinden und verlieh ihm durch rhythmische Prägnanz in Kombination mit ungewöhnlichen Tonlagen neues Profil (Khoai für Cembalo, 1976; À l’Île de Gorée für [verstärktes] Cembalo und 12 Instrumentalisten, 1986). Berios Solowerk Rounds (1965) lotet die Möglichkeiten aberwitziger Virtuosität und den rauschenden Klangcharakter des Instruments aus und Donatonis Cembalokonzert Portrait (1977) bettet es in einen vollen Orchesterklang ein. Bemerkenswert ist die häufige Kombination des Cembalos mit Schlaginstrumenten (Xenakis, Carter, Edisson Denissow). Weiterhin haben Henze, Yun, Maurice Ohana, Luis de Pablo u. a. für Cembalo komponiert. 6.3 Interpretinnen und Interpreten An der Entwicklung der neuen Klaviermusik nach dem Zweiten Weltkrieg waren Interpretinnen und Interpreten wie Alfons und Aloys Kontarsky, David Tudor und Yvonne Loriod maßgeblich beteiligt. Sie arbeiteten intensiv mit Komponisten zusammen, regten neues Repertoire an und verbreiteten es und waren als Klavierpädagogen tätig. Bei den sog. »Starpianisten« war die Haltung gegenüber neuerer Klaviermusik insgesamt reserviert, sieht man von Maurizio Pollini, der mit Nono zusammenarbeitete und wichtige Stücke mit Referenzaufnahmen (z. B. Boulez ’ 2. Klaviersonate) bedachte, und in geringerem Maß von Krystian Zimerman ab. Pierre-Laurent Aimard machte sich zuerst als Messiaen-Interpret einen Namen, bevor er sein Repertoire erheblich erweiterte. Roger Woodward, Yūji und Aki Takahashi, Claude Helffer, Herbert Henck, Volker Banfield, Marianne Schroeder waren weitere wichtige Verfechter neuer Musik für Klavier. Einer jungen, brillanten Generation, die Klangkultur mit Präzision des Spiels verbindet, gehören u. a. Fredrik Ullen und Marilyn Nonken, ferner Nicolas Hodges, Ian Pace und Benjamin Kobler an. 303 Gerd Zacher trug maßgeblich zur Entstehung und Erweiterung der neuen Musik auf der Orgel bei. Auch Zsigmond Szathmáry hat sich in diesem Bereich verdient gemacht. Ähnlich wie Wanda Landowska für die »Cembalo-Renaissance« der ersten Hälfte des 20. Jh.s in großem Maße verantwortlich war, hängen die Entwicklungen eines zeitgenössischen Cembalo-Repertoires mit engagierten Interpretinnen eng zusammen, die die Entstehung neuer Werke angeregt haben: Sylvia Marlowe, Antoinette Vischer, Mariolina de Robertis und Elisabeth Chojnacka. 7. Schlaginstrumente 7.1 Spieltechnik Das Schlagzeug wurde im 20. Jh. durch außereuropäische Instrumente, Instrumente aus der Unterhaltungsmusik und aus dem Ä Jazz sowie durch den perkussiven Einsatz von Geräten oder von Naturgegenständen wie Steine oder Holz und Alltagsobjekten wie Bremstrommeln, Töpfe, Flaschen, Papier, Gummibälle oder den Water Gong ausgeweitet (Avgerinos 1967; Smith Brindle 1991; François 1991; Engelmann 1992). Darüber hinaus wurden Perkussionsinstrumente auch mit unterschiedlichen Materialien präpariert, neu gebaut oder durch Elektronik erweitert (Mowitt 2002). Präparationen umfassten vor allem die Auflage oder Befestigung von Steinen oder anderen Gegenständen auf oder an Fellinstrumenten. Das präparierte Klavier betrachtete John Cage ebenfalls als Perkussionsinstrument (Bunger 1981). Eine ganze Reihe eigener Perkussionsinstrumente, die auch heute noch Verwendung finden, hat Harry Partch in den 1930er Jahren im Kontext seiner Beschäftigung mit Mikrotonalität und reiner Stimmung erfunden und gebaut (Gilmore 1998). Spieltechniken für Schlaginstrumente wurden auf allen Musikinstrumenten angewandt, auch die Ä Stimme wurde perkussiv eingesetzt. Umgekehrt konnten Schlaginstrumente wie Becken oder Gongs sowie Klangplatten auch mit einem Bogen gestrichen oder das Fell von Instrumenten mit einem Gummiball gerieben werden, um gehaltene Flageolett-Töne oder besondere Obertonspektren zu erzeugen. Damit sind alle Schlaginstrumente auch als Melodieinstrumente einsetzbar geworden. 7.2 Repertoire Das Schlagzeug hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jh.s von seiner funktionellen Einbindung im Orchester, in der Oper oder in der Militärmusik emanzipiert. Mit zunehmender Bedeutung und Differenzierung von Rhythmus, Metrum und Klangfarbe entstanden viele Kompositionen, in denen das Schlagzeug nicht mehr auf den Bereich von Takt und Tempo oder auf die Ebene der Effekte reduziert ist. Stattdessen wurden Schlaginstrumente in den Vor- Instrumente und Interpreten / Interpretinnen dergrund gestellt oder als eigene Klanggruppe behandelt, etwa im Live Pulse Prelude der Universe Symphony (ca. 1911–28) von Ives, in Strawinskys Le sacre du printemps (1911–13), in George Antheils Ballet mécanique (1924), in Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936), im »Schulwerk« von Carl Orff oder bei Cage seit seinem Quartet (1935) oder der First Construction (in Metal) (1939). Kompositionen für Schlagzeugensembles entstanden ab den 1920er Jahren, etwa Edgard Varèses Ionisation (1929–31) oder Amadeo Roldáns Ritmicas (1930). Darüber hinaus wurden neue Instrumente aus dem Schlagzeug auch solistisch verwendet, Darius Milhaud schrieb 1947 ein Konzert für Marimbaphon, Vibraphon und Orchester. Stücke für Schlagzeugensembles wurden seit den 1950er Jahren fortgesetzt, etwa durch Carters Eight Pieces for Four Timpani (1950–66) sowie in der Reihe der Werke von Xenakis durch Persephassa (1969) und Pléïades (1978) (beide für sechs Schlagzeuger) oder in der Ä Minimal Music durch Werke wie Steve Reichs Drumming (1970–71). Weitere Ensemblestücke für Schlagzeug aus dieser Zeit sind das Trio für Vibraphon, Marimbaphon und Perkussion I Riti – I Funerali d’Achille (1962) von Scelsi oder Continuum. Sextett für Schlaginstrumente (1965– 66) von Kazimierz Serocki sowie Sciarrinos Un fruscìo lungo trent ’ anni (1967/99) für vier Schlagzeuger, Georges Aperghis ’ Kryptogramma (1970) für sechs Schlagzeuger oder Tōru Takemitsus Rain Tree (1981) für Schlagzeugtrio. Mauricio Kagel hat sein Instrumentales Theater mit dem Schlagzeugtrio für Holzinstrumente Dressur aus den Quatre degrés (1977) auf Perkussionisten, die auch zu Darstellern werden, ausgedehnt. Aus der Beschäftigung mit Antonin Artaud entstand 1981 Wolfgang Rihms Tutuguri IV (Kreuze) für sechs Schlagzeuger. Gérard Grisey hat sich in Tempus ex machina (1979) für sechs Schlagzeuger mit Zeitstrukturen beschäftigt und in Le noir de l ’ étoile (1989–90) sechs Schlagzeuger im Raum verteilt, die die live-elektronische Musik aus Abstrahlungen eines Pulsars, eines verglühten Sterns, entwickeln. Naturphänomene sind auch in den Werken für Schlagzeugensembles von John Luther Adams grundlegend. Seit den späten 1950er Jahren entstand eine ganze Reihe von virtuosen Stücken für Soloschlagzeug, u. a. Stockhausens Zyklus (1959), Feldmans The King of Denmark (1964), Lachenmanns Intérieur I (1965–66), Xenakis ’ Psappha (1975) und Rebonds (1988), Dufourts Plus oultre (1990), David Langs The Anvil Chorus (1990), Ferneyhoughs Bone Alphabet (1991) oder Romitellis Golfi d ’ ombra (1993) (Brüstle 2009). Werke für und mit Schlagzeug aus den letzten Jahrzehnten spiegeln die pluralistischen Tendenzen der neuen Musik, doch einige Aspekte lassen 304 Instrumente und Interpreten / Interpretinnen sich hervorheben: rhythmische Virtuosität in Schlagzeugkompositionen und -improvisationen blieb ein zentrales Element, bspw. in der Minimal Music, doch sie wurde gleichrangig ergänzt durch eine hohe Konzentration auf Klangprozesse und Klangwirkungen im Raum. Aus den Choreographien des perkussiven Spiels wurden komponierte Bewegungen wie in Lachenmanns Intérieur I oder theatrale Inszenierungen des Musikmachens auf dem Konzertpodium wie in den Ensemblestücken von Partch. Die Erweiterung des perkussiven Instrumentariums bezog auch den Ä Körper ein, so in Globokars ?Corporel (1985), Robin Hoffmanns An-Sprache (2000) oder Uwe Raschs Musik als Leibesübung (1993–2009) (Zenck u. a. 2001). Perkussionsinstrumente, perkussiv genutzte Objekte und Materialien oder perkussiv behandelte Stimmen sind darüber hinaus wichtige Komponenten in live-elektronischen Stücken. Bereits in Imaginary Landscape No. 1–3 (1939–42) hat Cage Perkussionsinstrumente und -objekte mit elektroakustischen Geräten kombiniert. Varèses Déserts für Blasinstrumente, Perkussion, Klavier und Zuspielband (1949–54) und Stockhausens Mikrophonie I für Tamtam, zwei Mikrophone, zwei Filter und Regler (1964) sind zwei weitere Schlüsselwerke für Schlagzeug mit Live-Elektronik. Perkussion spielt auch in multimedialen Projekten und im zeitgenössischen Musiktheater eine wichtige Rolle, bei Heiner Goebbels oder Giorgio Battistelli ebenso wie bei Adriana Hölszky, Manos Tsangaris, Carola Bauckholt oder Elena Mendoza. 7.3 Interpretinnen und Interpreten Musikerinnen und Musiker wie Max Neuhaus, Christoph Caskel, Jean-Pierre Drouet, Sylvio Gualda, Michael W. Ranta, Steven Schick, Keiko Abe, Robyn Schulkowsky oder Evelyn Glennie, David Cossin, Edgar Guggeis, Matthias Kaul, Isao Nakamura, Rumi Ogawa, Michael Wertmüller, Sven-Åke Johansson, Simone Beneventi, Zoro Babel oder Christian Dierstein sind als Experten zeitgenössischer Schlagzeugmusik bekannt geworden, die teilweise das Schlagzeugrepertoire auch mitbestimmt und kompositorisch bereichert haben (Wagner 1996; Schick 2006). Eine ähnliche Funktion kommt Ensembles wie Les Percussions de Strasbourg, Kroumata, Sō Percussion, Nexus oder Third Coast Percussion zu. Weitere Ensembles mit zeitgenössischem Repertoire sind etwa das Schlagquartett Köln, die Yale Percussion Group, das Leipziger oder das Freiburger Schlagzeugensemble. Ä Dirigierien; Interpretation; Orchester; Kammerensemble; Multiphonics; Streichquartett Abbas, Esmat: Klangliche Eigenschaften des Kontrabasses. Spektralanalytische und historische Untersuchungen zum Bau und zum Klang (Kölner Beiträge zur Musikforschung / Akustische Reihe 13), Regensburg 1989 „ Arditti, Irvine / Platz, Robert HP: Die Spieltechnik der Violine, Kassel 2013 „ Avgerinos, Gerassimos: Handbuch der Schlag- und Effektinstrumente, Frankfurt a. M. 1967 „ Bach, Michael: Fingerboards and Overtones. Pictures, Basics and Model for a New Way of Cello Playing, München 1991 „ Bajzek, Dieter: Percussion. 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Erika Fischer-Lichte, Christian Horn und Matthias Warstat, Tübingen 2001, 345–368 Emmanouil Vlitakis / Christa Brüstle (Schlaginstrumente) Intermedialität Intermedialität bezieht sich auf eine Medienkombination, einen Medienwechsel oder auf intermediale Bezüge zwischen Künsten, Genres oder Diskurstypen und ist abzugrenzen von Intramedialität als pluriperspektivische Eigenschaft eines einzelnen Mediums und Infra-, Trans- oder Multimedialität als spezifische Verhältnisse von Medien zueinander wie etwa eine Übersetzung oder eine gemeinsame themenbezogene Ausrichtung (Rajewsky 2002). Die Anwendung von Intermedialitätstheorien in den Kunstwissenschaften erfordert in der Regel eine reflektierende Diskussion des Medienbegriffs, der sich inzwischen nicht mehr auf Massenmedien reduzieren lässt (Laagay / Lauer 2004; Ä Medien). Ein Medium kann als Instrument, Apparat, Werkzeug oder Struktur zur Informationsvermittlung und Welterfahrung, aber auch als formbares Material verstanden werden (Spielmann 1995; Krämer 2000). In den 1960er Jahren stellte der amerikanische Fluxuskünstler Dick Higgins (1938–1998) mit dem Begriff »Intermedia« einen theoretischen Ansatz vor, um Ä Collagen oder Fusionen aus unterschiedlichen Künsten zu erklären (Higgins 1966). Dabei legte er den Schwerpunkt nicht auf die Verbindungs- oder Verklammerungselemente zwischen den Künsten, sondern auf die Ergebnisse ihrer Kombinationen, die sich als Ä Gattungen nicht mehr eindeutig bestimmen ließen. Grenzüberschreitende Tendenzen, Übergänge und Dialogizität betrachtete Higgins als spezifische Merkmale der Kunst im 20. Jh., obwohl er darauf hinwies, dass der Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) bereits seit 1812 den Begriff »Intermedia« auf ähnliche Aspekte bezogen hatte (Coleridge 1811–18/83). In den 1980er Jahren bestimmte Dick Higgins den Begriff »Intermedia« allerdings nun auch als Fusion künstlerischer Formen (Higgins 1984). Richard Kostelanetz (1968) bezeichnete mit »Intermedia« gattungsübergreifende künstlerische Aktivitäten in den 1960er Jahren, verwendete dafür daneben aber auch die Formulierung »Theatre of Mixed Means«. Er bezog sich auf »pure happenings, kinetic environments, staged happenings, and staged performances« (ebd., 4), auf Konzepte und Aufführungen etwa von John Cage, Allan Kaprow, Ann Halprin, Claes Oldenburg oder Robert Rauschenberg. Damit hob Kostelanetz Tendenzen hervor, die gegen eine zunehmende »Synchronisierung« der Medien im Theater oder in der Oper gerichtet waren: »in the new theatre, the components generally function nonsynchronously, or independently of each other, or each medium is used for its own possibilities« (ebd.). Zugleich betonte er, dass das »Theatre of Mixed Means« nicht ergebnis-, sondern prozessorientiert sei, »it employs various media of communication to create a field of activity that appeals to the total sensorium« (ebd., 9). Durch die literaturwissenschaftliche Ausprägung von »interart studies« und durch die Erweiterung von medienwissenschaftlichen Forschungen hat sich Intermedialität in den 1990er Jahren als Theorieansatz etabliert (Rajewsky 2002). Im Bereich der Musik betrifft Intermedialität hauptsächlich die Verknüpfung und Kombination von Musik mit anderen Künsten sowie die Verquickung oder Überlagerung von musikalischen Genres und Aufführungsformaten. Bei einem Medienwechsel steht im Vordergrund, dass ein Gedicht, eine Erzählung oder ein Bild in Musik bzw. Klang umgesetzt wird, wie etwa in der Sinfonischen Dichtung oder in Kompositionen nach Landschaftsbeschreibungen (Ä Neue Musik und bildende Kunst, Ä Neue Musik und Literatur). Bei einer Medienkombination wird 306 Internet die Gleichzeitigkeit von Musik, Ä Film, Text, Malerei oder Skulptur im Sinne von Multi-, Pluri- oder Polymedialität fokussiert (Cook 1998). Beispiele dafür bieten etwa Luigi Nonos »azione scenica« Intolleranza 1960 (1960–61), viele Bühnenwerke von Heiner Goebbels (Ä Musiktheater) oder Richard Barretts und Per Inge Bjørlos Konzertinstallation Dark Matter (Berlin 2003; Ä Themen-Beitrag 6, 15.). Dabei schaffen Einzel- oder Systemreferenzen in solchen Werken intermediale Bezüge, die aus Produzenten- und Rezipientenperspektive interpretiert werden können. In Dark Matter entstehen z. B. Bezüge zwischen der komponierten »Landschaft«, Texten und Inszenierung, die als multiperspektivischer Raum aus Skulpturen, Sitzgelegenheiten und Podesten angelegt ist. Solche intermedialen Bezüge sind also einerseits kalkulierbar und können strategisch provoziert werden, andererseits kommen sie erst in der individuellen Ä Rezeption eines Kunstwerks ganz zur Wirkung. Ähnliche Strukturen zeigen sich in der Ä Klangkunst, etwa wenn hier Kombinationen aus Klang, Raum, Objekten und Licht mit installativem Charakter präsentiert werden. Dabei beruht eine Klanginstallation im öffentlichen Raum auf anderen Grundbedingungen als eine Klangskulptur in einem Kirchenraum. Intermediale Bezüge ergeben sich daher hauptsächlich aus der Lokalität und spezifischen Akustik der topographischen Umgebung und der Installation von Klang, mit der an diese Raumspezifik angeknüpft wird. In Arbeiten von Rolf Julius etwa sind kaum inszenatorische Strategien bemerkbar, trotzdem ist es die Stille oder das Rauschen in einem Raum, an die seine Klänge angelagert sind. Zugleich hat er oft Lautsprecher und Kabel in Bezug gebracht zu Naturmaterialien wie Steine und Erde, indem er ihren Objektcharakter hervorgekehrt und damit wiederum intermediale Bezüge hergestellt hat. Mit elektroakustischen Medien oder visuellen Medien wie Film und Video sowie mit neuen Kommunikationsmedien und »social media« hat sich im 20. Jh. nicht nur der Medienbegriff, sondern haben sich auch die Medientechnologie und ihre künstlerische Anwendung sowie die Mediendiskurse gewandelt. Die Entstehung von LiveElektronik bei John Cage, Gordon Mumma oder Karlheinz Stockhausen etwa forderte Diskussionen zu den Themen Lebendigkeit und Künstlichkeit heraus. Installative Arbeiten mit audiovisuellen Medien wie z. B. Projekte von Peter Vogel oder David Rokeby lösten Diskussionen zu den Themen Partizipation und Interaktivität aus (Dinkla 1997; Winkler 1998). Mit der Entwicklung von Musik im Ä Internet bzw. »Netzmusik« (Föllmer 2005) verknüpften sich diese Diskurse mit der Frage nach der musikalischen Spezifik einer »connected intelligence« (Kerckhove 1997) im virtuellen Raum. In diesem Zusammenhang ist insbe- sondere auf die seit den 1970er Jahren entwickelten »network music performances« der amerikanischen Gruppe HUB hinzuweisen. Intermedialität bezieht sich daher auch auf spezifische Formen der Vernetzung von Medien und der damit zusammenhängenden Handlungsoptionen für Nutzer. Der Computer kann dabei als »Universalmedium« betrachtet werden, dem Intermedialität inhärent ist (Schröter 2004). Ä Themen-Beiträge 5, 6; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Film / Video; Medien; Musiktheater Breder, Hans / Busse, Klaus-Peter (Hrsg.): Intermedia. Enacting the Liminal, Dortmund 2005 „ Coleridge, Samuel Taylor: Lectures and Notes on Shakespeare and other English Poets [1811–18], London 1883 „ Cook, Nicholas: Analysing Musical Multimedia, Oxford 1998 „ Dinkla, Söke: Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute, Karlsruhe 1997 „ Föllmer, Golo: Netzmusik. Elektronische, ästhetische und soziale Strukturen einer partizipativen Musik, Hofheim 2005 „ Föllmer, Golo / Gerlach, Julia: Audiovisionen. Musik als intermediale Kunstform, www. medienkunstnetz.de/themen/bild-ton-relationen/audiovisionen (5. 5. 2015) „ Helbig, Jörg (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998 „ Higgins, Dick: Intermedia, in: Something Else Newsletter 1/1 (1966) „ ders.: Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale IL 1984 „ Kerckhove, Derrick de: Connected Intelligence. The Arrival of the Web Society, Toronto 1997 „ Kostelanetz, Richard: The Theatre of Mixed Means. 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Selbstdarstellung und wissenschaftliche Reflexion „ 4. Das Internet als künstlerisches Medium Als weltweiter Verbund von Rechnernetzwerken ermöglicht das Internet die Nutzung von Diensten, deren be- 307 kannteste das World Wide Web und E-Mail sind. Während der zurückliegenden beiden Jahrzehnte hat seine Verbreitung zu umfassenden Umwälzungen in vielen Lebensbereichen sowie zu einem grundlegenden Wandel des Kommunikationsverhaltens und der beruflichen wie privaten Mediennutzung geführt. Seit Mitte der 1990er Jahre wandelte sich das Internet von einem wertfreien, zumeist auf Wissenschaftsdiskurse und Chat- oder Newsgroups beschränkten Kommunikationsnetzwerk zu einem verstärkt von kommerziellen Erwägungen geprägten Massenmedium (Ä Medien). Mit dem sogenannten Web 2.0 wurden ab den 2000er Jahren Webseiten populär, deren mit Audio- und Videoanteilen angereicherte Inhalte von Nutzern nicht nur passiv rezipiert, sondern auch um eigene Beiträge ergänzt werden können. Hierzu zählen etwa Blogs als private Meinungsportale, von losen Autorengemeinschaften geschaffene Seiten nach dem Wiki-Prinzip wie die Internet-Enzyklopädie Wikipedia (de.wikipedia.org) oder soziale Netzwerke wie Facebook (facebook.com), Twitter (twitter.com) und YouTube (youtube.com), bei denen der bidirektionale Austausch von Inhalten im Vordergrund steht. Aufgrund der Möglichkeit zur schnellen Veränderung unterliegen die im Internet abrufbaren Inhalte einem ständigen Wandel, wodurch der Anspruch auf Endgültigkeit unterlaufen wird. Durch lokale und globale Verlinkung von Internetseiten kann zudem die einem traditionellen Text innewohnende Linearität zugunsten eines mit netzartigen Verknüpfungen operierenden Hypertexts aufgehoben werden. 1. Digitale Distribution Das Internet hat zu einer starken Veränderung des Nutzerverhaltens bezüglich traditioneller Medieninhalte geführt. In vielen Bereichen hat sich mittlerweile die digitale Distribution als direkter Vertrieb digitaler Inhalte (Printerzeugnisse, Musik und Ä Film sowie Software samt Lizenzen) über das Internet unter Verzicht auf den Transfer physikalischer Medien durchgesetzt. Als einer der ersten Anbieter griff der Konzern Apple 2003 mit seinem kommerziellen iTunes Store das bereits Ende der 1990er Jahre von illegalen Musiktauschbörsen wie Napster praktizierte Modell der digitalen Musikdistribution auf. Seither hat sich diese Vertriebsart auch auf Angebote des Printsektors wie E-Books oder Notenmaterial ausgedehnt. Immer mehr Künstler und Musiklabels nutzen zudem die Möglichkeit, ihre Erzeugnisse selbst über entsprechende Download-Portale oder Shops zu verbreiten. Zu den digitalen Angeboten zählen auch neue Verbreitungsmodelle für Musik und Video als Streaming Media, also auf Grundlage einer gleichzeitigen Übertragung und Wiedergabe von Video- und Audiodaten über Internet das Internet. Kostenpflichtige Streaming-Dienste für alle Arten von Musik wie Spotify (spotify.com), Google Play (play.google.com) oder Apple Music sowie Anbieter von Video-Streaming wie Netflix (netflix.com) werden hierbei ergänzt durch gleichfalls kommerzielle Angebote, bei denen die Live-Übertragung von Konzerten im Mittelpunkt steht. Beispielhaft hierfür ist die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker (digitalconcerthall.com), deren Inhalte entweder direkt im Internetbrowser oder mit entsprechend ausgerüsteten Fernsehern und Blu-ray-DiscSpielern abgerufen und wiedergegeben werden können. 2. Archive und Materialsammlungen Nicht nur Anbieter wie die Digital Concert Hall gewähren neben dem Abruf aktueller Konzerte auch Zugriff auf einen umfangreichen Bestand archivierter Aufzeichnungen; auch Rundfunk und Fernsehen, bei denen sich zunehmend die Grenzen zwischen herkömmlicher Sendestruktur und einer ins Internet verlagerten Präsentation überlagern, ergänzen ihre Programmangebote mittlerweile durch Medienarchive, die einen nachträglichen, oft jedoch nur zeitlich begrenzten Abruf vom Sendungen ermöglichen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Initiativen, die sich um eine Verfügbarmachung gemeinfreier Medieninhalte aller Art bemühen. So ermöglicht die Petrucci Music Library (imslp.org) den Zugriff auf Digitalisate gemeinfreier Noten und Partituren (zumeist im pdf-Format), während das Internet Archive (archive.org) Inhalte wie Bücher, Filme oder Musik in unterschiedlichen Dateiformaten zur Verfügung stellt. Stärker auf Avantgardebewegungen, experimentelle Musik und Ä Performance bezogen ist demgegenüber das Portal UbuWeb (ubu.com), das aufgrund seiner großzügigen Auslegung des Urheberrechts als ebenso bahnbrechend wie umstritten gilt. Besonders stark von der Wechselwirkung mit den Nutzern abhängig sind demgegenüber Webseiten wie Aporee.org (aporee.org), die sich der Dokumentation von »Feldaufnahmen« und ihrer Kartierung widmet, oder die frei zugängliche Klangsammlung der kollaborativen Datenbank Freesound (freesound.org). Vergleichbares gilt aber auch für Videoportale wie YouTube oder Vimeo (vimeo.com), die, wie auch das Audioportal Soundcloud (soundcloud.com), in jüngster Zeit zunehmend zu Präsentationsforen für Komponisten und Musiker und damit zum Ort der Dokumentation von Werken, Vorträgen, Performances oder Aufführungen geworden sind (Herzberg 2012). Darüber hinaus wird das dort zugängliche Material verstärkt für medienbezogene Arbeiten in Anspruch genommen (Kampe 2014). So verweist bspw. Stefan Prins durch Integration von Drohnenvideos aus Kriegsgebieten in seine Komposition Generation Kill für Ensemble, vier 308 Internet Gamekontrollers, vier Videoprojektionen und Live-Elektronik (2012) auf die zunehmende Ununterscheidbarkeit von medial vermittelter und virtueller Realität, während Martin Schüttler in schöner leben 7 für Saxophon mit Fußkeyboard, Kopfhörer, Verstärkung und Zuspielungen (2011) seinen Interpreten die Unfähigkeitsdemonstrationen eines im YouTube-Video dokumentierten Anfängers nachvollziehen lässt. Zugleich nutzen viele im Bereich der zeitgenössischen Musik tätige Interpreten und gelegentlich auch Ä Institutionen das Internet zur Dokumentation experimenteller Spieltechniken (Kampe 2015, 273 f.; Ä Instrumente und Interpreten). Beispiele hierfür bieten die Internetseiten der Klarinettistin Heather Roche (heatherroche.net) und der Harfenistin Gunnhildur Einarsdóttir (sites.siba.fi/web/ harpnotation/harp) sowie das Forschungsprojekt Cello Map der Hochschule für Musik in Basel (cellomap.com). Charakteristisch für solche didaktisch angelegten Materialsammlungen sind zudem die Videos des Komponisten und Schlagzeugers Matthias Kaul, die in Form von Anleitungen die Spielweisen selbst gebauter Instrumente wie des »Overtone Triangle« (youtube.com/ watch?v=jZT0cejiVnI) oder der »Musical Toothbrush« (youtube.com/watch?v=ot2eZZQh8mg) erklären und damit zu einer »spezielle[n] Form der Repertoire- und Interpretationspflege aus erster Hand« beitragen (ebd., 274). 3. Selbstdarstellung und wissenschaftliche Reflexion In vielen Fällen fungieren soziale Netzwerke und Blogs als Orte der (Selbst-)Darstellung von Künstlern mit dem Ziel, die Ä Rezeption des eigenen Schaffens zu lenken. So stellt Johannes Kreidler auf seiner Internetpräsenz (kreidlernet.de) nicht nur eine umfassende Sammlung von Dokumenten zu seinem Schaffen und dessen Rezeption in den Medien zur Verfügung, sondern nutzt darüber hinaus den Blog Kulturtechno (kulturtechno.de) zur thesenartigen Formulierung ästhetischer Ansätze sowie zur Präsentation von Fundstücken aus dem Internet (Kreidler 2014). Ein differenzierteres Beispiel bietet der Internetauftritt von Karlheinz Essl (essl.at), der nicht nur anhand von Audiound Videomaterial Einblicke in die Aktivitäten des Komponisten und Performers erlaubt, sondern auch seine in der Praxis eingesetzten Softwarelösungen dokumentiert und über Sekundärliteratur in die kritische Auseinandersetzung mit seiner Arbeit einführt. Solchen auf das persönliche Schaffen abgestimmten Seiten stehen Portale gegenüber, die sich unter Rückgriff auf im Internet zugängliche mediale Inhalte mit dem Potenzial des zeitgenössischen Kunst- und Musikschaffens auseinandersetzen. So versammelt das Portal Medien Kunst Netz (medienkunstnetz.de) eine Fülle von wissen- schaftlichen Texten zu allen Arten von medienbasierter Kunst, während die Internetseite See this Sound (seethis-sound.at) der Verbindung von Bild und Ton in Kunst, Medien und Ä Wahrnehmung nachspürt (Ä Neue Musik und bildende Kunst, Ä Synästhesie). Die interaktive Lernplattform musicademy (musicademy.de) wiederum widmet sich unter Bezug auf Filme, Texte, Audio-Streams und digital aufbereitetes Arbeitsmaterial der pädagogischen Ä Vermittlung zeitgenössischen Musikschaffens. Solche eher selten aktualisierten Seiten überschneiden sich mit Online-Publikationsorganen, deren Inhalte ständig erweitert werden. Exemplarisch hierfür ist das Online-Magazin Norient (norient.com), das sich als »network for local and global sounds and media culture« versteht und wissenschaftliche oder journalistische Texte durch Audio- und Videomaterialien ergänzt. Auch andere Publikationsorgane nutzen inzwischen das Potenzial frei zugänglicher internetbasierter Präsentationsformen (Open Access), was im Idealfall sowohl die Einbindung von Medieninhalten wie auch die Wechselwirkung mit Nutzerkommentaren und damit den wissenschaftlichen Dialog bis hin zur Revision von Texten ermöglicht. Mit Inhalten zum zeitgenössischen und kulturell übergreifenden Musikschaffen zählen hierzu bspw. das Body, Space & Technology Journal (people.brunel.ac.uk/bst/home.html), die Zeitschrift für Musik & Performance ACT (act.uni-bayreuth.de), das Journal of Sonic Studies (sonicstudies.org), die Zeitschrift Music & Politics (quod.lib.umich.edu/m/ mp/) oder das Disziplinen übergreifende Journal of Artistic Research (jar-online.net). 4. Das Internet als künstlerisches Medium Für die Einbeziehung des Internets als künstlerisches Medium ist der Gedanke bedeutsam, dass daraus auch »Konsequenzen für die Ästhetik, die Interaktionsform der musikalischen Akteure oder die Darbietungsweise« resultieren (Föllmer 2004, 13). Golo Föllmer hat bei seiner Untersuchung unterschiedlicher Arten von »Netzmusik« festgestellt, dass diese nicht den Gesetzen einer homogenen künstlerischen Bewegung oder musikalischen Ä Gattung gehorcht, sondern als Bündel stark divergierender musikalisch-künstlerischer Praktiken anzusehen ist, bei dem vor allem die Idee der Nutzerpartizipation im Mittelpunkt steht (Föllmer 2005). Die einfachsten Beispiele hierfür sind internetbasierte Kompositionen, deren Abruf an bestimmte Aktivitäten des Nutzers geknüpft ist: Michel van der Aa etwa verschränkt in seinem »digital, interactive song cycle« The Book of Sand (2015, thebookofsand.net) einen festgelegten Formverlauf mit den Möglichkeiten eines Hypertexts, wodurch der Nutzer frei zwischen drei parallelen Schichten mit unterschiedlichen akustischen 309 und visuellen Perspektiven navigieren kann. Simpler ist dagegen die Internet-Implementierung von Karlheinz Essls 7x7 fo(u)r clarinets (2006, essl.at/works/7x7.html), die über den Abruf instrumentaler Samples die Wiedergabe einer individuellen Version des Stückes ermöglicht. Im Zentrum von Internet-bezogenen künstlerischen Anwendungen stehen aber noch deutlicher als interaktiv markierte Konzepte: Nach Anfängen unter Ausnutzung geschlossener Netzwerke im Umkreis des Center for Contemporary Music am Mills College in Oakland, Kalifornien (seit 1977) und der daran anknüpfenden Arbeit mit vernetzten PC-Vorläufern beim Kollektiv The Hub (seit 1983, vgl. Collins 1997), befassen sich neuere Ansätze stärker mit der gewandelten Rolle von Interpret und Komponist. Exemplarisch hierfür ist die von Georg Hajdu entwickelte interaktive Performanceumgebung Quintet.net (quintet. net), die es bis zu fünf Interpreten ermöglicht, über das Internet oder in lokalen Netzwerken unter Leitung eines Dirigenten zu musizieren (Hajdu 2005). Die ausgereifte Version kam erstmals 2002 bei der Uraufführung von Manfred Stahnkes Musiktheater Orpheus Kristall (2001) zum Einsatz (D’Aoust 2012), seit 2003 ist zudem die Einbeziehung von Live-Videoverarbeitung möglich. Die mit Quintet.net von Musiker- und Komponistenkollektiven wie dem European Bridges Ensemble und dem Hamburg Network Composers ’ Collective aufgeführte Musik zeichnet sich zumeist durch eine Verknüpfung komponierter und improvisierter Elemente aus (Hajdu 2012). Während in lokalen Netzwerken uneingeschränkt synchron musiziert werden kann, ist die Koordination von Musikern über das Internet aufgrund von Verzögerungen bei der Datenübertragung durch eine gewisse Unschärfe bestimmt. Dieser Umstand führte  – bspw. in Arbeiten von Anna La Berge (Vamp.net für fünf Internetperformer, 2002), Hans-Gunter Lock (Lainetus für fünf Computer und interaktives Video, 2005) oder Hajdu (Ivresse ’84 für Violine und Laptop-Ensemble, 2007) – zur Entwicklung einer ans Internet angepassten Kompositionsweise, die sich die sog. »Number pieces« von John Cage mit ihrer Organisation der Musik nach »time brackets« zum Vorbild nimmt. Auch andere Projekte setzen auf das Prinzip der Interaktivität, sind aber in Bezug auf klangliche Erscheinungsweise und Interaktionsprozesse weitaus stärker festgelegt. So basiert die von Chris Brown projektierte Website Eternal Music (transjam.com/eternal/eternal_client.html) auf der Idee, dass sich Nutzer zu beliebigen Zeitpunkten in einen bereits von anderen gestalteten musikalischen Prozess einloggen und »alle Spieler zusammenhängende Synthesealgorithmen« bedienen können, wobei jeder einzelne jeweils andere Kontrollsignale für diese kollektive Musik beisteuert (Föllmer 2005, 108). Weitergehende Möglich- Internet keiten bietet das ursprünglich 2004 von Max Neuhaus für das kollektive Spiel in kleinen Ensembles initiierte Projekt Auracle (auracle.org), da hier synthetisches Klangmaterial »über Mikrophon von der Stimme kontrolliert« (ebd., 119) wird und die Nutzerinteraktion daher tatsächlich an eine musikalische Aktivität gebunden ist. 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Einführung  „ 2. Musikalische Interpretation vor 1950  „ 3. Interpretation serieller und komplexer Musik  „ 4. Die mitschöpferische Rolle von Interpreten und Interpretinnen „ 5. Interpretation als soziale Interaktion „ 6. Bearbeitung als Interpretation „ 7. Ausblick 1. Einführung Die »Exekution«, Ausführung, Aufführung oder der Vortrag von Musik wurden seit dem 19. Jh. im europäischen Kontext durch die Interpretation von Musik ergänzt, mit der zunächst die spielpraktische »Übersetzung« von musikalischen Texten in klingende Musik bezeichnet wurde. Allmählich trat jedoch eine spezifische Deutung oder Auslegung von musikalischen Texten bzw. ein charakteristischer Personalstil einer Interpretin oder eines Interpreten in den Vordergrund (Hinrichsen 1999a, 121–230). Diese Tendenz wurde im 20. Jh. vor allem durch die entstehenden Tonträger und Musikdokumentationen sowie durch einen medial unterstützen Starkult verstärkt (Ä Medien). Unterschiedliche Einspielungen haben daher in den letzten Jahren zu historisch oder systematisch ausgerichteten Vergleichen von Interpretationsstilen (»performance styles«) in Studien zur Interpretationsforschung herausgefordert (Day 2000; Doğantan-Dack 2008; Bayley 2009; Cook u. a. 2009; Cook 2013). Abgesehen vom Verständnis der Interpretation als Aufführung oder Ausführung von Musik bezieht sich der Begriff Interpretation auch auf die verbalsprachliche Deutung bzw. Hermeneutik, Beschreibung oder Ä Analyse von Musik in der Musikliteratur, wobei davon ausgegangen wird, dass zwischen verbalsprachlicher und aufführungspraktischer Interpretation Wechselwirkungen stattfinden. Interpretation kann als »Inszenierung des Verstehens von Musik« aufgefasst werden (Hein 2014, 30; vgl. auch Georgiades 1954/77; Danuser 1992, 1994; Riethmüller 1998; Willimann / Baumann 1999; Davies / Sadie 2001; Kolleritsch 2003; Kramer 2011). Da mit der Vorstellung von Interpretation als Ausführung oder Aufführung von Musik die Rolle der Interpreten ein stärkeres Gewicht erhielt, stellte sich im 20 Jh. nicht nur die Frage, welche musikalischen Dimensionen – ausgehend von musikalischen Texten – stärker oder weniger vom Ausführenden eigenständig gedeutet werden können, sollen oder dürfen, sondern es wurde auch diskutiert, inwiefern eine Interpretation vom Notentext abweichen kann oder darf, ohne aus der Interpretation eine (verfremdende) Ä Bearbeitung entstehen zu lassen (Ä Notation). Dabei ergaben sich vor allem Unterschiede im Vergleich zwischen Instrumentalmusik und Opern bzw. Bühnenwerken, in denen etwa Kürzungen oder Aktualisierungen zur üblichen Aufführungspraxis gehören. An die Frage der »Texttreue« lagerte sich auch die Frage der »Werktreue« an, die wiederum mit einer seit den 1960er Jahren breit und kontrovers geführten Diskussion zum musikalischen »Werkbegriff« verbunden wurde (Dahlhaus 1971/2005; Seidel 1987; Kropfinger 1991; Weber 1994; Talbot 2000; Brunner / Zalfen 2011; Ä Musikästhetik). Zudem wurde die Diskussion der performativen Interpretation eines Notentextes bis in die Gegenwart auch mit der Frage nach der Verpflichtung bzw. nach den Möglichkeiten einer Rückkopplung an die Autorintention einer Komponistin oder eines Komponisten verknüpft (Ä Performance): »Der Wille des Komponisten ist bis heute die unhintergehbare, absolut verpflichtende Instanz für die Ausrichtung der Interpretation« (Hinrichsen 2011, 25). Dabei ergibt sich allerdings das Problem, inwiefern der Notentext den »Willen des Komponisten« belegt, denn »der Text des Werkes ist, anders als der Wille des Komponisten, durchaus nicht unbestritten und immer und überall als die letztinstanzliche Autorität empfunden worden, die der Interpretation zugrunde liegt« (ebd., 25 f.; vgl. auch Taruskin 1982; LeechWilkinson 2012). Zudem ist auch der »Wille des Komponisten« wandelbar: »every performer who has worked with living composers knows that more often than not they are delighted to be offered interpretations that they had not intended but that, when they hear them, they rather like, or even prefer to their own (if they had one)« (Leech-Wilkinson 2012, 1.2). 2. Musikalische Interpretation vor 1950 In der ersten Hälfte des 20. Jh.s wurden die Relationen zwischen Text und Aufführung, die »Reproduktion« und Klanggestalt von musikalischen Werken sowie die Rolle von Interpretinnen und Interpreten durch Komponisten wie Charles Ives, Arnold Schönberg, Anton Webern oder Igor Strawinsky reflektiert (Taruskin 1995; Scherliess 1997; Grassl / Kapp 2002; Ballstaedt 2003; Balanche 2005). Dabei wurde Interpretation im Sinne einer individuellen Bearbeitung oder im Sinne der Umsetzung einer subjektiven Expressivität zumeist abgelehnt. »Die im 20. Jh. gegen die ›Interpretation‹ aufgebotenen Ersatzbegriffe – ›exécution‹ (Igor Strawinsky), ›Aufführung‹ (Paul Hindemith), ›Reproduktion‹ (Rudolf Kolisch)  – sind Symptome eines Unbehagens gegen die als usurpatorisch empfundenen Ansprüche musikalischer Praxis und damit doch zugleich stillschweigend notwendige und spezifische Begleiter- 311 scheinungen des kulturellen Systems ›Musik‹« (Hinrichsen 2000, 82). Die Ablehnung der (subjektiven) Interpretation von Musik war verbunden mit der Forderung nach einer möglichst informierten und textzentrierten Wiedergabe eines Werks, die im besten Fall durch den Komponisten selbst autorisiert war. Die Kooperationen Schönbergs und seiner Schüler mit Interpretinnen und Interpreten war in dieser Hinsicht exemplarisch (vgl. Grassl / Kapp 2002). Rudolf Kolisch hat die aufführungspraktischen Prinzipien Schönbergs folgendermaßen beschrieben: »Nicht eine Stimmung soll zum Ausdruck gebracht werden, sondern ein musikalischer Gedanke. Nicht das Gefühl des Aufführenden soll gezeigt werden, sondern ein Thema, das vielleicht dieses Gefühl enthält. Die musikalische Gestalt wird aufgebaut, nicht ein Tongemälde entworfen. Alle technischen Mittel des Vortrages werden der musikalischen Idee dienstbar gemacht, ohne daß Assoziationen der Gefühlssphäre in Anspruch genommen werden« (1924, 306; vgl. Kolisch 1983). Verschiedene Darstellungsweisen von Werken und Ausdrucksnuancen in Aufführungen werden zwar keineswegs ausgeschlossen (»Ausdruck und Charakter müssen richtig erfaßt und dargestellt werden«, Sichardt 2002, 40), doch das Hauptziel einer musikalischen Aufführung bezieht sich auf die Verdeutlichung der Stimmenverläufe und auf die Vermittlung der Satzkonstruktion. Auch Strawinsky hat zwischen Ausführung (»l ’ exécution«) und Interpretation unterschieden, wobei für ihn eine notengetreue Wiedergabe des musikalischen Textes Vorrang hatte; Strawinskys Kriterien für deren Umsetzung waren jedoch Wandlungen unterzogen (Strawinsky 1942/49; Taruskin 1995; Scherliess 1997). Theodor W. Adorno hat sich in seinen Schriften zur Aufführungspraxis, »Reproduktion« von Musik bzw. Interpretation neuer Musik auf die Prinzipien der Schüler und Interpreten Schönbergs bezogen (Adorno 1963/76, 2001; vgl. Danuser 2008). In seinen aus dem Nachlass veröffentlichten Aufzeichnungen und Entwürfen zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion wird klar, dass eine (analytische) Orientierung am Werk bzw. Notentext auch für ihn Ausgangsbasis jeder Interpretation ist. Er bezieht aber daneben auch die Ebenen des Ausdrucks, der Gestik und Idiomatik ein, die in einer Aufführung nicht zuletzt hinzutreten müssen, um eine »Stimmigkeit« der musikalischen Darstellung zu erreichen: »Die strukturelle Interpretation muß zur gestischen werden, denn leerstehende Konstruktionen sind so sinnlos wie überschüssige Intentionen« (Wieland 2002, 263; vgl. Hein 2014, 119–195). Eine musikalische Interpretation im Sinne einer Aufführung ebenso wie im Sinne einer verbalsprachlichen Deutung ist daher kein abgeschlossener Prozess, sondern offen für weitere Lesarten, in denen sich (im Idealfall) die Interpretation Bemühungen um eine adäquate Entschlüsselung, Analyse und Vermittlung des Werks fortsetzen. 3. Interpretation serieller und komplexer Musik Adornos Reflexionen zur Interpretation von Werken Schönbergs, Weberns und Bergs standen in den 1960er Jahren kompositorischen Wandlungen und veränderten Sichtweisen auf die musikalische Aufführung gegenüber, die mit der Entstehung Ä serieller Musik, mit der Entwicklung elektronischer Musik sowie mit der Einführung neuer Werkkonzepte verbunden waren. Im Kontext der Aufführungs- und Interpretationsgeschichte der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt hat Hermann Danuser den »musikästhetischen Paradigmenwechsel vom Ausdrucksideal der Wiener Schule zum strukturalistischen Ideal der seriellen Nachkriegsepoche« (1997, 150) beschrieben, der sich insbesondere am Beispiel der Variationen für Klavier op. 27 von Anton Webern nachvollziehen lässt. Es wird jedoch gerade an diesem Beispiel deutlich, dass Interpreten aus dem Schönberg-Kreis, die auch in Darmstadt bis in die 1950er Jahre unterrichteten, das Ausdrucksideal ihrer Generation in der Nachkriegszeit weiter mit großem Nachdruck geltend machten (vgl. Grant 2001; Quick 2010; Cook 2013, 54 f.). Im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten seriellen Instrumentalwerke von Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen wurde deutlich, dass die Resultate der seriellen Kompositionsmethoden zum Teil nicht ausführbar waren. Erwartet wurde dabei von Seiten der Komponisten zunächst keine »Interpretation«, sondern eine exakte Realisierung der Partitur. Pierre Boulez hat dies am Beispiel des ersten Buches seiner Structures pour deux pianos (1951) dargelegt: »In der ersten Niederschrift, die man nie zu sehen bekam […], häuften sich Kombinationen wie 24:25 oder 27:28, d. h. Werte, die so nahe beieinander liegen, daß man sie unmöglich exakt realisieren kann. Für die Instrumentalmusik war das Problem einfach falsch gestellt. Das Verfahren hat seine Berechtigung bei Tonbandmusik, denn hier kann man die Proportionen, die man haben will, in Zentimetern schneiden […]. Der Interpret dagegen bräuchte, um das Verhältnis 28:27 spielen zu können, in seinem Gehirn einen Präzisionsmechanismus, damit ein Irrtum ausgeschlossen wäre« (1976/77, 76 f.). Obwohl oder gerade weil demnach solche Anforderungen nur approximativ einzulösen waren, aber eine besondere Herausforderung darstellten, entwickelten damals eine ganze Reihe junger Interpreten ein spezifisches Interesse für die Aufführung neuer Musik, unter ihnen das Pianistenduo Alfons und Aloys Kontarsky, der Schlagzeuger Christoph Caskel oder der Cellist Siegfried Palm. Palm betrachtete »es nun als eine Art Sport, das herauszubekommen, was andere, we- Interpretation sentlich prominentere Cellisten für unspielbar hielten« (Lück 1971, 82). In den nachfolgenden Jahren entwickelten sich besondere Herausforderungen von Interpreten vor allem im Kontext der »new complexity« zu einer kompositorischen Strategie (Ä Komplexität / Einfachheit, Ä Notation). Die Entzifferung bzw. Entschlüsselung einer Partitur wie etwa Brian Ferneyhoughs Time and Motion Study II für verstärktes Violoncello und Live-Elektronik (1973–76) oder Carceri d’Invenzione I für kleines Orchester (1982) wird hier zu einer Aufgabe, die nur annähernd gelöst werden kann, doch mit allen Mitteln versucht werden soll. Ferneyhough betrachtet die Komplexität seiner Notation als Rahmen, in dem die Ausführenden zu »Resonatoren« werden: »performers are no longer expected to function solely as optimally efficient reproducers of imagined sounds; they are also themselves ›resonators‹ in and through which the initial impetus provided by the score is amplified and modulated in the most varied ways imaginable« (Ferneyhough 1980/98, 100; vgl. Cook 2013, 273– 287). Für die Interpreten entsteht aus dieser Situation ein enormer psychischer Druck, der das klangliche Resultat mit Energie und Ausdruck auflädt: »What interests me is encouraging the performers, in any given composition, to come to terms with their own natural limits, and thereby transcend them« (Ferneyhough 1982/98, 233). Eine solche Herausforderung wird von vielen Interpreten komplexer Musik positiv aufgegriffen (Schick 1994; Cox 2002). Das Ideal, Musik ganz ohne Interpreten präsentieren zu können, ergab sich aus der Entwicklung Ä elektronischer Musik. Sie bot Möglichkeiten, Kompositionen ohne die Dimension der Interpretation bzw. der interpretierenden Musiker an das Publikum zu vermitteln. Aufgrund der Komplexität neuer Musik sah daher auch Milton Babbitt »the need for purely electronic media of ›performance‹« (Babbitt 1958/78, 245). Doch die Darbietung von Lautsprechermusik erfordert ebenfalls zumindest eine dynamisch und raumspezifisch angelegte Gestaltung und Inszenierung der Kompositionen, sodass hierbei Tonmeister, Klangregisseure oder Sound Designer Interpretenrollen übernehmen (Hein 2002; Popp 2009). Die Frage der Interpretation von elektroakustischer Musik bezieht sich allerdings nicht nur auf ihre Aufführungspraxis und räumliche Inszenierung, sondern vor allem auch auf ihre Analyse und Ä Wahrnehmung (Emmerson 1986; Smalley 1992; Stuart 2003; Barrett 2007; Ciciliani 2014). 4. Die mitschöpferische Rolle von Interpreten und Interpretinnen Seriellen Kompositionen, in denen konzeptionell kein interpretatorischer Spielraum vorgesehen war, stehen seit den 1950er Jahren Werke gegenüber, in denen die Freiheit 312 der Interpreten herausgefordert wird. Viele Werke der Aleatorik etwa stellen Mischformen dar, in denen der »gelenkte Ä Zufall« integriert ist, so die Dritte Klaviersonate von Boulez (1955–57) oder Stockhausens Klavierstück XI (1956). In diesen »vieldeutigen Formen« gehört die interpretatorische Differenz der Darbietungen in Aufführungen zur Konzeption der Werke. Es werden bereits in den Kompositionen Auswahlmöglichkeiten für die Spieler eingeplant. Damit sind unterschiedliche formale Abläufe bzw. unterschiedliche Resultate bereits in den Werkkonzepten und Partituren vorgesehen (vgl. dazu Stockhausen 1961/63). Die in allen Musikaufführungen grundlegende mitschöpferische Funktion der Interpreten wird so erheblich ausgedehnt, wobei ihr Gestaltungsspielraum weit über die konventionelle spielpraktische und persönliche Auslegung der Partitur hinausgeht, die es bislang etwa nicht oder nur selten (z. B. in Kadenzen) ermöglichte, formale Varianten bzw. ganze Werkversionen selbst herzustellen. Diese Kompositionen »präsentieren sich […] als ›offene‹ Kunstwerke, die vom Interpreten im gleichen Augenblick, in dem er sie vermittelt, erst vollendet werden« (Eco 1962/98, 28 f.; vgl. Boehmer 1967; Schulze 2000). Eine Variante dieser Werkkonzeptionen, in der allerdings nicht die mitschöpferische Rolle der Aufführenden, sondern die klangliche Wirkung der Umsetzung Vorrang hat, bilden die Kompositionen von Witold Lutosławski mit »begrenzter Aleatorik« oder einer »Aleatorik der Textur« (Lutosławski 1969, 458 f.), in denen das Zusammenspiel der Interpreten in bestimmten Abschnitten nicht genau synchronisiert wird, sondern die einzelnen Stimmen frei zu spielen sind. Die aufführungspraktische Unbestimmtheit (»indeterminacy«) bei Cage geht ebenfalls auf die Reduktion verbindlicher Vorgaben für die Interpreten zurück, denen der Komponist sukzessive die Ausarbeitung von Aufführungen überlassen hat (Zierolf 1983; Campana 1985; Erdmann 1993; Müller 1994; Fetterman 1996). Cage konnte sich dabei vor allem auf die Mitarbeit von David Tudor stützen. Tudor begleitete Cages kompositorische Entwicklung zwischen 1950 und den späten 1960er Jahren konstruktiv und sah gerade in der selbstständigen Ausarbeitung von Aufführungsversionen eine besondere Herausforderung: »from 1951 to 1967 – from the Music of Changes to his recording of Variations II – Tudor gave the first and often only performances of all of Cage ’ s post-1950 keyboard music as well as taking part in all the performances of Cage ’ s works for instrumental and instrumental-electronic combinations« (Holzaepfel 1994, 198; vgl. Holzaepfel 2002; Pritchett 2004). Mit der Aufführung von indeterminierten Werken war keine Ä Improvisation verbunden, sondern eine kom- 313 plexe Reihe von Entscheidungen, die sich auf das Klangmaterial, auf Dauern, Dichte und auf das Erscheinen von Ereignissen bezog: »His indeterminate pieces ask the performer for responsibility, discipline, and compositional decisions within the framework that Cage designed« (Feisst 2002; vgl. Sweeney-Turner 1990; Feisst 2005). Die einzelnen Aufführungen unterscheiden sich demzufolge fundamental, »the differences between performances are more than just subtle changes in interpretation of an idealized score, but rather are radical differences that extend even to the nature and order of events« (Pritchett 1993, 107). Ähnliche Aufführungsmodelle beziehen sich auf experimentelle Werke, musikalische Graphik oder Konzeptstücke, in denen zwar Partituren vorliegen, die jedoch auf der Basis von Spielvorgaben oder Gebrauchsanweisungen Anregungen bieten, einzelne Aufführungsversionen auszuarbeiten (Ä Konzeptuelle Musik). »Die Realisationen der in Bezug auf die Aufführung unbestimmten Kompositionen stellen nicht nur Interpretationsvarianten dar, wie sie aus unterschiedlichen Aufführungen traditioneller Kompositionen resultieren und die sich in akzidentiellen Momenten voneinander unterscheiden, sondern sie sind selbständige Versionen, die sich in wesentlichen, die Identität einer Komposition konstituierenden Momenten voneinander unterscheiden« (Müller 1994, 110). Da sich im Kontext der experimentellen Musik Komposition und Interpretation zu verschränken begannen, entwickelte sich in diesem Umfeld verstärkt die Rolle des Ä ComposerPerformer. Bereits John Cage wirkte häufig als Interpret seiner eigenen Stücke (Fetterman 1996, 189–226). Seit den späten 1960er Jahren haben auch Musikerinnen wie Meredith Monk, Joan La Barbara oder Laurie Anderson als Performancekünstlerinnen den Bereich von gleichzeitiger Komposition und Interpretation erschlossen, wobei sie zum Teil erst in den letzten Jahren ihre Autorschaft durch die Erstellung von Partituren neben den bestehenden audiovisuellen Medien gefestigt haben (Jowitt 1997; Goldberg 2000). Viele Interpreten sind auch als Komponisten bekannt geworden, unter ihnen etwa Vinko Globokar, Heinz Holliger oder Frederic Rzewski. Aus dem Bereich der Improvisation und Echtzeitmusik ergaben sich in den letzten Jahren ebenfalls viele Schnittmengen zwischen Komposition und Interpretation, bei Musikerinnen und Musikern wie etwa John Zorn, Anthony Braxton, Elliott Sharp, Annie Gosfield, Markus Stockhausen oder Ignaz Schick (Gann 1997; Beins u. a. 2011). 5. Interpretation als soziale Interaktion Bei der performativen Interpretation von Partituren oder Textvorlagen, d. h. bei einer öffentlichen oder auch privaten Aufführung von Musik, steht in der Regel zwar die Interpretation klangliche Realisierung einer Notation im Vordergrund (Mantel 2007), die jedoch bei mehreren Interpreten auch eine Koordinierung von gemeinsamen Aktivitäten einschließt. Interpretation in diesem Sinne kann als soziale Interaktion verstanden werden, die von Komponistinnen und Komponisten wie Christian Wolff, Pauline Oliveros, Alvin Lucier, Robert Ashley, Dieter Schnebel, Mauricio Kagel oder Vinko Globokar in den Vordergrund gerückt wurde (Müller 1994, 171–173). Zu »interpretieren« sind in den vor diesem Hintergrund entstandenen Werken wie z. B. Wolffs Duo for Pianists I (1957), Duo for Pianists II (1958), In Between Pieces (1963) oder For 1, 2, or 3 People (1964), in Globokars Correspondences für vier Solisten (1969) oder Concerto grosso für fünf improvisierende Solisten, 23 Spieler und Chor (1969/75) nicht mehr nur Zeichen und Symbole, sondern auch die durch die anderen mitwirkenden Interpreten gesetzten klanglichen Aktionen, Verläufe und Prozesse (Chase / Thomas 2010; Jost / Klüppelholz 1994; Globokar 1998). Im Gegensatz zur Aufführung von konventionell ausnotierten Stücken steht hier nicht die Synchronisierung und der perfekte Zusammenklang eines Ensembles im Vordergrund, sondern eine improvisierende oder durch Zeichen angeregte Interaktion, die auch Stille oder Klangkontraste einschließt. Damit bildet diese performative Interpretation Schnittmengen mit Improvisation und meditativer Musik, aber auch mit szenischer Musik oder Ä Musiktheater sowie mit Aufführungskonzepten, die als Spiele oder Rituale angelegt werden. Interpretation als soziale Aktion ist insofern auch für Interaktionen von Interpreten mit Live-Elektronik wesentlich, als sich hier interpretative Entscheidungen auf das eigene Spiel oder das Spiel anderer beziehen können, das durch die elektronische Klangverarbeitung gespiegelt oder transformiert wird (Manning 1985/2013, 157–167; Collins 2007; Emmerson 2007). Interpretation als soziale Interaktion bezieht sich darüber hinaus auch auf Wechselwirkungen zwischen Aufführung und Publikum bzw. auf Verbindungslinien und Rückkopplungen zwischen Komponist, Interpret und Hörer. Dabei ist nur bedingt an Stücke zu denken, in denen das Publikum aktiv einbezogen wird, z. B. die Sonic Meditations (1971–80) von Pauline Oliveros oder zu erwandernde Stücke wie etwa Stockhausens Musik für ein Haus (1968) und Musik für die Beethovenhalle (1969) oder Schnebels Gehörgänge. Konzept einer Musik für forschende Ohren (1972), La Monte Youngs Dream House (1979– 1985), David Helbichs Projekte mit einer »active audience« (Helbich 2015) sowie viele Projekte der Ä Klangkunst bzw. Klanginstallation (Barthelmes 1997). Die aktive Rolle des Hörers bzw. des Publikums wurde in solchen Projekten besonders explizit gefordert, während aber grundsätzlich 314 Interpretation davon auszugehen ist, dass immer der »Hörer als Interpret« fungiert (La Motte-Haber / Kopiez 1995). So wird die Ä Rezeption als Komplettierung der Kommunikation von Musik betrachtet, in die u. a. die Ä Wahrnehmung, Ästhetik, Sinnkonstituierung, Bewertung und Ä Kanonisierung eingebunden ist (Helm 1970; Casimir 1991; Großmann 1991; Danuser / Krummacher 1991; Everist 1999). Dabei spielt der Erwartungshorizont von unterschiedlichen Publikumsgruppen, z. B. Abonnentenpublikum, Festivalpublikum, Fachpublikum etc., eine große Rolle, der sich auch in Institutionalisierungsprozessen niederschlägt. Nicht zuletzt hat auch die mediale Musikdistribution erheblichen Einfluss auf bestimmte Ansätze und Präferenzen der musikalischen Interpretation (Ä Musiksoziologie; Ä Popularität). 6. Bearbeitung als Interpretation In aktuellen Kontexten ist Interpretation auch als artifizielle Beschäftigung mit eigenen Werken oder mit Kompositionen anderer Künstler zu verstehen, woraus etwa eine »komponierte Interpretation« resultieren kann (Zender 2004, 2014). Zu denken ist in diesem Kontext auch an musikalische Intertextualität bei Charles Ives, Luciano Berio, Bernd Alois Zimmermann oder Max Richter. Aktuelle Varianten bieten Konzepte der »plunderphonics« (Oswald 1985; Holm-Hudson 1997), »sample compositions« (Gann 1997, 274–279) oder die Komposition von »Musik mit Musik« (Kreidler 2012) (Ä Bearbeitung). Berührungspunkte finden sich hier mit der Verarbeitung von musikalischen Motiven im Ä Minimalismus von Steve Reich, Philip Glass, John Adams oder Louis Andriessen. Eine Variante dieser kompositorischen Arbeit zeigt sich in der Boombox-Musik von Jacob Ter Veldhuis wie etwa in Lipstick für Flöte und Soundtrack (1998), Off and On Situation Blues für Klavier und Soundtrack (1999) oder I Was Like Wow für Posaune und Soundtrack (2006). Veldhuis integriert zudem Sprachzitate aus Fernsehsendungen oder Interviews in das selbstbezügliche Stimmengeflecht. Nicht zuletzt ergeben sich in diesem Bereich auch Überschneidungen zur Remix-Kultur der Popmusik (Ä Pop / Rock). In Stücken von Simon Steen-Andersen wird darüber hinaus das ReCycling von Musik in Kombination mit Bildern, Objektklängen und Performance auskomponiert, so etwa in der Folge Besides (2003/2010), Beside Besides (2003) und Next to Beside Besides (2003–2010). Die kompositorische Interpretation wird hier zu einer Entfaltung von Selbstübersetzungen. »Es handelt sich dabei nicht um Variationen eines Grundeinfalls, sondern um Transformationen eines immer gleichen Spielvorgangs, deren verschiedenes Klanggewand die Aufmerksamkeit auf die zur Klangerzeugung notwendigen Bewegungen lenkt« (Herzfeld 2012, 5). 7. Ausblick Der traditionelle Interpretationsbegriff als performative Deutung und individuelle Auslegung eines musikalischen Textes ist in Kompositionen der letzten Jahrzehnte u. a. durch intensive Kooperationen von Komponistinnen und Komponisten mit ausgewählten Interpretinnen, Interpreten oder Ensembles bestimmend geblieben. Zum Teil wurde der »rhetorische Aspekt« in der Interpretation bzw. die Dimension des Ausdrucks dabei neu erschlossen, so etwa bei Helmut Lachenmann oder Wolfgang Rihm. Der traditionelle Interpretationsbegriff ist jedoch in vieler Hinsicht auch erweitert worden und kann in manchen Aufführungskontexten, z. B. bei Projekten von ComposerPerformern, kaum mehr angewendet werden. Doch haben sich weitreichende Diskussionen über musikalische Interpretation in den performance studies bzw. in Studien über kompositorische Aufführungskonzepte, über Theorien und Analysen zum Verhältnis von Text und Aufführung sowie über körperliche oder technische Aufführungsbedingungen und die öffentliche Präsentation von Musik fortgesetzt (Dunsby 1995; Rink 1995; Wyndham 1998; Rink 2002; Cook 2013). Studien und Forschungen zur Interpretation von neuer Musik im Sinne von analytischen Interpretationsvergleichen treffen sich daher zunehmend mit Studien zur Aufführungspraxis, Performance und Wahrnehmung (Mauser 1992; Danuser / Mauser 1994; Hiekel 2013). Dabei werden in aktuellen Diskursen zur Interpretation der Aufführungskünste auch das Nicht-Verstehen (Lehmann 1994; Mersch 2011; Hiekel 2012) sowie die einer Sinn- bzw. Bedeutungskonstituierung vorgelagerten Wahrnehmungsdimensionen wie Präsenz oder Anmutung diskutiert (Mersch 2002a, 2002b; Gumbrecht 2004, 2009). Grundsätzlich ist jedoch eine Darstellung der Aufführungs- und Interpretationsgeschichte der neuen Musik als Desiderat zu bezeichnen, wobei allerdings nicht nur von kompositorischen Konzepten und Positionen auszugehen wäre. Es sollten vor allem die Interpretinnen und Interpreten in den Vordergrund gerückt werden, die nicht nur in der Kooperation mit Komponisten viele Neuerungen im klanglichen und spieltechnischen Bereich eingebracht haben, sondern die als mitschöpferische Künstlerinnen und Künstler großen Anteil an der Kompositions- und Aufführungsgeschichte des 20. und 21. Jh.s insgesamt haben. Dabei sind neben Partiturstudien auch empirische Methoden der Aufführungs- und Rezeptionsforschung anzuwenden, die zudem die Positionen der Hörer bzw. des Publikums einbeziehen (Clarke / Cook 2004). Neben der vergleichenden Beschäftigung mit medial produzierten bzw. dokumentierten Interpretationen von Musik, die in 315 akustischer Form rezipierbar sind, gilt es darüber hinaus in Zukunft auch, den visuellen bzw. audiovisuellen Aspekten der Musikproduktion Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, inwiefern das Sehen im Konzert das Hören beeinflusst (Cook 2013, 308–336); in der neuen Musik haben längst sichtbare Aktionen des Musikmachens im Ä Instrumentalen Theater oder in szenischer Musik bis hin zu Videokonzerten etwa von Carola Bauckholt, Manos Tsangaris oder Michael Beil einen breiten Raum erhalten (Ä Film / Video), der bislang kaum thematisiert wurde. Ganz abgesehen davon, dass in diesen Bereichen eine systematische Archivierung fehlt, eröffnen sich hier neue Perspektiven für die Interpretationsforschung, in die auch Rauminszenierungen, Bewegungsstudien sowie narrative Symbiosen zwischen Musik und Bild einbezogen werden können. 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In der Kadscharen-Dynastie (1779–1925) wurde neben dem Import europäischer Musik zunächst 1856 durch zwei französische Militärmusiker und später ab 1868 durch Alfred Jean-Baptiste Lemaire (1842–1909) erstmals auch klassische westliche Kunstmusik an der Musikabteilung des 1851 gegründeten ersten iranischen Polytechnikums Dār al-Fonūn (Haus der Wissenschaften) unterrichtet, später durch Gholma-Reza Minbashian bekannt als Salar Moazez (1861–1935) und Gholam-Hossein Minbashian (1907–1978). Die ersten sinfonischen Werke der persischen Musik wurden um 1930 komponiert. Im Jahre 1934 wurde das Sinfonieorchester von Baladiyeh (Orkestr Samfoniye Baladiyeh) gegründet, das im Jahr 1943 von Parviz Mahmoud (1910–96) neu gegründet und in Teheraner Sinfonieorchester umbenannt wurde. Im Jahr 1953 wurde dann das Philharmonische Orchester Teheran (Orkestre Filarmonike Tehran) gegründet. Die stilistische Entwicklung der neuen persischen Musik verlief rasant, obwohl die Werke der 1930er bis 1950er Jahre noch deutlich von der europäischen Musik des 19. Jh.s geprägt sind und große stilistische und ästhetische Unterschiede zur zeitgleichen Musik in Europa aufweisen, etwa in den Werken von Komponisten wie Hišmat Sandjari (1918–95), Husain Nāsahi (1925–77), Sāmīn Bāgčabān (1925–2008), Hūšang Ustuwār (*1927) und Husain Dehlawī (*1927). Diese Komponisten versuchten, klangliche Eigenschaften, Intervallik und modalen Zellen der persischen Musik in ihren Stil einfließen zu lassen und mithilfe westlicher Kompositionsverfahren zu erweitern. Andererseits belegt ein Werk wie Alireza Mashayekhis (*1940) elektronische Komposition Shur (1968) bereits eine umfassende Rezeption zeitgenössischer westlicher Kompositionspraxis in den 1960er Jahren. Diese Entwicklung lässt sich vor allem auf die gezielte Modernisierung des Landes in allen Bereichen ab den 1940er Jahren zurückführen. Das Sinfonieorchester Teheran vergab regelmäßig Kompositionsaufträge, ausländische Gäste lehrten an der 1938 gegründeten Musikhochschule (Honarestâne âliye Musiqi) in Teheran. Daneben wurden jungen iranischen Musikern und Künstlern staatliche Stipendien für ein Studium im Ausland gewährt. In Shiraz, der Hauptstadt der südiranischen Provinz Fars, und einigen benachbarten Orten wie den Ruinen von Persepolis fand zwischen 1967 und 1977 jährlich ein umfangreiches Festival für neue Musik und AvantgardeKunst statt (Gluck 2007). Hauptförderer des Festivals war die 1966 gegründete Rundfunkgesellschaft National Iranian Radio and Television (NIRT; Sazmâne Radio Televizione Melliye Iran). Das Festival war eine einzigartige Plattform für neue Entwicklungen in den Bereichen Musik, Theater und Tanz und brachte Künstler aus dem Iran und anderen asiatischen Ländern mit Avantgarde-Künstlern aus Europa und den USA zusammen. Die Uraufführung von Werken wie Polytope de Persépolis (1971) von Iannis Xenakis übten großen Einfluss auf persische Komponisten aus. Die Entstehung einer eigenständigen iranischen neuen Musik kann trotz dieser Orientierung an westlichen Entwicklungen ohne die Erkundung der traditionellen iranischen Musikkultur und ihre Einbeziehung in neue Kompositionen nicht verstanden werden. Die einzigartigen Klänge und formalen Strukturen der traditionellen 318 Iran Musik boten für Komponisten aller Generationen eine reiche Quelle der Inspiration. 2. Pioniere Einige Vertreter der ersten und zweiten Generation iranischer Komponisten entwickelten auf Grundlage eines regen Austausches mit Europa neuartige Kompositionstechniken, wobei vielfach die elektronische Musik eine wichtige Rolle spielte (Farhang 2009). Iraj Schimi (*1936) studierte u. a. bei Karl Schiske und Friedrich Cerha in Wien sowie bei Bernd Alois Zimmermann in Köln. Sein Kompositionszyklus Topo (1970–86) umfasst Werke unterschiedlicher Besetzung, unter denen einige die Verteilung der Musiker im Raum fordern. Fouzieh Madjd (*1938), die auch als Ethnomusikologin tätig war und u. a. bei Nadia Boulanger studierte, legte mit Clockwork Doll (1968) für Klavier und Frauenstimme ein erstes iranisches Werk mit rezitierender Stimme vor. Einige ihrer kammermusikalischen Werke in den 1970er Jahren zeigen eine Auseinandersetzung mit Mikrotonalität sowohl in Bezug auf persische Modi (Hell is but a Sparkle of Our Futile Suffering, 1976) als auch unabhängig von diesen (Shabkuk, 1973). Alireza Mashayekhis Studium bei Hanns Jelinek und seine Arbeit mit Gottfried Michael Koenig im Studio für elektronische Musik (STEM) Utrecht waren, neben einem ausgeprägten Interesse für Philosophie und die iranische Kultur, Eckpfeiler seiner künstlerischen Entwicklung. In Shur (1968, s. o.) ist die Anwendung der Intervallstruktur des persischen Modus shur strukturelle Basis. Mashayekhi thematisiert in seinen Werken verschiedene kulturelle Dimensionen und versucht diese in einer von ihm als »Meta-X« bezeichneten »Meta-Logik« zusammen zu bringen. Dariush Dolat-Shahi (*1947) brachte Kenntnisse der traditionellen persischen Musikpraxis mit und studierte Komposition bei Mashayekhi im Iran sowie elektronische Musik bei Koenig in Utrecht und bei Vladimir Ussachevsky und Mario Davidovsky in New York. DolatShahis elektronische Kompositionen zeigen im Gegensatz zu seinen seriellen Instrumentalwerken einen sehr persönlichen Ausdruck. Seine 1985 als Schallplatte erschiene Sammlung Elektronische Musik für tār und setār basiert auf dem Zusammenspiel von rhythmischen instrumentalen Mustern und synthetischen Klängen. Die persische Langhalslaute tār ist dabei mit ihrer besonderen Klangfarbe die meiste Zeit als improvisierend fließende Schicht über den anderen Klängen zu hören. Shahrokh Khajenouri (*1952) schließlich studierte ab 1971 elektronische Musik am Morley College, London. Sein elektronisches Œuvre umfasst Kompositionen für analoge und digitale Synthesizer, Tonbandwerke, Arbeiten mit Sampler, und Computermusik. Broken Images (1993) für Tonband und Voyage of Dena für Kammerensemble und Live-Elektronik (2005) gehören zu seinen Hauptwerken. Khajenouri fungiert als wichtiger Vermittler zur Musikszene in Deutschland, zuletzt arbeitete er mit den Bremer und Hannoveraner Musikhochschulen zusammen. Auch die folgenden Komponisten setzten durch ihre Arbeiten spürbare Akzente, auch wenn ihre musikalische Sprache im Vergleich mit den oben beschriebenen Kollegen konservativer ist: Farid Omran (*1945), Mehran Rouhani (*1946), Alī Rahbarī (*1946), Reza Vali (*1952) und Behzad Ranjbaran (*1955). 3. Folgende Generationen ab 1960 Komponisten der folgenden Generationen wurden zum Teil im Iran ausgebildet, haben aber meist ihr Studium in europäischen Ländern oder den USA abgeschlossen. Einige kehrten in den Iran zurück, andere blieben im Ausland. Die Komponisten, die in den Iran zurückkehrten, nahmen in der Regel eine wichtige Rolle als Lehrer der Kompositionsklassen und aktive Initiatoren in der neuen Musikszene ein. So brachte Nader Mashayekhi (*1958), der bei Roman Haubenstock-Ramati in Wien studiert hatte, im Jahr 2012 zahlreichen Stücke von John Cage in Zusammenarbeit mit jungen experimentellen Komponisten und Musikern zur iranischen Erstaufführung. Kiawasch Sahebnassagh (*1968) nahm nach seinen Studien in Graz bei Beat Furrer eine umfangreiche pädagogische Tätigkeit im Iran auf, die als erfolgreiche Weitergabe neuen kompositorischen Denkens aus europäischen Ländern an eine wissbegierige junge Generation verstanden werden kann. Als Komponist wie Improvisator pflegt Sahebnassagh starke Verbindungen mit der traditionellen persischen Musik. Dies schlägt sich auch deutlich in seinen Kompositionsverfahren nieder, etwa in Kava (2007) für setār und kleines Orchester. Ebenso basiert die melodische Gestaltung in Tak-Sim für Streichquartett und Elektronik (2012) von Alireza Farhang (*1969) auf Analysen der melismatischen Gesten und Intonation in traditionellen persischen Genres. Die jüngste Generation von Komponisten, wie z. B. Ehsan Khatibi (*1979), Mehdi Khayami (*1980), Mehdi Kazerouni (*1981), Amir Sadeghi Konjani (*1983) und Arash Yazdani (*1985), betrachtet nicht nur Elemente traditioneller persischer Musik als wichtige Ressource der Inspiration, sondern zeigt auch aktives Interesse an Themen außerhalb der musikalischen Welt. So werden etwa Konzepte aus Bereichen der Wissenschaft und Künste in neuen Kompositionen thematisiert. Merke dir den Flug – der Vogel ist sterblich (2011) für Ensemble von Ali Gorji (*1978) etwa ist eine Hommage an die iranische Dichterin Forugh Farrokhzad. Das musikalische Material des Werkes besteht aus sprachähnlichen Strukturen, die mit algorithmischen Verfahren erzeugt wurden. 319 Israel Abedian, Arsalan: Leben im Verborgenen. Neue Musik im Iran, in: MusikTexte 143 (2014), 17–22 „ Aryanpour, Amir Ashraf: Musiqi-ye Iran [Iranische Musik], Teheran 2014 „ During, Jean: Iran, in: MGG2S, Bd. 4 (1996), 1164–1188 „ Farhang, Alireza: Electronic Music in Iran: Tradition and Modernity, in: Proceedings of EMS09  – Heritage and Future, Buenos Aires 2009, http://www.ems-network.org/ems09/papers/farhang.pdf (29. 6. 2015) „ Gluck, Robert: The Shiraz Arts Festival. Western Avant-Garde Arts in 1970s Iran, in: Leonardo Music Journal 40/1 (2007), 20–28 „ Jalali, Mehdi: Darâmady bar tajrobehâye musiqi-ye tajrobi dar Iran [Eine Einführung zur Praxis der experimentellen Musik im Iran], in: Šabake-ye âftâb [Aftab Network] 3 (2012), 64–68 „ Khāleqi, Ruh-Allāh: Sargozašt-e musiqi-ye Irān [Geschichte der iranischen Musik], hrsg. v. Sāsān Sepantā und Ali-Mohammad Rašidi, Teheran 1998 Literatur 4. Institutionelle Entwicklung seit 1979 Nach der Isalmischen Revolution von 1979 arbeitete eine große Anzahl iranischer Musiker, Komponisten und Interpreten im Exil oder unter Einschränkungen im Iran. Diese Isolation hat die Beziehung zwischen den Generationen iranischer Komponisten sowie zwischen ihnen und der iranischen Öffentlichkeit stark eingeschränkt. Erst allmählich hat die Entstehung neuer privater Vereinigungen jungen Musikern eine Ausbildung und ein Betätigungsfeld ermöglicht und ihnen einen Weg eröffnet, um mit Werken der älteren Generation in Kontakt zu kommen. Die 1993 von Alireza Mashayekhi und der Pianistin Farimah Ghavamsadri (*1950) gegründete Tehran Music Group (Goruhe Musiqi-ye Tehran) war das erste Zentrum junger Komponisten und Musiker im Iran. Mashayekhi und Ghavamsadri gründeten in der Folge das Iranian Orchestra for New Music aus iranischen und westlichen Instrumenten. 2001 wurde die Yarava Music Group (Goruhe Musiqi-ye Yârâvâ) mit den gleichen Zielen von Mehdi Jalali (*1980) gegründet. Diese hat neben vielen Uraufführungen junger Komponisten auch Werke der älteren Generationen aufgeführt. Ihre breiten Aktivitäten umfassen Konzerte, Seminare und Workshops bis hin zu Ausstellungen und Veröffentlichungen der Musik in Form von Tonträgern und Partituren. Das Hauptproblem der Kompositionsausbildung im Iran bleibt trotz dieser Initiativen der große Mangel an Einrichtungen. Was an den Hochschulen nicht möglich ist, geschieht zu Hause, in Home-Studios, mit Open-Source-Software und im Privatunterricht. Junge Menschen, die Interesse an zeitgenössischer Musik haben, unternehmen erste Schritte oft mithilfe des Ä Internets. Auch wenn es keine Zeitschrift gibt, die ausschließlich auf neue Musik spezialisiert ist, so veröffentlichen Zeitschriften wie Art of Music (Honare Musiqi) und Culture and Music (Farhang va Âhang) doch regelmäßig Beiträge und Berichte zum zeitgenössischen Musikschaffen im Iran. Die Verbreitung neuer iranischer Musik wird u. a. durch die beiden CDLabels Hermes Records (seit 2000) und Contemporary Music Records (seit 2009) gestützt. Obwohl die zeitgenössische Musik seit der Islamischen Revolution 1979 keinerlei Unterstützung seitens der Regierung erhalten hat und viele persische Musiker die neue Musik lange Zeit ignorierten, ist sie heute ein fester Teil des musikalischen Lebens im Iran und hat viele Anhänger im Land und weltweit. Die neue iranische Musik findet heute wie zuletzt in den 1960er und 1970er Jahren wieder ein enthusiastisches Publikum. Ä Arabische Länder; Globalisierung Arsalan Abedian Israel Inhalt: 1. Komponisten „ 2. Institutionen und Musikleben Israelische Musik beginnt mit der Einwanderung der ersten ausgebildeten Komponisten nach Palästina in den 1930er Jahren. Da der Staat Israel erst 1948 gegründet wurde, ist es üblich, die bis dahin im Lande geschaffene Musik als »eretz-israelische Musik« zu bezeichnen. Israelische Musik ist so gesehen von Anfang an »neue« Musik: Sie ist ausschließlich Musik des 20. und 21. Jh.s. und mithin ein recht junges kulturelles Feld verglichen mit dem Bereich, mit dem sie korrespondiert  – der westlichen Kunstmusik. Daher sind Sinn und Rolle von »Tradition« mit der Situation in Europa kaum vergleichbar. Allerdings werden vor Ort lokale jüdische und arabische Musiktraditionen gepflegt, auf die israelische Komponisten immer wieder zurückgegriffen haben. Neu im Sinne von »innovativ« ist israelische Musik allerdings recht selten und in geringem Maße gewesen. Das hängt damit zusammen, dass das Musikleben zwar nach westlichem Vorbild herangebildet wurde, das Land allerdings peripher bleibt, dabei bedeutsame politische und demographische Wandlungen erfährt und auch von den globalen Einflüssen von Popkultur und Technologie nicht verschont wird. Selbst im gegenwärtigen Zeitalter der Ä Globalisierung fällt es den aktiv an der neuen Musik in Israel Beteiligten dabei oft schwer, mit den Entwicklungen in den kulturellen Zentren der westlichen Welt Schritt zu halten bzw. solchen Entwicklungen gegenüber Widerstand zu artikulieren, um das eigene Profil zu schärfen. 1. Komponisten Eine Unterteilung von israelischen Komponisten in drei oder vier Generationen ist fester Bestandteil israelischer 320 Israel Musikgeschichtsschreibung. Demnach gehören die meistens aus Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren nach Palästina eingewanderten Komponisten zur ersten Generation. Zu ihnen werden Paul Ben-Haim (1897–1984), Mark Lavry (1903–67), Alexander Uriah Boskovich (1907– 64), Ödön Partos (1907–77), Hanoch Jacoby (1909–90), Josef Tal (1910–2008), Abel Ehrlich (1915–2003), Haim Alexander (1915–2012) und Mordecai Seter (1916–94) gezählt. Zur gleichen Zeit gab es allerdings im Land bereits Komponisten, die aus Russland emigriert waren und der sog. St. Petersburger jüdischen Schule entstammten oder ihr nahestanden (u. a. Joel Engel, 1868–1927, und Solomon Rosowsky, 1878–1962). Zur zweiten Generation werden Komponisten gezählt, die in den 1920er und 30er Jahren (teilweise in Palästina) geboren wurden und Hebräisch als Muttersprache beherrschten. Als Vertreter dieser Generation dürfen Yehezkel Braun (1922–2014), Ben-Zion Orgad (1926–2006), Tzvi Avni (*1927), Noam Sheriff (*1935) und Ami Maayani (*1936) angesehen werden. Viele von ihnen gingen ins Ausland, um sich dort ausbilden zu lassen. Sie waren insgesamt weniger national gesinnt als die Angehörigen der ersten Generation, sodass sie sich moderne Kompositionstechniken und -mittel aneigneten (z. B. Ä serielle Musik und Ä elektronische Musik). Diese Komponistengeneration bemühte sich außerdem um eine Synthese aus Materialien der lokalen jüdischen Musiktradition und der aktuellen westlichen Ästhetik. Die dritte Generation kann als pluralistisch und kosmopolitisch gekennzeichnet werden. Sie setzt sich zusammen aus in Israel geborenen Komponisten, für die die Existenz des Staates samt seiner Kultur eine selbstverständliche Tatsache war und die in einer regen und etablierten Musikszene aufwuchsen. Viele dieser in den 1940er und 1950er Jahren in Israel geborenen Komponisten kehrten ab den 1980er Jahren verstärkt zur Aneignung lokaler Musikpraktiken und -traditionen zurück, darunter Joseph Mar-Haim (*1940), Menachem Zur (*1942), Arie Shapira (1943–2015), Dan Yuhas (*1947), Menachem Wiesenberg (*1950), Yinam Leef (*1953), Betty Olivero (*1954), Eitan Steinberg (*1955), Michael Wolpe (*1960) und Oded Zehavi (*1961). Die Tendenz zu einer Identifizierung mit den »jüdischen Wurzeln« in dieser Generation mag man im Zusammenhang mit dem verstärkten israelischen Nationalismus u. a. im Zuge der kriegerischen Konflikte mit den arabischen Ländern und den Palästinensern interpretieren. Über die Jahre wanderten nach Israel weitere Komponisten aus verschiedenen Herkunftsländern ein und setzten ihre Akzente in der jeweiligen Szene: Sergiu Natra (*1924, Immigration 1961), Andre Hajdu (*1932, Immigration 1966), Mark Kopytman (1929–2011, Immigration 1972) und Joseph Bardanashvili (*1948, Immigration 1995). 2. Institutionen und Musikleben Gegenwärtig existieren in Israel zwei öffentlich-rechtliche Musikhochschulen (Tel-Aviv und Jerusalem), zwei musikwissenschaftliche Institute (an der Hebrew University Jerusalem und an der Bar-Ilan University, Ramat-Gan), eine Musikabteilung (Universität Haifa) und eine Ausbildungsstätte für Musikerzieher (Tel-Aviv). Lediglich an der Buchmann-Mehta School of Music (Tel-Aviv) gibt es ein Institut für Neue Musik und selbst dieses steht nicht gerade im Zentrum der Aktivitäten dieser Musikakademie. Heute setzen mehr Absolventen der akademischen Musikinstitutionen in Israel als je zuvor ihre Studien im Ausland fort. Somit vergrößern sich die Chancen, dass sie in Berührung mit der internationalen Szenen der neuen Musik kommen. Eine auffallend große Anzahl dieser Studierenden  – Interpreten ebenso wie Komponisten kehrt jedoch nicht nach Israel zurück (Shulamit Ran, *1947, Emigration 1961; Michael Barolsky, 1947–2009, Emigration 1971; Jan Radzynski, *1950, Emigration 1977; Chaya Czernowin, *1957, Emigration 1982), sodass die israelische Szene von dieser Entwicklung nur wenig beeinflusst wird. Eine relativ große Anzahl von israelischen Komponisten lebt heute in den USA und in westeuropäischen Staaten. Nur wenige von ihnen pflegen eine Verbindungen zum israelischen Musikleben. In Israel gibt es nur eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt für westlich orientierte Kunstmusik, Kol Ha-Musica (Stimme der Musik), deren Weiterbestehen momentan angeblich aufgrund kulturpolitischer Einsparungen gefährdet ist. Der Sender produziert allerdings keine Studioaufnahmen, sondern strahlt auf Tonträger weltweit aufgenommene Musik aus, sendet Konzerte live und zeichnet nur wenige Konzerte im Jahr auf, darunter diejenigen des Jerusalem Symphony Orchestra (dessen Programme praktisch keine neue Musik enthalten) sowie der Israel Contemporary Players. In den letzten Jahren wurden in Israel vier Ensembles für neue Musik gegründet: Musica Nova Consort (1986), Israel Contemporary Players (1991), das Meitar Ensemble (2004) und das Ensemble Nikel (2007). Die beiden letztgenannten veranstalten seit kurzem internationale Sommerkurse (Tzlil Meudcan [Aktueller Klang], seit 2010, CEME [Contemporary Encounters by Meitar Ensemble], seit 2013) und ermöglichen damit jungen Musikern erste Begegnungen mit renommierten Musikern und Komponisten (z. B. Philippe Leroux und Fabián Panisello). Die Israel Composers League wurde im Jahr 1953 gegründet und hat gegenwärtig etwa 220 Mitglieder. Der Katalog des an die League angegliederten Verlages Israel 321 Music Center umfasst derzeit knapp 4000 Werke. Das Israel Music Institute, ein halb-staatlicher Musikverlag, der im Jahr 1961 gegründet wurde, besitzt die Rechte an ca. 7500 Werken von 185 Komponisten. Staatlich subventionierte israelische Orchester bringen so gut wie keine Werke der neuen Musik zur Aufführung. Gelegentlich enthält ein Programm ein in eher konservativer Stilistik gehaltenes Werk eines israelischen Komponisten, in der Saison 2014–15 etwa die Uraufführungen folgender Werke: Joseph Bardanashvilis Magnificat, Moshe Zormans (*1952) Violin Concerto (»Homage to Sasha«), Boaz Ben-Moshes (*1962) Triple Concerto für Violine, Kontrabass, Gitarre und Orchester und Naama Tamirs (*1984) Spring Fantasies. In derselben Saison enthielten die Konzertprogramme der acht wichtigsten israelischen Orchester mit György Ligetis Ramifications für Streichorchester (1968–69) nur ein einziges Werk der westlichen Avantgarde. Im Rahmen des Israel Festivals 2015 war Helmut Lachenmann zum ersten Mal in Israel zu Gast. Musiker des Ensemble Modern führten Pression für einen Cellisten (1969–70) und »… zwei Gefühle …«, Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble (1991–92) auf. In Israel gibt es derzeit kein Festival für neue Musik (das legendäre Festival Testimonium wurde zwischen 1968 und 1983 sechs Mal in Jerusalem veranstaltet). Jährlich vergibt das Kultusministerium einige Preise des Ministerpräsidenten an israelische Komponisten und die Verwertungsgesellschaft ACUM sowie die Lotterie-Gesellschaft zeichnen Komponisten aus. Ein Kompositionswettbewerb wird jährlich vom Komponistenverband ausgerichtet. Eine Zeitschrift für neue Musik existiert bisher nicht. Zeitgenössische Musik hat in Israel heute insgesamt einen geringen Anteil am gegenwärtigen kulturellen Diskurs; selbst stilistisch konservative neue Werke israelischer Komponisten werden von der Öffentlichkeit meist als »zu« modern oder aber als provinziell rezipiert. Diese Tatsache ist umso merkwürdiger, als über zeitgenössische israelische Literatur, Tanz und Film eine breite Diskussion auf internationalem Niveau stattfindet. Israel Die Frage nach der nationalen Identität wurde im musikbezogenen Diskurs seit Mitte der 1980er Jahre immer seltener gestellt. In den letzten 15 Jahren wird sie von einer Gruppe von Komponisten und Musikwissenschaftlern jedoch wieder verstärkt thematisiert (Friling u. a. 2014). Musikwissenschaftler, Komponisten und Musikinteressierte strebten jahrzehntelang danach, wiedererkennbare musikalische Charakterzüge als »typisch« für das sich heranbildende Israelische zu definieren. In der Beschreibung israelischer Musik wurden entsprechend zahlreiche Bezeichnungen für Genres, Stile (z. B. die »mediterrane Schule«), Generationen und Epochen der israelischen Musikgeschichte eingeführt (Gradenwitz 1952; Cohen 1990). Dabei übersah man häufig das kontinuierliche Einsickern von einem musikalischen Bereich in einen anderen, etwa das Zusammenkommen von hassidischen religiösen Gesänge niggunim und beduinischen bzw. palästinensischen Melodien in der zionistisch gesinnten Kunstmusik. Es scheint, als versuche man, neue Kunstmusik und andere in Israel gängige Formen von Musik unkritisch als vereinheitlichtes nationales Produkt darzustellen. Ä Arabische Länder; Globalisierung Assaf, Oded: Die israelische Musik. Einladung zu einem Ausflug in ein »Spannungsfeld«, in: Kultur in Israel. Eine Einführung, hrsg. v. Anat Feinberg, Gerlingen 1993, 144– 168 „ Cohen, Yehuda: Neimej smiroth Israel [The Heirs of the Psalmist: Israel ’ s New Music], Tel Aviv 1990 „ Cooiman, Jurriaan / Bossert, Sabina: Culturescapes Israel. Kultur im Spannungsfeld des Nahen Osten, Basel 2011 „ Fleisher, Robert: Twenty Israeli Composers. Voices of a Culture, Detroit 1997 „ Friling, Tuvia / Katz, Gideon / Wolpe, Michael (Hrsg.): Music in Israel (Iyunim Bitkumat Israel 8), Jerusalem 2014 „ Gradenwitz, Peter: Music and Musicians in Israel, Jerusalem 1952 „ Hirshberg, Jehoash: Music in the Jewish Community of Palestine, 1880–1948, New York 1995 „ John, Eckhard / Zimmermann, Heidy (Hrsg.): Jüdische Musik? Fremdbilder – Eigenbilder, Köln 2004 „ Shelleg, Assaf: Jewish Contiguities and the Soundtrack of Israeli History, New York 2014 „ Tischler, Alice: A Descriptive Bibliography of Art Music by Israeli Composers, Sterling Heights 2011 Literatur Yuval Shaked 322 Japan J Japan Inhalt: 1. 1945–1960  „ 2. Seit 1960  „ 3. Jüngere Entwicklungen 1. 1945–1960 Die japanische Musikgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg kann insgesamt verstanden werden als eine Reihe von Reaktionen auf die allgegenwärtige Spannung zwischen einer Orientierung an globalen musikalischen Trends und Versuchen, das »inhärent Japanische« zu wahren oder neu zu definieren. Im Jahr 1945 war das Alltagsleben in Japan bereits seit mehreren Jahrzehnten von westlicher Kunstund Popularmusik durchdrungen gewesen. Die erste Generation vorwiegend westlich orientierter japanischer Komponisten, wie z. B. Kósçak Yamada (1886–1965), Meirō Sugawara (1897–1988) und Saburō Moroi (1903–77), trug nachhaltig zu einer Normierung und Institutionalisierung von Musik nach westlichem Vorbild bei. Umfangreiche Studien europäischer Musik dienten sogar jenen Komponisten als Ausgangspunkt, die eher nationalistisch orientiert waren, wie z. B. Yasuji Kiyose (1900–81), Fumio Hayasaka (1914–55) und Akira Ifukube (1914–2006), da das Streben nach einer Miteinbeziehung »japanischer« Elemente in den »europäischen« Stil im Wesentlichen europäischen nationalistischen Bewegungen nachempfunden war (Herd 1989, 2004). Die 1930 von 16 jungen Komponisten gegründete Gruppierung Shinkō Sakkyokuka Renmei (Vereinigung innovativer Komponisten) trat 1935 unter dem geänderten Namen Nihon Gendai Sakkyokuka Renmei (Vereinigung zeitgenössischer japanischer Komponisten) der seit 1922 bestehenden International Society of Contemporary Music (ISCM) bei (Ä Institutionen / Organisationen) und beteiligte sich an den ISCM-Festivals 1937 und 1939. Diese Entwicklungen fanden während des Zweiten Weltkriegs ein abruptes Ende aufgrund der Unterdrückung kreativer Freiheit und der systematischen Kontrolle künstlerischer Aktivitäten durch die Eingliederung öffentlicher Gruppen, Gesellschaften und Vereinigungen in die Gakudan Shintaisei Sokushin Dōmei (Vereinigung für die Förderung des neuen Systems in der Musikkultur, 1940) sowie die Gründung der Nihon Ongaku Bunka Kyōkai (Japan Music Culture Asso- ciation, 1941), die sämtliche musikbezogenen Aktivitäten in Japan unter der Schirmherrschaft des berüchtigten Informationsbüros des Innenministeriums steuerte. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs und ermutigt durch die Auflösung kriegszeitlicher Institutionen (darunter der Japan Music Culture Association), kam es in den darauf folgenden Jahren zur (Neu-)Gründung mehrerer Komponistengruppierungen wie z. B. Shinsei Kai (Gruppe der neuen Stimme, 1946) mit europäisch orientierten Komponisten wie Minao Shibata (1916–96) und Yoshirō Irino (1921–80), Shin Sakkyokuha Kyōkai (New Group of Composers, 1946) mit eher nationalistisch eingestellten Komponisten wie Kiyose, Hayasaka, und Yoritsune Matsudaira (1907–2001), Nihon Gendai Ongaku Kyōkai (kurz GenOn, Japanische Gesellschaft für zeitgenössische Musik, die Nachfolgeorganisation der Nihon Gendai Sakkyokuka Renmei und japanische Sektion der ISCM, 1946), Chijin Kai (Gruppe der »Erdenmenschen«, 1948) mit neoklassizistisch orientierten Komponisten wie Kōmei Abe (1911–2006) und Saburō Takata (1913–2000) sowie Jiyū Sakkyokuka Kyōkai (Liberal Society of Composers, 1951). Diese Gruppenbildungen erfolgten insgesamt eher aus praktischen und ökonomischen denn aus ästhetischen Gründen. Eine Ausnahme war die Shinsei Kai, deren jüngere Mitglieder fest entschlossen waren, technische und stilistische Neuerungen  – insbesondere die Einführung der Ä Zwölftontechnik  – in Japans Komponistenszene durchzusetzen. Die Musik Arnold Schönbergs war schon in den 1930er Jahren von japanischen Komponisten diskutiert worden, u. a. von Kiyoshi Nobutoki (1887–1965), der angeblich »zahlreiche« Partituren Schönbergs besaß (Nakajima 1974, 173) und diese seinem Studenten Saburō Moroi (die meisten Mitglieder der Shinsei kai waren Morois Schüler) anvertraute, jedoch wurden erst mit Beginn der 1950er Jahre dodekaphone Techniken auch in Kompositionen angewendet, als Irino sein Concerto for Seven Instruments (1951) schrieb (ebd.). Die Tatsache, dass der Subtext von René Leibowitz ’ Buch Schoenberg et son école (1947)  – das eine Schlüsselrolle in der japanischen Rezeption der Zwölftontechnik spielte –, anfangs in diesem Zusammenhang von japanischen Komponisten übersehen wurde, war nicht unwesentlich: Das Buch wurde 1948 von Kunio Toda (1915–2003) aus dem französischen Saigon, wo Toda inhaftiert gewesen war, nach Japan gebracht. Es wurde von mehreren Komponisten, darunter Irino, eingehend studiert (Chōki 2010, 138), jedoch war ihr Wissen über die neuesten musikalischen Entwicklungen in Europa nicht ausreichend, um die im Text angelegte Stoßrichtung gegen den Neoklassizismus – insbesondere gegen die Musik Igor Strawinskys – zu erkennen sowie Leibowitz ’ Zögern, 323 Anton Weberns Musik als unmittelbare Folge von Schönbergs dodekaphonem Denken zu sehen, zu verstehen. Dementsprechend vollzogen diese japanischen Komponisten die Entwicklung zur Ä seriellen Musik, die zeitgleich von westlichen Komponisten entwickelt wurde, kaum mit. Das war jedoch vermutlich das letzte Mal, dass japanische Komponisten bewusst »veraltete« Kompositionstechniken aufgriffen, um damit ihre historische »Verspätung« auszugleichen: Der nachkriegszeitliche Informationsfluss nach Japan (über Medienberichte, Radiosendungen, importierte Tonträger und Partituren etc.) sowie der zunehmend intensivierte Flugverkehr erlaubten es jüngeren Komponistengenerationen Japans bald, zeitgenössische kompositorische Trends aktiv mitzubestimmen. Ein Beispiel hierfür ist Jikken kōbō (Experimenteller Workshop), eine Künstlervereinigung, die 1951 gegründet wurde und in den folgenden sieben Jahren aktiv war. Die Mitglieder, darunter die Komponisten Jōji Yuasa (*1929) und Tōru Takemitsu (1930–96), der Pianist Takahiro Sonoda (1928– 2004), der Dichter und Musikkritiker Kuniharu Akiyama (1929–96) sowie der bildende Künstler Tetsurō Komai (1920–76), waren über die neuesten künstlerischen Ideen und Trends des Westens sehr gut informiert. Die vielschichtige Ästhetik, die bei den interdisziplinären Veranstaltungen dieser Gruppierung erkennbar wurde, diente Japans Avantgarde während der folgenden Jahrzehnte als Wegweiser. Ein weiteres Beispiel für die Gleichzeitigkeit mit europäischen Entwicklungen ist das erste Experiment mit musique concrète, das 1953 von Toshirō Mayuzumi (1929–97) durchgeführt wurde, dessen Studium in Paris ihm 1951–52 die Möglichkeit geboten hatte, europäische Strömungen aus erster Hand kennenzulernen. Mayuzumi war Mitglied der 1953 gegründeten Komponistengruppierung San ’ nin no kai (Gruppe der Drei), dessen Mitglieder  – Mayuzumi, Yasushi Akutagawa (1925–89) und Ikuma Dan (1924–2001) – ihr umfangreiches Wissen über neue Musik in eine materialgesättigte Kreativität umzusetzen wussten. 1957 legte Mayuzumi mit Aoi no ue ein Schlüsselwerk der japanischen musique concrète vor, dem ein Stoff und die Musik des Nō-Theaters zugrunde lagen. Insgesamt spielten die Rezeption der japanischen Hofmusik gagaku (Everett 2004) und der mittelalterlichen rituellen Musiktheaterform Nō bis in die Gegenwart die prägendste Rolle in der Auseinandersetzung japanischer Komponisten mit traditionellen Genres. Gemeinsam mit Irino, Shibata und Mayuzumi gründete Makoto Moroi (1930–2013), der Sohn Saburō Morois, nach seiner Rückkehr von einem mehrmonatigen Europaaufenthalt 1956 das Nijūsēki Ongakukenkyūjo (Musikalisches Laboratorium 20. Jh.), das von 1957 bis 1965 das Gendai Ongakusai (Festival für zeitgenössische Musik) Japan nach dem Vorbild der Darmstädter Internationalen Ferienkurse für Neue Musik und der Donauschinger Musiktage veranstaltete (1957–59 in Karuizawa, 1961 in Ōsaka, 1963 in Kyōto und 1965 in Tokyo; Galliano 2002, 180–182). Mayuzumi hatte 1956 als erster japanischer Komponist an den Darmstädter Ferienkursen teilgenommen (Schlüter 2012, 120), eine relativ große Zahl japanischer Kollegen folgte und insbesondere Werke Yoritsune Matsudairas (u. a. das am gagaku orientierte Piano to kangengaku no tame no shudai to hensō [Thema und Variationen für Klavier und Orchester], 1951, das bereits 1952 beim ISCM-Festival in Salzburg aufgeführt wurde, sowie U Mai für Orchester, 1957, aufgeführt bei den Darmstädter Ferienkursen 1958) und Jōji Yuasas (u. a. Cosmos Haptic für Klavier, 1957) fanden in Europa früh Anerkennung (Sawabe 1992). Mayuzumi schuf 1958 mit der spektakulären Nirvana Symphony (Nehan kokyokyoku) für Orchester und Männerchor das Hauptwerk der japanischen Musik der 1950er Jahre (ebd., 142–152). Die inharmonischen Spektren japanischer Tempelglocken und das Idiom des buddhistischen Mönchsgesangs shōmyō wurden auf im Raum verteilte Orchester- und Chorgruppen übertragen und damit ein Pionierwerk der Ä Spektralmusik sowie der Raumkomposition vorgelegt. Mayuzumis Komponieren erhielt seit den späten 1950er Jahren dann eine immer stärkere rechtspolitische Tendenz, u. a. im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Yukio Mishima (Nuss 2004; Ä Themen-Beitrag 9, 3.1). Das zunehmende Interesse an elektronischer Musik führte 1955 zu der lange ersehnten Eröffnung des Elektronischen Studios des Nippon Hōsō Kyōkai (NHK, Japan Broadcasting Cooperation), das mit neuesten Audiotechnologien wie Rauschgeneratoren, Sinuswellengeneratoren etc. ausgestattet war (Kawasaki 2007, 21–30). Einige der dort produzierten Werke wurden bei den Darmstädter Ferienkursen vorgestellt und auf RAI ausgestrahlt (die Toningenieure und Komponisten des Studios in Tokyo standen in regelmäßigem Kontakt mit den RAI-Mitarbeitern). Karlheinz Stockhausen realisierte 1966 sein umstrittenes Werk Telemusik (1966) in diesem Studio, nicht zuletzt mit der Intention, eine »nationenübegreifende« Musik zu schaffen. Obwohl das Studio mittlerweile seine Aktivitäten eingestellt hat, bleibt es Symbol für eine historische Situation, in der einheimische Komponisten realisierten, dass es kein strategischer Nachteil mehr war, in Japan zu leben. 2. Seit 1960 Diese ersten Versuche, neueste internationale kreative Strömungen zu absorbieren, wurden ab den 1960er Jahren durch zwei weitere Entwicklungen bereichert: die Neustrukturierung von Aufführungspraxis und Lehrme- 324 Japan thoden von Hōgaku-Musikern (Musiker traditioneller japanische Musik) sowie die zunehmenden Aufenthalte nicht-japanischer Komponisten und Musiker in Japan. Die Motivation für die Annäherung mancher HōgakuMusiker an die neue Musik entsprang nicht nur dem Wunsch, das traditionelle Iemoto-System aufzulockern (in dem jede Interpretenschule fest in den eigenen genuinen Lehrmethoden verankert war, was einen übergreifenden künstlerischen und pädagogischen Austausch der Schulen erschwerte), sondern auch der Absicht, die Notationspraxis zu modernisieren. Diese Bestrebungen führten u. a. zum Konzept der gendai hōgaku (modernes hōgaku). Dieses Konzept ermöglichte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erstmalig die Umsetzung neuer Partituren für Ensembles unter der Beteiligung von Hōgaku-Instrumenten (Sengo Ongakushi Kenkyūkai 2007, Bd. 1, 388–399). Wohl noch nachhaltigere Wirkung entfalteten Japanaufenthalte westlicher Komponisten. Obwohl Japan schon seit dem späten 19. Jh. ausländische Interpreten und Komponisten eingeladen hatte (z. B. Alexander Tscherepnin und Felix Weingartner in den 1930er Jahren), waren die Auswirkungen derartiger Aufenthalte nach dem Krieg deutlich stärker spürbar, da das erhebliche gegenseitige Interesse zu einer wechselseitigen Befruchtung führte: Die Besuche von Alan Hovhaness 1960 sowie von John Cage und David Tudor 1962, die vom Sōgetsu Art Center organisiert wurden (Cages Besuch wurde vermittelt vom in New York ausgebildeten Komponisten Toshi Ichiyanagi, *1933), waren zentrale Beispiele dafür. Obwohl das Sōgetsu Art Center, geleitet vom Ikebana-Künstler Hiroshi Teshigawara (1927–2001), nur relativ kurze Zeit existierte (1958–71), spielte es insgesamt eine bedeutsame Rolle darin, avantgardistische musikalische und künstlerische Bewegungen aus Übersee – insbesondere nordamerikanische Strömungen, die sich zum Teil unabhängig von Europa entfalteten (Ä Nordamerika)  – dem japanischen Publikum näher zu bringen (Sōgetsu Art Center 2002). Das wesentliche Ergebnis dieser Ereignisse war, dass japanische Komponisten vermehrt die Notwendigkeit verspürten, sich von der rationalen Ästhetik westlich geprägter Musik wie der seriellen Musik zu entfernen und sich alternativen ästhetischen Vorstellungen anzunähern; diese Entwicklung wurde insbesondere ausgelöst durch Cages Ästhetik der Unbestimmtheit (Ä Zufall) und ein zunehmendes Interesse an traditioneller japanischer bzw. asiatischer Musik, wobei beide Einflüsse neue Vorstellungen von musikalischer Zeit, Raum und Logik implizierten. Dies bereicherte letztlich die Suche nach einer »eigenen japanischen Stimme«, ohne dass dabei eine Rückkehr zu den nationalistischen Tendenzen der Vorkriegs- und Kriegsjahre befürchtet werden musste (Fukunaka 2014). Im Bewusstsein der Gefahr, zu sehr zu verallgemeinern, könnte man argumentieren, dass es seit den 1960er Jahren Komponisten wie z. B. Takemitsu, Minoru Miki (1930–2011) und Maki Ishii (1936–2003), die sich zunehmend an ein globales Publikum wenden konnten, primär wegen eben dieser internationalen Öffnung gelungen ist, eine Balance zu finden zwischen der an sie herangetragenen Erwartung, etwas spezifisch »Japanisches« (oder in manchen Fällen bloß »Asiatisches«) zu vermitteln, und ihrem eigenen Drang nach einer individuellen Ästhetik. Ihre Essays und Interviews sind Zeugnisse für die Bemühung, den Rekurs auf japanische Traditionen von politischen oder kulturellen Ideologien freizuhalten (Takemitsu 1995; Ishii-Meinecke 1997). 3. Jüngere Entwicklungen Eine vergleichbare kreative Grundhaltung lässt sich auch bei jüngeren Komponistengenerationen ausmachen, wie z. B. bei Jō Kondō (*1947), Sōmei Satō (*1947), Isao Matsushita (*1951), Akira Nishimura (*1953) und Toshio Hosokawa (*1955). Obwohl sich ihre Stile wesentlich voneinander unterscheiden, zeichnet sich ihre Musik dennoch durch vergleichbare ästhetische Grundvoraussetzungen aus, z. B. ein eher statisches als vorwärts treibendes Zeitempfinden, wobei die Musik nach wie vor in eine solide Kompositionstechnik eingebettet ist, die vornehmlich auf der westlichen Musiktradition aufbaut. So bemühte sich Kondō um eine Synthese aus der Rezeption des amerikanischen Ä Minimalismus und »traditioneller« japanischer Ästhetik in seinem seit 1973 entwickelten Prinzip einer »linearen Musik« (sen no ongaku), in dem eine reduktive Konzentration auf den Einzelton immer wieder durch Pausen »zerschnitten« wird (Galliano 2002, 294–297; Cole 2006). Neben dem herausragenden internationalen Erfolg von Takemitsus Œuvre (Burt 2001) in der Folge der viel beachteten New Yorker Uraufführung des Schlüsselwerkes November Steps (1967) für shakuhachi, satsuma-biwa und Orchester, ein Auftrag zum 125-Jahrjubiläum der New York Philharmonic, hat vor allem das Werk Hosokawas in Europa besondere Aufmerksamkeit erfahren (Sparrer 2007; Hosokawa / Sparrer 2012; Galliano 2013), bedingt nicht zuletzt durch eine Vielzahl prestigeträchtiger Aufträge und Aufführungen, u. a. im Bereich des Musiktheaters (Vision of Lear, 1998; Hanjo, 2004; Matsukaze, 2011), wo Hosokawa bei deutlicher Bezugnahme auf die Tradition des Nō-Theaters eine eigenständige Position vertritt (Fukunaka 2013; Ä Musiktheater). Hosokawa hat nicht zuletzt mit der Gründung und Leitung von Festivals und Kursen in Akiyoshidai (International Contemporary Music Seminar and Festival Akiyoshidai, 1989–98) und 325 Takefu (Takefu International Music Festival, seit 2001) auch die institutionelle Etablierung neuer Musik in Japan in den letzten Jahrzehnten entscheidend vorangetrieben. Auf der anderen Seite muss auch festgestellt werden, dass die zunehmende Präsenz japanischer Komponisten, die »japanische« Charakteristika deutlich akzentuieren, auf dem internationalen Markt wesentlich dazu beitrug, dass jüngere Komponisten oft nicht mehr dieselbe Notwendigkeit verspürten, »Japanisches« in ihrer Musik zu verhandeln  – ein willkommener Wandel zu einer Zeit, in der, zumindest für manche, die Frage nationaler oder ethnischer Identität ein abgeschlossenes Kapitel zu sein scheint. Diese Einstellung ist insbesondere bei jenen spürbar, die im neuen Millennium internationale Aufmerksamkeit erlangten, darunter Masahiro Miwa (*1958), Misato Mochizuki (*1969), Dai Fujikura (*1977) und Kenji Sakai (*1977). Diese Komponisten haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ein feinsinniges Gespür für die Gestaltung musikalischer Zeit und Klangfarbe bewiesen, dessen Unverwechselbarkeit jedoch nicht unbedingt auf ihre Nationalität zurückzuführen ist. Die Vielfalt der japanischen Musikszene nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich schließlich auch an eher »isolierten« Persönlichkeiten wie z. B. Yoriaki Matsudaira (*1931), Yūji Takahashi (*1937) und Ichirō Nodaira (*1953). Obgleich ihre avantgardistischen Tendenzen offenkundig sind, unterscheiden sie sich untereinander wesentlich bezüglich ihrer ästhetischen Haltung und ihrer Position gegenüber politisch-sozialen Fragen. Besonders Takahashis im Westen weiterhin wenig bekannter kompositorischer Ansatz zeigt nach einer Phase der linkspolitisch engagierten Musik in den 1960er bis 80er Jahren seit den 1990er Jahren eine große Breite an Möglichkeiten durch Bezug auf idiosynkratische Elemente nicht-westlicher Musikpraxis (die bei Takahashi nicht auf japanische Genres begrenzt ist) und sensible Formen praxisnaher Ensemblekommunikation neue musikalische Situationen zu erzeugen und damit die persistente Ost-West-Polarität zu überwinden (Utz 2014, 84–88, 265–273). Ä Themen-Beitrag 9 Akiyama, Kuniharu: Nihon no sakkyokukatachi [Japanische Komponisten], 2 Bde., Tokyo 1978/1979 „ Burt, Peter: The Music of Tōru Takemitsu, Cambridge 2001 „ Chōki, Seiji: Sengo no Ongaku [Nachkriegsmusik], Tokyo 2010 „ Cole, John: An Introduction to Jo Kondo ’ s Sen no ongaku Music of 1973 to 1980, in: Ex tempore 13/1 (2006), 70–143 „ Everett, Yayoi Uno: Mirrors of West and Mirrors of East: Elements of Gagaku in Postwar Art Music, in: Translating Asia ’ s Traditions: Diasporas and Interculturalism in Asian Performing Arts, hrsg. v. Hae-kyung Um, New York 2004, 176–203 „ Fukunaka, Fuyuko: Narrative, Voice, and Reality in the Operas by Hosokawa Toshio and Jazz Mochizuki Misato, in: Vocal Music and Contemporary Identities: Unlimited Voices in East Asia and the West, hrsg. v. Christian Utz und Frederick Lau, New York 2013, 116–132 „ dies.: Re-situating Japan ’ s Post-War Musical Avant-Garde through Re-situating Cage. 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Jh.s, Bielefeld 2014 „ Wade, Bonnie C.: Composing Japanese Musical Modernity, Chicago 2014 Fuyuko Fukunaka, Übersetzung: Dieter Kleinrath Literatur Jazz Jazz und neue komponierte Musik sind meist musikalisch und gesellschaftlich getrennte Sphären, sieht man von vereinzelten Versuchen der Vermischung, aber auch tatsächlich in mancher Hinsicht fließenden Grenzen ab (zu einer losen Systematisierung möglicher Grenzüberschreitungen vgl. Jost 1984). Komponisten begannen schon in Jazz den 1920er Jahren sich für die zu dieser Zeit neuartigen Musikformen des Jazz zu interessieren. Jazz und seine Vorläufer wie der Ragtime wurden dabei, vergleichbar den im Exotismus rezipierten außereuropäischen Musikformen (Ä Globalisierung), als ein Anderes wahrgenommen und rezipiert (Sandner 2005). Umgekehrt studierten zahlreiche namhafte Jazzmusiker Formen und Werke der Kunstmusikgeschichte, was sich zum Teil auch deutlich in ihrer Musik niederschlug. Dabei reichten die Konzepte von der Idee des Bigbandleiters Paul Whiteman (1890– 1967), sich durch kompositorische Strenge vermeintlich zu »adeln« und sich damit innerhalb der Konzertmusik zu etablieren, über Gunther Schullers (1925–2015) Konzept des »Third Stream« (Schuller 1961/86; vgl. Hellhund 1986) bis hin zu individueller Rezeption von vorwiegend zeitgenössischer Kunstmusik etwa bei Thelonious Monk (1917–82), Cecil Taylor (*1929), John Tchicai (1936–2012), Carla Bley (*1938), Alexander von Schlippenbach (*1938), Michael Mantler (*1943), Anthony Braxton (*1945) oder Barry Guy (*1947). Deutlich häufiger allerdings wurde und wird im Jazz die Musik des 18. und 19. Jh.s als Anreger genommen, wie umgekehrt auch in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jh.s Komponisten sich vorwiegend älteren Spielformen des Jazz zuwandten – freilich neben vereinzelten Beispielen einer kompositorischen Rezeption neuerer und zeitgenössischer Strömungen von Jazz bzw. Free Jazz (Kumpf 1975/81; Jost 1984; Karl 1986). Schon zu Beginn des 20. Jh.s integrierten Komponisten der Groupe des Six, aber auch Claude Debussy, Charles Ives, Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Erwin Schulhoff, Paul Hindemith, George Gershwin, Kurt Weill, Ernst Krenek oder Karl Amadeus Hartmann Jazzidiome oder Jazzderivate in ihre Musik – oft allerdings geglättet bzw. stilisiert. Neben semantischen Konnotationen des Jazz als Unterhaltungsmusik der Afroamerikaner war es vor allem die rhythmische Komponente, später auch die Klangfarbengestaltung, die Komponisten faszinierte. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s versuchten Komponisten Jazz und neue Musik zusammen zu bringen. Rolf Liebermann verband etwa in seinem Concerto for Jazzband and Orchestra (1954) Jazzrhythmen mit seriell basierter Melodiegestaltung, Milton Babbitt versuchte in All Set für Jazzband (1957) jazztypische Phrasierung und Rhythmik mit Methoden der Ä Zwölftontechnik zu amalgamieren. Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann (Oper Die Soldaten, 1957–65, Nobody knows de trouble I see für Trompete und Orchester, 1954), Hans Werner Henze (»Lyrisches Drama« Boulevard Solitude, 1950–51, »Show« Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer, 1970–71) oder Michael Tippett (Opern The Knot 326 Garden, 1966–70, The Ice Break, 1973–76) integrierten idiomgebundene, am traditionellen Jazz orientierte Passagen in einige ihrer Werke. Hier ist der Einsatz meist kontextgebundenen semantischen Konnotation geschuldet. Der Jazz wird oft (u. a. bei Zimmermann und Henze), vor allem in der Oper, archetypisch, aber auch klischeehaft als Musik der Kneipen und Bars eingesetzt, steht leitmotivisch für Unterhaltung, aber auch für sozial benachteiligte Schichten und als Symbol der Unterdrückung bzw. für das Streben nach Gleichberechtigung. Verwendet werden an den Jazz angelehnte Phrasierung, Walking Bass und harmonisch-akkordische Anleihen, wobei oft auch dezidiert Jazzmusiker als Interpreten gefordert sind. Gerade Zimmermann verwendet diese Stilmittel zunehmend verschränkter oder gebrochener, was nicht zuletzt durch die Entwicklung seines pluralistischen Musikdenkens und die langjährige Zusammenarbeit mit dem Manfred Schoof Quintett bedingt ist (Kumpf 1981; Lothwesen 2000, 2009, 153–164). Nach einer kurzen Episode mit Jazzmusikern in der Oper Die Soldaten beziehen vor allem Zimmermanns Spätwerke wie Die Befristeten – Ode an Eleutheria in Form eines Totentanzes für Jazz-Quintett (1967) oder das Requiem für einen jungen Dichter – Lingual für Sprecher, Sopran- und Bariton-Solo, drei Chöre, elektronische Klänge, Orchester, Jazz Combo und Orgel nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen (1967– 69) Jazzmusiker mit ein, die eine Partitur mit improvisatorischen Freiräumen erhalten. Zimmermann komponiert den Gestus des Manfred Schoof Quintetts mit ein, so wie Jahrzehnte später etwa Jorge Sánchez-Chiong (*1969) für ganz bestimmte Improvisatoren komponiert. Der JazzEinfluss bei Zimmermann ist bestimmt durch die Arbeit am Material, z. B. der Verschränkung von Reihentechnik und einzelnen jazztypischen Elementen, und durch die Spielweise und das Spielgefühl des expressiven Jazz, dessen Gestus auch im Concerto pour Violoncelle et orchestre en forme de »pas de trois« (1965–66) mitschwingt (Kumpf 1981). Auf der Suche nach neuen Wegen in der Folge der Ä seriellen Musik, in denen mit offenen Werkstrukturen experimentiert wurde, finden sich um die 1960er Jahre weitere Komponisten, die Jazzelemente in ihre Werke integrieren oder sich auf verschiedene Arten auf den Jazz beziehen. Im Kontext der Idee eines offenen Kunstwerkes (Ä Zufall) und auf der Suche nach neuen Gestaltungsmitteln der Komposition entstanden Liaisons mit dem Free Jazz ebenso wie Kompositionen für (Free) Jazz Orchester oder Werke, in denen beide Musikformen und Klangkörper kontrastierend oder interagierend eingesetzt wurden. Ensembles erhalten dabei oft mehr oder weniger ausgeschriebene Stimmen, die Jazzer ein Gerüst und / oder Im- 327 provisationsanweisungen (Ä Improvisation). Komponisten wie Werner Heider (*1930; Ritmica für Orchester und Jazzcombo, 1958), Krzysztof Penderecki (*1933; Partita für Cembalo und Orchester, 1971), Hans-Joachim Hespos (*1938; dschen – das Erregende ist wie eine offene Schale, für Tenor-, Baritonsaxophon und Streichorchester, 1968; ka für Baritonsaxophon, Kontrabass und Orchester, 1973), Johannes Fritsch (1941–2010; Konzert für Trompete und Orchester, 1975), oder Mathias Spahlinger (*1944; Roaiu GHFF (strange?) für fünf Jazzsolisten und Orchester, 1981) experimentierten mit solchen Kooperationen, bei denen die Klangkörper im Konzert oft räumlich getrennt aufgestellt werden. Umgekehrt setzen sich Free Jazzer wie Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Anthony Braxton oder Barry Guy intensiv mit aktuellen Strömungen zeitgenössischen Komponierens auseinander und konzipieren entsprechende Partituren für (Free) Jazz Ensembles. Die Zwölftontechnik und die Wiener Schule üben dabei wesentliche Einflüsse aus, Alexander von Schlippenbach erarbeitete sich im Laufe der Jahre sogar die Fähigkeit, zwölftönig am Klavier zu improvisieren. Zudem setzte er sich intensiv mit der Musik Bernd Alois Zimmermanns auseinander. Barry Guy studierte die Musik von Iannis Xenakis und setzt diese Kenntnisse in komplexe Kompositionen für sein London Jazz Composers Orchestra um, Manfred Schoof (*1936) hatte nicht nur Trompete, sondern auch Komposition bei Bernd Alois Zimmermann studiert und versuchte, den Free Jazz unter Einbeziehung des jeweiligen Spielidioms der Solisten zu strukturieren und Form und Prozess neu zu fixieren (Ode, 1966). Anthony Braxton bewunderte Karlheinz Stockhausen, beschäftigte sich aber mit großem Interesse mit der gesamten europäischen Nachkriegsavantgarde. Bei anderen Komponisten ist die Inspiration durch den Jazz weniger offensichtlich. Viele waren jedoch in den 1960er Jahren bekennende Jazzhörer. György Ligeti ließ sich u. a. von der Rhythmik, aber auch der Harmonik des Jazz inspirieren (Floros 1996, 101 f.), auch wenn eindeutige Jazz-Bezüge – wie etwa in der Harmonik seiner Fünften Klavieretüde Arc-en-ciel (1985) (Clifton 2007) – eher selten gegeben sind. Diffuser ist die Inspiration durch den Jazz bei Karlheinz Stockhausen, der die subjektive Expressivität im Jazz ebenso ablehnte wie seine scheinbar vermeintlich einfachen Formen und den durchlaufenden Beat. Doch auch er gab zu, beim Hören von Jazzmusikern über Instrumentation und Spieltechnik einiges gelernt zu haben, nicht zuletzt von seinem als Jazztrompeter aktiven Sohn Markus (Kumpf 1975/81, 163 f.). John Cage, auf den sich viele Improvisatoren berufen, lehnte den Jazz und Free Jazz vehement ab. Er kannte den Jazz und den frü- Jazz hen Free Jazz der 1960er Jahre. Daran störte ihn neben der hohen Expressivität vor allem das dialogische Prinzip und die klaren Interaktionen, die damals im Free Jazz noch gängig waren (Cage 1976/84, 215 f., Kostelanetz 2003, 228–230; Lewis 2008, 129 f.). In den USA der 1950er und 1960er Jahre waren es vor allem Vertreter des Ä Minimalismus (Wilson 1985) und einige Komponisten im Kreise der New York School, die sich vom Jazz inspirieren ließen. Earle Browns graphische Werke sind geprägt von seiner Erfahrung als Jazzmusiker (Potter 1986). Seine Experimente mit offenen Formen beziehen die Idee der Improvisation über ein Gerüst mit ein, wenn auch auf ganz andere Art und Weise als im idiomgebundenen Jazz (Folio, 1952–54, 4 Systems, 1954, beide für variable Besetzung). Eine intensive Auseinandersetzung mit rhythmischen Strukturen und der Idee eines durchlaufenden Beat findet sich in der Minimal Music von Steve Reich, Philip Glass, Terry Riley, aber auch La Monte Youngs, Tony Conrads oder Phill Niblocks Zeitkonzepte sind von der Jazzimprovisation – hier verstanden als ein kontinuierlicher Energiefluss  – geprägt (Götte 2000). Die Suche dieser Komponisten nach alternativen Zeitgestalten verdankt sich ist allerdings neben dem Jazz auch der Beschäftigung mit anderen Popularmusikformen wie Rhythm ’ n’Blues und der frühen Rockmusik sowie außereuropäischer Musik, asiatischer Philosophie und aktueller bildender Kunst. Auch im 21. Jh. ist der Jazz, neben diversen Spielarten der Popularmusik (Ä Pop / Rock), Quell der Inspiration für zahlreiche Komponisten. Wolfgang Mitterer (*1958) übernimmt die Energie des Free Jazz der Power-Play-Phase der 1960er und 1970er Jahre bzw. des heutigen freien Energiespiels oder integriert improvisatorische Freiräume in komplexe notierte Werke (z. B. mixture 5 für Orgel und Elektronik, 1995, coloured noise – brachialsymphonie für 23 Musiker und Elektronik, 2005), ohne jedoch Jazz-Passagen zu zitieren. Bernhard Lang (*1957) bezieht sich seit seiner Serie Differenz / Wiederholung (1998–2010) in mehrerer Hinsicht auf den Jazz und die Improvisation: Seine Arbeit mit Wiederholungen ist stark geprägt von seiner eigenen Erfahrung als Jazzmusiker. Dabei entwickelt er durch sein Spiel mit Wiederholungen, Entwicklungen und Brüchen, aber auch durch den Funktionswechsel von Beat und Loop, die ihre angestammte Funktion als reine Rhythmusgeber im Hintergrund verlassen, ein Material, das komplexe Klangprozesse ermöglicht und zugleich Funktionen des Rhythmus als Orientierungsmaß oder »Tranceunterstützer« ad absurdum führt (Polaschegg 2013). Eine wesentliche Rolle spielen Jazzidiome in Teilen der jüngeren amerikanischen Avantgarde. Elliott Sharp (*1951) notiert als Komponist, Jazz- und Rockmusiker 328 Jazz manche Werke exakt, während für andere der Gedanke der offenen Ä Form im Zentrum steht. Improvisationspassagen sind dabei mit zum Teil sehr genauen Spielanweisungen ausgestattet, die, je nach Musiker, klanglich auch vom Jazz beeinflusst sein können, nie aber plakativ oder zitatartig konzipiert sind. Auch Richard Teitelbaum (*1939), Anthony Braxton und John Zorn (*1953) zählen zu den Komponisten, die im Jazz und der Improvisationspraxis verwurzelt sind und Qualitäten des Improvisierens auf ihre Kompositionen übertragen (Wilson 1990). Braxton arbeitet mit diffizilen graphischen Partituren, die er schlicht Compositions nennt und deren Interpretation ein hohes Maß an Improvisationskompetenz erfordert. John Zorn ist u. a. bekannt geworden mit seinen Game Pieces (Zorn 2004), in denen per Handzeichen nach vorgegebenen Regeln Stilcollagen entstehen, die durch harte Schnitte gekennzeichnet sind (Ä Collage / Montage). Wie für den Saxophonisten Zorn bildet auch für den Komponisten und Schlagzeuger Michael Wertmüller (*1966) der Jazz – vor allem die Energie des Free Jazz  – neben Rock und anderen Spielformen der Popularmusik eine bedeutende Quelle der eigenen Arbeit. Die kompositorische Rezeption des Jazz in der neuen Musik erfolgt also in unterschiedlich ausgeprägter Konkretion: (1) Die Integration von oder Arbeit mit Zitaten, Quasizitaten und typisierten idiomatischen Elementen (Jazzharmonik, Walking Bass etc.) bildet den deutlichsten Bezug zum Jazz. (2) Die Übernahme von jazzspezifischen Instrumenten oder Klangfarben bzw. jazztypischer Klanggebung, Energie oder Spielprozesse sind weitere Möglichkeiten, sich an den Jazz anzulehnen. (Dabei sind einst den Jazz symbolisierende Instrumente wie das Saxophon längst im Instrumentarium der zeitgenössischen Musik integriert und können allein kaum mehr als Chiffre des Jazz verstanden werden.) (3) Noch versteckter wird eine jazztypische Assoziation, wenn Komponisten einzelne, dem Jazz entnommene Elemente wie Rhythmus oder Zeitvorstellungen transformieren, brechen und mit anderen Verfahren und Gestaltungselementen amalgamieren. (4) Werden Verfahren der Ä Improvisation verwendet, so ist ein klanglicher, rhythmischer oder struktureller Bezug zu Jazzidiomen nicht zwingend, sondern hängt von den Spielanweisungen und / oder den Improvisatoren ab. Ä Improvisation; Performance; Pop / Rock Cage, John: Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles [1976], Berlin 1984 „ Clifton, Callender: Interactions of the Lamento Motif and Jazz Harmonies in György Ligeti ’ s Arc-en-ciel, in: Intégral (2007), 41–77 „ Floros, Constantin: György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne, Wien 1996 „ Götte, Ulli: Minimal Music. Geschichte  – Ästhetik  – Umfeld, Wilhelmshaven 2000 „ Hellhund, Herbert: Third Stream. Zum Verhältnis eines strittigen Begriffs und einer mißverständlichen Sache, in: Jazz op.  3. Die heimliche Liebe des Jazz zur europäischen Moderne, hrsg. v. Ingrid Karl, Wien 1986, 37–62 „ Jost, Ekkehard: Grenzgänger. Komposition und Improvisation im Niemandsland zwischen Jazz und Neuer Musik, in: Musik zwischen E und U. Ein Prolog und sieben Kongressbeiträge (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 25), hrsg. v. Ekkehard Jost, Mainz 1984, 54–69 „ Karl, Ingrid: Jazz op. 3. Die heimliche Liebe des Jazz zur europäischen Moderne, Wien 1986 „ Kostelanetz, Richard: Conversing with Cage, New York 22003 „ Kumpf, Hans: Postserielle Musik und Free Jazz. Wechselwirkungen und Parallelen [1975], Rohrdorf 21981 „ Lewis, George E.: A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music, Chicago 2008 „ Lothwesen, Kai Stefan: »Zeiten gewissermaßen auf dem Meeresgrund«. Zum Jazzverständnis von Bernd Alois Zimmermann, in: MusikTexte 86/87 (2000), 80–95 „ ders.: Klang. Struktur. Konzept. Die Bedeutung der Neuen Musik für Free Jazz und Improvisationsmusik, Bielefeld 2009 „ Polaschegg, Nina: Populäre Musik? Einflüsse populärer Musik im Schaffen von Bernhard Lang, Jorge Sánchez-Chiong, Bernhard Gander und Fausto Romitelli, in: Populär vs. Elitär? 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Zeitkonzepte in neuer komponierter und improvisierter Musik, in: Bühne, Film, Raum und Zeit in der Musik des 20. Jh.s, hrsg. v. Hartmut Krones, Wien 2003, 285– 294 „ Zorn, John: The Game Pieces, in: Audio Culture. Readings in Modern Music, hrsg. v. Christoph Cox und Daniel Warner, New York 2004, 196–200 Literatur Nina Polaschegg 329 Kammerensemble K Kammerensemble Inhalt: 1. Entstehung „ 2. Nach 1950 „ 3. Globale Tendenzen Wie in klassischer Kammermusik sind in neuer Musik für Ensemble bis zwanzig Spieler die einzelnen Stimmen in der Regel solistisch besetzt. Ein Schlüsselwerk für die neue Musik ist Arnold Schönbergs Erste Kammersinfonie für 15 Soloinstrumente op. 9 (1906). Die Ansprüche der klassisch-romantischen Sinfonik auf große Form, orchestrale Farbvielfalt und Klangfülle wurden hier erstmals mit den bis dato antagonistisch verstandenen Spezifika der Ä Kammermusik vereint. Die Auswahl der Bläser und Streicher entspricht der klassischen Sinfonik, doch sind alle Instrumente einschließlich der Streicher (einzige Ausnahme: zwei Hörner) gemäß dem Ideal kammermusikalischer Polyphonie einfach besetzt. Zugleich entfaltet die Summe aller Stimmen durchaus orchestrale Wirkung und auch die motivisch-thematische Verdichtung sowie die zu monumentaler Einsätzigkeit integrierte Viersätzigkeit folgen dem Modell des sinfonischen Sonatenzyklus. Entfernte Vorbilder fand die Besetzung von Schönbergs Kammersinfonie in Richard Wagners Siegfried-Idyll (1870), den Serenaden von Johannes Brahms (1857–59) und Richard Strauss (1877, 1882) sowie in den kammermusikalisch gehaltenen Abschnitten der Sinfonien und Orchesterlieder Gustav Mahlers. Zu nennen wäre auch Schönbergs orchestral konzipiertes Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (1899), das er später zu zwei Streichorchesterfassungen umarbeitete (1917, 1943). 1. Entstehung Die Entstehung eines Repertoires an Musik für Kammerensemble wurde maßgeblich beeinflusst durch Schönbergs Pierrot lunaire op. 21 (1912), weil die Besetzung »für eine Sprechstimme, Flöte (auch Piccolo), Klarinette (auch Bassklarinette), Klavier, Geige (auch Bratsche) und Violoncello« durch mehrere Alternativinstrumente erweitert und die gesamte Palette instrumentaler Kombinationen in »dreimal sieben Gedichten« durchgespielt wird, angefangen beim durch die Flöte begleiteten Sprechgesang über wechselnde Trio- und Quartettformationen bis zum Tutti. Nachdem Kammerensemblewerke bis dato von Musikern gespielt wurden, die sich für solche Aufführungen nur vorübergehend zusammenfanden, ansonsten aber in Orchestern oder Streichquartettformationen spielten, wurde der Pierrot unter Schönbergs Leitung sowie in den 1920er Jahren bei europaweiten Konzerttourneen von Hermann Scherchen jeweils viele Male mit denselben Musikern aufgeführt. Nicht umsonst bezogen sich später mehrere Ensembles ausdrücklich auf Schönbergs Werk, etwa die 1965 in London gegründeten The Pierrot Players und das 1975 gegründete New York New Music Ensemble. Ebenso verwendeten zahlreiche Komponisten dieselbe bzw. eine verwandte Besetzung, so Hanns Eisler in Palmström (1926) (ohne Klavier) und in den – seinem Lehrer Schönberg zum 70. Geburtstag gewidmeten  – Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben (1941), Franco Donatoni in Etwas ruhiger im Ausdruck (1967), Morton Feldman in The Viola in My Life 2 (1970) und John Cage in Seven (1988; beide zuzügl. Schlagzeug und [Solo-]Viola), Elliott Carter in Triple Duo (1983) und Earle Brown in Tracking Pierrot (1992) (beide zuzügl. Schlagzeug), Johannes Schöllhorn in Pierrot lunaire (1992; in Anlehnung an die gleichnamige Komposition von Max Kowalski aus dem Jahre 1913), Tristan Murail in Treize couleurs du soleil couchant (1978; mit Elektronik ad libitum) und Gérard Grisey in Vortex temporum (1994–96; zuzügl. Viola). Im Rahmen der Konzerte des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen, als dessen Initiator, Präsident und musikalischer Leiter Schönberg fungierte (Ä Institutionen / Organisationen), wurde der Pierrot allein fünf Mal von denselben Musikern aufgeführt. Auch ideell und organisatorisch wirkte der im November 1918 gegründete Verein vorbildlich für die Herausbildung fester Veranstalter- und Ensemblestrukturen im Bereich der neuen Musik (Metzger / Riehn 1984). Bis zu seiner Auflösung im Dezember 1921 – infolge der Hyperinflation – brachte der Verein bei wöchentlich im kleinen Saal des Wiener Konzerthauses stattfindenden Konzertabenden zahlreiche Orchesterwerke von Mahler, Reger, Debussy, Strauss und Schönberg in Bearbeitungen für Kammerensemble zu Gehör, weil die Originalwerke im konservativen Wien wegen der eingeschränkten finanziellen Mittel nach dem verlorenen Krieg nicht aufgeführt wurden (Stein 1963). Zugleich wollte man diese Werke durch radikale Reduktion ihres Apparats auf ihre musikalische Substanz hin analysieren und laut Statuten des Vereins mit großer Sorgfalt und Gründlichkeit einstudieren, um sie mit einer Klarheit und Präzision aufzuführen, die man im damaligen Konzertleben angesichts von kommerziellem Starkult und beschränkten Probenzeiten nicht mehr fand. In den von Alban Berg formulierten Vereinsstatuten heißt es: 330 Kammerensemble »Es ist keineswegs Aufgabe des Vereins, Propaganda für irgend eine Richtung zu machen, oder den aufgeführten Autoren zu nützen, sondern bloß: seinen Mitgliedern dadurch zu dienen, daß an die Stelle des bisherigen unklaren und problematischen Verhältnisses zur modernen Musik Klarheit trete. Es ist also kein Verein für die Komponisten, sondern ausschließlich für das Publikum«. Für die Anzahl der Proben im Verein sollte »immer nur die Erzielung der größtmöglichen Deutlichkeit und die Erfüllung aller aus dem Werke zu entnehmenden Intentionen des Autors maßgebend« sein (Metzger / Riehn 1984, 4). Wenn dies nicht garantiert werden konnte, sollte eine Aufführung besser unterbleiben. Um den Werken zum richtigen Verständnis zu verhelfen, sollten sie möglichst oft wiederholt sowie in einführenden Besprechungen vorgestellt werden. Mit dem unbedingten Anspruch, durch exemplarische und mehrfache Aufführungen die Substanz der Werke zur Kenntnis zu bringen, wirkte der Wiener Verein – obwohl nur drei Jahre von Bestand – maßstabsetzend für die Gründung ähnlicher Organisationen und fester Spezialensembles für neue Musik. In der Folge von Schönbergs Werken für Kammerensemble entstanden weitere maßstabsetzende Werke für individuell besetzte und nicht mehr an bestimmte Gattungs- und Formmodelle gebundene Formationen: Ebenfalls Kammersinfonien komponierten Franz Schreker (1916), Darius Milhaud (seit 1917), Kurt Weill (1921) und Ernst Krenek (1922, 1928). Stilbildend wirkten ferner Igor Strawinskys L’Histoire du soldat (1918) mit der Instrumentalbesetzung Klarinette, Fagott, Cornet à piston, Posaune, Violine, Kontrabass und Schlagzeug sowie das Octuor für Flöte, Klarinette, 2 Fagotte, Trompete in C, Trompete in A, Posaune und Bassposaune (1922–23), Edgard Varèses Hyperprism für 9 Bläser und 9 Schlagzeuger (1922–23), Octandre für Flöte, Klarinette, Oboe, Fagott, Horn, Posaune und Kontrabass (1923) und Ionisation für Schlagzeugensemble (1929–31), ferner Paul Hindemiths Kammermusiken Nr. 1–7 (1922–27), Alban Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern (1923–25) sowie Anton Weberns lediglich mit neun Instrumenten besetzte und durchweg höchstens vierstimmige Symphonie op.  21 (1927–28) und sein Konzert für 9 Instrumente op. 24 (1931–34). Dieselbe Reduktion, Konzentration und teils regelrechte Miniaturisierung zeigte sich in den neuen Gattungen Kammeroper und Kammerchor (Ä Musiktheater; Ä Stimme). Infolge eingeschränkter ökonomischer Möglichkeiten stellten die ersten Spezialforen für neue Musik zunächst Werke für Kammerensembles in den Mittelpunkt, so 1921 die ersten »KammermusikAufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst« in Donaueschingen und 1922 die »Internationalen Kam- mermusikaufführungen« in Salzburg, die zur Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) führten (Ä Institutionen / Organisationen). Doch trotz wachsenden Repertoires und zunehmend dichterer Vereins-, Veranstaltungs- und Festivalstrukturen bildeten sich immer noch keine festen Kammerensemble-Formationen. Aus ökonomischen Gründen sowie wegen der individuellen Instrumentation der Werke, die jeweils eine andere Besetzung erfordert, wurde neue Musik für Kammerensemble weiterhin von Musikern aufgeführt, die sich nur temporär zu solchen Anlässen zusammenfanden. 2. Nach 1950 Zentrale Bedeutung für die neue Musik gewann das Komponieren für Kammerensemble nach 1950, als die junge Nachkriegsavantgarde an die durch Diktatur und Weltkrieg verschütteten Errungenschaften der historischen Avantgarde der 1910er und 20er Jahre anknüpfte, um zugleich eine von möglichst allen Traditionen losgelöste, radikal neue Musik zu kreieren. Neben dem ästhetischen Motiv, kompositorische Experimente zunächst im Rahmen kleinerer Besetzungen zu probieren, um sie ggf. später auf größere Formationen zu übertragen, sprachen damals wie heute auch aufführungspraktische Gründe für die Besetzung mit Kammerensemble, da sich solche Werke leichter aufführen und verlegen lassen als Orchesterwerke. Wichtige Stationen der Ä seriellen Musik sowie des Komponierens für Kammerensemble markieren Bruno Madernas drei Serenata-Werke (1946, 1954, 1956), Luigi Nonos Polifonica – Monodia – Ritmica für 6 Instrumente und Schlagzeug (1950–51), Pierre Boulez ’ Polyphonie X für 18 Instrumente (1950–51) sowie Karlheinz Stockhausens Kreuzspiel für Oboe, Bass-Klarinette, Klavier und 3 Schlagzeuger (Nr. 1/7) (1951) und sein eigentliches »Opus 1« Kontra-Punkte für 10 Instrumente (Nr. 1) (1952–53). In der Bundesrepublik Deutschland wurden viele Werke von den Konzertreihen für neue Musik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Auftrag gegeben und uraufgeführt. In Großbritannien, Frankreich und Italien engagierten sich die nationalen Sendeanstalten für neue Musik. Doch während die Sender eigene Sinfonieorchester unterhielten, eigene Bigbands aufbauten und während der 1950er Jahre auch Spezialensembles für Alte Musik finanzierten, wurden durch den Rundfunk trotz allen Engagements für die zeitgenössische Musik keinerlei feste Kammerensembles für neue Musik gegründet. In den USA waren es zunächst vor allem Selbsthilfeinitiativen von Komponisten und Interpreten, z. B. die von Henry Cowell ab 1925 organisierten Konzerte der New Music Society mit Werken der sog. »ultramodernists«, sowie ab 1953 die Ensembles von Harry Partch im »Gate 5« von 331 Sausalito oder von John Cage als Music Director der Merce Cunningham Dance Company. Ein wichtiges Forum für neue Kammerensemblemusik war die 1953 von Boulez in Paris gegründete und seit 1954 bis zur Spielzeit 1966/67 unter dem Namen »Domaine Musical« geleitete Kammerkonzertreihe, die maßstabsetzende Werke des 20. Jh.s  – vor allem der Wiener Schule sowie von Strawinsky, Messiaen und Varèse – sowohl mit Referenzwerken alter Meister von der ars nova über Barock und Klassik bis zu Debussy und Ravel in Beziehung setzte als auch mit zeitgenössischen Werken kombinierte. Zahlreiche Werke wurden in Auftrag gegeben sowie zu Ur- oder Erstaufführungen gebracht, insbesondere von Stockhausen, Henri Pousseur und von Boulez selbst. Unter Boulez ’ Leitung spielten vor allem Musiker aus Pariser Sinfonieorchestern, die ab 1962 ihren regelmäßigen Zusammenschluss zum Zweck der Aufführung neuer Musik als Ensemble du Domaine Musical bezeichneten. In Mailand gründeten Maderna und Luciano Berio 1956 sowohl eine Zeitschrift als auch ein Festival und Ensemble des Namens Incontri musicali. In Wien riefen Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik 1958 mit Musikern des RadioSinfonieorchesters des ORF das Ensemble die Reihe ins Leben. Und der jährlich sich bildende und wieder auflösende Zusammenschluss von Instrumentalisten, Kammer- und Orchestermusikern, die bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt als Interpreten unterrichteten, debütierte 1961 im Eröffnungskonzert der Ferienkurse unter Madernas Leitung erstmals als Internationales Kranichsteiner Kammerensemble. Parallel zur Bildung von Spezialensembles für Alte Musik folgten weitere Ensemblegründungen: Società cameristica italiana 1960 in Como, die London Sinfonietta 1967 in London als gemeinsame Initiative des Dirigenten David Atherton und des Musikmanagers Nicholas Snowman, sowie als wichtigste Formation in der DDR die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler 1970 in Leipzig durch den Oboisten Burkhard Glaetzner und den Komponisten und Posaunisten Friedrich Schenker, gebildet aus Mitgliedern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig und des Gewandhausorchesters. Als Kollektive international zusammengesetzter Ä Composer-Performer gründeten sich in Rom die Improvisationsensembles Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (1964) sowie Musica Elettronica Viva (MEV, 1966) (Ä Improvisation). Während sich all diese Ensembles der Eigeninitiative von Interpreten, Komponisten oder Dirigenten verdankten, die ihren Unterhalt zumeist in Opern- und Sinfonieorchestern verdienten (Ä Dirigieren), handelte es sich bei den 31 Solisten des 1976 von Boulez gegründeten und vom französischen Staat mitfinanzierten Ensemble intercon- Kammerensemble temporain von Anfang an ausschließlich um dieser Formation verpflichtete Musikerinnen und Musiker. Seit 2004 gibt das Ensemble seine Erfahrungen im Rahmen der von Boulez mitbegründeten Lucerne Festival Academy an jüngere Musiker weiter. Aus einer Initiative von Mitgliedern der Jungen Deutschen Philharmonie ging 1980 das Ensemble Modern hervor, das seine Arbeit nicht zuletzt mit einer Einstudierung von Schönbergs Erster Kammersinfonie op. 9 begann, seit 1985 in Frankfurt a. M. beheimatet ist, dort eine eigene Abonnementreihe in der Alten Oper Frankfurt unterhält, gegenwärtig 19 feste Mitglieder hat und den kompositorischen und interpretatorischen Nachwuchs im Rahmen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) fördert. 1985 gründete sich in Freiburg das neunköpfige Solistenensemble ensemble recherche und der Komponist und Dirigent Beat Furrer initiierte das Klangforum Wien, das inzwischen aus 24 Musikern besteht und im Wiener Konzerthaus einen eigenen Konzertzyklus veranstaltet. Als Ensemble für zeitgenössische Musik des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen wurde 1990 das Ensemble musikFabrik gegründet, dessen 15 Mitglieder sich 1997 von ihrem künstlerischen Leiter Johannes Kalitzke trennten, um sich fortan basisdemokratisch zu organisieren und Dirigenten nur noch projektweise zu verpflichten. 2003 zog das Ensemble von Düsseldorf nach Köln, wo es seitdem die eigene Konzertreihe »musikFabrik im WDR« veranstaltet. International agieren auch das am Koninklijk Conservatorium Den Haag initiierte Schönberg Ensemble (1974) und das aus dem bereits seit 1965 bestehenden Amsterdams Studenten Kamer Orkest hervorgegangene Asko Ensemble (1977), die 2009 zum Ensemble Asko Schönberg fusionierten. 3. Globale Tendenzen Bei allen Unterschieden in Trägerschaft, Finanzierung, Repertoire, Stilistik und Spielkultur gleichen sich die genannten Ensembles in ihrer privatwirtschaftlichen Organisationsform, universalistischen Ausrichtung, engen Zusammenarbeit mit Komponisten und ihrer weltweiten Konzerttätigkeit mit bis zu 90 Konzerten im Jahr, dank derer sie neben Förderungen der öffentlichen Hand einen Teil ihres Finanzbedarfs selber erwirtschaften. Deutlich weniger konzertieren dagegen viele kleinere sowie auf bestimmte Dirigenten, Komponisten oder Besetzungen fixierte Formationen, etwa die seit 1962 bestehenden sechsköpfigen Les Percussions de Strasbourg oder das seit 1989 aktive Schlagquartett Köln (Ä Schlaginstrumente). Während der Verlust jeglicher Besetzungsnorm dem Aufbau von Kammerensembles in der ersten Hälfte des 20. Jh.s zunächst im Wege stand, erwies sich die total flexibilisierte Instrumentation bei gleichzeitiger solistischer 332 Kammermusik Emanzipation der Einzelstimmen in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jh.s im Gegenteil gerade als Schlüssel für die Gründung unterschiedlichster Formationen, die je nach Veranstaltern und finanziellen Möglichkeiten durch die Vergabe von Kompositionsaufträgen das Repertoire für ihre jeweilige Besetzung gezielt erweitern. Neben den »Wittener Tagen für neue Kammermusik«, die sich nicht nur als Festival für Uraufführungen neuer Werke verstehen, sondern auch als ein Festival der Interpreten und Ensembles, veranstaltete der Westdeutsche Rundfunk von 2006 bis 2014 die Konzertreihe »Ensembl[:E:]uropa« mit jährlich fünf bis sechs Gastspielen unterschiedlicher Ensembleformationen aus verschiedenen Ländern Europas, um die Dichte, Vielfalt, Qualität und stilistische Bandbreite der Spezialensembles für neue Musik in Europa zu dokumentieren. Im Zuge der jüngsten Gründungswelle der 2000er und 2010er Jahre entstanden zahlreiche Ensembles und Ä Streichquartette für neue Musik auch außerhalb Europas und Nordamerikas. In Australien bieten das Kammerensemble ELISION (1986), das Ensemble Offspring (1995) sowie Speak Percussion (2000) Aufführungen neuer Musik auf höchstem Niveau. In der neuseeländischen Hauptstadt Wellington besteht seit 2002 das Stroma New Music Ensemble, dessen 20 Musiker jedoch weniger als zehn Konzerte im Jahr geben und sonst Mitglieder des New Zealand Symphony Orchestra sind. Manche jüngere Ensembles wurden angestoßen und unterstützt durch Ensembleakademien bzw. Ausbildungsprogramme europäischer Spitzenensembles sowie durch international agierende Kultureinrichtungen. Projektweise zusammentretende Formationen existieren auch in allen anderen nicht-europäischen Mitgliedsstaaten der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, in Ä Japan, Ä China, Taiwan, Ä (Süd-)Korea, Südafrika (Ä Afrika) und Ä Lateinamerika. Eine wichtige Rolle nehmen zunehmend auch Ensembles ein, in denen europäisches Instrumentarium mit Instrumenten anderer Kunstmusiktraditionen gemischt wird (Contemporary Music Ensemble Korea [CMEK], Seoul; Shanghai Sinfonietta, AsianArt Ensemble, Berlin; Ensemble εkst aktә, Berlin; Iranian Orchestra for New Music, Ä Iran) oder die ganz auf Instrumenten außereuropäischer Traditionen aufbauen, teilweise zu orchestraler Größe ausgeweitet (Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos [OEIN], Bolivien; Chai Found Music Workshop, Taipei; Pan-African Orchestra, Accra). я Ä Gattung; Instrumente und Interpreten / Interpretinnen; Kammermusik; Streichquartett Metzger, Heinz-Klaus / Riehn, Rainer (Hrsg.): Schönbergs Verein für Musikalische Privataufführungen (MusikKonzepte 36), München 1984 „ Meyer, Christian (Hrsg.): Arnold Schönbergs Wiener Kreis. Bericht zum Symposium vom 12.–15. September 1999 des Arnold-Schönberg-Centers und der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, Wien 2000 „ Meyer, Dirk: Chamber Orchestra and Ensemble Repertoire. A Catalog of Modern Music, Lanham 2011 „ Nonnenmann, Rainer: Differenzen trotz Internationalisierung. Vergleichende Streiflichter auf die Musikszenen von Paris, Frankreich und Deutschland, in: NZfM 172/1 (2011), 64–66 „ Oehlschlägel, Reinhard: Ensemblekomposition, professionelle Instrumentalensembles und zu einigen Kriterien musikpolitischer Entscheidungen, in: MusikTexte 20 (1987), 2 f. „ Schwindt, Nicole: Kammermusik, in: MGG2S, Bd. 4, (1996), 1618–1653 „ Stein, Leonard: The Privataufführungen revisited [1963], in: Die Wiener Schule (Wege der Forschung 643), hrsg. v. Rudolf Stephan, Darmstadt 1989, 98–105 „ Unverricht, Hubert: Kammermusik im 20. Jh. Zum Bedeutungswandel des Begriffs, München 1983 „ Vogt, Harry / Hilberg, Frank: Kammerton der Gegenwart. Wittener Tage für neue Kammermusik, Hofheim 2009 Literatur Rainer Nonnenmann Kammermusik Inhalt: 1. Gattungstradition „ 2. Werke 1. Gattungstradition In Barock und Klassik erfolgte die Bestimmung von Kammermusik zunächst in Abgrenzung von der funktional auf Repräsentation oder Tanz ausgelegten öffentlichen Musik in Theater, Ballsaal, Ä Konzert und Kirche sowie gegenüber der Militär- bzw. Feldmusik im Freien. Im Gegensatz zu den dort verwendeten größeren, von Bläsern oder Sängern dominierten Besetzungen verstand man unter Kammermusik die Aufführung von Musik im kleinen, nicht-repräsentativen häuslichen Rahmen von Adel und Bürgertum. Diese Besetzung und die sozialpolitische Funktion ließen der privaten Musikpflege bald auch eigene ästhetische Ansprüche zuwachsen. Im Vergleich zur Kirchen- und Theatermusik wurde der Kammerstil bereits Mitte des 18. Jh.s als kunstvoller, lebhafter und freier bezeichnet. Die Ideale von Feinheit, Phantasie, Prägnanz und Klarheit berührten sich dabei sowohl kompositionstechnisch mit Besetzung, Gattungswahl und Faktur als auch mit einer besonders konzentrierten interpretatorischen Haltung und kommunikativen Aufführungspraxis im kleineren Kreis. Mit ihrem Primat der motivisch-thematischen bzw. polyphon-durchbrochenen Arbeit richtete sich die Kammermusik zunächst mehr an die Spieler selbst als an ein Publikum. Zeitgenössische Vergleiche des Spiels von Kammermusik mit einem »Wettkampf« oder »Gespräch« zielen auf deren dialogische Anlage. 333 Mit Aufkommen des öffentlichen Konzertlebens um 1800 verstand man unter Kammermusik im Unterschied zu Chor- und Orchestermusik vor allem solistisch besetzte Werke, deren besondere Artifizialität sich bevorzugt an Kenner richtete und deren aufführungspraktische Anforderungen immer weniger von Amateuren geleistet werden konnten. Diese Entwicklung setzte sich im 19. Jh. mit dem Aufkommen des Virtuosentums und den damit auch auf Kammermusikbesetzungen übertragenen höchsten spieltechnischen Anforderungen fort. Parallel zur allgemeinen Veränderung des Musiklebens im Laufe des 20. Jh.s sprengte die neue Musik die ursprünglich gattungsbildenden besetzungsspezifischen, aufführungspraktischen, sozialgeschichtlichen, technischen und formalen Merkmale der Kammermusik. Vielfach erhalten blieb indes der zuweilen entweder als esoterisch und elitär hervorgehobene oder kritisierte ästhetische Anspruch auf Originalität, Innovation, Konzentration, Technik, Phantasie, Experimentierfreude und eine autonome Entfaltung der Musik ohne Rücksicht auf breitere Wirkung (Adorno 1968/73, 113) (Ä Musikästhetik; Ä Popularität). Das Prinzip thematischer Arbeit sowie der Verzicht auf großes Klangvolumen und Massenwirkung prädestinierten die Kammermusik zur Durchbildung und Ausdifferenzierung ihrer Strukturen bis in die innersten Zellen: »Darum reifte die Idee der neuen Musik in der Kammermusik heran. Was jene als Aufgabe ergriff, die Integration von Horizontale und Vertikale, war in der Kammermusik vorgefühlt« (ebd., 119). 2. Werke An der Schwelle zur freien Ä Atonalität erweiterte Arnold Schönberg den Begriff maßgeblich: durch die solistische Behandlung der in der Sinfonik sonst chorisch besetzten Streicher in seiner Ersten Kammersinfonie für 15 Soloinstrumente op. 9 (1906) und durch die Einbeziehung einer Sopranpartie auf zwei Gedichte von Stefan George im dritten und vierten Satz seines Zweiten Streichquartetts op. 10 (1907–08). In der Folge entstanden weitere Lieder und Gesänge mit individuell besetztem Ä Kammerensemble, etwa von Anton Webern und Schönberg, dessen Pierrot lunaire für eine Sprechstimme, Klavier, Flöte, Klarinette, Violine und Violoncello op.  21 (1912) später auch als Vorbild für Pierre Boulez ’ Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) und viele weitere Werke diente. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jh.s entstanden neben Werken der typischen Kammermusikgattungen Ä Streichquartett, -quintett, Klaviertrio, -quartett und -quintett zunehmend individuell besetzte Kammermusikwerke. Eine Scharnierfunktion hatten bei verschiedenen Komponisten Bläserquintette, nicht zuletzt aufgrund Kammermusik der heterogenen Besetzung. Schönberg schrieb mit seinem Bläserquintett op. 26 (1927) das erste größere Werk in strenger Dodekaphonie (Ä Zwölftontechnik). Der Besetzung nach Bläserquintette, die sich mit neutralen Titeln allerdings von Gattungsbezügen distanzieren, sind auch Paul Hindemiths Kleine Kammermusik für 5 Bläser op.  24,2 (1922) und John Cages Music for Wind Instruments (1938). Vollends gesprengt wurden die traditionellen Genregrenzen vor allem durch gattungsuntypische Blechblas- und Schlaginstrumente sowie durch die Einbeziehung von Texten und Singstimmen. Am Anfang der Entwicklung zu frei zusammengestellten Kammerensembles steht neben den Werken der Wiener Schule u. a. Rudi Stephans Musik für 7 Saiteninstrumente (Harfe, Klavier, 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrbass, 1911). Markante Individualbesetzungen prägten auch Igor Strawinskys Octuor für Bläser (Flöte, Klarinette, 2 Fagotte, 2 Trompeten, 2 Posaunen, 1923), Edgard Varèses Ionisation für Schlagzeugensemble (1929–31), Cages Werke für Perkussionsensembles seit 1936, Béla Bartóks Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug (1937), Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps (Violine, Klarinette, Violoncello, Klavier, 1940–41) und Karlheinz Stockhausens Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger (1951). Mit Ausnahme der Gattung Streichquartett sowie einiger herausragender Klaviertrios und Streichtrios  – z. B. Schönbergs spätem Streichtrio (1946) und Wolfgang Rihms früher, fast einstündiger Musik für drei Streicher (1977)  – wurden gattungsspezifische Besetzungs-, Satzund Formmodelle seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zu Einzelfällen bzw. historisch distanzierten Rückbesinnungen. Zentrale Bedeutung erlangten dagegen Soli für ein Melodieinstrument sowie  – zumeist ohne Bezug auf die Sonatentradition  – Duo-Besetzungen mit Klavier. Vor 1950 zählen dazu vor allem Werke von Alban Berg, Strawinsky, Hindemith, Bartók, Darius Milhaud und Ernst Krenek, nach 1950 insbesondere Stockhausens Zyklus für einen Schlagzeuger (1959), Luciano Berios Sequenza-Serie (1958–2003) sowie Werke genuiner Kammermusikkomponisten wie György Kurtág und Georg Kröll. Helmut Lachenmanns frühe Solowerke erweiterten die instrumentalen Spiel- und Klangtechniken und betonen im Titel anstelle des Instruments meist den Spieler: Intérieur für einen Schlagzeugsolisten (1965–66), Pression für einen Cellisten (1969–70), Dal niente (Intérieur  III) für einen Solo-Klarinettisten (1970) und Guero – Studie für Klavier (1970). Auch Festivals wie die seit 1969 von der Stadt Witten gemeinsam mit dem WDR Köln jährlich veranstalteten Wittener Tagen für neue Kammermusik präsentieren kontinuierlich einen immer weiter ausgedehnten Rahmen neuer Kammermusik. So umfasst der mehr oder minder 334 Kanonisierung aufgeweichte Begriff heute längst auch Werke für Kammerorchester, Kammerchor, (Live-)Elektronik, Multimedia, Ä Improvisation, Ä Performance sowie szenische Arbeiten und sogar Projekte im Freien. Ä Gattung; Instrumente und Interpreten / Interpretinnen; Kammerensemble Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie [21968], in: Gesammelte Schriften 14, Frankfurt a. M. 1973, 169–433 „ Mahling, Christoph-Hellmut / Pfarr, Kristina / Böhmer, Karl (Hrsg.): Aspekte der Kammermusik vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Mainz 1998 „ Schwindt, Nicole: Kammermusik, in: MGG2S, Bd. 4 (1996), 1618–1653 „ Unverricht, Hubert: Kammermusik im 20. Jh. Zum Bedeutungswandel des Begriffs, München 1983 „ Vogt, Harry / Hilberg, Frank: Kammerton der Gegenwart. Wittener Tage für neue Kammermusik, Hofheim 2009 Literatur Rainer Nonnenmann Kanonisierung Der Begriff beschreibt die im Rahmen eines gesellschaftlich-kulturellen Prozesses ablaufende Herausbildung eines Kernbestands ausgewählter Werke, für die hinsichtlich ästhetischer und historischer Bedeutung ein die eigene Gegenwart übersteigender exemplarischer Status beansprucht wird. Das griechische Wort kanón (Rohrstab, Lineal, Maßstab) wurde seit dem 4. Jh. von christlichen Autoren auf einen anerkannten Bestand biblischer Schriften bezogen. Im Hinblick auf die Musik lässt sich sinnvoll von Kanonisierung erst für die Zeit nach 1830 sprechen, als der klassische Stil europaweit sowohl durch die regelmäßige Wiederaufführung von Werken im Musikleben als auch theoretisch-publizistisch hinsichtlich Satztechnik und Formprinzipien als maßstabsetzende Norm durchgesetzt wurde. Mit Ausnahme der in der Kirchenmusik durchweg anerkannten Werke Giovanni Pierluigi da Palestrinas und der in England durchweg aufgeführten Musik von Georg Friedrich Händel (Strohm 2012) dominierten bis Ende des 18. Jh.s Aufführungen der von Zeitgenossen komponierten Musik, während Werke verstorbener Komponisten als unzeitgemäß und veraltet empfunden und der Vergessenheit überantwortet wurden. Erst mit dem Entstehen des öffentlichen Konzertlebens um 1800 erwachte das Interesse an älterer Musik. Zu den ersten Komponisten, deren Werke kontinuierlich über ihren Tod hinaus gespielt und als mustergültig angesehen wurden, zählt Wolfgang Amadeus Mozart. Im Zuge des Historismus des 19. Jh.s  – in der Musik markiert durch Felix Mendelssohn Bartholdys Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion 1829  – wandelte sich das Musikleben von einer bis dato genuin zeitgenössischen Produktionskultur zu einer zunehmend von Werken der Vergangenheit dominierten Reproduktionskultur. Die musikwissenschaftlich-philologische Aufarbeitung der »alten Meister« aus Barock und Klassik, später auch aus Renaissance und Romantik, in Gesamt- und Denkmäler-Ausgaben trug zur Kanonisierung ausgewählter Werke ebenso bei wie die Festschreibung und pädagogische Vermittlung der als überzeitlich gültig erachteten »Klassiker«  – allen voran Ludwig van Beethoven  – als bürgerliches Bildungsgut. Ein wichtiger Faktor, der die Kanonisierung von Werken beschleunigte, war im 20. Jh. die rasante Entwicklung und massenhafte Verbreitung leistungsfähiger Tonträger und Ä Medien zur technischen Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe von Musik. Gemessen an der Menge der im 18. und 19. Jh. insgesamt entstandenen Musik ist die Zahl der aus diesem Zeitraum kanonisierten Opern, Sinfonien, Konzerte, Kammermusikwerke, Lieder, Chor-, Orgel- und Klavierwerke verschwindend. Dasselbe gilt für die Musik des 20. Jh.s. Denn Kanonisierung bedeutet nicht nur die absichtsvolle Auswahl besonders tradierens- und bewahrenswerter Werke, sondern sowohl den aktiven Ausschluss als auch das in der Regel beiläufig-passive Vergessen alles anderen. Weil sich die Kriterien und Mechanismen dieses Selektionsprozesses im Laufe der Zeit ändern  – sofern sie nicht überhaupt in mancher Hinsicht zufällig, willkürlich und daher kaum rationalisierbar sind –, kommt es dabei auch zu gravierenden Umwertungen. Ein zur Zeit seiner Entstehung gefeiertes Werk kann wenig später vergessen sein, während ein von Publikum und Fachleuten zunächst verworfenes Stück erst später entdeckt und wegen seiner neu erkannten Qualitäten noch nach Jahrhunderten mit großer Anteilnahme aufgeführt und gehört wird, wie z. B. Beethovens Fidelio oder Neunte Sinfonie. Hinzu kommt, dass die durch den Fachdiskurs kanonisierten Werke nicht automatisch identisch sind mit den bei Interpreten, Veranstaltern und Publikum besonders beliebten und präsenten Werken. Kanonisierung und Repertoirebildung sind zwei verschiedene, wenn auch verwandte Prozesse. Das belegen z. B. die hochseriellen Structures I für zwei Klaviere (1951) von Pierre Boulez, die in keinem Musiklexikon und keiner Musikgeschichte des 20. Jh.s fehlen – also eindeutig zum Kanon bedeutendster Werke der neuen Musik gezählt werden müssen –, die aber nur äußerst selten aufgeführt oder gesendet werden und von deren strikter Kompositionsmethode (Ä serielle Musik) sich Boulez wenig später selbst distanzierte. Kanonisierung ist ein kollektiver Prozess lebendiger Musikgeschichte, dynamisch und prinzipiell nicht abschließbar. Das gilt im Besonderen für die neue Musik des 20. Jh.s, deren Ausdifferenzierung in zahllose Rich- 335 tungen, Stilistiken, Sparten und Untersparten bis hin zu Privatästhetiken einzelner Musiker noch längst nicht erschöpfend aufgearbeitet wurde. Beteiligt am Selektionsund Wertungsvorgang sind – von Fall zu Fall mit unterschiedlich starkem Einfluss – gleichermaßen Hörerschaft wie Interpreten, Veranstalter, Ä Institutionen / Organisationen, Ä Musikjournalismus, Ä Medien, Musikausbildung, Schulen, Wissenschaft, technologische Entwicklungen, HiFi- und Musikindustrie. Wie alle Geschichtsschreibung erfolgt auch jede Kanonisierung vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Zeit und Perspektive. Neben ästhetischen und aufführungspraktischen Kriterien spielen dabei sowohl zeitliche als auch räumliche, soziale, politische und ökonomische Faktoren eine Rolle, die entsprechende Differenzen bei der Einschätzung bestimmter Komponisten, Werke und Interpreten sowie technischer und ästhetischer Ansätze und Strömungen zur Folge haben. Großen Einfluss hat insbesondere der nationale Faktor, der zu lediglich national gültigen Kanons bzw. insgesamt zu einer Pluralisierung von Kanons führt. In europäischen Musikgeschichten etwa scheint es nur Platz für wenige japanische Komponisten pro Generation zu geben (Tōru Takemitsu, Toshio Hosokawa; Ä Japan), während Musikgeschichten von US-amerikanischen Autoren vor allem angloamerikanische Komponisten ins Zentrum stellen (Ross 2007/09) bzw. zentrale Figuren der europäischen Musikgeschichte wie etwa Helmut Lachenmann teils völlig unbeachtet lassen (Taruskin 2005/10). Je nach nationaler Perspektive entstehen andere Kanons, die zudem in ständigem Wandel begriffen sind. Die ausgewählten Meister- oder Schlüsselwerke des 20. Jh.s erfahren ständig Ergänzungen, Korrekturen und Revisionen. Das Resultat einer Kanonisierung ist letztlich nichts anderes denn ein temporärer Ausdruck des vielstimmigen und von institutionellen (Macht-)Strukturen, Fördergeldern und (kultur) politischen Interessen beeinflussten gesellschaftlichen Diskurses über die Qualität und Bedeutung von Musikern und Werken. Ein Kanon ist folglich die im Zuge eines solchen komplexen, von verschiedenen Interessen beeinflussten Bewertungsvorgangs ermittelte Auswahlliste eben solcher Musiker und Werke, die für einen zeitlich wie räumlich begrenzten Geltungsbereich als mehr oder minder konsensfähig erachtet wird. Kriterien für solche Auswahlprozesse lassen sich am ehesten im Hinblick auf bestimmte Sparten und Untersparten der neuen Musik benennen, etwa in Bezug auf zentrale Entwicklungen der Solo-, Kammer-, Ensemble- und Orchestermusik (Ä Instrumente und Interpreten; Ä Kammerensemble; Ä Kammermusik; Ä Orchester), sowie von Ä Musiktheater, Ä Elektronischer Musik, Ä Klangkunst und der bis heute fortgeschriebenen Gattung Ä Streich- Kanonisierung quartett. Da sich Werke derselben Kategorie bzw. Gattung am besten vergleichen lassen, wird Musikgeschichte häufig als Gattungs-, Ideen- und Problemgeschichte begriffen. Im Sinne solcher Ä Musikhistoriographie werden folglich primär Werke kanonisiert, die entweder zum ersten Mal bestimmte Fragen aufgeworfen oder Probleme gelöst haben, die überkommene Traditionen beseitigt, neue Aspekte erkundet, bisher ungeahnte Möglichkeitsräume geöffnet und Anstöße für wesentliche Techniken, Stilistiken oder ganze Richtungen der neuen Musik gegeben und damit über ihre Entstehungszeit hinaus folgenreich gewirkt haben. Gemäß solch einem linearen, auf dem europäischen Fortschrittsbegriff basierenden Geschichtsmodell besteht der Kanon der neuen Musik vor allem aus bahnbrechenden Schlüsselwerken, die herausragende Entwicklungslinien und Ästhetiken der jüngeren Musikgeschichte begründet haben und damit geeignet sind, diese auch einem weiteren Publikum exemplarisch aufzuschließen (Nonnenmann 2015). Beispiele dafür sind Arnold Schönbergs Erste Kammersinfonie op. 9 (1906) und Zweites Streichquartett op.  10 (1908), Alban Bergs Oper Wozzeck op. 7 (1917–24), Edgard Varèses Ionisation (1929– 31), John Cages Music of Changes (1951) und 4'33" (1952), Boulez ’ Structures I (1951), Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955–56) und Gruppen für drei Orchester (1955–57), Mauricio Kagels Sur scène (1959–60), György Ligetis Atmosphères (1960–61), Steve Reichs It ’ s Gonna Rain (1965), Lachenmanns Pression (1969–70), Gérard Griseys Les espaces acoustiques (1974–85), Wolfgang Rihms Sub-Kontur (1974–75) und Jakob Lenz (1977–78) etc. Die Kriterien und Ergebnisse solcher Kanonisierung sind umstritten. Die Ä Gender-Forschung kritisiert sie seit den 1990er Jahren als eurozentrisch verengt und weitgehend auf männliche Musiker beschränkt. Grundlegend in Frage gestellt worden ist auch ein auf der Perspektive des »techno-essentialism« aufbauendes Geschichtsbild, dem ein eindimensionales Fortschrittsmodell kompositorischer Techniken und Aufführungspraktiken zugrunde liegt (Williams 1993). Zwar fanden Komponisten aus Ä Nordamerika Eingang in den Kanon, kaum aber solche aus Ä Lateinamerika, Asien, Ä Afrika oder dem Pazifischen Raum (Utz 2010). Zudem stellt sich die Frage, ob ein Kanon der neuen Musik nicht ein Widerspruch in sich ist. Denn warum sollte normativ festgeschrieben werden, was wesentlich Bewegung und Aufbruch ins Unbewährte sein will? Immerhin trat die Ä Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg im Anschluss an die Materialtheorie Theodor W. Adornos mit dem Anspruch auf, durch Revolution in Permanenz zu einem immer neuesten, avanciertesten Stand des Komponierens vorzudringen, um mit jedem Werk ein neues Kapitel der Musikgeschichte aufzuschlagen. An- 336 Klangfarbe knüpfend an den Dadaismus der 1910er Jahre und den Fluxus der 1960er Jahre werden von Vertretern des sog. »Neuen Konzeptualismus« seit etwa 2010 erneut allgemeine ästhetische Kategorien wie Werk, Kunst, Autorschaft und Genie sowie Kanon und Ä Institutionen der neuen Musik in Frage gestellt (Kreidler 2012; Ä Konzeptuelle Musik). Letztlich muss anstelle des linearen Geschichts- und Fortschrittsdenkens heute längst eine Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit unterschiedlichster Ansätze und Techniken konstatiert werden. Die eigenständigen Qualitäten der Kunstwerke lassen sich auf dieser Basis wohl besser erkennen, anstatt jedes Werk bloß als möglichst schnell zu überwindende Etappe eines zwanghaften Innovationsund Selbstüberbietungsprozesses zu begreifen. Gleichwohl behalten aktuelle Bemühungen um einen Kanon an Schlüsselwerken der neuen Musik ihre Berechtigung, weil sie einem wachsenden Bedürfnis nach Vergewisserung, Vergegenwärtigung und Orientierung im Bereich der während einhundert Jahren zu völliger Unübersichtlichkeit ausdifferenzierten Kunstmusik entsprechen. Ä Themen-Beitrag 9; Globalisierung; Moderne; Musikhistoriographie; Neue Musik; Postmoderne Bergeron, Katherine / Bohlman, Philip V.: Disciplining Music. Musicology and Its Canons, Chicago 1992 „ Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik [1978], in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Laaber 2002, 9–126 „ Danuser, Hermann / Münkler, Herfried (Hrsg.): Kunst Fest Kanon. Inklusion und Exklusion in Gesellschaft und Kultur, Schliengen 2004 „ Dorschel, Andreas: Über Kanonisierung, in: Musiktheorie 21/1 (2006), 6–12 „ Gerhard, Anselm: »Kanon« in der Musikgeschichtsschreibung. 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Toward a Historiography of Twentieth-Century Music, in: Repercussions 2/1 (1993), 31–74 Rainer Nonnenmann Klang Ä Themen-Beitrag 3; Harmonik / Polyphonie Klangfarbe Der Terminus »Klangfarbe« ist erst ab ca. 1822 nachweisbar (Muzzulini 2006, 265) und fand gemeinsam mit der im 19. Jh. einsetzenden Ergründung der strukturellen Beschaffenheit und der psychoakustischen Grundlagen des Klanges immer häufigere Verwendung. Dabei ging die Forschung (z. B. Hermann von Helmholtz, Carl Stumpf ) stets Hand in Hand mit neuen kompositorischen Tendenzen (z. B. Hector Berlioz, Richard Wagner). Die Aufwertung der Klangfarbe als Strukturelement in Claude Debussys La Mer (1903–05), die farbliche Dissoziation in Arnold Schönbergs Erster Kammersinfonie op.  9 (1906; vgl. Adorno 1966/99, 291 f.) sowie dessen Vision einer »Klangfarbenmelodie« (Schönberg 1911/22, 506 f.) können in gewisser Weise als Konsequenzen dieses Prozesses aufgefasst werden. Im Grunde hatten bereits Aspekte des traditionellen Orchesterklanges (Schlaginstrumente, Glockenklänge, Anblasgeräusche der Bläser) auf ein neues klangfarbliches Potenzial hingedeutet, das durch eine Emanzipation des Ä Geräuschs über den »Klangzauber« des 19. Jh.s hinauswies und sich im Schaffen von Komponisten wie Luigi Russolo, Edgard Varèse und anderen seit ca. 1915 auf unterschiedlichste Weise entfaltete. Neue Facetten offenbarten später u. a. auch die Präparierung der Klaviersaiten (John Cage, ab 1938) und die Erforschung der Ä Multiphonics (ab ca. 1960). Versuche einer seriellen Integration synthetisch erzeugter Klänge (wie z. B. in Karlheinz Stockhausens Studie II, 1954) brachten aufgrund der Multidimensionalität des Phänomens Klangfarbe konzeptionelle Probleme mit sich, da sich Klangfarbe nicht als Ä Parameter isoliert von anderen Dimensionen behandeln ließ. Innerhalb eines weiten Spektrums von der musique concrète bis hin zur seriellen Tonbandmusik und zu Neuerungen im Instrumentenbau (die etwa in Giacinto Scelsis Ondiola-Improvisationen wirksam wurden; Jaecker 2005) lieferte die Ä elektronische Musik insgesamt entscheidende Impulse 337 für ein innovatives Komponieren mit Klangfarben, die innerhalb der instrumentalen Avantgarde weiterwirkten, so in der inneren Beschaffenheit und Dichte von Klangräumen und -flächen bei Scelsi, Iannis Xenakis, Friedrich Cerha, Krzysztof Penderecki oder György Ligeti (vgl. u. a. Iverson 2010). In der Ä seriellen Musik, so etwa in der »bunt-sinnliche[n] Katzenwelt« (Ligeti 1958/2007, 446) von Pierre Boulez ’ Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55), vor allem aber in postserieller Musik äußerte sich in Ansätzen neuen klangfarblichen Denkens auch ein gesteigertes Interesse europäischer Komponisten an außereuropäischer Musik (Ä Globalisierung). Als Beispiel ließe sich Scelsis »sukzessive Verbreiterung des Einzeltons zum komplexen ›Ton als Klang‹« (Helbing 2010, 276) nennen. In den 1960er und 70er Jahren wurde die Auffassung der Klangfarbe als vernetztes Phänomen durch die exakteren Verfahren, das Innere des Klanges mit Mitteln neuer Technologie zu analysieren, immer besser nachvollziehbar. In der Ä Spektralmusik Gérard Griseys und Tristan Murails resultierte daraus eine Vorliebe für »liminale« Zustände und Schwellenphänomene, wobei die Analyse des Klanginneren und der Zugriff auf das Formganze eng zusammenhängen (Haselböck 2009). Für den seriellen »Traum«, Klang und Form in Relation zu setzen, eröffneten sich dadurch neue Möglichkeiten. Bezüge zwischen Klang und Form offenbaren sich auch in Helmut Lachenmanns Kategorisierung der Klangtypen: »Klanglicher und formaler Aspekt« gehen beim fünften Typ (Strukturklang bzw. Klang-Struktur) »ineinander auf« (Lachenmann 1966/93/96, 17). Von großer Relevanz für viele heutige Komponisten ist auch Lachenmanns Aussage, Komponieren heiße »ein Instrument bauen« (Lachenmann 1986/96, 77–79), d. h. die Bedingungen des Entstehens von Klang immer wieder von Neuem zu reflektieren (Ä musique concrète instrumentale). Insgesamt ist die heutige Situation durch äußerste Vielfalt hinsichtlich der kompositorischen Auseinandersetzung mit Klangfarbe gekennzeichnet: Die Möglichkeiten reichen von spektralen Ansätzen und dem Einsatz von (Live-)Elektronik über Soundscape-Projekte, Ä Klangkunst und akustische Ökologie (Farina 2014) bis hin zur Rezeption der »sounds« populärer Musikformen (Ä Pop / Rock). Ä Themen-Beiträge 3, 7; Akustik / Psychoakustik; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Geräusch; Harmonik / Polyphonie; Instrumentation; Kompositionstechniken; Material; Melodie; Multiphonics; Orchester; Serielle Musik; Spektralmusik Klangkunst Adorno, Theodor W.: Funktion der Farbe in der Musik [1966], in: Darmstadt-Dokumente I (Musik-Konzepte Sonderband), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999, 263–312 „ Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge MA 1994 „ Farina, Almo: Soundscape Ecology. Principles, Patterns, Methods and Applications, Dordrecht 2014 „ Haselböck, Lukas: Gérard Grisey. Unhörbares hörbar machen, Freiburg 2009 „ ders. (Hrsg.), Klangperspektiven, Hofheim 2011 „ Helbing, Volker: Zyklizität und Drama(turgie) in Scelsis viertem Streichquartett, in: ZGMTH 7/3 (2010), 267–309, www.gmth. de/zeitschrift/artikel/575.aspx (24. 8. 2015) „ Iverson, Jennifer: The Emergence of Timbre. 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Definition Unter dem Begriff Klangkunst werden künstlerische Praktiken zusammengefasst, die vorwiegend in Grenzbereichen zwischen bildender Kunst und Musik stattfinden und klangliche Gestaltungs- und Wahrnehmungsstrategien entfalten (Ä Wahrnehmung). Charakteristisch sind offene, genreübergreifende Konstellationen, in denen 338 Klangkunst mitunter auch architektonische, literarische oder andere Gestaltungselemente eine Rolle spielen. Die Schwerpunktsetzung auf auditive Aspekte bietet letztlich die einzige Unterscheidungsmöglichkeit gegenüber anderen interdisziplinären Bereichen künstlerischer Produktion wie etwa der Installationskunst im Bereich der bildenden Kunst. Aus musiksoziologischer Sicht kann einerseits postuliert werden, dass die Klangkunst dort beginnt, wo der Kunst- bzw. Konzertmusik zugerechnete Bereiche akustischer Gestaltung bewusst verlassen werden, andererseits lassen zeitgemäße Definitionen von (Kunst-)Musik ebenso eine Einordnung von Klangkunst als Teilbereich aktueller Musikpraxis zu. Zentrale Erscheinungsformen sind Klanginstallationen und Klangskulpturen. Ebenso können klangbezogene Werke etwa der Konzept-, Medien-, Radio- und Netzkunst (Ä Internet, Ä Konzeptuelle Musik, Ä Medien) sowie der Lautpoesie (Ä Neue Musik und Literatur, Ä Sprache / Sprachkomposition) der Klangkunst zugeordnet werden. Weitere Bereiche betreffen Werke, welche die Hörwahrnehmung an sich thematisieren (z. B. soundwalks) sowie für Tonträger konzipierte Arbeiten. Hinsichtlich der performativen Klangkunst lässt sich keine klare Abgrenzung zu musikalischen Aufführungen, etwa im Bereich der elektroakustischen Musik, herstellen (Ä Elektronische Musik, Ä Performance). 2. Merkmale Der Versuch der Etablierung eines für die Gesamtheit klangkünstlerischer Praktiken geltenden Gattungsbegriffes (La Motte-Haber 1996, 12 f.) erscheint angesichts der skizzierten Heterogenität nicht begründbar. Somit ist Klangkunst als intermediale und zwischen bestehenden Kategorien zu verortende künstlerische Praxis zu betrachten. Hinsichtlich installativer Erscheinungsformen sind allerdings durchaus gattungsrelevante Gestaltungsprinzipien zu erkennen (Barthelmes 2008, 117 f.). Hierzu zählen: (1) Kontinuierliche Klangpräsentation: In installativen Klangkunstwerken werden Klänge unabhängig von menschlichen Interpreten zumeist mittels elektroakustischer Audiosysteme über längere Zeiträume präsentiert. (2) Offene Ä Form: Durch die Wiederholung voraufgenommener Klangsequenzen, über in Echtzeit generierte Klänge oder mittels Klangübertragungen entstehen akustische Situationen ohne definierte Beginn- und Endpunkte. Neben quasi-statischen oder sich minimal verändernden Klangsituationen sowie objekthaften Klangsetzungen ergeben sich durch zeitliche und räumliche Verschachtelungen oder algorithmische Prozesse immer neue Konstellationen. Mittels Sensoren und anderer Aktivierungsund Steuerungsmechanismen können akustische Abläufe mitunter vom Rezipienten mitgestaltet werden. (3) Demo- kratisierung des Hörprozesses: Analog zur Ausstellungssituation der bildenden Kunst wird die Strukturierung des ästhetischen Erlebens  – Verweildauer, Hörposition und individuelles Verhalten im Klangraum – den »aktivierten« Rezipienten selbst überlassen. (4) Reflexion der Wahrnehmung: Das individuelle Erforschen eines »Klangangebotes« führt zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sensorium. Wahrnehmungspsychologische Fragestellungen sind oft Ausgangspunkt künstlerischer Konzeptionen. (5) Ortsbezogenheit: Zahlreiche Werke der Klangkunst beziehen sich auf den geographischen, historischen oder sozialen Kontext des Präsentationsorts oder auf vorgefundene akustische und architektonische Aspekte (Ä Neue Musik und Architektur, Ä Themen-Beitrag  6). (6) Ästhetisierung des Alltags: Umweltklänge können zu zentralen Bestandteilen einer klangkünstlerischen Arbeit erklärt werden. So wird etwa in soundwalks lediglich über vorgegebene Routen oder Verhaltensweisen die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf spezifische Aspekte gelenkt. (7) Ä Intermedialität: Ähnlich der Oper oder dem Ä Musiktheater handelt es sich bei Klanginstallationen um hybride, mehrdimensionale Kunstwerke, so werden u. a. Lichtund Videoprojektionen, Objekte, architektonische oder performative Aspekte einbezogen. (8) Erweiterte Öffentlichkeit: Mit Präsentationen im öffentlichen Raum werden »geschützte« Repräsentationsräume wie etwa Konzertsäle oder Kunstgalerien verlassen, dies mitunter auch, um elitäre Strukturen der Kunstvermarktung zu umgehen. 3. Terminologisches Die Bezeichnung Klangkunst wird zumeist als Lehnübersetzung von sound art hergeleitet und auf die Ausstellung Sound / Art (SculptureCenter, New York, 1984) bezogen. Allerdings finden sich auch frühere Verwendungen wie etwa als Titel einer Sendereihe des Deutschlandsenders von 1965–66 (Fricke 2012, 50). In älteren Quellen wird Klangkunst auch als Synonym für Musik oder in Hinblick auf klangbezogene Aspekte der Literaturwissenschaft benützt (Knauer 1938, 257 f.). Erst ab den frühen 1990er Jahren ist eine Häufung im Gebrauch des Terminus zu beobachten, gefördert nicht zuletzt durch einschlägige Festivals und musikwissenschaftliche Publikationen. Im englischsprachigen Kontext ist sound art ab etwa 1979 zunächst nur vereinzelt vorzufinden (vgl. Ausstellung Sound Art, Museum of Modern Art, New York, 1979). Eine breitere Rezeption findet erst ab 2000 statt, insbesondere durch die Kulmination von Ausstellungen in New York (Whitney Museum, P.S.1) und London (Hayward Gallery). Andreas Engström und Åsa Stjerna betonen, dass Klangkunst und sound art nicht synonym verwendet werden, sondern vielmehr zwei weitgehend unabhängige Diskurse 339 existieren (Engström / Stjerna 2009, 11 f.). Neben Klangkunst werden verwandte Termini wie Akustische Kunst und Audiokunst sowie Anglizismen und hybride Wortschöpfungen wie Soundart oder Soundkunst benützt. Die Bezeichnung Klangkunst selbst ist umstritten, da eine Etikettierung befürchtet wird, welche dem Anspruch einer transdisziplinären Kunstpraxis zuwiderläuft (Straebel 2010, 53 f.). 4. Historischer Überblick und Erscheinungsformen Klangkünstlerische Aspekte spielen vermutlich schon in der frühen Menschheitsgeschichte eine Rolle. Peter Kiefer beschreibt bis in die Jungsteinzeit zurückreichende raumakustische Phänomene und plädiert für eine klangkünstlerisch motivierte archäoakustische Forschung (2010, 16f ). Auch Windspiele, Glockenspiele, Spieluhren und dergleichen sowie die audioarchitektonische Gestaltung repräsentativer und spiritueller Bauten jeglicher Façon bieten Anknüpfungspunkte. Innerhalb der Musikgeschichte nützt u. a. die als venezianische Mehrchörigkeit bekannte Raummusik der späten Renaissance das Klangpotenzial sakraler Aufführungsräume. Nach der im 18. Jh. weithin vollzogenen Trennung in Raum- und Zeitkünste findet die Idee einer allumfassenden Kunstpraxis ab der Romantik wieder zunehmend Zuspruch, besonders deutlich in Richard Wagners Vision des Gesamtkunstwerks. Das frühe 20. Jh. bringt für die Klangkunst wegweisende avantgardistische Tendenzen und Grenzüberschreitungen, von Erweiterungen der Gestaltungsmittel bis hin zur Auflösung von Gattungsgrenzen und der Aufwertung des Rezipienten zum Mitgestalter einer prozessorientierten Kunsterfahrung. Hierzu zählen gleichermaßen die Ideen der Futuristen und Dadaisten, Marcel Duchamps frühe Konzeptkunstwerke, die integrativen Konzeptionen der Bauhaus-Künstler, Kurt Schwitters ’ raumgreifende Merzbau-Experimente, Oskar Fischingers filmische Abstraktionen und Konzepte von Komponisten wie Erik Satie (musique d ’ ameublement) und Edgard Varèse (son organisé). Eine wesentliche Rolle spielen technologische Innovationen zur Synthese, Transformation und Reproduktion von Klängen, etwa die Erfindung von Radio, Schallplatte, Magnettonband sowie elektronischen Tonerzeugern und Klanggestaltungsverfahren. Pierre Schaeffers musique concrète nützt ab 1948 die Möglichkeiten der noch jungen Aufnahmetechnik, um fixierte Klänge als kompositorisches Ausgangsmaterial zu verwenden, und schafft anhand seiner objets sonores Werke, die ortsunabhängig und ohne Interpreten wiedergegeben werden können. Die Geschichtsschreibung der heutigen Klangkunst setzt etwa in den 1950er Jahren an. Der Bereich der Klangskulptur, also von Klangobjekten, die bespielt wer- Klangkunst den können oder durch verschiedene Mechanismen selbst Klänge erzeugen, wird u. a. mit den kinetischen Objekten Jean Tinguelys, Nicolas Schöffers spatiodynamischen Türmen und den structures sonores von Bernard und François Baschet erschlossen. Die konzeptuelle Erweiterung des Skulpturbegriffs innerhalb der bildenden Kunst zeigt sich etwa in Michael Brewsters acoustic sculptures oder in Bill Fontanas raumbezogenen Klangübertragungsprojekten (vgl. Brooklyn Bridge Sound Sculpture, New York, 1983; Landscape Soundings, Wien, 1990), die Fontana ebenfalls Klangskulpturen nennt. Im Rahmen der Weltausstellung 1958 in Brüssel wird mit dem von Iannis Xenakis entworfenen Philips-Pavillon, in dem Le Corbusier und Edgard Varèse Klang-, Lichtund Bildprojektionen vorführen, ein Prototyp einer mehrdimensionalen Rauminstallation präsentiert, jedoch in Form einer durchkomponierten achtminütigen Komposition (Varèses Poème électronique, 1957–58), die dem Gestus konzertanter Aufführungen verbunden bleibt (Ä Neue Musik und Architektur). Ebenso experimentieren John Cage, Pierre Henry und Karlheinz Stockhausen ab Beginn der 1950er Jahre mit raumbezogenen Konzeptionen. Ab 1957 lässt Henry Jacobs Klänge in der Kuppel des Morrison-Planetariums in San Francisco kreisen. Ebenfalls in San Francisco erforschen ab 1960 Stan Shaff und Doug McEachern mit ihrem »Theatre Of Sound-Sculptured Space« namens Audium das Potenzial von MehrkanalKlangprojektionen. Bernhard Leitner konzipiert ab 1969 Ton-Räume, in welchen sich Architektur über punktuelle Klangsetzungen als »audio-körperliche« Erfahrung manifestiert. Auch für die Klangkunst kommen zentrale Impulse von John Cage bzw. einflussreichen künstlerischen Strömungen der 1960er Jahre wie Happening und Fluxus sowie daraus hervorgehender Konzeptkunst und Installationskunst bzw. land art. Die Vision eines erweiterten Kunstbegriffs erlaubt es Kunstschaffenden unterschiedlichster Provenienz, akustische Elemente in ihre Arbeit zu integrieren oder als neuen Schwerpunkt zu wählen. Nam June Paik skizziert 1960 seine Symphonie für 20 Räume, mit Exposition of Music  – Electronic Television schafft er 1963 schließlich ein sich über mehrere Räume erstreckendes intermediales environment, das auch zahlreiche Klangquellen beinhaltet. Allan Kaprow benützt 1962 in seiner Arbeit Words in der New Yorker Smolin Gallery vier Plattenspieler als über zwei Räume verteilte Klangquellen. Im Umfeld von Fluxus realisiert Yasunao Tone im Rahmen einer Tokioter Gruppenausstellung 1962 mittels einer Endlos-Tonbandschleife eine kontinuierliche Klangpräsentation. Anknüpfend an seine Composition 1960 7, 340 Klangkunst in der eine Quint »für lange Zeit« ausgehalten werden soll, entwickelt der Komponist La Monte Young ebenfalls um 1962 seine Vision einer »ewigen Musik«, welche er ab 1963 in konzertanten Aufführungen und mit seinem Dream House ab 1966 durch den Einsatz von Sinusgeneratoren und Synthesizern auch über längere Zeiträume verwirklicht (Ä Composer-Performer). Maryanne Amacher überträgt in ihrer Werkserie CityLinks Alltagsklänge an andere Orte, die erste Präsentation findet im Mai 1967 als 28-stündige Echtzeit-Radioübertragung in Buffalo (NY) statt. Max Neuhaus nimmt für sich die Urheberschaft des Begriffs sound installation in Anspruch und bezeichnet 1982 seine Arbeit Drive-In Music von Oktober 1967 rückwirkend als erste Klanginstallation (Neuhaus / Duckworth 1982/94). Den frühesten Beleg des Begriffs sound installation zeigt jedoch eine Rezension des Musikkritikers Tom Johnson von 1973 (Johnson 1973/89), das deutsche Äquivalent findet sich etwa ab 1980. Ab den späten 1960er Jahren mehren sich genreübergreifende und intermediale Klangaktivitäten, es kommt zu ersten Gruppenausstellungen und Festivals, u. a. Sound (New York, 1969), Sound Sculpture (Vancouver, 1973), Audio Scene ›79 (Wien, 1979), Sound (Los Angeles / New York, 1979) sowie medienwirksamen Großprojekten etwa von Bill Fontana (Klangbrücke Köln / San Francisco, 1987) und Max Neuhaus (Times Square, 1977–1992, 2002). Insbesondere in Berlin entsteht ab den späten 1970er Jahren eine äußerst aktive Klangkunstszene. Ausstellungen und Festivals wie Für Augen und Ohren (1980; vgl. Block u. a. 1980) und sonambiente (1996 und 2006; vgl. La Motte-Haber u. a. 2006) finden hier statt, zahlreiche Kunstschaffende, Kuratoren und Theoretiker leben in Berlin oder sind regelmäßig zu Gast. Wesentliche Impulse geben u. a. das Berliner Künstlerprogramm des DAAD, das Elektronische Studio der TU Berlin, das Festival Inventionen, der Kunstverein Giannozzo, die singuhr-hoergalerie und der Masterstudiengang Sound Studies der Universität der Künste Berlin. Helga de la Motte-Haber kann mit zahlreichen Publikationen als Begründerin einer »deutschen Schule der Klangkunst-Forschung« gelten. Auffallend ist ein Fokus auf installative und oft ortspezifische Arbeiten. Zu den zentralen in Berlin wirkenden Künstlerpersönlichkeiten zählen u. a. Rolf Julius, Christina Kubisch, Hans Peter Kuhn und Robin Minard. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre bieten Universitäten in Berlin, Bern, Braunschweig, Mainz, Saarbrücken und Weimar auf Klangkunst spezialisierte Studiengänge an. Weitere relevante Institutionen sind u. a. Ars Electronica (Linz), Brückenmusik (Köln), Galerie Rachel Haverkamp (Köln), Klangraum Krems, ORF-Kunstradio (Wien), Stadtgalerie Saarbrücken sowie Neue-Musik-Festivals wie Do- naueschinger Musiktage, Wittener Tage für neue Kammermusik und ORF musikprotokoll im steirischen Herbst. 5. Aktueller Stand und Ausblick Der in den 1960er und 1970er Jahren durchgesetzte Freiraum für klangbezogenes Arbeiten fernab musikalischer Konventionen mag für jüngere Generationen eine selbstverständliche Ausgangsbasis sein. Doch nach wie vor widmen sich nur wenige Ä Institutionen dezidiert der Präsentation von Klangkunst, wie etwa Diapason Gallery (New York), Lydgalleriet (Bergen), singuhr-hoergalerie (Berlin) und tonspur (Berlin / Wien). Gleichzeitig finden klangkünstlerische Aktivitäten in vielfältigen lokalen Szenen und Kontexten weltweit statt, wobei auch eine zunehmende Vernetzung zu beobachten ist. Seit Beginn des 21. Jh.s lässt sich seitens renommierter Ausstellungshäuser ein gesteigertes Interesse an Klangkunst feststellen. Die meist problematische Übertragung von Gruppenausstellungskonzepten der bildenden Kunst auf klangbezogene Arbeiten mag jedoch mit ein Grund dafür sein, dass viele Klangkünstler alternative Präsentationsformen wählen oder ihre Werke im öffentlichen Raum situieren. Ä Themen-Beitrag 6 (12., 13.); Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik Barthelmes, Barbara: Klangkunst  – eine neue Gattung oder ein interdisziplinäres Feld?, in: KlangForschung ’98, hrsg. v. Jörg Stelkens und Hans G. Tillmann, Saarbrücken 1999, 117–126 „ Block, René / Dombois, Lorenz / Hertling, Nele / Volkmann, Barbara (Hrsg.): Für Augen und Ohren. 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Peter Kiefer, Heidelberg 2010, 53–60 „ Tadday, Ulrich (Hrsg.): Klangkunst (Musik-Konzepte Sonderband), München 2008 Bernhard Gál Klangmasse Ä Themen-Beitrag 9, 2., 3.1; Orchester, 1. Klangorganisation Ä Themen-Beitrag 3, 2.1 Klangzentrum Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie Komplexität / Einfachheit Der Begriff Komplexität benennt einen hohen Grad an Beziehung, Dichte und Vielfalt von zu einem Ganzen verknüpften Teilen. Als Richard Toop den Terminus »New Complexity« 1988 auf die Musik der damals jungen britischen Komponisten Michael Finnissy, Chris Dench, Richard Barrett und James Dillon bezog (Toop 1988), geschah dies in erster Linie als Entgegensetzung zum journalistisch geprägten Schlagwort »New Simplicity«, unter dem man in den USA gänzlich unterschiedliche Phänomene zu fassen versucht hatte, nämlich sowohl die teils extrem reduzierte und zugleich zeitlich ausgedehnte Musik Morton Feldmans als auch den repetitiven Ä Minimalismus von Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass (Kolleritsch 1981, 11). In Abgrenzung vom dodekaphonen und seriellen Konstruktivismus wiederum hatte 1977 bei einem Festival der WDR-Konzertreihe »Musik der Zeit« die eingedeutschte Entlehnung »Neue Einfachheit« als Motto gedient, um damit neben den genannten amerikanischen Richtungen auch die Musik damals junger westdeutscher Komponisten zu etikettieren. Dadurch kam es zu einer Verengung und inhaltlichen Verschiebung des problematischen Begriffs »Neue Einfachheit« auf die neoexpressiven und teils neotonalen, jedoch großenteils keineswegs »einfachen« Ansätze von Komponisten wie Hans-Jürgen von Bose, Hans-Christian von Dadelsen, Reinhard Febel, Wolfgang Rihm, Wolfgang von Schweinitz, Detlev Müller-Siemens und Manfred Trojahn. In Abgrenzung vom Fortschrittsdenken und Reinheitsideal der seriellen Nachkriegsavantgarde (Rihm 1978) sowie von Ansätzen dezidiert engagier- ter Musik, wie sie linkspolitisch eingestellte Komponisten im Zuge der Studentenproteste 1968 propagierten, machten diese um 1950 geborenen Komponisten – anknüpfend an die Ä Polystilistik von Bernd Alois Zimmermann sowie an die Traditionsbezüge bei György Ligeti und die seit den 1960er Jahren wiederentdeckte Musik Gustav Mahlers  – keinen Hehl aus ihrer »Sehnsucht nach einer vergangenen Schönheit und Innerlichkeit« (Bose 1978, 35). Ihr Plädoyer für eine vielfältige, sinnliche, expressive, fassliche und verständliche Musik wurde sowohl begrüßt (Reimann 1979) als auch wegen neoromantischer und restaurativer Züge kritisiert (Lachenmann 1976). Bewusst einfache Mittel wählten auch in den 1930er und 40er Jahren geborene europäische Komponisten, die ihre Werke religiös verstanden und teils textlich und aufführungspraktisch an die orthodoxe oder katholische Liturgie banden, weshalb sie später unter dem Begriff »Holy Minimalism« subsummiert wurden (Fisk 1994). Zentral für diese Re-Spiritualisierung und Re-Ritualisierung von Musik (Ä Themen-Beitrag 8) sind z. B. die neomodale Dritte Sinfonie (Sinfonie der Klagelieder, 1976) des Polen Henryk Górecki sowie die neogregorianischen Fratres und Tabula rasa (1977) des Esten Arvo Pärt und die religiösen Chorsätze des Briten John Tavener. Als Reaktion auf diese postmoderne Restitution von subjektiven Ausdruckskategorien, institutionellen Funktionalisierungen und traditionellen Sprach-, Form- und Gattungsmodellen zielten dagegen die Vertreter der »Neuen Komplexität« bzw. des »Komplexismus« unter ausdrücklicher Fortsetzung des objektiven »Strukturdenkens« der Serialisten auf eine Mannigfaltigkeit wechselseitig sich durchdringender Konstruktionsschichten und teils überdeterminierter Ordnungen. Morphologischer Beziehungsreichtum, manieristische Informationsdichte und extreme Virtuosität waren dabei teilweise als bewusste Überforderung von Interpreten und Hörern konzipiert (Ferneyhough 1978/98; Mahnkopf 1990, 20; Ä Interpretation). Historische Vorbilder fanden die »Komplexisten« bei Johannes Ockeghem, Carlo Gesualdo, der ars subtilior, franco-flämischer Vokalpolyphonie und barocker Fugentechnik. Seit dem Rotterdamer Symposion und Festival »Complexity?« (Bons 1990) seht die Musik von Brian Ferneyhough im Zentrum der technischen und ästhetischen Diskussion zur (New) Complexity (Tadday 2008), die im deutschsprachigen Raum maßgeblich durch den Komponisten und Musiktheoretiker Claus-Steffen Mahnkopf (1990, 2002) mitbestimmt wurde. Die für sich genommen wertneutralen Charakterisierungen »komplex« und »einfach« wurden im Zuge solch gegenseitiger Abgrenzung und qualitativ-ideeller Aufladung zu festen Termini für zwei polar gedachte Richtun- 342 Kompositionstechniken gen der neuen Musik. Dabei wurde offensichtlich, dass »Komplexität« und »Einfachheit« nur relative Maße sind, deren Verabsolutierung problematisch ist. Primär handelt es sich bei Komplexität und Einfachheit um Kategorien der Ä Rezeption, die spezifische Grade der Über- bzw. Unterforderung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Hörers benennen (Ä Wahrnehmung). Ein und dasselbe Phänomen kann daher auf verschiedenen Ebenen (Ä Material, Ä Struktur, Ä Form) zugleich komplex und einfach sein. Konzentriertes Hören – z. B. von Werken der französischen Spektralisten oder der live-elektronischen Werke Luigi Nonos der 1980er Jahre – kann einen äußerlich einfachen und statischen Klang als intern höchst vielschichtigen Komplex erleben, dessen Obertöne, Formanten, Geräuschanteile, Ein- und Ausschwingvorgänge sich vor dem Hintergrund geringer Intonations- und Dynamikschwankungen permanent wandeln. Umgekehrt kann eine besonders vielschichtige Textur möglicherweise einen zwar komplizierten, bei gleichbleibender Dichte aber äußerlich statischen und trotz aller Überforderung der Wahrnehmung letztlich strukturell und formal simplen Gesamteindruck vermitteln. Als Stilbegriffe sind Komplexität und Einfachheit daher weitgehend unbrauchbar. Letztlich ist an jedem einzelnen Werk  – egal welcher Richtung es angehört  – zu prüfen, auf welcher Ebene es sich in welcher Hinsicht als einfach oder komplex erweist. Dennoch bleibt das seit den 1970er Jahren durch wechselseitige Reaktionsverhältnisse musikhistorisch wirksam gewordene Begriffspaar einfach-komplex weiterhin unentbehrlich, um extreme Unterschiede zwischen Notentexten, musikalischen Erscheinungsformen und mit beiden Begriffen benannte kompositorische Richtungen beschreiben zu können. Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Avantgarde; Form; Material; Struktur Bons, Joël (Hrsg.): Complexity? An Inquiry into Its Nature, Motivation and Performability, Amsterdam 1990 „ Bose, Hans-Jürgen von: Suche nach einem neuen Schönheitsideal, in: DBNM 17, hrsg. v. Ernst Thomas, Mainz 1978, 34–39 „ Complexity Forum, in: PNM 31/1 (1993), 6–85 und 32/1 (1994), 90–223 „ Dahlhaus, Carl: Vom Einfachen, vom Schönen und vom einfach Schönen [1978], in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Laaber 2005, 300–310 „ Ferneyhough, Brian: Aspects of Notational and Compositional Practice [1978], in: Collected Writings, hrsg. v. James Boros und Richard Toop, Amsterdam 21998, 2–13 „ Fisk, Josiah: The New Simplicity. The Music of Górecki, Tavener and Pärt, in: Hudson Review 47/3 (1994), 394– 412 „ Kolleritsch, Otto (Hrsg.): Zur »Neuen Einfachheit« in der Musik (StWf 14), Wien 1981 „ Lachenmann, Helmut: Zum Problem des musikalisch Schönen heute [1976], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hrsg. v. Josef Häusler, Wiesbaden 1996, 104–110 „ Mahnkopf, Claus-Steffen: KundgaLiteratur be. Komplexismus und der Paradigmenwechsel in der Musik, in: MusikTexte 35 (1990), 20–28 „ ders. (Hrsg.): Polyphony & Complexity, Hofheim 2002 „ Reimann, Aribert: Salut für die junge Avantgarde, in: NZfM 140/1 (1979), 25 „ Rihm, Wolfgang: Der geschockte Komponist [1978], in: Mit Nachdruck. Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, hrsg. v. Rainer Nonnenmann, Mainz 2010, 295–306 „ Tadday, Ulrich (Hrsg.): Brian Ferneyhough (Musik-Konzepte 140), München 2008 „ Toop, Richard: Four Facts of »The New Complexity«, in: Contact 32 (1988), 4–50 Rainer Nonnenmann Komposition Ä Form; Harmonik / Polyphonie; Kompositionstechniken; Rhythmus / Metrum / Tempo; Schaffensprozess; Wahrnehmung; Zeit Kompositionstechniken Inhalt: 1. Begriff „ 2. Systematik „ 3. Parameterübergreifende Gesamtkonzeptionen  „ 3.1 Dialektisches Komponieren „ 3.2 Dialogisches Komponieren „ 3.3 Komplexe Texturen „ 3.4 Wiederholung 1. Begriff Traut man dem Begriff »Kompositionstechnik« ohne jeden Argwohn, so läuft man Gefahr, eine Tücke, die in der Kombination der Einzelglieder des zusammengesetzten Begriffs lauert, zu übersehen. Mit dieser Begriffskombination nämlich kann der Anschein erweckt werden, dass der hochkomplexe Handlungszusammenhang »Komponieren« (Ä Schaffensprozess) sich weitestgehend technisch fassen ließe. Tatsächlich aber lassen sich im besten Fall Einzelaspekte kompositorischen Handelns als verallgemeinerbare Techniken formulieren. Der gesamte Handlungszusammenhang aber kann mit einer technischen Beschreibung nicht hinreichend dargestellt werden. Es ist daher ratsam, beide Begriffsteile – das Komponieren (als ganzheitlichen Handlungszusammenhang) und die Technik (als gegliederte Betrachtung von Einzelaspekten) – zunächst gesondert zu betrachten. (1) Techniken des Komponierens sind in zusammenhängenden Einzelaspekten darstellbar, die als Grundlage und Voraussetzung für das Erfinden und Notieren von Musik gelten können. Dies beginnt u. a. bei der Ä Notation, der Instrumentenkunde und der Ä Instrumentation als Beispiele für Teilaspekte des Wissens auf der einen Seite, und endet bei Teilbereichen eines erlernbaren Könnens, wie z. B. dem Umgang mit motivischer Arbeit, harmonischen und rhythmischen Konstruktionen. Bei der Diskussion der zuletzt genannten Teilbereiche liegt die Versuchung nahe, den Begriff »Satztechniken« einzuführen. Dieser in der Ä Musiktheorie fest etablierte Begriff er- 343 scheint zwar für Teilbereiche der europäischen Musik vor dem 20. Jh. mit ihren hierarchischen Parameterkonzepten als durchaus geeignet, für die Musik des 20. und 21. Jh.s mit ihren überwiegend nicht hierarchischen und flexiblen Parameterkonzepten aber zu eng (Ä Parameter). Wir verwenden daher bei der Beschreibung der Einzelaspekte kompositorischen Handelns im Folgenden die Begriffe »Verfahrensweise« und »Gestaltungsprinzipien«. (2) In der Kunst des Komponierens, also im Handlungszusammenhang eines hochindividualisierten Erfindens und Notierens bzw. Fixierens von Musik, tritt zu dem skizzierten Wissen und der Beherrschung der angedeuteten »technischen« Fähigkeiten eine kompositorischgestalterische Potenz, die ein ganzes Bündel von Gestaltungsdimensionen kreativ und sicher lenken muss. Ihrem komplexen Zusammenspiel im kompositorischen Handeln können die folgenden Ausführungen in dem gegebenen Rahmen nicht gerecht werden. Genau dies aber wäre erforderlich, wenn nicht über »Kompositions-Techniken«, sondern im emphatischen Sinn über »KompositionsTechniken« gesprochen werden sollte. Die Ebene eines komplexen Zusammenspiels von Gestaltungskategorien kompositorischen Handelns kann aber letztlich nicht allgemein, sondern nur am konkreten Beispiel einzelner Werke dargestellt werden (Ä Analyse). 2. Systematik Spezifische kompositorische Verfahrensweisen in der Musik seit 1945 lassen sich, obwohl häufig œuvre- oder werkspezifisch gedacht und ausdifferenziert, durchaus in übergeordneten Kategorien zusammenfassen und terminologisch fassen. In einem groben Überblick folgt daher hier zunächst eine systematische Auflistung ausgewählter kompositorischer Gestaltungsweisen der Neuen Musik. Eine detailgebundene Schärfung einiger dieser Verfahrensweisen wird in Abschnitt 3 dann beispielhaft anhand von vier »parameterübergreifenden Gesamtkonzeptionen« unternommen. Einzelaspekte kompositorischer Verfahrensweisen lassen sich in diastematische, rhythmische, klangfarbliche und formale Verfahrensweisen unterteilen: (1) Diastematische Verfahrensweisen können unter Gesichtspunkten linearer Tonhöhenorganisation betrachtet werden (Ä Zwölftontechnik, serielle Techniken [Ä Serielle Musik], motivische Arbeit), oder unter Gesichtspunkten vertikaler Tonhöhenorganisation (Ä Harmonik, darunter Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität, Polytonalität, Tonhöhenmultiplikation, Ä Spektralmusik, Mikrotonalität [Ä Themen-Beitrag 7], Klangflächen / Cluster, Mikropolyphonie [Ä Themen-Beitrag 3, 2.2, Ä Harmonik / Polyphonie, 4.2]). (2) Rhythmische Verfahrensweisen umfassen allgemein alle Dimensionen im Verhältnis von Ä Rhyth- Kompositionstechniken mus / Metrum / Tempo inkl. Polyrhythmik, Polymetrik und rhythmischer bzw. metrischer Modulation. (3) »Ä Klangfarbe – Ä Geräusch«: Klangflächenorganisation (Ä Themen-Beitrag 3, 2.), erweiterte Spieltechniken (Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen, Ä Multiphonics), Ä musique concrète instrumentale, Geräuschkomposition. (4) Ä Form: Unter unzähligen individuellen formalen Gestaltungsweisen können Ä Fragment, Prozess und Offene Form hervorgehoben und allgemeiner beschrieben werden. Als Beispiele übergeordneter Strategien können gelten (1) algorithmisches Komponieren (Ä Elektronische Musik); (2) Raumkonzepte (Ä Themen-Beitrag 6); (3) Szenische Musik (Ä Instrumentales Theater, Ä Musiktheater, Ä Performance); (4) Ä Elektronische Musik, Live-Elektronik; (5) Ä Klangkunst (Installation); (6) Graphische Ä Notation; (7) Improvisationskonzepte (Ä Improvisation); (8) Ä Zufall, Aleatorik; (9) Ä Collage / Montage, Intertextualität, Zitat, Musik über Musik, Ä Polystilistik; (10) Ironie (Ä Humor). 3. Parameterübergreifende Gesamtkonzeptionen 3.1 Dialektisches Komponieren »Mit dem Begriff ›Dialektisches Komponieren‹ wird das Bestreben bezeichnet, zwischen materialimmanenten Setzungen und historischen Bedingungen eine für jedes Werk neue Synthese zu finden, dabei die Hörgewohnheiten kritisch ins Kalkül zu ziehen und die Bedingungen des Materials zu reflektieren« (Hilberg 2000, 173; vgl. auch Nonnenmann 2005). Helmut Lachenmann prägte den Begriff musique concrète instrumentale für eine Musikauffassung, in deren Zentrum die »konkret mechanisch-energetischen Bedingungen der instrumentalen Klangproduktion« (Nonnenmann 2000, 33) stehen. Bereits im Kern baut dieser kompositorische Ansatz dialektische Spannungen auf zwischen (1) Geräusch und Ton, zwischen (2) multidimensionalen Strukturbildungen auf der Basis kategorialer Einteilungen der Klangproduktion (Klangfamilien) und schließlich zwischen (3) musikalischen Konventionen und der Verweigerung der ihnen impliziten Erwartungen. Weite Teile einer von Mathias Spahlinger, Nicolaus A. Huber (1972/2000) und Lachenmann (1966/93/96; 1990/96) in den 1960er und 1970er Jahren vertretenen ästhetischen Positionierung beruhten auf einer Teilung des musikalischen Materials in das »vorab als musikalisch definierte Material« und das »nicht vorab als musikalisch definierte Material« (Spahlinger, 1989, 4, 6; 1988, 19) oder anders ausgedrückt in den »schönen Ton« und das Geräusch. Aus dieser Dialektik heraus wurde versucht, die grundlegenden Begriffe Syntax und Ä Struktur in der Musik unter sprachtheoretischen und kompositorischen Aspekten neu zu fassen (Ä Sprache). Kompositionstechniken Die Grundlage dieser Bemühungen war es zunächst, den Instrumentalklang als Nachricht der mechanischenergetischen Bedingungen seiner Hervorbringung zu begreifen und nicht als gegebene Größe in einem wie auch immer eingegrenzten System (Spahlinger 2007), etwa einem System von Tonhöhenbeziehungen oder präformierten Klangfarbenordnungen. In der Gestaltung des Komponisten werden kompositorische Zusammenhänge gesucht, in denen die Eigenschaften der Instrumentalklänge der musique concrète instrumentale und die mechanisch-energetischen Bedingungen ihrer Hervorbringung ständig aus wechselnden Blickwinkeln neu interpretiert werden. Die Eigenschaften und Bedingungen der Klänge und ihre Wechselwirkungen lassen sich in diesem Verständnis nicht unter einem übergeordneten System sortieren. Ihre Kategorisierung ist flexibel. 3.2 Dialogisches Komponieren Der Begriff »Dialogisches Komponieren« baut auf der Dialogischen Philosophie (Goldschmidt 1993; Buber 1973) auf und wird entlang der in Jean-François Lyotards Postmodernem Wissen postulierten »Vielfalt der Diskurse« (1979/99, 189–191) und dem »Dialogischen Konstruktivismus« von Kuno Lorenz (2009) entwickelt. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Reflexion und Handeln in der Arbeit des Künstlers, um »Ahnung und Ahnungen« (Hechtle 2013; vgl. Mainka 2012). Zugrunde liegen dem Ansatz die Unterscheidungen von wissenschaftlichem und narrativem Wissen (bezogen auf den Diskurs) bzw. von Wissenskompetenz und Handlungskompetenz (bezogen auf das Komponieren). Lyotard spricht in seinem Bericht Das postmoderne Wissen (Lyotard 1979/99) davon, dass die »großen Erzählungen«, die großen systematischen Entwürfe aufgegeben werden mussten. An deren Stelle tritt eine Vielfalt von Diskursen mit je eigenen Regeln der Verknüpfung von Aussagen. In Anlehnung an die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins beschreibt Lyotard diese Diskurse als isolierte »Sprachspiele« (1979/99, 119). Viele Komponisten, darunter auch der junge Wolfgang Rihm, reagierten bereits in den 1970er Jahren auf Tendenzen, die Lyotard in seinem Bericht zusammenfasste. Einmal als solche erkannt und akzeptiert, können die Sprachspiele im Sinne der Dialogischen Philosophie auch als Widersprüche in ein Metaspiel überführt werden, wobei der Widerspruch als eine grundlegende und fruchtbare Spannung gedacht wird, die nicht in eine höhere Synthese überführt werden muss. Zwei sich widersprechende Standpunkte sind demnach auszuhalten, schöpferisch auszutragen und in ihrer ebenbürtigen Bedeutung anzuerkennen. 344 Ein daraus hervorgehendes Dialogisches Komponieren ist von großer Offenheit gekennzeichnet, einzelne Klänge und Materialien können höchst unterschiedlichen Ordnungskategorien zugehören. Brüche auf allen parametrischen, dramaturgischen und formalen Ebenen sind vorgezeichnet. Während das Dialektische Komponieren Brüche aus qualitativen Sprüngen quantitativer Prozesse entwickelt und dabei den Dialog mit sich selbst bzw. den Widerspruch des Materials in sich selbst sucht, thematisiert das Dialogische Komponieren den Pluralismus des Materials und dessen Vergangenheiten. Das Interesse gilt dem Einlassen des Bekannten als Fremdes. Beispiele dafür bieten auf ganz unterschiedliche Weise etwa die kompositorischen Ansätze von Markus Hechtle, Iris ter Shiphorst und Hanspeter Kyburz (Kyburz 2001). 3.3 Komplexe Texturen Brian Ferneyhough sei hier exemplarisch für eine internationale Gruppe von Komponisten genannt, deren Arbeiten mit dem Begriff »New Complexity« beschrieben werden (Ä Komplexität / Einfachheit). Die Partituren weisen eine hochkomplexe Notation auf und sind durch Figuren und Gesten geprägt, deren Ausdruckswert in komplexen Texturen durch gegenseitige Interaktion, Beeinflussung, Ergänzung oder auch Auslöschung verstärkt oder verändert wird (Ä Wahrnehmung, 2.). Sie werden aber nicht durch Bezüge verbunden, wie wir sie zwischen Motiven kennen, die einer motivischen Arbeit im traditionellen Sinne unterworfen werden. Figuren und Gesten nehmen hier nicht mehr eine hervorgehobene Stellung in einer Gestalthierarchie ein und sollen nicht mehr gegenüber anderen Gestalten oder Verläufen deutlicher wiedererkannt werden. Sie sind gleichberechtigt und weniger ihre Gestalt als vielmehr die ihnen innewohnende Bewegungsenergie ist für ihre Anordnung und Verbindung wichtig. Die Vielfalt möglicher Gestaltverbindungen ist dabei allgegenwärtig und vielfältige morphologische Prozesse verlaufen simultan. Vermutlich dienen die komplexen Operationen vermittels präkompositorischer »Anordnung« in atemporalen Zeit- und Bezugsystemen, durch die z. B. Ferneyhough zu diesen Figuren und Texturen gelangt, dazu, traditionelle Kategorien des Aufeinanderbezogenseins in der ästhetischen Ä Wahrnehmung zu verhindern. Ferneyhoughs Ziel ist es, reine »Kraftlinien« musikalischer Figuration und Gestik zu komponieren (Ferneyhough 1982/90, 1984/90). Die musikalischen Zellen erlangen aufgrund ihrer ständigen Reformulierung und ihrer Binnenkomplexität keine wiedererkennbare Gestaltqualität, obwohl die musikalische Wahrnehmung permanent mit der Rezeption scheinbar bekannter Figuren und Gesten beschäftigt ist. 345 3.4 Wiederholung (1) Repetition und Wiederholung. Die Begriffe Repetition und Wiederholung können folgendermaßen definiert und differenziert werden: Repetition ist die »einfache, mechanische Reproduktion« (Schwehr 2008, 4), Wiederholung ist »das je neue Erscheinen in veränderten Kontexten, wobei Strukturen und Zusammenhänge transparent werden können« (ebd.). Repetition als »mechanische Reproduktion« findet seine grundlegendste Erscheinung z. B. in Tonbandkompositionen, in denen das gleiche Klangereignis mechanisch reproduziert wird, also tatsächlich identisch wiederholt, »geloopt« wird. In zwei charakteristischen Werken der amerikanischen Avantgarde, Steve Reichs It ’ s Gonna Rain (1965) und Alvin Luciers I Am Sitting in a Room (1969), entstehen Variationen des Klangereignisses aus physikalischen Bedingungen der mechanischen Reproduktion und generieren so einen gerichteten Prozess, formal gesehen quasi ein Thema mit Variationen. In beiden Fällen entsteht eine sukzessive, gerichtete, minimale Veränderung oder Variation eines Ausgangsmaterials; der Prozess resultiert dabei in der Ä Form des Stückes, die durch eine Veränderung des Ausgangsmaterials oder der Regeln der Repetition modifiziert werden kann. Solcher Ä Minimalismus ist geprägt von gerichteten Verläufen allmählicher und kontinuierlicher Veränderung sowie durch den Verzicht auf Kontrast und Reprise, für formale Verläufe in der Musik sonst wesentliche Gestaltungsmittel. Wird diese Verfahrensweise vom Rezipienten akzeptiert, lässt er sich auf eine sehr spezifische Zeit-, Form- und Dramaturgieerfahrung ein. Vergleichbare Verfahren der Repetition von minimal veränderten Patterns, ggf. kombiniert mit einer Phasenverschiebung durch minimale Tempoveränderung, wurden auch auf notierte und interpretierte Instrumentalmusik übertragen. Damit wird der Übergang von der mechanischen Reproduktion über die mechanische Wiederholung zur komplex gestalteten Komposition mit Mikrovarianten fließend. (2) Mikrovarianten. Ein wesentliches Charakteristikum der kompositorischen Verfahrensweisen von Morton Feldman liegt in der Reduktion der kompositorischen Mittel im Rahmen einer Beschränkung auf traditionelles Instrumentarium, traditionelle Spieltechniken und Klänge, unter Verzicht auf exaltierte musikalische Gestik und Dramaturgie (Claren 2000). Der scheinbar gleichförmige Fluss der Musik lenkt die Wahrnehmung auf die Mikrostruktur einer eng begrenzten Auswahl von klanglichen Ereignissen. Eine permanent permutierte Wiederkehr weniger Elemente unterstützt diese Konzentration der Wahrnehmung. Das Szenario gleicht einem Figurentheater, dessen Gestalten im Fluss der Ä Zeit an immer wieder anderen, unerwarteten Orten des definierten Kompositionstechniken Zeit-Raumes auftauchen, oft ohne ihre Gestalt zu ändern und ohne – außer im gemeinsamen oder vereinzelten Erscheinen – miteinander wirklich in Beziehung zu treten. Durch die allmählich sich etablierende Variationstechnik innerhalb dieser permutierenden Folge verschwimmen nach und nach auf subtile Weise die bis dahin gebildeten Kategorien von »gleich«, »ähnlich« und »verschieden«. Man befindet sich Between Categories, so ein Werk- und Aufsatztitel Morton Feldmans (Feldman 1969/85). Die musikalische Erlebniszeit und die zunächst aufgebauten sinnhaften Verknüpfungsmuster werden mehr und mehr irritiert, im zeitlichen Vollzug der Komposition wird Musik verstärkt und radikal zu dem, was sie immer ist: Gedächtniskunst, in der die Kategorien »Sinn« und »Zeit« in einem fragilen Verhältnis sinnlich ausbalanciert werden. Die Offenheit eines so entstandenen formalen Prozesses macht Anfang und Schluss zu einem willkürlichen Akt. Der nach und nach aus der Reduktion heraus durch die Technik der Mikrovarianten und ihrer Anordnung ins scheinbar Unermessliche wachsende Möglichkeitshorizont lässt eine quasi endlose Fortsetzung des Prozesses beinahe »logisch« erscheinen und macht die immense Länge der späten Werke Feldmans begreiflich. Ä Harmonik / Polyphonie; Instrumentation; Material; Melodie; Multiphonics; Notation; Orchester; Rhythmus / Metrum / Tempo; Schaffensprozess; Serielle Musik; Spektralmusik Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Gütersloh 1973 „ Claren, Sebastian: Neither. Die Musik Morton Feldmans, Hofheim 2000 „ Feldman, Morton: Zwischen den Kategorien (Between Categories) [1969], in: Essays, hrsg. v. Walter Zimmermann, Kerpen 1985, 82–84 „ Ferneyhough, Brian: Form, Figur, Stil  – eine vorläufige Einschätzung [1982], in: MusikTexte 37 (1990), 7–10 „ ders.: Il Tempo della Figura [1984], in: MusikTexte 36 (1990), 27–30 „ Goldschmidt, Hermann Levin: Philosophie als Dialogik. Frühe Schriften, Wien 1993 „ Hechtle, Markus: »Ich hab ja keine Ahnung, aber…!«, in: Populär vs. elitär?, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2013, 77–92 „ Hilberg, Frank: Dialektisches Komponieren, in: Geschichte der Musik im 20. Jh., Bd. 4: 1975–2000 (HbM20Jh 4), hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, 173–206 „ Huber, Nicolaus A.: Kritisches Komponieren [1972], in: Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, hrsg. v. Josef Häusler, Wiesbaden 2000, 40– 42 „ Kyburz, Hanspeter: Dialogisches Komponieren. Hanspeter Kyburz im Gespräch mit Anton Haefeli, in: Composers-inResidence (Lucerne Festival 2001), Luzern 2001, 161–169 „ Lachenmann, Helmut: Klangtypen der Neuen Musik [1966/93], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1965–1995, hrsg. v. Josef Häusler, Wiesbaden 1996, 1–20 „ ders.: Zum Problem des Strukturalismus [1990], in: ebd., 83–92 „ Lorenz, Kuno: Dialogischer Konstruktivismus, Berlin 2009 „ Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen [1979], Wien 1999 „ Mainka, Jörg: Erzählende Musik voller Ahnungen. Zu Hechtles EnsembleLiteratur 346 Konzeptuelle Musik stück »screen« und seiner Erzählung »Ich hab ja keine Ahnung, aber …!«, in: Musiktexte 134 (2012), 68–77 „ Nonnenmann, Rainer: Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken, Mainz 2000 „ ders.: Des WiderSpännstigen Fügung. Zum dialektischen Komponieren bei Cornelius Schwehr (fragmen 43), Saarbrücken 2005 „ Schwehr, Cornelius: Repetition  – Wiederholung, Programmeinführung zum Konzert des ensemble aventure, 1. 6. 2008, http://cornelius-schwehr.de/fileadmin/images/Texte/Vortraege/Programmeinfuehrung08.pdf (2. 7. 2015) „ Spahlinger, Mathias: eröffnungsschlussfall, in: Helmut Lachenmann (Musik-Konzepte 61/62), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1988, 19–29 „ ders.: gegen die postmoderne mode, in: Musiktexte 27 (1989), 2–7 „ ders.: dies ist die zeit der konzeptiven ideologen nicht mehr, in: Musiktexte 113 (2007), 35–43 Jörg Mainka Kontrapunkt Ä Harmonik / Polyphonie Konzeptuelle Musik Der Begriff des Konzeptuellen kann zur Bezeichnung einer Vielfalt an Phänomenen herangezogen werden und ist daher weniger als Stilbegriff zu verstehen, denn als Möglichkeit, kompositorisch-poetologische Strategien unterschiedlicher Provenienz zu charakterisieren. Als zentraler Aspekt konzeptueller Musik kann die herausgehobene Bedeutung des gedanklichen Moments gelten, was mit einer Abwertung der sinnlich-materiellen Dimension einhergehen kann, aber nicht muss. Da die Ä Notation von Musik eine Differenz von Partitur und Ausführung und somit die Möglichkeit entstehen lässt, dass prinzipiell bereits ein Gedanke Kunst sein kann, ist bereits der traditionellen schriftlich fixierten Musik eine Tendenz zum Konzeptuellen inhärent (Ablinger 2003, 217; Diederichsen 2014, 130), die etwa in der Augenmusik der Renaissance, in Robert Schumanns Humoreske op. 20 mit der nur notierten, nicht aber gespielten »inneren Stimme« oder etwa in der theoretischen Dimension der Musik Karlheinz Stockhausens oder Iannis Xenakis ’ deutlich erkennbar wird. Allgemein lassen sich bei allen Ansätzen, in denen über die klingende Faktur hinausreichenden Ideen und Vorstellungen Bedeutung zukommt, zumindest konzeptuelle Aspekte beobachten. Nach Vorläufern in der ersten Hälfte des 20. Jh.s (Erik Satie, Josef Matthias Hauer) sind im Spannungsfeld von Fluxus, Happening und Concept Art auch in der musikalischen Ä Avantgarde der 1960er Jahre verstärkt vielfältige konzeptuelle Ansätze zu beobachten, etwa bei John Cage, Alvin Lucier, La Monte Young, Yoko Ono, Henry Flynt, Nam June Paik, Dieter Schnebel u. a. (Ä Neue Musik und bildende Kunst, Ä Performance). Als paradigmatische konzeptuelle Stücke dieser Zeit gelten etwa John Cages berühmtes »stilles« Stück 4'33" (1952), das auf komponierte Ereignisse verzichtet und somit die Umgebungsgeräusche ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt  – eine Idee, die sich nach Cage aber nicht im gedanklichen Konzept erschöpft, sondern sich erst durch die ästhetische Erfahrung entfaltet  – oder I Am Sitting in a Room (1969) von Alvin Lucier mit der prägnanten Idee, die akustischen Eigenschaften eines Raums hörbar zu machen, indem eine gesprochene Tonaufnahme immer wieder abgespielt, gleichzeitig aufgenommen und von Neuem abgespielt wird (Ä Medien). Seit den 1970er Jahren gerieten konzeptuelle Strategien etwas in den Hintergrund, spielen aber u. a. bei Komponisten wie Nicolaus A. Huber, Manos Tsangaris, Tom Johnson, Sven-Åke Johansson und insbesondere bei Peter Ablinger nach wie vor eine wichtige Rolle. Neuerdings ist vor allem bei jüngeren Komponisten wie Johannes Kreidler, Patrick Frank, Trond Reinholdtsen u. a. wieder eine verstärkte Hinwendung zum Konzeptuellen zu beobachten. Die Aufwertung des Gedanklichen kann im Extremfall dazu führen, dass Ideen überhaupt nicht mehr ausgeführt werden müssen, wofür etwa Textpartituren von La Monte Young, Ono, Paik u. a. stehen, die häufig als reine Lesestücke konzipiert sind (Metzger 2003, 16). Textpartituren anderer Komponisten wie Aus den sieben Tagen (1968) von Karlheinz Stockhausen oder vorschläge, konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten (1993) von Mathias Spahlinger hingegen sind durchaus zur Aufführung vorgesehen. Andererseits führt die Fokussierung der künstlerischen Idee häufig dazu, dass diese auch die Faktur des resultierenden ästhetischen Ereignisses stark bestimmt. Die Musik wird tendenziell durch die Idee determiniert, das Moment des subjektiven Ausdrucks demgegenüber zumindest zurückgedrängt (Kreidler 2014, 44). In Cages 4'33" legt der Komponist nur den Rahmen fest, in anderen seiner Stücke bestimmen Zufallsoperationen das klangliche Resultat. Peter Ablingers Werkreihe Quadraturen (seit 1995) beruht auf akustischen Transformationsprozessen, die deren Ausgestaltung ein gutes Stück weit vorgeben. So zentral hier die Idee ist, ist doch auch deren materiale Umsetzung unerlässlich, beruht der Kunstcharakter dieser Ansätze doch gerade auf der Erfahrung der Differenz zwischen Idee und deren materieller Ausformung. Indem konzeptuelle Musik solcherart Wahrnehmungs- und Reflexionsprozesse in Gang setzt, findet eine Akzentverschiebung vom  – aufgrund seines Objektcharakters ohnehin kritisierten – Werk zur ästhetischen Erfahrung des Rezipienten statt (Ä Rezeption, Ä Wahrnehmung), »Betrachter und Hörer werden als werkstiftendes Medium eingeführt« (Metzger 2003, 12). 347 Häufiges Merkmal vieler konzeptueller Musik ist ihre Nähe zur bildenden Kunst, die in unterschiedlicher Weise und Deutlichkeit ausgeprägt ist. Protagonisten wie Flynt, La Monte Young, Paik, Ono oder Cage waren in den 1960er Jahren in einem Umfeld von Concept Art, musikalischer Avantgarde, Fluxus und Happening tätig, das Grenzziehungen zwischen einzelnen Bereichen aufgab und durch wechselseitige Inspiration geprägt war. So wurde Cages 4'33" von Robert Rauschenbergs White Paintings beeinflusst (La Motte-Haber 2003, 23) und Flynt von La Monte Young inspiriert (Metzger 2003, 13). Vergleichbare intermediale Bezüge prägen die konzeptuelle Musik auch zur Gegenwart hin: Johannes Kreidlers Sätze über musikalische Konzeptkunst (2013) verweisen inhaltlich und formal auf Sol LeWitts Sentences on Conceptual Art (1967) und Peter Ablinger verfügt über eine grundlegende Affinität zur bildenden Kunst (Ablinger 2013). Parallelen zwischen den Kunstformen bestehen auch hinsichtlich eines institutionenkritischen Moments (Ä Institutionen / Organisationen), das viele konzeptuelle Ansätze in der Musik wie in der bildenden Kunst prägt und oftmals zur kritischen Reflexion tradierter Rahmenbedingungen und deren Umdeutungen und Neugestaltung führt (Nauck 2013), wenngleich der Parallelisierung durch den unterschiedlichen Objektstatus von bildender Kunst und Musik auch Grenzen gesetzt sind (Diederichsen 2014, 136). Die Fokussierung des Gedanklichen hat zur Folge, dass konzeptuelle Kunst tendenziell materialunabhängig ist (La Motte-Haber 2003, 23). Dies und die institutionenkritische Kontextverschiebung führen zusätzlich zu einer Verwischung der Spartengrenzen und zu einem konstitutiven Zusammenspiel verschiedener Materialien und Medien (etwa bei Schnebel, Tsangaris und Kreidler) und lassen insbesondere bei Konzeptionen, in denen Performativität und komponierte Formverläufe eine eher untergeordnete Rolle spielen, immer wieder auch Parallelen zur Ä Klangkunst erkennbar werden. Trotz umfangreicher Forschungen zu einzelnen Protagonisten wurden, im Gegensatz zur bildenden Kunst, konzeptuelle Strömungen in der Musik trotz ihrer unbestreitbaren Tradition und Bedeutung bislang noch kaum systematisch reflektiert (Metzger 2003, 19). Erst in den letzten Jahren wurde der Begriff, ausgelöst insbesondere durch Beiträge von Kreidler (2013, 2014) und Harry Lehmann (2012, 2014), wieder verstärkt und teils polemisch diskutiert (Hilberg 2014). Eine systematische Geschichte oder Theorie der konzeptuellen Musik, die über die Ästhetik einzelner Komponisten hinausgeht, ist aber nach wie vor nur in Ansätzen vorhanden. Konzert Ä Themen-Beitrag 4; Film / Video; Intermedialität; Neue Musik und bildende Kunst; Performance Ablinger, Peter: 12 Töne im Exil. Hauer und die Konzeptkunst, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hrsg. v. Christoph Metzger, Saarbrücken 2003, 217–219 „ ders.: Cézanne und die Musik. Wahrnehmung und ihre Defizite  – Musik und Malerei der vergangenen hundertfünfzig Jahre, in: MusikTexte 140 (2014), 31–36 „ Daniels, Dieter: Der Dualismus von Konzept und Technik in Musik und Kunst von Duchamp und Cage bis zur Konzeptkunst, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hrsg. v. Christoph Metzger, Saarbrücken 2003, 31–40 „ Diederichsen, Diedrich: Konzeptuelle Musik, konzeptuelle Popmusik, in: Pop. Kultur und Kritik 3/5 (2014), 130–137 „ Frank, Patrick: Institutionen im normativen Niemandsland, in: Positionen 96 (2013), 20–23 „ Hilberg, Frank: Sie spielen doch nur Lego… Beobachtung zum Konzept-Wahn, einem Medienphänomen, in: MusikTexte 140 (2014), 3–5 „ KimCohen, Seth: In the Blink of an Ear. Toward a Noncochlear Sonic Art, New York 2009 „ Kreidler, Johannes: Mit Leitbild!? Zur Rezeption konzeptueller Musik, in: Positionen 95 (2013), 29– 34 „ ders.: Sätze über musikalische Konzeptkunst (2013), http:// www.kreidler-net.de/theorie/saetze.htm (4. 6. 2015) „ ders.: Das Neue an der Konzeptmusik, in: NZfM 175/1 (2014), 44–49 „ La Motte Haber, Helga de: Konzeptkunst, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hrsg. v. Christoph Metzger, Saarbrücken 2003, 23–29 „ dies.: Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?, in: MusikTexte 141 (2014), 41–43 „ Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012 „ ders.: Konzeptmusik. Katalysator der gehaltsästhetischen Wende in der neuen Musik (I–III), in: NZfM 175/1 (2014), 23–25, 31–35, 40–43 „ Metzger, Christoph: Conceptualisms versus Conceptual Art, in: Conceptualisms in Musik, Kunst und Film, hrsg. v. Christoph Metzger, Saarbrücken 2003, 9–22 „ Nauck, Gisela: Neuer Konzeptualismus. Eine Reaktion auf musikkulturelle Erstarrungen, in: Positionen 96 (2013), 38–43 „ Schick, Tobias Eduard: Autonome Musik und Neuer Konzeptualismus, in: Musik & Ästhetik, 17/66 (2013), 47–65 „ Umfrage zum (Neuen) Konzeptualismus unter 45 Komponisten und Theoretikern, in: MusikTexte 145 (2015), 41–90 Literatur Tobias Eduard Schick Konzert Inhalt: 1. Neue Konzertreihen  „ 2. Alternative Konzertformen „ 3. Publikum und Vermittlung 1. Neue Konzertreihen Im Zuge der Institutionalisierung der künstlerischen Avantgarden  – vor allem um die Ereignisse des Novembers 1918 (1917 De Stijl; 1918–1935 Novembergruppe Berlin; 1919 Bauhaus Weimar) herum – werden zur Darbietung und Diskussion von Musik mit neuen Klangkonzepten eigene Konzertreihen ins Leben gerufen (Ä Institu- Konzert tionen / Organisationen). Unwille seitens der Kritik und Polarisierungen im Publikum verstärken diese Bestrebungen. Reagiert wird auf die Tendenz, dass sich das Konzert mehr und mehr zur Institution der Pflege eines standardisierten Repertoires und der Bewahrung darauf bezogener ästhetischer Maßstäbe entwickelt. Der Verein für musikalische Privataufführungen (Wien 1918–1921), der Bund für Neue Tonkunst (Königsberg 1919), die Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst (1921; ab 1950 Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst, seit 1971 Donaueschinger Musiktage) und die IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Salzburg 1922) sprechen ein zwar kleineres, aber wahrnehmungsoffenes Zielpublikum an, das sich auch als Gegenöffentlichkeit versteht. Die Regeln im Statut des Vereins für musikalische Privataufführungen (Berg 1919/84) sind aufgrund einschlägiger Erfahrungen mit Störungen und ostentativem Verlassen von Konzerten (dokumentiert in Eybl 2004) streng: Nicht nur hat jede Beifalls- und Missfallensäußerung zu unterbleiben, auch steht das Programm nicht fest. Kann so dem öffentlichen ästhetischen Verdikt zum Vorteil einer abwägenden Meinungsbildung vorgebeugt werden, so tritt bald mit Schärfe auch die Konkurrenz um Innovationsansprüche zutage. Arnold Schönberg, durchaus erprobt in »Kunstkampf-Momenten« (so in einem Brief an Gustav Mahler vom 29. Dezember 1909, in: Mahler 1949, 447), trägt mit der dritten seiner Drei Satiren für gemischten Chor op. 28 (1925–26) seine Polemik gegen den »Neuen Klassizismus« auf das Konzertpodium, obwohl er zu dem Zeitpunkt den Gebrauch barocker Formen selbst nicht verschmäht, so in den Suiten für Klavier op. 25 (1921–23) und für sieben Instrumente op. 29 (1925–26). Waren Konzerte mit ausschließlich zeitgenössischen Werken ehedem eine Selbstverständlichkeit, so wird dieser Konzerttypus unter veränderten Bedingungen neu definiert. Mit dem Ausdruck des »Sonderkonzerts« wird Walter Salmen Jahrzehnte später das Bild einer subkulturellen Randposition der neuen Musik im Konzertleben zeichnen (1988, 216). Das Konzert mit seinen Ritualen und seiner räumlichen Ordnung (Podium, Auditorium) bleibt bei Darbietungen neuer Musik zumeist noch unangetastet. 2. Alternative Konzertformen Veränderungen in der Darbietungsweise neuer Musik bahnen sich schon vor 1945 in den USA an: Cages Affinität zu bildender Kunst und Ä Tanz, Präparation, Gebrauch von Schallplatte und Radio als instrumentalen Ä Medien statten das Konzertgeschehen mit einer neuartigen, noch immanent fundierten Performanz aus. Konzepte wie 4'33" 348 (1952), die Variations I–VIII (1958–67), 0'00" (1962) etc. machen sich behavioristische Grundströmungen zunutze, die sowohl auf die Ordnung der musikalischen Praktiken zielen als auch auf die Konzertrituale selbst. Schließlich zielt seine Programmatik der Unbestimmtheit ironischaffirmativ auf den im US-amerikanischen kulturellen Selbstverständnis heimischen Umweltdeterminismus als Folge der Besiedlungsgeschichte (Heideking / Nünning 1998, 101–105). Cage leistet damit einen komplexen Beitrag (1) zum soziologischen Verstehen des Konzerts als Rahmen (Goffman 1980) und (2) zum Verlauf des Konzerts als Krisenexperiment (Garfinkel 1967, 35–75) und als Störung von erwartbaren Abläufen. In der TV-Show »I ’ ve Got a Secret« löst Water Walk (1959; Cage 1960) als Folge von entkontextualisierten Alltagshandlungen Lachen aus; ein avantgarde-informiertes Publikum beim Beethoven-Fest 2007 verhält sich dagegen bei einer Aufführung von Music Walk (1958) kontrolliert (Cage 2007), weil es bereits einen (Lern-)Prozess der Re-Normalisierung durchlaufen hat. Wissen um die Irritierbarkeit des Publikums lenkt in vielen Konzeptkompositionen der 1960er Jahre den formalen Ablauf von Aktionen und wird thematisiert z. B. in Dieter Schnebels concert sans orchestre für einen Pianisten und Publikum (1964). Das Konzert kann unverhofft Schauplatz für Aktionsformen (Ä Performance, »Fluxus«-Bewegung, Happening, Ä Instrumentales Theater) werden, deren Performanz der miterlebbare Ausdruck einer radikalen Selbstreflexion der Kunst ist, wobei das Frag-Würdige nicht gescheut wird. Erweiterter Musik- (Cage) und Kunstbegriff (Joseph Beuys) ergreifen vom Auditorium Besitz. Das Aufbrechen der hergebrachten Interaktionsstruktur des Konzerts korrespondiert mit der Aufwertung des Raums als eigener Kategorie des Komponierens, Musizierens und Musikerlebens (Ä Themen-Beitrag 6). Klang wird szenisch-räumlich beweglich (Garity / Hawkins 1941; Stockhausen 1958/63; Stroh 1975). Raumkompositorische Praktiken verlangen die besondere Herrichtung des Konzertsaals, strukturieren ihn atmosphärisch vor (Ä Säle und Gebäude). Aufgrund seiner Fundierung in der Reproduktionstechnik vermittelt das elektronische Dispositiv zwischen einem schon mediatisierten Musikhören und dem Konzertrahmen. So ergeben sich für das Konzert je nach Ausmaß und konzeptuellem Ansatz fließende Übergänge zum neuen Ä Musiktheater (z. B. in Luigi Nonos Prometeo, 1981–85), zur Akustischen Kunst, zur Raum- und Klanginstallation (Ä Klangkunst) bis zu Multimedia-Konzepten (Jameson 1994, 154–180; La Motte-Haber 1999; Rebentisch 2003), wobei stets die Umgebung miteinbezogen werden kann. Im Wandelkonzert, ebenfalls gern platziert an Orten mit symbolischer oder funktionaler Bedeutung (Industriearchitektur, Kirche, 349 Konzert Kloster, Museum, Park, Paternoster, Rathaus, Schloss, Theater etc.), werden die Rezipienten selbst zu Akteuren. Programm und Musikerlebnis entstehen individuell durch räumliche Wechsel als offene Kunstform (z. B. Karlheinz Stockhausens Musik für ein Haus, 1968; vgl. Stockhausen 1968/71). Die fortgeschrittene Hybridbildung in Werken, Stilen und Praktiken verleiht dem Konzert mit neuer Musik eine besondere Erlebnisstruktur, so z. B. in Helmut Lachenmanns Orchesterwerk Kontrakadenz (1970–71): Ikonoklastische Aktionen (geräuschproduzierende Spielweisen, Einbeziehung musikfremder Gegenstände) werden durch die Konsequenz des strukturellen Kalküls einer Re-Normalisierung zugeführt; mit der symbolischen Kraft des institutionellen Rahmens sekundiert das Sinfonieorchester. Die hybride Ereignisdichte der Musik tendiert zum »Event«: Dieser Anglizismus steht für alles, was weniger den immanenten oder kritischen Erlebnisgewinn von Kunst bezeichnet (doch nicht ausschließt) als vielmehr das situative, aus vielen Faktoren erzielte Surplus aus Erlebniszusammenhängen in einer Gemeinschaft (Masse, Publikum, Fachpublikum). Zudem fordert der in den Praktiken etwa von Kontrakadenz angelegte Performanzgrad das Live-Erlebnis, weil nur im Hier und Jetzt über die ganze Sinnlichkeit des Geschehens verfügt wird. Im Zeichen des hybriden Events aus Pop-Art, science fiction, Kriegs- und Mysterienspiel nebst Esoterik-Angebot versammelt Stockhausens Licht-Zyklus (1977–2003) eine Darbietungsmannigfaltigkeit vom solistischen Auftritt über zirkusartige, liturgische und multimediale Präsentationen bis zum fliegenden Ä Streichquartett. zu nennen: Es treten zunehmend Hörergruppen in Erscheinung, für die eine undogmatisch-kritische Auswahl von Jazz, Pop-, Rock-, klassischer und neuer Musik eine Praxis teilhabegerechten kulturellen Verhaltens darstellt. Andere Studien zeigen, wie sich durch konzertpädagogische Konzepte (Ä Vermittlung) überkommene Konzertformate dahingehend verändern lassen, dass sie, ohne akademisch zu bevormunden, Öffnungsbereitschaft und Neugier befördern – gerade gegenüber Neuem, wie etwa das »Zeitfluss«-Konzept (1993–2001, Salzburger Festspiele) von Markus Hinterhäuser und Tomas Zierhofer-Kin an freilich exklusivem Ort belegt. Die Einbindung von neuer Musik in Konzertprogramme wird sinnhaft und zielführend dadurch, dass Spielräume der Phantasie angeregt werden und ein musikwissenschaftsdidaktisch gewonnenes Extrakt allgemeinverständlich übersetzt wird. Andere Konzepte betten neue Musik erfolgreich in ein Angebot aus allen Kunstbereichen ein, die von innovativen Vorstellungen geleitet sind (z. B. Ruhrtriennale, seit 2002). Konzerte auf Festivals und internationalen Kursen stehen im Mittelpunkt der Begegnung von Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern, Journalisten und Verlagen, um Verbindungen zu knüpfen, zu erneuern und Talente zu entdecken (Ä Zentren neuer Musik). Für das Konzert mit neuer Musik zeigt die Eventkultur die Möglichkeit auf, sich zur Erzielung breiterer Akzeptanz populärer Mechanismen zu bedienen. Zwischen beiden existieren, ohne dass dies von Akteuren neuer Musik gewollt oder eigens thematisiert worden wäre, Schnittmengen, die anschlussbildend wirken können. 3. Publikum und Vermittlung Ä Institutionen / Organisationen; Musiksoziologie; Neue Musik; Popularität; Vermittlung Bereits im Gesprächskonzert (Podiumsdiskussion, »Studio Neue Musik«, lectures etc.) wurde versucht, Hörer zu informieren, zumeist jedoch mit dem Ziel, das Konzertpublikum auf die Intentionen (Nichtintentionalität als Variante) und den Selbstbeschreibungsdiskurs von Komponisten festzulegen. Noch zu befremdlich erschien der Gedanke, dass die Urheber von Werken ihre ersten Rezipienten sind (Ä Rezeption, Ä Wahrnehmung). Heute fordern eventkulturelle Erscheinungen mitsamt der veränderten musikalischen Sozialisation die überkommene Form des Konzerts heraus (Tröndle 2009), darunter die mit neuer Musik. Empirisch belegte Verschiebungen in der Altersstruktur des traditionellen Konzertpublikums sowie die Sozialisation der nachwachsenden Generationen mehrheitlich mit populärer Musik verändern die Schnittmengen, aus denen sich ein an neuer Musik interessiertes Publikum bilden wird. Sieht man von Geschmacksfestlegungen in Peer-Gruppen ab, wäre das Vordringen musikalischer Querfeldein-Präferenzen als Perspektive Berg, Alban: Prospekt des »Vereins für musikalische Privataufführungen« [1919], in: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen (Musik-Konzepte 36), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1984, 4–7 „ Cage, John: Water Walk (1959; Aufführung durch John Cage; TV-Show »I ’ ve Got a Secret«, 1960), http://www.youtube.com/ watch?v=SSulycqZH-U (27. 7. 2015) „ ders.: Music Walk (1958; Aufführung durch Susanne Kessel, Leon Milo, Bruno Tait; Beethovenfest Bonn 2007), http://www.youtube.com/watch?v= JnOZITeq1Dg (27. 7. 2015) „ Garity, William E. / Hawkins, John N.A.: Fantasound, in: Journal of the Society of Motion Picture Engineers 37/2 (1941), 127–146 „ Dollase, Rainer / Rüsenberg, Michael / Stollenwerk, Hans J.: Demoskopie im Konzertsaal, Mainz 1986 „ Fuhrimann, Daniel: »Herzohren für die Tonkunst«. Opern- und Konzertpublikum in der deutschen Literatur des langen 19. Jh.s, Freiburg 2005 „ Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Prentice-Hall 1967 „ Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1980 „ Heideking, Jürgen / Nünning, Vera: Einführung in die amerikanische GeLiteratur 350 Korea schichte, München 1998 „ Heister, Hanns-Werner: Das Konzert. Theorie einer Kulturform, Wilhelmshaven 1983 „ Jameson, Frederic: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1994 „ La Motte-Haber, Helga de (Hrsg.): Klangkunst (HbM20Jh 12), Laaber 1999 „ Lawson, Collin / Stowell, Robin (Hrsg.): The Cambridge History of Musical Performance, Cambridge 2012 „ Mahler, Alma: Erinnerungen und Briefe, Amsterdam 1949 „ Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2003 „ Salmen, Walter: Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München 1988 „ Schulze, Gerhard: Die Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Essays, Frankfurt a. M. 1999 „ Stockhausen, Karlheinz: Musik im Raum [1958], 152–175 „ ders.: Musik für ein Haus [1968], in: Texte zur Musik, Bd. 3: 1963–1970, hrsg. v. Christoph von Blumröder, Köln 1971, 217–229 „ Stroh, Wolfgang Martin: Zur Soziologie der elektronischen Musik, Zürich 1975 „ Tröndle, Martin (Hrsg.): Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Bielefeld 2009 Eberhard Hüppe Korea In Korea wurde in der ersten Hälfte des 20. Jh.s westliche Musik im Allgemeinen als »neue Musik« verstanden. Erst in den späten 1950er Jahren wurden neue Musikformen des Westens, d. h. Ä Atonalität, Ä Zwölftontechnik und modale Ä Harmonik rezipiert. Anfängliche Versuche während der 1940er Jahre von Sun-Nam Kim (1917–86) und Kon-U Yi (1919–98), durch modale Harmonik, folkloristische Wendungen oder expressionistische Gesten eine eigene Sprache zu finden, wirkten sich in der koreanischen Musikgeschichte nicht aus, da diese Komponisten 1948 nach Nordkorea auswanderten. 1955 wurden beim ersten Konzert der Hanguk Chakgokga Hyŏphoe (Gesellschaft Koreanischer Komponisten) nach dem Koreakrieg neben tonalen Hanguk Kagok (Koreanische Kunstlieder) von Se-Hyung Kim (1904–99), Heung-Ryul Lee (1909–80) und Dong-Jin Kim (1913–2009) auch moderne Werke von Isang Yun (1917–95), Un-Yung La (1922–93) und Sang-Geun Lee (1922–2000) vorgestellt. La kann als repräsentativster Komponist der 1950er und 60er Jahre gelten; er strebte unter dem von ihm geprägten Motto »erst koreanisieren, dann modernisieren« (La 1976, 14) an, neuere Entwicklungen der westlichen Musik innerhalb Koreas zu »übersetzen«. 1958 gründeten junge westlich orientierte Komponisten die Seouler Gesellschaft für zeitgenössische Musik Ch ’ angakhoe. Daneben entstanden neu komponierte Werke im Rahmen der traditionellen koreanischen Musik, darunter insbesondere Hoe-Gap Chongs (1923–2013) Thema und Variationen (Chujewa Pyŏnjugok) für die koreanische Wölbbrettzither kayagŭm und Orchester (1961). Von diesem Werk ausgehend, entwickelte der Kayagŭm-Spieler Byungki Hwang (*1936) seit 1962 als Komponist einen eigenen Stil in The Forest (Sup) (1962) und Dance in the Perfume of Aloes (Ch ’ imhyangmu, 1974) für kayagŭm und changgo (koreanische Sanduhrtrommel) (Han 2011; Killick 2013). Einen wichtigen Wendepunkt der koreanischen neuen Musik stellte das sog. »Ost-Berlin-Ereignis« 1967 dar, im Rahmen dessen Isang Yun, der seit 1956 in Europa gelebt hatte, vom südkoreanischen Geheimdienst nach Korea entführt wurde (ausführliche Dokumentation in Sparrer 2002, 139–248; Themen-Beitrag 9). Aus diesem Anlass verbreiteten sich verstärkt öffentliche Informationen über Yun und die zeitgenössische Musik. Vor allem in Sukhi Kang (*1934), der 1966 mit The Feast of Id das erste Werk elektronischer Musik in Korea präsentiert hatte, entzündete Yun eine Leidenschaft für die neue Musik, als er unter Überwachung des Geheimdiensts während seiner Inhaftierung Kang Kompositionsunterricht erteilte (Lee 2004, 67–73). Auf Yuns Vorschlag hin organisierte Kang 1969 das erste koreanische Festival für neue Musik, das sich in der Folge unter dem Namen Pan Music Festival (Pŏm Ŭmakje) als das wichtigste Musikfestival in Korea etablieren konnte. Yun ’ s Musik, etwa in Réak für Orchester (1966), Gagok für Stimme, Gitarre und Schlagzeug (1972) und dem Cellokonzert (1976), ist durch einen unablässig fluktuierenden »monistischen« Klangstrom charakterisiert, traditionelle koreanische Tonvorstellungen und Ausdrucksgesten evozierend. Kang, Byung-Dong Paik (*1936) und Chung-Gil Kim (1934–2012), die Anfang der 1970er Jahre auf Yuns Einladung in Deutschland studierten, können als wichtigste Vertreter der neuen koreanischen Musik gelten. Während Kang, der sich in der internationalen Szene der neuen Musik aktiv engagierte, abstrakte durchkonstruierte Klangskulpturen entwickelte (Catena für Orchestra, 1975; Klavierkonzert, 1997), strebte Paik nach fein nuancierten Klanglinien (Werkreihe Un [Nachklang] I–VI, 1971–1981, VII–VIII, 2011–14 für verschiedene Instrumente). Kim wiederum, der sich viel mit angewandter Musik im Film-, Tanz-, und Theaterbereich befasste, bevorzugte eine klare und schlichte Klangsprache (Ch ’ uch ’ omun [Figur des Herbstgras] für Oktett, 1979; Klaviersuite Gop ’ ung [Altertümlichkeit], 1981). Zur gleichen Zeit kamen auch Komponisten, die in den USA studiert hatten, wie etwa In-Yong La (*1936), nach Korea zurück; unter dem Einfluss seines Lehrers Un-Yung La versuchte In-Yong La verstärkt traditionelle koreanische Elemente in seine Kompositionen einzubeziehen (Echo of Hyangak, 1972 und T ’ ae [Taiji], 1987–88 für Orchester). Zu den Strömungen der westlichen Ä Avantgarde, die in den 1970er Jahren in Korea bekannt wurden, zählten u. a. Ä serielle Musik, Klangkomposition (Ä Themen- 351 Beitrag 3, 2.2, 9, 2.), Aleatorik (Ä Zufall) und der Fluxus Nam June Paiks. Allerdings konnten sich diese Tendenzen in Korea weder erfolgreich etablieren noch wesentlichen Einfluss ausüben. Da sie innerhalb sehr kurzer Zeit und dabei im großen Umfang eingeführt wurden, war die koreanische Musikszene nicht in der Lage, substanziell an sie anzuknüpfen. In den 1970er Jahren wurde die Musik der westlichen Avantgarde jedoch generell als anzustrebendes Ziel erachtet, Konsequenz einer seit den 1950er Jahren geltenden Ideologie der Verwestlichung und Modernisierung. Diese Einstellung wurde seit den späten 1970er Jahren von einigen Komponisten, nicht zuletzt der von Geon-Yong Lee (*1947) angeführten Che Samsedai (Dritte Generation), kritisch hinterfragt. Diese Komponistengruppe, welche die 1980er Jahren prägte, betonte, dass der Weg der westlichen Moderne nicht die einzige Lösung auf dem Weg zu einer eigenen Musiksprache sei, und plädierte für eine Musik, die auf der koreanischen Realität und gesellschaftlichen Situation basieren sollte. Repräsentative Werke dieses Zeitraums sind etwa Lees Hwangsaek Jesuŭi Norae (Lied des gelben Jesus) für 2 Vokalisten und Klavier (1986), Mansusan Dŭrŏngch ’ ik (Pfeilwurz vom Berg Mansu) für Chor und traditionelles koreanisches Ensemble (1987) und Byung-Eun Yoos (*1952) Sinawi Nr.  5: Owŏlŭi Norae (Lied vom Mai) für Orchester (1989). Diese kritische Haltung gegenüber westlichen Einflüssen stieß auf große Resonanz in der turbulenten Entwicklung der koreanischen Gesellschaft während der 1980er Jahre, als vor dem Hintergrund der nationalen Teilung die Polaritäten des Kalten Kriegs und eine autoritäre Militärdiktatur das Leben beherrschten. In den 1990er Jahren dann intensivierte sich im Zuge der Demokratisierung (Süd-)Koreas der internationale soziokulturelle Austausch. Dabei stieg die Zahl der im Ausland (weiter-)studierenden Komponisten beträchtlich und es traten international anerkannte Komponisten zum Vorschein, die innerhalb einer globalen Szene neuer Musik Vorbildwirkung einnahmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die in Berlin lebende Komponistin Unsuk Chin (*1961). Seit dem Beginn des 21. Jh.s erlebt die Szene der koreanischen neuen Musik einen Aufschwung. In Yuns Heimatstadt Tongyŏng wurde 2002 das Tongyeong International Music Festival (TIMF) gegründet (2000 und 2001 als »Tongyŏng New Music Festival«) und 2001 wurde das Ensemble TIMF als musikalischer Botschafter des Festivals ins Leben gerufen. Dieses erste koreanische Ensemble für neue Musik spielt regelmäßig Musik sowohl von westlichen als auch von ostasiatischen Komponisten. Die Konzertreihe Ars Nova, die vom Seoul Philharmonic Orchestra mit Chin als Composer-in-residence seit 2006 vier Mal jährlich veranstaltet wird, trägt entscheidend zur Korea Verbreitung der neuen Musik in Korea sowie zur Förderung von Nachwuchskomponisten bei. Außerdem wurden an einigen Universitäten Konzertreihen für neue Musik etabliert wie z. B. Studio 20/21 und weitere Ensembles für neue Musik wie Sori (Klang) und Project 21 AND(AvaNtgarDe) gegründet. In der Ära der Ä Globalisierung begreifen Komponisten in Korea eine Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Hintergrund sowie der traditionellen Musik Koreas zunehmend als Notwendigkeit. Während bereits einige der in den 1940er Jahren geborenen Komponisten wie Young-Jo Lee (*1943), Joon-Il Kang (1944–2015), ManBang Yi (*1945), Younghi Pagh-Paan (*1945) und Kyu-Yung Chin (*1948) ihre kulturelle Identität offensiv in ihrer Musik thematisierten (Lee 2008), strebte die folgende Generation wie Sung-Ho Hwang (*1955), Bonu Koo (*1958) und June-Hee Lim (*1959) trotz sehr unterschiedlicher Stilistiken verstärkt direkte Kooperationen mit Musikern der traditionellen koreanischen Musik an. Die Gründung des Contemporary Music Ensemble Korea (CMEK) im Jahr 1998 unter Leitung der Kayagŭm-Spielerin Ji-YoungYi (*1965) bildete dafür einen wichtigen Anlass. Ungewöhnliche Kombinationen von koreanischen und westlichen Instrumenten rücken in den letzten Jahren vor diesem Hintergrund verstärkt in den Fokus des Schaffens koreanischer Komponisten (Lee 2013; Oh 2014), darunter JoonIl Kangs Hae-Maji Gut. A Shaman Performance to the New Moon (2001, Violoncello, Klavier, changgo), Jeeyoung Kims (*1968) Tripitaka Koreana (2006, Bambusquerflöte taegŭm, Violine, Violoncello) und Hye-Jin Yoons (*1970) I Gaze on Your Voice (2010, Kagok-Sängerin, Bariton, taegŭm, zweisaitige Kniefiedel haegŭm, kayagŭm, Klavier, Schlagzeug). Elektronische Musik bzw. Computermusik gehört seit Kangs Pionierwerk ebenfalls zu den wichtigen Strömungen der neuen Musik in Korea. Seit der Gründung der Korean Electro-Acoustic Music Society (KEAMS) im Jahr 1993 findet jährlich das Seoul International Computer Music Festival (SICMF) statt. 2014 wurde das erste Asian Forum des IRCAM in Seoul veranstaltet, in Kooperation mit dem Center for Research in Electro-Acoustic Music and Audio (CREAMA), das 2005 an der Hanyang University gegründet wurde. In jüngster Zeit lassen sich verstärkt performative Tendenzen innerhalb der koreanischen Musikszene beobachten, einerseits im Bereich der Klang- bzw. Medienkunst (Ä Klangkunst; Ä Medien) – wie z. B. die Tacit Group für digitale audiovisuelle Kunst (seit 2008) –, andererseits auch in experimentellen Werken von traditionellen koreanischen Sängerinnen wie Jaram Lee (*1979) und Minhee Park (*1983). Lees P ’ ansori Sachon-ga (Der gute Mensch von Sezuan, 2007), Ukchuk- 352 Körper ga (Mutter Courage und ihre Kinder, 2012) sowie P ’ ansori Novelle 2: Ibanginŭi Norae (Lied der Fremden, 2015) versuchen Bertolt Brechts gleichnamige Stücke und Gabriel García Márquez ’ Geschichte Gute Reise, Herr Präsident in das Format des traditionellen narrativen Genres P ’ ansori zu verwandeln, und Parks Performance-Reihe Kagok Silgyŏk (Nicht mehr Kagok, 2011–14) zeigt neue Wege für die Vergegenwärtigung koreanischer traditioneller Musik im Kontext der Globalisierung auf (Lee 2014, 108–114). Auf der anderen Seite der geteilten Halbinsel gibt es keine bekannten Strömungen der neuen Musik. Bestimmend für die musikhistorische Entwicklung im Norden waren nach offizieller Angabe »kollektiv« arbeitende Komponisten wie Won-Gyun Kim (1917–2002) oder DongChun Seong (1938–2008). Obwohl Isang Yun, nach dem mehrere Musikinstitutionen in P ’ yŏngyang benannt sind, seit Jahrzehnten in Nordkorea verehrt wird und das von Yun organisierte National-Musikfest für koreanische Einheit (Pŏm Minjok T ’ ongil Ŭmakhoe, 1990) und das Isang Yun Musikfest zur koreanischen Einheit (Yun Isang T ’ ongil Ŭmakhoe, 1998) mit dem Ziel einer Annährung von Süd und Nord in P ’ yŏngyang stattfanden, ist die nordkoreanische Musikszene weiterhin von der Außenwelt stark isoliert. Ä Themen-Beitrag 9; China / Taiwan / Hong Kong; Globalisierung; Japan; Südostasien Han, Insook: Interkulturalität in der neuen Musik Koreas. Integration und Hybridität in der Musik von Isang Yun und Byungki Hwang, Hamburg 2011 „ Hanguk-Ŭmakhak-Hakhoe [Koreanische Gesellschaft für Musikwissenschaft] (Hrsg.): Oŭl-ŭl Sanŭn Hanguk ŭi Hyŏndai Ŭmak [Zeitgenössische Musik des heutigen Korea], 2 Bde., Seoul 2005/2007 „ Hanguk Yesul Yŏnguso [Institut für Künste der Korea National University of Arts] (Hrsg.): Hanguk Chakgokga Sajŏn [Lexikon koreanischer Komponisten], Seoul 1999 „ Howard, Keith: Creating Korean Music: Tradition, Innovation and the Discourse of Identity, Aldershot 2006 „ Kang, Sukhi: Contemporary Music Skyrocketing in Vigor, in: Koreana 6/1 (1992), 9–16 „ Killick, Andrew: Hwang Byungki. Traditional Music and the Contemporary Composer in the Republic of Korea, Aldershot 2013 „ Kim, Choon-Mi: Gateway to the Study of Korean Contemporary Composers, Seoul 2008 „ dies.: Harmonia Koreana. 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Jh.s, Bielefeld 2014 Heekyung Lee Literatur Körper Die Produktion und Ä Rezeption von Musik ist ohne die Beteiligung eines menschlichen Körpers bzw. ohne die Nutzung unterschiedlicher Fähigkeiten eines Körpers als Instrument oder als pragmatisches Medium kaum vorstellbar. Komposition, Ä Improvisation, Aufführung (Ä Interpretation) und Ä Wahrnehmung von Musik erfordern in verschiedener Weise kognitive und emotionale sowie physische und psychische Kompetenzen, die in der Regel trainiert und damit auch optimiert werden können. Musikalische Praktiken sind damit vor dem Hintergrund von »embodiment« zu beschreiben, womit betont werden kann, »first, that cognition depends upon the kinds of experience that come from having a body with various sensorimotor capacities, and second, that these individual sensorimotor capacities are themselves embedded in a more encompassing biological, psychological, and cultural context« (Varela u. a. 1991, 172 f.; Fischer-Lichte u. a. 2001). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich auch in der Ä Notation einer Komposition ein »cor- 353 poraler Subtext« einschreibt (Zenck 2006a, 120 f.; Zenck 2006b). Mit der Entwicklung von elektroakustischen Reproduktionsmedien und digitalen Technologien ergeben sich Möglichkeiten, bestimmte körperliche Aktivitäten bei der Musikproduktion und -rezeption zu ersetzen, zu erweitern oder zu simulieren (Harenberg / Weissberg 2010). Zugleich entstehen elektronische Kompositionen, die sich ästhetisch kaum oder nicht mehr direkt mit einer menschlich-körperlichen Klangproduktion in Verbindung bringen lassen (Ä Elektronische Musik). In der Musikästhetik des 19. Jh. wurde die körperliche Beteiligung an der Musikproduktion sowie die körperliche Reaktion auf Musik tendenziell als Nebensache betrachtet und ausgeklammert, obwohl mit dem Virtuosentum die körperliche Leistung ausgestellt wurde. Der Körper wurde lange Zeit nur als formbares musikalisches Instrument oder Mittel zum Zweck der Klangerzeugung behandelt (Becker 2005; Hiekel / Lessing 2014). Im 20. Jh. erlebte der Körper in der Musik eine Renaissance, die vor allem durch eine stärkere Fokussierung auf das Rhythmische (Schmidt 2000) und durch die natürlichen oder »kreatürlichen« Ausdrucksbereiche der Ä Stimme (Artaud 1938/96; Zenck 2007) befördert wurde. Mit der Entstehung von elektroakustischen und visuellen Reproduktionsmedien wurde die Wiederentdeckung des Körpers verstärkt durch die Möglichkeiten der Gegenüberstellung von körperlicher Präsenz und medialisierter Re-Präsentation des Körpers. In Vokalperformances wurden individuelle Stimmen in all ihren Facetten präsentiert, etwa bei Meredith Monk und David Moss (Ä Performance), es entstanden Kompositionen für Körper als Klangproduzenten, z. B. bei Vinko Globokar, Robin Hoffmann oder Uwe Rasch (Drees 2011, 123–132). In Werken von Helmut Lachenmann oder Heinz Holliger sind körperliche Bewegungen bei der Klangproduktion oder existenzielle körperliche Grundfunktionen Hauptimpulse. Bei Lachenmann hat sich dies auch in neuartigen Notationsformen niedergeschlagen, etwa in Pression für einen Cellisten (1969–70), in dem »Druckverhältnisse bei Klang-Aktionen am Cello« komponiert und in einer Aktionsschrift, neuen Tabulatur sowie verbalen Anweisungen fixiert werden (Lachenmann 1970/96). In Holligers Pneuma für Bläser, Schlagzeug, Orgel und Radios (1970) und in seinem Ersten Streichquartett (1973) spielt die Atmung der Ausführenden eine formbildende Rolle. Das Bläserensemble in der Klang- und Geräuschkomposition Pneuma beschrieb Holliger als »eine riesige, atmende Lunge, die Instrumente als Mund, der die Atemgeräusche artikuliert« (Häusler 1996, 243). In Holligers Cardiophonie für Oboe und drei Tonbänder (1971) wird der Herzschlag als Metronom benutzt. Innere Körperklänge wurden auch in Stelarcs Körperperformances ein- Körper gesetzt, auf ungewöhnliche Weise mittels Sonden hörbar gemacht und mit äußeren Geräuschen konfrontiert (Evert 1999; Hallensleben 2005). Dieter Schnebel setzte bereits in den 1960er Jahren Kameras ein, um die stimmlichen Artikulationen seiner Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968–74) gleichzeitig auf der Bühne projizieren zu können (Nauck 2001; Ä Sprache / Sprachkomposition). In Performances unter Verwendung von Live-Elektronik kombinierten Künstler und Künstlerinnen das körperliche Spiel von Instrumenten mit vorproduzierten Klängen oder mit der gleichzeitigen Aufnahme und (bearbeiteten) Wiedergabe von gespielten Klangfolgen, wobei vor allem auf die Anfänge in den Projekten von John Cage, Karlheinz Stockhausen, Gordon Mumma oder Pauline Oliveros hinzuweisen ist (Mumma 1975). Hier werden der Körper und die produzierten Klänge in einem Spannungsfeld zwischen Präsenz und medialer Re-Präsentation wahrnehmbar, wobei auch der Kontrast zwischen einer körperlichen Klangerzeugung und der Wirkung eines »entkörperlichten« Klangs deutlich werden kann. Der Körper erhielt in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auch als theatrales Element in szenischen Kompositionen für das Konzertpodium und im Ä Musiktheater ein neues Gewicht, wobei teilweise Musikinstrumente als Körper einbezogen wurden, etwa im Ä Instrumentalen Theater von Mauricio Kagel, in Werken von Vinko Globokar oder im »integralen Theater« von Hans-Joachim Hespos sowie in Stücken von Alvin Lucier. Luciers Music for Solo Performer (1965) nimmt dabei eine besondere Stellung ein, weil hier ein unbeweglicher Körper mittels einer Übertragung von Gehirn-Alphawellen über EEG an Lautsprecher und dadurch angeregte bzw. resonierende Schlaginstrumente eine Klangkomposition im Raum erzeugt (Straebel/ Thoben 2014). Musikalisierte Körperbewegungen und musikalische Gesten ohne Klänge hingegen hat Dieter Schnebel in Körper-Sprache (1979–80) komponiert oder der Choreograph Xavier Le Roy in Mouvements für Lachenmann (2005) zu Stücken von Helmut Lachenmann inszeniert (Siegmund 2012). Die Verkoppelung von Bewegungen oder von Ä Tanz mit Klangerzeugung in Echtzeit ist in interaktiven Umgebungen zwischen Mensch und Maschine möglich geworden (Dahlke 2005). Dabei können auch generative musikalische Programme im Sinne einer »embodied generative music« durch Körperbewegungen gesteuert werden (Peters u. a. 2012). Im Bereich der Musik ist man demzufolge mit einer »Vielzahl heterogener Körperbilder« (Gerlach 2007) und unterschiedlichen Körperdiskursen konfrontiert, die auch Diskussionen über »behinderte Körper«, Ä Gender, Freiheit, Überforderung oder Hybridisierung von Körpern 354 Kulturpolitik einschließen. »Hybridisierung« von Körpern etwa kann sich auf Verbindungen von Mensch und Maschine oder von menschlichen Fähigkeiten und Technologien der Künstlichen Intelligenz sowie auf Netzwerktechnologien beziehen (Puff 2004; Stocker / Schöpf 2005). Genderaspekte beziehen sich u. a. auf geschlechterspezifisch geprägte Arbeits- und Körperkulturen in der neuen Musik, etwa in der Elektroakustik oder im Bereich der Laptopmusik (Sandstrom 2000; Jansen / club transmediale 2005). Ä Instrumentales Theater; Intermedialität; Medien; Musiktheater; Performance; Wahrnehmung Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double [1938], München 1996 „ Becker, Tim: Plastizität und Bewegung. Körperlichkeit in der Musik und im Musikdenken des frühen 20. Jh.s, Berlin 2005 „ Dahlke, Kurt: Die Rehabilitierung des Körpers in der elektronischen Musik, in: Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, hrsg. v. Meike Jansen und club transmediale, Frankfurt a. M. 2005, 45–50 „ Drees, Stefan: Körper, Medien, Musik. Körperdiskurse in der Musik nach 1950, Hofheim 2011 „ Evert, Kerstin: BodySounds. Zur akustischen Ebene in den Performances von Stelarc, in: Positionen 40 (1999), 13–16 „ Fischer-Lichte, Erika / Horn, Christian / Warstat, Matthias (Hrsg.): Verkörperung, Tübingen 2001 „ Gerlach, Julia: Körper und Musik (2007), http://mugi.hfmt-hamburg.de/ Multimedia/Körper_und_Musik (12. 1. 2015) „ Hallensleben, Markus: Vom Cyborg zum Interface Organism. Stelarcs und TC&As Extra Ear-Performance, in: Paragrana 14/2 (2005), 221–234 „ Harenberg, Michael / Weissberg, Daniel (Hrsg.): Klang (ohne) Körper. 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Da Kultur historisch-gesellschaftlichem Wandel unterliegt, wird die Verteilung der dafür verfügbaren Ressourcen im Rahmen eines von Kulturschaffenden, Kulturverwaltungen und Politik mehr oder minder konsensorientierten Ausgleichs zwischen öffentlichen und privaten Interessen und Möglichkeiten immer wieder neu verhandelt. Da auch neue Musik ein Teil der Gesellschaft ist, sind auch alle sie betreffenden kulturpolitischen Fragen und Entscheidungen untrennbar mit der rechtlichen, politischen und ökonomischen Situation eines Landes verknüpft. Eng verbunden ist Kulturpolitik mit der Entstehung und dem Wandel von Ä Institutionen und Organisationen, die als Selbsthilfe-Initiativen, lokale Vereine, städtische, staatliche oder internationale Einrichtungen und Verbände die Interessen der von ihnen vertretenen Berufsgruppen (Komponisten, Interpreten, Musiklehrer, Verleger, Medien) und / oder ästhetischen Richtungen artikulieren. An der Meinungsbildung beteiligt sind auf kommunaler, regionaler und staatlicher Ebenen auch Musikräte, Akademien, Institute und Stiftungen sowie Ausbildungsinstitutionen (Universitäten, Hochschulen, Konservatorien). Bereits während des 19. Jh.s und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg wurden vormals bürgerliche und höfische Spielstätten und Ensembles  – teils auch kirchliche – in die Trägerschaft von Staaten, Regierungen, Ministerien, Bund, Ländern, Kommunen oder Stiftungen überführt. 355 Der in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorwiegend föderalen Kulturförderung stehen in den USA eine primär privatwirtschaftlich finanzierte sowie in Frankreich, Spanien und Russland eine vor allem nationalstaatlich und zentralistisch organisierte Kulturförderung gegenüber. Gemäß den Idealen von Chancengleichheit und Vereinigungsfreiheit bei gleichzeitiger Staatsferne basiert die Kulturförderung in den USA primär auf privaten Initiativen sowie dem Fundraising und Sponsoring von Stiftungen und Unternehmen. Die vom National Endowment for the Arts (NEA) in geringer Höhe vergebenen Mittel dienen weniger der direkten Finanzierung von Kulturprojekten, sondern fungieren als eine Art Gütesiegel für seriöse Vorhaben, um die private Spendenakquise zu erleichtern. Da private Fördermittel steuerlich abgesetzt werden können, was die Einnahmen des Staates mindert, ist folglich auch in den USA die öffentliche Hand effektiv an der Kulturfinanzierung beteiligt, obwohl sie kaum Einfluss darauf nimmt (Heinrichs 2004, 29). Darüber hinaus unterliegt hier jedes Kulturangebot, das keinen Mäzen findet, den Gesetzen des Marktes, was unpopuläre und avancierte Minderheitenprogramme erschwert und insgesamt eine Reduktion des Kulturangebots bewirkt. Im Gegensatz zur nationalen Kulturförderung in Frankreich, die sich auf die Hauptstadt Paris zentriert und zu Etatismus und repräsentativen Großprojekten (IRCAM, Opéra de la Bastille, Cité de la Musique) neigt, entwickelten Staaten wie die Niederlande und Schweden Mitte der 1990er Jahre das Modell einer auf Flexibilität, Transparenz und Durchlässigkeit für neue Zuschussnehmer zielenden Kulturförderung mittels eines politisch legitimierten, jedoch in seiner praktischen Arbeit von der Politik unabhängigen Kulturrats. Auf den Ebenen von Staat, Provinzen und Gemeinden setzen sich diese Gremien aus zeitlich befristet einberufenen Fachleuten verschiedener Disziplinen zusammen, welche die jeweiligen Regierungen und Parlamente beraten sowie kulturpolitische Zielsetzungen formulieren und praktisch umsetzen (ebd., 39 f.). Gleichwohl kann es in jeder Staats- und Regierungsform  – insbesondere wenn demokratische Entscheidungs- und Kontrollorgane fehlen  – zu Direktiven, Indienstnahmen und Repressionen der Kultur durch politische und ökonomische Kräfte kommen. Zudem gab und gibt es in allen politischen Systemen auch Musiker, Komponisten und Musikjournalisten, die ihre Arbeit (kultur-)politisch verstehen (Ä Musikjournalismus; Ä Themen-Beitrag 4). In Ländern mit autokratischen und undemokratischen Regimen  – wie gegenwärtig etwa Iran, Russland, Weißrussland oder China – herrschen andere kulturpolitische Maßgaben, Zwänge und Freiräume. Durch restriktive Kulturpolitik Zensur und staatlich gelenkte Medien werden unbotmäßige Äußerungen und von normativen Doktrinen abweichende künstlerische Ideen unterdrückt. Zudem werden Kulturveranstaltungen  – ebenso wie Sportereignisse  – propagandistisch vereinnahmt. In der Volksrepublik China wurden öffentliche Kulturinstitutionen und Verlage durch die Kommunistische Partei seit den 2000er Jahren in marktwirtschaftliche Unternehmen umgewandelt, sodass die Einrichtungen zunehmend unter kommerziellen Druck geraten und bei gleichbleibender Abhängigkeit von der Politik mit mehrheitsfähigen Programmen einen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt zu leisten haben. 2. Herausforderungen und Probleme In nordamerikanischen und europäischen Ä Zentren wie New York, San Francisco, London, Paris, Rom, Amsterdam, Wien sowie in deutschen Städten wie Berlin, Freiburg, Hamburg oder Köln reagierten seit den 1960er Jahren Akteure der neuen Musik auf den Konservatismus der musikalischen Ausbildungs-, Veranstaltungs- und Vermittlungsinstitutionen, indem sie eigene Formationen, Verlage, Zeitschriften, Spielorte gründeten, die das bestehende Kulturangebot erweiterten und ihrerseits Ansprüche auf Förderung erhoben (Oehlschlägel 1988). Häufig bedingt durch ein komplexes Zusammenspiel von Hochschulen, städtischen Musikinstitutionen und öffentlich-rechtlichem Rundfunk entstanden freie Musikszenen (Wagner 1994). Herausragende Künstler- und Lehrerpersönlichkeiten zogen von auswärts junge Studierende ebenso an wie die als Produzenten, Multiplikatoren, Arbeit- und Auftraggeber wirkenden Sendeanstalten und städtischen Orchester, Opernhäuser und Musikausbildungsstätten. Als Alternativen zu städtischen und staatlichen Einrichtungen, die überwiegend das klassisch-romantische Repertoire pflegten, gründeten sich  – befördert durch den Geist der 1968er-Revolte gegen das Establishment  – vor allem in den Bereichen neue Musik, Elektronik, historische Aufführungspraxis und Jazz eigene Vereine, Ensembles und Studios (Soltau 2010). Doch obwohl diese Initiativen zuweilen Spitzenqualität und dasselbe Publikumsaufkommen erreichen wie traditionelle Institutionen, erhalten sie nur einen Bruchteil der in öffentlichen Kulturetats für kommunale Einrichtungen und festangestellte Musiker verfügbaren Mittel. Von den in Deutschland insgesamt in die Musikpflege fließenden öffentlichen Mittel standen 1997 lediglich 8  für die freie Musikszene und die Laienmusik zur Verfügung (Eckhardt 1997). Zugleich verkehrte sich das Verhältnis zwischen freiberuflich tätigen Musikern und solchen in Festanstellungen. Laut einer Umfrage unter Absolventen der Royal Academy of Music in London arbeiteten 1979 356 Kulturpolitik noch 70  in Festanstellung und 30  freiberuflich, 1995 war das Verhältnis exakt umgekehrt (Gembris 2011, 63). In der deutschen Künstlersozialkasse verdoppelte sich zwischen 1995 und 2007 die Zahl der versicherten Freiberufler, deren Durchschnittseinkommen zugleich sank, was zur Entstehung eines kulturellen Prekariats beitrug (ebd.). Verteilungsgerechtigkeit und angemessene Bezahlung sind auch im Bereich der neuen Musik ein zentrales kulturpolitisches Thema. Erschwerend hinzu kommen seit den 1990er Jahren vielerorts sinkende Kulturetats der öffentlichen Hand sowie Kürzungen von Sendeanstalten bei Produktionsmitteln, Sendeplätzen, Mitschnitten und Klangkörpern. Da das deutsche Grundgesetz und die Landesverfassungen Kulturförderung lediglich als freiwillige Aufgabe betrachten, sparen Länder und Gemeinden zu Zeiten wirtschaftlicher Rezession häufig zuerst im Kultursektor. Abgesehen von Einflussnahmen durch Kulturausschüsse oder privatwirtschaftliche Stiftungen und Sponsoren, deren Förderrichtlinien, Kosten-Nutzen-Kalkulationen, Imagepflege und Umwegrentabilitäten sich demokratischer Mitsprache entziehen, sind Kultureinrichtungen und Kulturschaffende daher stets von konjunkturellen Schwankungen abhängig. Zudem führen steigende Kosten bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Budgets von Konzertveranstaltern zu einer Zunahme privatwirtschaftlicher Kulturförderung. Bislang von der öffentlichen Hand getragene Spielstätten und Festivals neuer Musik sind daher auch in Europa immer stärker auf Mischfinanzierungen angewiesen, die Abhängigkeiten schaffen und  – wie im Sport längst üblich – Künstler durch die Verbindung mit Namen, Logos und Anzeigen mitfinanzierender Unternehmen tendenziell zu Werbeträgern privater Interessen machen. Mathias Spahlinger wandte sich daher in einem offenen Brief an den Leiter des Festivals Usinesonore im Schweizer Kanton Bern gegen die Finanzierung eines an ihn ergangenen Kompositionsauftrags durch die Ernst von Siemens Musikstiftung (Spahlinger 2012). Schließlich nimmt die Ökonomie auch direkten Einfluss auf die souveräne Programmplanung, indem bspw. potente Musikexportzentren reicher Länder wie Norwegen oder nationale Stiftungen wie die Schweizer Stiftung Pro Helvetia Kompositionsaufträge und Gastspiele bestimmter nationaler Komponisten und Ensembles mitfinanzieren. Um den Einfluss privatwirtschaftlicher, konjunktureller und politischer Unwägbarkeiten auf die öffentliche Kulturförderung einzudämmen, verabschiedete Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland im Dezember 2014 ein verbindliche Leistungen festschreibendes »Gesetz zur Förderung und Entwicklung der Kultur, der Kunst und der Kulturellen Bildung« (Kulturfördergesetz 2014). Angesichts zunehmend schwieriger Rahmenbedingungen formierten sich in manchen Städten kulturpolitische Arbeitskreise, in denen sich einzelne Sparten oder ganze Musikszenen vernetzen, um bei Kulturpolitik und Kulturverwaltung gemeinsam für bessere Rahmenbedingungen ihrer Arbeit einzutreten. Der seit 1999 bestehende Initiativkreis Freie Musik Köln (IFM) ist bspw. ein Zusammenschluss freiberuflich tätiger professioneller Musiker, Ensembles, Veranstalter und Spielstätten verschiedener Sparten. Mit der städtischen Kulturverwaltung entwickelte der IFM ein Musikförderkonzept, das 2008 vom Rat der Stadt verabschiedet wurde und das neben Förderzielen auch Förderkriterien und -instrumente benennt, etwa kurzfristige Projekt- und längerfristige Planungssicherheit garantierende Strukturförderung (Musikförderkonzept 2008; Soltau 2010, 169–171.). Um die zeitgenössische Musik mittels neuer Strukturen, Kooperationen und Vermittlungsansätze besser in der Gesellschaft zu verankern, förderte die Kulturstiftung des Bundes von 2008 bis 2011 im Rahmen des »Netzwerk Neue Musik« deutschlandweit 15 Initiativen, von denen nach Ablauf der auf vier Jahre befristeten Förderung zwölf bestehen blieben (Nonnenmann 2012). Aktuelle kulturpolitische Themen sind vielerorts auch mangelnde Probenlokale, fehlende Spielstätten, Medienpräsenz und öffentliche Wahrnehmung sowie restriktive ordnungsamtliche Auflagen und auf konkrete Bauobjekte bezogene Diskussionen über das Verhältnis von Investitions- und Betriebskosten sowie künstlerischen Etat. Diskutiert wird ferner über das Verhältnis von Spitzenförderung (»Leuchttürme«) und Breitenangeboten einer demokratischen Kultur für alle, über auswärtige Kulturpolitik als eine Funktion von Außenpolitik, über Kulturaustausch versus Kulturexport, sowie über Kultur als ein Mittel zur Erzielung von Sekundäreffekten wie z. B. soziale Befriedung, Gentrifizierung, Identifikationsstiftung und Belebung von Tourismus und lokaler Wirtschaft. Tangiert werden Kultur und speziell neue Musik ferner durch Debatten über den Monopolismus globaler Internet-, Hard- und Softwarekonzerne, Urheberrechte, internationale Handelsabkommen, Missstände bei der allgemeinen musikalischen und kulturellen Bildung sowie durch die 2005 von der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedete »Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen«. Ä Institutionen / Organisationen; Musiksoziologie; Neue Musik; Popularität; Zentren neuer Musik Eckhardt, Andreas: Öffentliche Musikförderung, in: Musikszene Deutschland – Konzertwesen, Kulturpolitik, Wirtschaft, Berufe, hrsg. v. Richard Jakoby in Zusammenarbeit mit Literatur 357 Inter Nationes und dem Deutschen Musikrat, Kassel 1997, 38– 45 „ Flender, Reinhard (Hrsg.): Freie Ensembles für neue Musik in Deutschland, Mainz 2007 „ Gembris, Heiner: Entwicklungsperspektiven zwischen Publikumsschwund und Publikumsentwicklung. Empirische Daten zur Musikausbildung, dem Musikerberuf und den Konzertbesuchern, in: Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, hrsg. v. 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Kulturamt Köln, Köln 1994, 11–38 Rainer Nonnenmann 358 Lateinamerika brasilianische Komponist, Flötist und Dirigent HansJoachim Koellreutter (1915–2005) waren in Argentinien und Brasilien politisch engagierte Schlüsselfiguren dieser Avantgarde. 1. 1960er Jahre L Lateinamerika Inhalt: 1. 1960er Jahre  „ 2. 1970er Jahre  „ 3. 1980er Jahre  „ 4. 1990er Jahre „ 5. 2000er Jahre Zur Zeit des historischen Wendepunkts der kubanischen Revolution (1959) war Lateinamerika politisch, sozial und kulturell betrachtet ein Konglomerat ungleichartiger Länder, deren gemeinsamer Nenner die europäische Eroberung und Ausbeutung ab 1492, die darauffolgende Zwangskolonisierung und der Genozid an Millionen von Ureinwohnern samt der Verdrängung ihrer Sprachen und Kulturen sowie die Unterdrückung und Ermordung zahlloser importierter Sklaven aus Schwarzafrika war. Schon früh prallten drei kulturelle Hauptströmungen aufeinander: die europäische, die autochthone und die afrikanische, sowie die daraus resultierende kulturelle Vermischung. Trotz der Befreiungsbewegungen zur Erlangung der Unabhängigkeit stammten die etablierten Kultur- und Musikmodelle bis ins 20. Jh. hinein aus den europäischen Kolonialmächten. Erst im Laufe der 1920er und 30er Jahre traten Komponisten auf, deren schöpferische Beiträge musikhistorisch als bahnbrechend zu betrachten sind. Dazu gehören Silvestre Revueltas (1899–1940), Amadeo Roldán (1900– 39), Alejandro García Caturla (1906–40), Luciano Gallet (1893–1931) und Carlos Isamitt (1887–1974), neben den in Europa bekannteren Carlos Chávez (1899–1978) und Heitor Villa-Lobos (1887–1959), wobei die beiden Letztgenannten in den 1940er Jahren zu etablierten Modellen der europäischen Tradition zurückkehrten. Allgemein betrachtet oszillierte das Komponieren in Lateinamerika vor 1960 zwischen einem Nationalismus konservativer neoklassizistischer Prägung und einer innovativen Musiksprache mit identitätssuchenden Konturen. Die in den 1930er Jahren stattfindende Einführung der Ä Zwölftontechnik wirkte – obwohl es sich wieder um ein importiertes kulturelles Modell handelte – als Gegenmittel zu jenem veralteten Nationalismus und wurde als eine notwendige technische und ästhetische Innovation verstanden. Der argentinische Komponist, Pianist und Theoretiker Juan Carlos Paz (1897–1972) und der deutsch- Die 1960er Jahre signalisieren einen bedeutenden Einschnitt in der neuen Musik Lateinamerikas, da inmitten gesellschaftlicher Umwälzungen sowohl der bereits stagnierende musikalische Nationalismus als auch die Endphase der Zwölftonmusik überwunden werden konnten. Die kubanische Revolution erschütterte den ganzen Kontinent und bewegte die junge Generation von Künstlern und Intellektuellen dazu, die Utopie einer veränderten Welt in Gang zu bringen, in welcher auch Kunstmusik ohne die Vormundschaft von auferlegten Modellen geschaffen werden könnte. Die sog. Nationalisten und Universalisten prägten mit ihren jeweiligen lokalen Varianten die kompositorische Szene, als jüngere Komponisten sich in den 1960er Jahren rasch mit der europäischen und nordamerikanischen Nachkriegsavantgarde vertraut machten. Unter ihnen ist dem Argentinier Alberto Ginastera (1916–83) mit seiner Cantata para América Mágica (1960) eine Synthese von spätnationalistischen Zügen und der Verwendung von unterschiedlichen neueren Kompositions- und Instrumentaltechniken gelungen. Ginastera war der Gründer und erste Leiter des 1963–71 in Buenos Aires ansässigen Centro Latinoamericano de Altos Estudios Musicales (CLAEM), einer einmaligen Institution, in der sich junge Komponisten aus Lateinamerika mittels Stipendien ausbilden ließen, Unterricht von renommierten in- und ausländischen Musikern bekamen und ihre Musik zur Aufführung und Diskussion brachten. Nicht zuletzt ermöglichte diese visionäre Praxis zum ersten Mal, dass lateinamerikanische Komponisten einen regen Meinungs- und Informationsaustauch führten, ohne dass sie in europäische oder nordamerikanische Zentren auswandern mussten. In der Folge begannen manche junge Komponisten, sich als durch Musik reagierende Zeitzeugen des historischen Geschehens zu verstehen und behaupten zu wollen. Damit verbunden ist auch die Verbreitung der elektroakustischen Musik, ein Gebiet auf dem in den 1970er Jahren richtungsweisende Werke hervorgebracht wurden. Zu diesen jüngeren Komponisten, die während der 1960er Jahre besonders hervortraten, zählen Joaquín Orellana (Guatemala, *1930), César Bolaños (Peru, 1931– 2010), Jacqueline Nova (Kolumbien, 1935–75), Oscar Bazán (Argentinien, 1936–2005), Eduardo Bértola (Argentinien / Brasilien, 1939–96) und Coriún Aharonián (Uruguay, *1940). Auch die damals mittlere Komponisten- 359 generation reagierte schnell auf die neuen Impulse; hierzu zählen u. a. die Kubaner Harold Gramatges (1918–2008) und Juan Blanco (1919–2008), die Brasilianer Cláudio Santoro (1919–89) und Gilberto Mendes (*1922), der Uruguayer Héctor Tosar (1923–2002), die Argentinier Hilda Dianda (*1925) und Alcides Lanza (*1929), der Mexikaner Manuel Enríquez (1926–94), der Peruaner Celso GarridoLecca (*1926) und die Chilenen Gustavo Becerra (1925– 2010) und Fernando García (*1930). Diese Komponisten eröffneten mit ihren Werken ästhetische Wege, die von postserieller Technik bis hin zu aleatorischen und improvisatorischen Erfahrungen reichten. Manche von ihnen wanderten später nach Europa oder in die USA aus. Auch die rhythmisch und melodisch reiche und in der täglichen Praxis lebendige traditionelle Musik in ihren verschiedenen Formen und Gattungen erfuhr nun verstärkt kompositorische Beachtung, sei es durch direkte Integration oder in symbolischer Form zur Bildung eines identitätssuchenden Bewusstseins und damit zur Grenzüberschreitung von Genres und Idiomen. 2. 1970er Jahre Dieses Jahrzehnt zeigt ein verändertes politisches Panorama: Neben den schon früher etablierten Diktaturen und der wiederholten US-militärischen Einmischung in etlichen Ländern des Kontinents, fanden weitere Militärputsche statt. Auch in der Kunstmusik wurden diese historischen Entwicklungen reflektiert. Daraus resultieren Beispiele eines kulturellen Widerstands. Mit seiner Humanofonía I (1971) erweiterte Orellana seine mikrophonische Dokumentation des Alltags durch die Einbeziehung von neuen, von ihm erfundenen útiles sonoros (Klangwerkzeuge). Seine música ideológica (ideologische Musik) bringt mehrere Aspekte unmittelbar zum Ausdruck: das verdrängte Indianische, die Elektroakustik, eine neu erdachte Organologie von Klangerzeugern. Ähnliches ist auch bei Novas elektroakustischem Stück Creación de la tierra (1972), Bazáns Austeras (1975/77) und Bértolas Trópicos (1975) zu finden, wo ein extrem reduziertes Ausgangsmaterial teils mikrophonisch, teils rein synthetisch oder instrumental verarbeitet wird. Bazán und Bértola sprechen diesbezüglich von einer música pobre (arme Musik) im Sinne einer bewussten Reduzierung der Klangelemente zugunsten einer essentiellen, nicht diskursiven Sprache. Diese aussageorientierte Poetik, die weder Humor oder Ironie noch Aggressivität ausschließt, bezieht sich auf vielfältige historische, politische, soziale und identitätsgeladene Themen. Als Ende 1971 das CLAEM endgültig geschlossen wurde, startete auf Initiative von Aharonián ein neues kontinentales Projekt: die Cursos Latinoamericanos de Música Lateinamerika Contemporánea (CLAMC). Inspiriert vom CLAEM, aber im Einklang mit den neuen historisch-politischen Herausforderungen, konnten diese Kurse unter der Leitung eines Organisationskollektivs von lateinamerikanischen Komponisten bis 1989 in 15 Ausgaben als selbstfinanzierte Wander-Sommerkurse durchgeführt werden. Sie waren Treffpunkt und Diskussionsforum für multidisziplinäre Themen und richteten sich an Komponisten, Instrumentalisten, Pädagogen und sonstige Interessenten – bei solidarischer Mitwirkung von Gastdozenten aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten. In Mexiko war Enríquez nach Chávez in diesem Zeitraum der wichtigste und einflussreichste Komponist. Enríquez, der auch ein virtuoser Violinist war, durchschritt wie andere lateinamerikanische Komponisten seiner Generation Phasen von Spätnationalismus, Ä serieller Musik und Aleatorik (Ä Zufall). Garrido-Lecca wendete sich der Praxis präkolumbianischer Blasinstrumente zu und übertrug sie auf Streicherensembles. Fernando García kombinierte Serielles und Improvisatorisches mit dem Ziel, einen politisch motivierten wie lyrischen Ausdruck zu erreichen. Francisco Kröpfl (Ungarn / Argentinien, *1931) arbeitete elektroakustisch und instrumental mit postseriellen sog. »Mikromodi«. In Brasilien setzt sich der ehemals dodekaphon komponierende Santoro für verschiedene Gruppierungen mit Elektronik und aleatorischen Prozeduren auseinander. Mendes wendet Aleatorik und Konkrete Poesie – z. B. in Beba Coca Cola (1966) und Vai e vem (1969)  – humorvoll aber gesellschaftskritisch an. Dianda geht von instrumentalen Kurzstücken aus in Richtung Elektroakustik, z. B. in … y después el silencio (1976). Tosar komponiert ab Aves errantes (1963) ausdrucksgeprägte Werke unter der Anwendung eines vom seriellen Denken abgeleiteten Kompositionsverfahrens, das er grupos de sonidos (Tongruppen) nennt. Zu den oben schon erwähnten Komponisten treten im Verlauf der 1970er Jahre noch weitere Persönlichkeiten hinzu wie Gerardo Gandini (Argentinien, 1936–2013), Alfredo del Mónaco (Venezuela, 1938–2015), Leo Brouwer (Kuba, *1939), Alberto Villalpando (Bolivien, *1940), Jorge Antunes (Brasilien, *1942), Mariano Etkin (Argentinien, *1943), und die Mexikaner Mario Lavista (*1943) und Julio Estrada (*1943). Es ist kein Zufall, dass etliche unter diesen Komponisten sich während der 1960er Jahre als Stipendiaten im CLAEM trafen. Hauptlehrer war dort Gandini, der sowohl mit der Wiener Schule als auch mit der nordamerikanischen Avantgarde vertraut war. Er bezog sich oft auf historische europäische Komponisten von Machaut bis Schönberg, deren Musik er in seine eigenen Werke als dekonstruierte, nicht wiedererkennbare objets trouvés implementierte und dadurch ein komplexes Netz 360 Lateinamerika von eigenen und fremden Materialien entstehen ließ. Seine Opern La casa sin sosiego (1992) und La ciudad ausente (1995) stehen dafür. Wie Gandini geht der ebenfalls als Kompositionslehrer wirkende Etkin einen eigenen Weg als ein führender Exponent einer neuen und originellen Musiksprache. In vornehmlich kammermusikalischen Besetzungen  – Soles (1967), Caminos de cornisa (1985) –, begibt er sich auf die Suche nach Klangfarbenkombinationen, die eine Mischung aus Abstraktion und Magie erzeugen. In Mexiko sind Lavista und Estrada die führenden Komponisten ihrer Generation. Lavista und Estrada verkörpern entgegengesetzte musikästhetische Richtungen: Nach postseriellen und aleatorischen Erfahrungen neigt Lavista zu komplexen, klangfarblich gesteuerten Strukturen, die oft auf historischen europäischen Verfahren wie Isorhythmik oder der Fibonacci-Reihe basieren (Responsorio in memoriam Rodolfo Halffter, 1988), ohne die Präsenz des Melodischen auszuklammern. Estrada hingegen begann mit webernartigen Miniaturen, begegnete später Iannis Xenakis und entwickelte dessen Anwendungen der Mathematik und Informatik in seinen am Pariser Upic realisierten Stücken wie etwa eua-on (1980). 3. 1980er Jahre Die neue Dekade bringt nicht nur das Ende der meisten Diktaturen, sondern auch die Gründung des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN; Experimentelles Orchester einheimischer Instrumente), ein vom bolivianischen Komponisten, Dirigenten und Forscher Cergio Prudencio (*1955) ins Leben gerufenes Projekt, das sowohl kompositorisch als auch organologisch und pädagogisch bis heute von großer internationaler Tragweite ist. Das OEIN und seine Praxis stehen als Paradigmen für eine neue lateinamerikanische Musik, die durch Erstellung unabhängiger Modelle eigenständig gedacht, gelehrt, gespielt und komponiert werden kann. Die Komponistengeneration, die in den 1980er Jahren in Erscheinung tritt, experimentiert mit der Einbeziehung vielfältiger instrumentaler und elektroakustischer Mittel. William Ortiz (Puerto Rico, *1947) verarbeitet Elektronik und Alltägliches wie etwa Hip-Hop aus seiner Jugend in der New Yorker Peripherie, Alfredo Rugeles (Venezuela, *1949) verbindet Sinfonisches mit traditionellen Tänzen, Marcela Rodríguez (Mexiko, *1951) findet einen neuen Weg zur Oper, Igor de Gandarias (Guatemala, *1953) erforscht seine Umgebung mittels Bild und Klang, Eduardo Cáceres (Chile, *1955) nimmt in seiner Musik politisch Stellung und kehrt gleichzeitig mit neuen Perspektiven zu indianischen Quellen zurück, Daniel Maggiolo (Uruguay, 1956–2004) konzentriert sich auf städtische elektroakus- tische Klangbilder und -landschaften, Carlos Mastropietro (Argentinien, *1958) hebt klangfarbliche Aspekte der Hörerfahrung durch eine extreme Reduktion des Materials hervor, Alejandro Cardona (Costa Rica, *1959) benutzt Elemente der mexikanischen und zentralamerikanischen Musiktradition, Adina Izarra (Venezuela, *1959) konzentriert sich auf elektronische Medien und Ana Lara (Mexiko, *1959) bevorzugt ungewöhnliche Kammer- und Orchesterensembles. 4. 1990er Jahre Die jungen Komponisten der folgenden Generation sind technisch versiert und technologisch zunehmend gut ausgestattet und dabei vorwiegend praktisch bzw. pragmatisch orientiert. Im Vordergrund stehen die Einbeziehung von selbstgebauten Instrumenten und erfundenen Klangquellen und die Anwendung multimedialer Elemente. Die Mexikaner Carlos Sánchez-Gutiérrez (*1964) und Gabriela Ortiz (*1964), die Chilenen Pablo Aranda (*1960) und Federico Schumacher (*1963), die Brasilianer Tato Taborda (*1960), Tim Rescala (*1961) und Flo Menezes (*1962), die Argentinier Jorge Horst (*1963), Damián Rodríguez (*1963), María Cecilia Villanueva (*1964), Osvaldo Budón (*1965) und Natalia Solomonoff (*1968) vertreten ein breites Spektrum stilistischer Ansätze, die durch Tabordas einzigartiges Multi-Instrument Geralda, die humorvollen Züge von Rescala und Rodríguez, und die komplexen, ausdrucksvollen Klangstrukturen bei Horst, Villanueva, Budón und Solomonoff charakterisiert werden können. 5. 2000er Jahre Das Schaffen von Komponisten der jüngsten Generation lässt sich ebenso wenig auf einfache Kategorien reduzieren. Der Mexikaner Rodrigo Sigal (*1971), die Kolumbianer Rodolfo Acosta (*1970) und Daniel Leguizamón (*1979), die Bolivianerin Canela Palacios (*1979) u.v. a. verkörpern eine wachsende Tendenz zu einer individualisierten Kreativität. Im Gegensatz zu früher lassen sie sich vornehmlich in ihren Heimatländern ausbilden. Das Ä Internet ermöglicht ihnen Austausch und eine flexible Verbreitung von Partituren und Werken, ohne von Verlagen, Konzertveranstaltern oder einem akademischen Publikationswesen abhängig zu sein. In diesem Zusammenhang muss auch die steigende musikwissenschaftliche Tätigkeit lateinamerikanischer Komponisten und Forscher erwähnt werden, die in den letzten Jahrzehnten zur Analyse, Akzeptanz und Verbreitung der neuen Musik Lateinamerikas entscheidend beigetragen hat: Die Kubaner Olavo Alén und Zoila Gómez, die Mexikaner Estrada und Aurelio Tello, der Kolumbianer Egberto Bermúdez, der Bolivianer Prudencio, die Chilenen Fernando García 361 und Juan Pablo González, der Uruguayer Aharonián und die Argentinier Omar Corrado und Etkin u. a. sind hierfür Beispiele. Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern erfährt die neue Musik in Mexiko, Kuba, Kolumbien, Chile und Argentinien staatliche Förderung. Ä Institutionen zur Musikausbildung und -verbreitung sind – obgleich nicht überall auf demselben Niveau – fest etabliert. In den übrigen Ländern wird eine nicht immer konstante Unterstützung praktiziert. Aufgrund der wachsenden Tendenz zur Ä Globalisierung zeigen die Musiksprachen auch in Lateinamerika ein technisch wie stilistisch multidirektionales Bild: Von Klangkunst und Elektronik zu Oper und Ä Musiktheater, von Ä Improvisation und Multimedialem zu Solo- und Instrumentalstücken, sodass weitere Entwicklungen nicht leicht vorauszusehen sind. Ä Themen-Beiträge 4, 9; Globalisierung Acosta, Rodolfo: Música académica contemporánea en Colombia desde el final de los ochenta, in: Gran Enciclopedia de Colombia 7/2 (2007), 123–150 „ Aharonián, Coriún: Factores de identidad musical latinoamericana tras cinco siglos de conquista, dominación y mestizaje, in: Latin American Music Review 15/2 (1994), 189–225 „ ders.: Anderssein, Selbstverteidigung und Unterwerfung. 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Adornos Begriff des musikalischen Materials  „ 2. Erweiterungen des Materials seit den 1950er Jahren  „ 3. Material-Debatten seit den 1980er Jahren 1. Adornos Begriff des musikalischen Materials Am Begriff des Materials kristallisieren sich grundlegende Problemstellungen der neuen Musik. Im Zuge der Lossagung von traditioneller tonaler Ordnung und der Ausweitung des Musikalischen auf alle Arten von Klang und Ä Geräusch steht zur Diskussion, womit überhaupt komponiert wird (Ä Themen-Beitrag 4). Die Bedingungen der Auswahl und Vorsortierung rücken in den Fokus kompositorischer Praxis und Reflexion (Ä Kompositionstechniken). Einen komplexen Begriff von musikgeschichtlich geprägtem Material entfaltet Theodor W. Adorno und nimmt damit zugleich Bewertungen musikalischer Werke und Strömungen vor. Durch die sich daran entzündenden Kontroversen, insbesondere der westeuropäischen Ä Avantgarde, ist »Material« zu einem umstrittenen Schlüsselbegriff der Ä neuen Musik geworden. Die Grundannahmen Adornos sind: Material steht nicht ahistorisch als natürlicher Rohstoff zur Verfügung, vielmehr ist es von vorangehender kompositorischer Arbeit geprägt und hört sich zu jedem Zeitpunkt anders an. Es umfasst also nicht bloße akustische Elemente, sondern geschichtlich geprägte musikalische Verhältnisse. Die jeweils neue kompositorische Herausforderung besteht darin, am Material herauszuhören, welche Tonkombinationen zu Klischees geworden sind und deshalb derart nicht mehr verwendet werden können – Adorno spricht vom »Kanon des Verbotenen« (1949/75, 40) – und welche neuen musikalischen Möglichkeiten durch »Tendenzen des Materials« (ebd., 41) eröffnet werden. Der »Stand der technischen Verfahrungsweise« (ebd., 40) stellt sich einem Komponisten somit als »Problem« (ebd., 42) dar, das er zu bewältigen hat und wodurch er seinerseits das Material zugleich weiterentwickelt: »In immanenter Wechselwirkung konstituieren sich die Anweisungen, die das Material an den Komponisten ergehen läßt, und die dieser verändert, indem er sie befolgt« (ebd., 40). Das dialekti- sche Verhältnis kann aber als »bloße Selbstbewegung des Materials« (ebd.) erscheinen, wenn das Bewusstsein über die Gewordenheit und Wandelbarkeit des Materials fehlt. Adorno spricht diesbezüglich von »Materialfetischismus« (ebd., 87) und bezeichnet Material als »ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität« (ebd., 39). Damit schließt er an die Marxschen Kategorien der vergegenständlichenden Arbeit und des Warenfetischismus an. Seine Bestimmung von Material als »sedimentierter Geist« bzw. als Ausdruck des gesellschaftlichen objektiven Geistes (ebd.) richtet sich dabei gegen Hegels idealistische Ästhetik, in der Musik und Kunst der Sphäre des »absoluten Geistes« angehören (Hindrichs 2011, 55). Adornos Ansatz, musikalische und gesellschaftliche Ä Analyse am Begriff des Materials zu vermitteln (Ä Musiksoziologie), ist durchzogen von seiner Kritik an Rationalisierung und am Schwinden subjektiver Freiheit und Ausdrucksmöglichkeit. In den musikalischen Schriften geht es Adorno aber weniger um die Darlegung seiner theoretischen Grundlagen als vielmehr um die Diskussion kompositorischer Entwicklungen und musikalischer Praxis. Dabei akzentuiert er den Material-Begriff je nach Kontext unterschiedlich. Zum einen richtet er sich gegen eine Haltung, wonach Material frei wählbar sei und betont den »Zwang« des Materials (1949/75, 65). Seine scharfe Kritik gilt zum anderen jedoch Ansätzen der Ä Zwölftontechnik, bei denen »das Subjekt zum Sklaven des Materials« (ebd., 112) werde, da ihm das »selbstgemachte Regelsystem im unterworfenen Material als entfremdete, feindselige und beherrschende Macht« (ebd.) entgegentrete. Es bestehe aber die prinzipielle Möglichkeit einer subjektiven »Lossage« vom Material (ebd., 113), die Adorno in Arnold Schönbergs Spätwerk verwirklicht sieht. Dieser habe sich dem »Bann der materialen Dialektik« (ebd., 114) entzogen und der »Allherrschaft des Materials die Treue« (ebd., 118) gekündigt. Adornos konkrete Diagnosen beziehen sich zentral auf Werke der Wiener Schule und die daran anknüpfenden Ansätze der westeuropäischen Ä Avantgarde. Er wirft seriellen Verfahren vor, »Musik auf die nackten Vorgänge im Material« (1956/73, 151) zu reduzieren und Komposition durch »eine objektiv-kalkulatorische Anordnung« zu ersetzen. Dagegen fordert er, nicht auf »musiksprachliche Mittel« (ebd.) zu verzichten. Heinz-Klaus Metzger kritisiert daraufhin Adorno, er berücksichtige nicht die aktuell avancierten Verfahren, sei also selbst nicht auf dem Stand kompositorischer Entwicklungen. Zudem würde die Trennung von musiksprachlichen Mitteln und Material hinter dessen eigenes umfassendes Begriffsverständnis zurückfallen (Metzger 1957/80, 71). Später dehnt Adorno seinen vorerst auf Tonbeziehungen beschränkten Materialbegriff aus »bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen« 363 (Adorno 1970, 222). Mit der »materialen Formenlehre« skizziert er einen Ansatz zum Verständnis von kompositorischer Artikulation als Umformung musikalischen Materials (1962/78, 504 f.; Ä Form). 2. Erweiterungen des Materials seit den 1950er Jahren Mit Adornos Fokussierung des Materials korrespondiert der zunehmende Eingang des Begriffs »in die Umgangssprache des kompositorischen Handwerks« (Borio 1994, 109), insbesondere im Kontext parametrischen Denkens (Ä Parameter) und elektronischer Klangerzeugung (Ä Elektronische Musik) – dabei aber mit teilweise unterschiedlicher Bedeutung. Weil Arnold Schönbergs reihentechnische Behandlung der Tonhöhe bei zugleich traditioneller Rhythmik als Widerspruch von »Material und Kompositionsmethode« angesehen wird (Stockhausen 1958/63, 35), propagiert Karlheinz Stockhausen: »Materialgerecht denken: Übereinstimmung der Formgesetze mit den Bedingungen des Materials« (ebd., 32). Für eine neue Formidee sei demnach »neues Material« (ebd.) zu suchen. Wird einerseits die enthistorisierte Erschaffung von grundlegendem Klangmaterial angestrebt, geht es andererseits ab Mitte der 1950er Jahre verstärkt um die »Vermittlung anscheinend heterogener Materialien« (Decroupet / Kovács 1997, 277) und eine »Resemantisierung des musikalischen Materials« (ebd., 282). Was als Material verwendet werden kann, wird zunehmend erweitert und damit zusammenhängend auch der Geltungsbereich neuer Musik zur Diskussion gestellt. Im Zuge von Ä Instrumentalem Theater können auch Aktionsformen, Gesten oder Publikumsverhalten zu kompositorischem Material werden. Ein um die Bedingungen der Kommunikation und des Musikhörens zentriertes Materialverständnis entwickelt Helmut Lachenmann (1978/96; Ä Wahrnehmung). Für die 1970er Jahre diagnostiziert Carl Dahlhaus gleichwohl eine »Abkehr vom Materialdenken« (1984/ 2005). Entgegen der Annahme einer vermeintlich objektiven Materialentwicklung würden sich Komponisten verstärkt auf die Instanz der subjektiven Freiheit berufen: »Was in den 1960er Jahren ›erforscht‹ worden war, als wäre das Material sich selbst genug, wurde ein Jahrzehnt später als Mittel zu expressiven Zwecken benutzt« (ebd., 487). Damit zusammenhängend kritisiert Dahlhaus bei Adorno die Annahme eines zu einem Zeitpunkt allgemein gültigen Materialstands und einer damit verbundenen fortschrittlichen Tendenz, stattdessen existiere eine Vielfalt geschichtlicher Entwicklungslinien. Adorno sei derart der ›Kronzeuge‹ des Materialdenkens. Gianmario Borio vermutet, dass bei Dahlhaus aber eine »Projektion der Material Wirkungsgeschichte des Begriffes auf dessen Inhalt erfolgt« sei (1994, 117). 3. Material-Debatten seit den 1980er Jahren Auch nach einer Hochphase der ›Material-Debatte‹ um 1980 werden die mit dem Begriff aufgerufenen Problemstellungen kontrovers diskutiert. Dabei vermengen sich oftmals ästhetische Reflexion, musikalisches Urteil und kompositorische Programmatik, zumeist bezüglich einer je aktuellen »Tauglichkeit für die heutige Musik« (Vorbemerkung in Lachenmann u. a. 1997, 2) und vor dem Hintergrund von technologischen Erneuerungen (Kreidler u. a. 2010). Schwierigkeiten des Materialverständnisses hängen jedoch oftmals mit der Vermischung einer ästhetisch-theoretischen Perspektive mit konkreten Fragen des Komponierens zusammen. Dagegen betont Reinhard Kapp: »Tendenz des Materials ist eine analytische Kategorie, der Komponist hat sich auf sie in ihrer Allgemeinheit nicht zu beziehen« (1982, 267). Sie ist demnach in der kompositorischen Auseinandersetzung mit dem Material zwar spürbar, nicht aber als praktische ›Richtschnur‹ benennbar. Der Stand des Materials ist nur negativ zu erkennen »an flachen oder mißlungenen Kompositionen, wo die Abnutzung der Klänge unüberhörbar geworden ist« (ebd., 269). Die Art und Weise eines Bezugs auf den Materialbegriff wird vielfach als Unterscheidungsmerkmal von modernen und postmodernen Positionen angesehen: »Läßt sich der Materialbegriff als Kulmination einer am Neuen orientierten Ästhetik der musikalischen Moderne interpretieren, so würde seine Liquidation das Zeichen einer Postmoderne sein, die Materialien aus allen möglichen historischen und kulturellen Kontexten als gleichwertig und frei verfügbar betrachtet« (Borio 1994, 109; vgl. Kager 1998, 93). Entgegen derartiger dichotomer Pointierungen wird mittels eines Material-Rekurses aber auch auf ›nicht-modernistische‹ oder ›prä-postmoderne‹ musikalische Phänomene verwiesen. So liest Günter Seubold die Mahler- und Berg-Interpretation Adornos hinsichtlich der »Bindung ans tradierte Material« (1998, 144) sowie der »Integration der Popularkunst« (ebd., 148) als doppelte Kritik von »Fortschrittsmoderne« (ebd., 134) und von »der Gestalt von Postmoderne, die diese seit den siebziger Jahren angenommen hat« (ebd., 153). Im Kontext einer »Zusammenführung medienästhetischer Überlegungen mit einem umfassenden Materialverständnis« (Großmann 2006, 318) werden auch Aufnahmeverfahren, musiktechnologisches Instrumentarium und digitale Klangarchive als Teil des musikalischen Materials aufgefasst. In Verbindung mit dem Begriff des Dispositivs (vgl. Großmann 2012) können verstärkt auch 364 Medien räumlich-institutionelle Prozesse fokussiert werden, die das musikalische Material durchziehen. Mit einer über Adorno hinausgehenden kritischen Perspektive auf »das traditionelle Dispositiv komponierter Konzert-Musik« (Wellmer 2009, 320) ist der Materialbegriff nicht zuletzt auch mit der Infragestellung einer etwaigen Abgrenzung von neuer Musik zu Klang- und Medienkunst verbunden (Ä Klangkunst; Ä Medien). Erinnerung retten und dem Kitsch die Zunge lösen. Adornos Mahler- und Berg-Interpretation – gehört als Kritik des (Post-) Modernismus, in: Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, hrsg. v. Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, Frankfurt a. M. 1998, 134–166 „ Stockhausen, Karlheinz: Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung [1958], in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. v. 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Denn jene Instanzen des »dazwischen« können höchst unterschiedliche Strukturen ausprägen und auf diversen Techniken beruhen, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, »so dass das Mediale selber nicht ›Eines‹ ist, das eine bestimmbare Identität aufwiese, sondern sich als Pluralismus entpuppt, der von Fall zu Fall dechiffriert werden muss« (ebd., 10). Deshalb scheint es sinnvoll, verschiedene Medienbegriffe als unterschiedliche Perspektiven auf mediale Situationen zu beschreiben: Der weiteste Medienbegriff bezieht sich auf alles, was in irgendeiner Form als Vermittlungsinstanz zwischen getrennten Entitäten fungiert, seien es Dinge, Personen oder sogar in spiritistischen Kreisen Lebende und Tote. Als bedeutender Vertreter eines solchen universalen Medienbegriffs gilt Marshall McLuhan (1911–80), der Medien als »extensions of man« beschreibt und darunter sämtliche Werkzeuge versteht, mit denen der Mensch seine Einwirkungsmöglichkeiten auf die Umwelt ausdehnt und präzisiert (McLuhan 1964/2003). Sämtliche Kommunikationsmedien stellen demnach lediglich einen Spezialfall dieser allgemeinen Ausweitungsbemühungen des Menschen dar. Auch die Medium-Form-Unterscheidung von Niklas Luhmann impliziert einen solchen universalen Medienbegriff: Medium kann nach Luhmann alles sein, was dazu 365 in der Lage ist, Formen aufzunehmen und zu übertragen (1997, 161). Medien können auch anhand ihrer technischen Voraussetzungen bestimmt werden. So lassen sich moderne Medien etwa in analoge und digitale Medien unterteilen. Bei analogen Medien herrscht bei der medialen Übertragung das Funktionsprinzip der Analogie. Bei digitalen Medien existiert dagegen kein Ähnlichkeitsverhältnis mehr zwischen dem Darzustellenden und der Form der Speicherung. Der technisch-funktionale Medienbegriff geht vor diesem Hintergrund nicht nur von der zugrunde liegenden Technik eines Mediums aus, sondern zieht auch dessen Funktion mit heran. So kann zwischen Speicher-, Übertragungs- und Kommunikationsmedien unterschieden werden. Eine klare Abgrenzung der verschiedenen Funktionen ist nicht immer möglich, der Personal Computer lässt sich sogar allen drei Kategorien zuordnen. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit besteht in der Orientierung an den zur Ä Rezeption genutzten Sinnesorganen. So lassen sich auditive (Musik), visuelle (Bild) und audiovisuelle (Tonfilm, Video usw.) Medien beschreiben. Allerdings ist diese Einteilung nicht immer trennscharf durchzuführen. Das Buch war z. B. im Mittelalter in einem anderen Sinn ein audiovisuelles Medium als in der Neuzeit, weil das mittelalterliche Lesen vorwiegend laut sprechend praktiziert wurde. Der Begriff des »Mediendispositivs« versteht Medien in einer umfassenden Betrachtungsperspektive als komplexe Systeme und impliziert einen Gesamtzusammenhang von technischer Verfasstheit, Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie Funktionen eines Mediums. 2. Geschichte der Medientheorie Bereits Platons in seinem Phaidros formulierte Schriftkritik darf als eine frühe medientheoretische Reflexion verstanden werden. Auch die berühmte Laokoon-Schrift Lessings (Lessing 1766/2006), begründet die Hierarchisierung der Künste medientheoretisch, ohne dass Medientheorie bereits als eigene Disziplin existierte. In der Ä Musikästhetik des 19. Jh.s enthält der aus der Literatur stammende Unsagbarkeitstopos, der bislang vorwiegend im Zusammenhang mit der Vorstellung der Metaphysik der Instrumentalmusik gesehen wurde, ebenfalls medientheoretische Implikationen. Wenn er besagt, dass die Musik dort weiterdichtet, wo die Grenze des mit der Sprache Aussagbaren erreicht ist, wird nach den prinzipiellen Möglichkeiten des Mediums Ä Sprache und nach den darüber hinaus gehenden Möglichkeiten des Mediums Musik gefragt (Saxer 2009). Die Etablierung einer allgemeinen Medientheorie beginnt ab den späten 1950er Jahren. Besonders die Schrif- Medien ten von McLuhan (1964/2003) gelten als Initialzündung für die Medientheorie als akademischer Disziplin. Boris Groys hat darauf hingewiesen, dass sich der Ursprung der Medientheorie selbst entscheidenden Impulsen aus dem Ideen-Pool der klassischen Ä Avantgarde verdankt (2000, 93–95). McLuhans zu Beginn der 1960er Jahre formulierte, die Medientheorie begründende Kernaussage »das Medium ist die Botschaft« (McLuhan 1964/2003, 17–36) übernimmt eine Grundfigur der amerikanischen Avantgarde der 1940er und 50er Jahre, die zugunsten der unmittelbaren, »reinen« Ä Wahrnehmung des Mediums auf alles Inhaltliche, bewusst Intendierte, Mitteilende zu verzichten versucht. Diese Idee des »puren Mediums« wurde in der ersten Hälfte des 20. Jh.s in allen Künsten artikuliert – in der Musik als die Idee des »Klanges als Klang«, wie sie z. B. zunächst von Edgard Varèse und später von John Cage wirkmächtig formuliert wurde. Medientheorie und die Entwicklung der Künste sind im 20. Jh. demnach untrennbar miteinander verquickt. 3. Medientheorie in der Musik Unausgesprochene Medientheorien liegen auch der musikspezifischen Auseinandersetzung mit Medien zugrunde. In einer ersten, an McLuhan und Friedrich Kittler (1986) ausgerichteten Theoriegeneration werden Medien als ein fixierter Faktor und eine außermusikalische Größe angesehen, die Umbrüche in der Musikkultur evozieren. Diesen Auffassungen liegt eine mediendeterministische Haltung zugrunde (Katz 2004; Wicke 2009). Die Rede von der »digitalen Revolution« enthält ebenfalls eine mediendeterministische Grundhaltung (Lehmann 2012). Denn der Begriff der Revolution suggeriert ein Vorher und Nachher der Ereignisse in einer linearen Abfolge, wobei sich die Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Neue, die umwälzende »Wirkung« der Digitalität richtet. Das Miteinander von Neuem und Altem  – Analogem und Digitalem  – kommt dabei nicht in den Blick. Genau dieses Miteinander ist jedoch das Charakteristikum der gegenwärtigen Medienkultur. Mediengemische, in denen stets auch Rückgriffe auf ältere Mediensituationen enthalten sind, stellen den Normalfall dar. Eine zweite Theoriegeneration kritisiert daher ein deterministisches Medienverständnis und fragt dagegen nach der gesellschaftlichen Genese und Gestaltung von Medien. Jonathan Sterne (2003) fasst die Entwicklung auditiver Medien im 19. und 20. Jh. als gesellschaftliche Projekte auf, an deren Realisierung jeweils unterschiedliche institutionelle, künstlerische und wissenschaftliche Akteure beteiligt sind. Er kritisiert Ansätze, die Technologien als primäre Agenten historischer Wandlungen begreifen und wirft ihnen u. a. ein theologisches Motiv der »deification« vor. Überdies Medien attestiert er solchen Ansätzen eine verarmte Auffassung von Kausalität, die sämtliche kulturelle Wandlungsprozesse aus medialen Umbrüchen herleite (ebd., 8). 4. Neue Musik in den Medien / Medien in der neuen Musik Die Mediensituation der neuen Musik im 20. Jh. bis zur Gegenwart ist durch zwei Entwicklungen geprägt, die einander bedingen, zugleich jedoch auch in einem kritischen Verhältnis zueinander stehen. Zum einen nutzen neue Musikformen die zur Verfügung stehenden Speicher- und Übertragungsmedien so intensiv wie möglich. Zur Verbreitung hat sich ein komplexes Mediendispositiv herausgebildet, in dem zahlreiche auf zeitgenössische Musik spezialisierte Medienformate an deren Verbreitung zusammenwirken, wie z. B. CD-Labels (Col legno, WERGO, KAIROS, Mode Records u. a.), Radio-Formate (Nauck 2004), Fernsehen (Mosch 2005), DVDs (Drees 2010), Zeitschriften (Neue Zeitschrift für Musik, MusikTexte, Positionen, Dissonanz, Organised Sound u. a.) und Buchverlage (Pfau, Schott, Wolke u. a.). Neuerdings sind zudem multimediale Internet-Formate wie z. B. des Deutschen Musikrats, des IRCAM in Paris oder von Verlagen im Aufbau. Eine Click-Rate von über 1 011 782 auf Youtube (14. 5. 2015) für die historische Aufnahme von John Cages 4'33" (1952) mit David Tudor belegt die Bedeutung des Internets als Verbreitungsmedium für neue Musik. Zugleich lassen sich durch das 20. Jh. hindurch künstlerische Strategien beobachten, welche die neu sich herausbildenden Möglichkeiten auditiver und audiovisueller Repräsentation von Musik kritisch hinterfragen. Allen diesen Strategien ist gemeinsam, dass sie medientechnisches Gerät als künstlerisches Material in kompositorische Zusammenhänge integrieren. Am Beginn jener für das 20. Jh. so bedeutsamen Entwicklung, die Rolf Großmann »Emanzipation medientechnischen Materials von seiner Funktion authentischer Abbildung« (2004, 95) genannt hat, steht jedoch kein Musiker, vielmehr schlug der bildende Künstler László Moholy-Nagy 1923 vor, »aus dem Grammophon als aus einem Reproduktionsinstrument ein produktives zu schaffen, so, dass auf der Platte ohne vorherige akustische Existenzen durch Einkratzen der dazu nötigen Ritzschriftreihen das akustische Phänomen selbst entsteht« (1923, 104). Kurz nachdem John Cage den nach Amerika emigrierten bildenden Künstler kennengelernt hatte entstand Imaginary Landscape No. 1 (1939). In der Partitur notiert Cage präzise Anweisungen für die Interpreten, die einen Plattenspieler als Instrument zu bedienen haben. Als Schallplatten verwendete Cage Probeaufnahmen mit Sinustönen. Das Heben und Senken der Nadel erzeugt rhythmische Strukturen. In einem 366 späteren Text beschreibt Cage seinen kreativen Umgang mit der Schallplatte gemäß den Maximen Moholy-Nagys: »Musik lehrt uns […], daß der Gebrauch der Dinge, falls er sinnvoll sein soll, eine kreative Handlung ist. Deshalb ist die einzige lebendige Sache, die mit einer Schallplatte geschehen kann, daß man sie auf eine Weise gebraucht, die etwas Neues entstehen lässt« (Cage 1972, zit. nach Zeller 1990, 115). 1941 bot Moholy-Nagy Cage einen Lehrauftrag an der School of Design in Chicago an (Saletnik 2012, 66). Auch in Europa waren bereits in den 1920er Jahren mediale Strategien zu beobachten, welche die Reproduktionsmedien in klangproduktiver Absicht verwendeten. So schlägt Paul Hindemith bereits 1927 vor, Filme vom Reproduktionsklavier mit eigens komponierter Musik begleiten zu lassen und beschreibt damit eine Medienkombination, in der das Reproduktionsklavier medienspezifisch und klanggenerierend eingesetzt wird: »Da nun doch einmal Musik zum Film gemacht werden muß […], warum dann nicht eine ebenfalls [wie der Film, M.S.] mechanisch wiedergegebene? Und warum nicht eine Musik, die mit dem Film zusammen ein organisches Kunstwerk darstellt, da sie mit ihm zusammen entworfen und ausgeführt wurde?« (Hindemith 1927/94, 24). Mit Hindemiths Trickaufnahmen (1930) erklangen schließlich die ersten Kompositionen überhaupt, die medientechnisches Gerät nicht zur Reproduktion, sondern zur Produktion von Klängen verwendeten (Elste 1996; Saxer 2012). In mühevoller Kleinarbeit – anhand von Prozeduren wie Einkopieren, Mischen, Überblenden, Tonhöhenveränderungen und Änderungen der Laufgeschwindigkeit  – hatte Hindemith die kleinen Stücke produziert, die er selbst als Spielereien betrachtete. Auch wenn der künstlerische Anspruch dieser Arbeiten gering ist, markieren sie doch musikhistorisch den Beginn einer klangproduktiven Verwendung medientechnischen Materials. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s verzweigen sich die Entwicklungen. Zum einen entstehen ausschließlich elektroakustisch erzeugte Musikformen, wie die von Pierre Schaeffer geschaffene musique concrète, in der mit dem Mikrophon aufgenommene Alltagsklänge nach musikalischen Prinzipien montiert und collagiert werden (Ä Elektronische Musik, 2.) sowie die deutsche Spielart elektronischer Musik, die eher von der Analyse physikalischer Klangeigenschaften ausging (Ungeheuer 1992, 2002). Diese künstlerischen Neuansätze gingen mit zahlreichen Gründungen elektronischer Studios einher (Ungeheuer 2002, 36–65; Ä Institutionen / Organisationen). Karlheinz Stockhausens im WDR-Studio produziertes und 1956 in Köln uraufgeführtes Stück Gesang der Jünglinge (1955–56) schuf erstmals eine Synthese von elektroakustisch erzeugten Klängen mit der menschlichen Ä Stimme. 367 In den 1960er Jahren entwickelte John Cage Multimedia-Aufführungen, die durch den »synchronen wie diachronen Einsatz verschiedener Zeichensysteme, Medien und Materialien« (Kolesch 2002, 237) charakterisiert waren. Bei der Uraufführung von HPSCHD (1967–69) in der University of Illinois Assembly Hall am 16. 5. 1969 konnten sich tausende von Besuchern fünf Stunden lang frei zwischen den sieben im Raum verteilten Cembali, den 51 erklingenden Tonbändern sowie acht Film- und 80 Diaprojektoren bewegen. In den 1970er Jahren entwickelten sich daneben neue kompositorische Möglichkeiten mittels Live-Elektronik, die vorwiegend im Sinn einer Ausweitung des traditionellen Instrumentalklangs verwendet werden. Zu den frühen live-elektronischen Stücken gehört Karlheinz Stockhausens Mikrophonie I für Tamtam, zwei Mikrophone und zwei Filter (1964). Stockhausens Mantra für zwei Pianisten mit Holzblöcken, cymbales antiques, Sinustongeneratoren und Ringmodulatoren (1970), das 1970 in Donaueschingen uraufgeführt wurde, gab einen wesentlichen Impuls zur Gründung des Freiburger Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-Stiftung im Jahr 1972, dessen Leiter Hans Peter Haller wurde. Pierre Boulez verwendet ebenfalls in einigen Stücken der 1970er Jahre Live-Elektronik, z. B. in den vielen Versionen und Umarbeitungen von …explosante-fixe… (1971–74) bis zum Jahr 1991. Daneben wurden seit Stockhausens Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958–60) häufig Kompositionen mit Tonbandzuspielung vorgelegt. Beide Medienformate gehören zusammen und ergänzen sich: Der Einsatz der Live-Elektronik ist nur dann sinnfällig, wenn der Bezug der elektronischen Klänge zum Instrument (oder zur ursprünglichen Klangquelle) hörend nachvollziehbar bleibt. Fehlt dieser, könnte ebenso gut ein vorproduziertes Zuspiel eingesetzt werden. Live-Elektronik spielt sich demnach zwischen den Polen des unveränderten Instrumentalklanges und der ggf. stark abweichenden Klanglichkeit eines Zuspiels ab (Croft 2007). Auch medienreflexive Experimente der ersten Jahrhunderthälfte erfahren eine Fortsetzung. Innerhalb dieser Entwicklungen sind zwei unterschiedliche Stränge zu verfolgen. Im ersten, experimentellen Strang rückt die Wahrnehmung der Differenz, die sich aus medialen Übersetzungsprozessen ergibt, zum zentralen künstlerischen Anliegen auf. Dies kann im Vergleich zwischen unterschiedlichen medialen Zuständen geschehen, wie z. B. in Alvin Luciers I Am Sitting in a Room for voice and electromagnetic tape (1969), dem Initialwerk dieser Form medientechnisch emanzipierter Komposition. Lucier benutzt hier seine Stimme als ein »physikalisches Phänomen«. Eine Bandaufnahme, auf der er den Prozess des Stückes Medien beschreibt, wird immer wieder abgespielt und neu aufgenommen und allmählich verschwindet der klangliche Eindruck von Sprache. Das Klanggeschehen wird allein durch den medialen Übertragungsprozess erzeugt bzw. modifiziert. Mediale Differenz kann jedoch auch erfasst werden, wenn die verschiedenen Zustände klanglicher Transformation simultan erklingen. In Peter Ablingers Das Orchester für CD und Orchester, dem »2. Akt« seiner im Jahr 2005 im Rahmen des Steirischen Herbst in Graz realisierten Stadtoper, handelt es sich um eine Reihe von Klangtableaus und Intermezzi, in denen jeweils charakteristische Klangaufnahmen von Geräuschen und Stimmen unterschiedlichster Art aus dem Stadtraum Graz mit einer »fotorealistischen« orchestralen Textur überblendet sind, die live im Konzertsaal dargeboten wird. Die Orchesterpartitur gewinnt Ablinger mithilfe eines mehrstufigen Frequenzfilterprozesses, wobei er versucht, eine orchestrale Abbildung des aufgenommen Klangereignisses zu erzielen (Saxer 2010). In dem Stück werden die medialen »Sprachen« der übereinander geblendeten unterschiedlichen Medien zum Wahrnehmungsgegenstand. Wenn Ablinger so die Wahrnehmung medialer Differenz in den Mittelpunkt stellt, verwendet er typische Strategien der Intermedialität, die »Darstellungsform und Wahrnehmungsmuster eines Mediums in einem anderen Medium reflektier[en], transformier[en] oder auch konnotier[en]« (Kolesch 2002, 237). Ein zweiter Strang medienreflexiven Komponierens bindet mediale Strategien stärker in kompositorische Kontexte ein. So gehört etwa die Darbietung in verschiedenen medialen Formaten bindend zur Konzeption von Nicolaus A. Hubers Orchesterstück To »Marilyn Six Pack« (1995), das 1996 in Donaueschingen uraufgeführt wurde. Annesley Black entfaltet in 4238 De Bullion für Klavier solo und live-elektronische Klang- und Videobearbeitung (2007–08) ein Verwirrspiel zwischen LivePerformance und Live-Video bzw. Live-Elektronik. Auch bei dieser Arbeit ist die Wahrnehmung der medialen Differenz zwischen Live-Spiel und Video-Klang-Projektion Konstituens der ästhetischen Erfahrung, zu der jedoch die dicht auskomponierte musikalische Struktur hinzukommt (Saxer 2011). In Simon Steen-Andersens Self-Reflection für variable Besetzungen (2005) musizieren die live agierenden Interpreten mit per Video zugespielten Partnern. In dieser Arbeit überwiegt die Wahrnehmung der komponierten Struktur, die durch die mediale Differenz des täuschend echten Videozuspiels lediglich irritiert wird. All diesen medienreflexiven Kompositionen ist gemeinsam, dass ihr jeweils spezifisches mediales Setting zum integralen Bestandteil der Komposition geworden ist. War zu Beginn des 20. Jh.s die instrumentale Besetzung in den 368 Melodie Ensemblekompositionen zum kompositorischen Parameter aufgerückt, so lässt sich zu Beginn des 21. Jh.s die jeweils singuläre Form der Kombination von menschlichen Interpreten und technischem Gerät als Ausweitung dieser Entwicklung beobachten. Viele dieser Stücke sind von der Konzeption her audiovisuell und beziehen Momente des Sichtbaren mit ein. Paradoxerweise lassen sich diese Mediengemische, gerade weil sie Live-Spiel und reproduzierte bzw. technisch modifizierte Klänge und Spielaktionen einander gegenüberstellen, in den gängigen Reproduktionsmedien nur unzureichend abbilden (Saxer 2009). Auf die neue Situation medienintegrativen Komponierens reagiert die musikalische Ä Analyse mit neuen Ansätzen (Ungeheuer 2010). Ä Themen-Beiträge 5, 6; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik, Film / Video; Intermedialität, Neue Musik und bildende Kunst Cage, John: Conversations with John Cage, Christian Wolff – Hans G Helms, Beilage zur Schallplattenkassette Music before Revolution, EMI 1972 „ Croft, John: Theses on Liveness, in: Organised Sound 12/1 (2007), 59–66 „ Drees, Stefan: Zwischen Dokumentation und Vermittlung. Kritische Bemerkungen zu einem Genre der Musik-DVD, in: NZfM 171/2 (2010), 42–45 „ Elste, Martin: Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke« im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jh., in: Hindemith-Jahrbuch 25 (1996), 195–221 „ Großmann, Rolf: Signal, Material, Sampling, in: Übertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, hrsg. v. Sabine Sanio und Christian Scheib, Bielefeld 2004, 91–110 „ Groys, Boris: Unter Verdacht. 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Pierre Boulez beklagt 1952 die Verwechselung von Reihe und Thema bei Arnold Schönberg und das Beharren auf dem Schema der begleiteten Melodie (1952/79, 293 f.) und weist jedes Thema als »Anekdote« ab (1954/72, 55). Verfechter traditioneller Ansätze bestehen im Gegenzug auf der notwendigen Präsenz von Melodie; so spricht Ernest Ansermet in seiner Polemik gegen die Ä Zwölftontechnik (Ä Rezeption) auch von der Musik als »melodischer Sprache« und der Melodie als »Gabe« (1961, 450 f.). Aber auch Olivier Messiaen hat seine eigene Ästhetik 1944 ähnlich beschrieben: »Im Bewusstsein, dass die Musik eine Sprache ist, werden wir 369 Melodie Abb. 1: Pierre Boulez, Pli selon pli, I. Don, T. 2, Sopran (© 1976 by Universal Edition, Wien) zuerst danach trachten, die Melodie ›sprechen‹ zu lassen. Die Melodie ist der Ausgangspunkt. Sie soll souverän bleiben! [U]nd wie komplex auch immer unsere Rhythmen und Harmonien sein mögen, sie werden sie nicht in ihrem Kielwasser mit fortziehen, sondern ihr im Gegenteil wie treue Diener gehorchen; vor allem die Harmonie wird immer die ›richtige‹ bleiben, jene, die in der Melodie latent vorhanden und seit jeher aus ihr hervorgegangen ist« (1944/66, 10). Dieses nicht nur im französischen Diskurs seit Jean-Jacques Rousseaus Plädoyer immer wieder verteidigte Primat des Melodischen (Berger 1995) ist bei Messiaen modellorientiert: Er leitet seine Melodien nicht von den Merkmalen seiner Modi ab, sondern von melodischen Modellen der europäischen Musikgeschichte (Gregorianik, Volkslieder, Edvard Grieg, Claude Debussy, vgl. 1944/1966, Kap. 8) sowie von außereuropäischen Modellen (Messiaen 1996, 121–130, 165 f.), deren Konturen leicht abgeändert werden. Die Reflexion im Bereich der Musikwissenschaft konzentriert sich weitgehend auf tonale (oder außereuropäische) Melodiebildung (Smits van Waesberghe 1954; Szabolcsi 1965); Diether de la Motte kommentiert hingegen Melodien von Messiaen und György Ligeti (1993, 340–348). Auch Lexikon-Artikel zur Melodie gehen selten über Schönberg hinaus; Carl Dahlhaus, der Messiaen streift, spricht bezüglich der neuen Musik allgemein von »eine[r] prinzipielle[n] 12-Stufigkeit; der Gebrauch eines geringeren Tonvorrats erscheint als einschränkende Stilisierung« (1949–86, 53). Der strukturalistische Ansatz lässt die »paradigmatische« Darstellung von Melodie aufkommen, in der einander entsprechende Abschnitte eines melodischen Verlaufs untereinandergeschrieben werden (Ruwet 1965/72; Nattiez 1980) und tritt neben die seltenere Darstellung melodischer Konturbewegungen durch Kurven (Schönberg 1967/79, 51 [Text], 71–73 [Notenbeispiele]; Utz 2012). Auch melodische Konturen wurden in der Folge der set theory auch im Sinne von »contour relations« strukturalistisch beschrieben (Morris 1993; vgl. Utz 2012, 62–67). Auch die äußerst umfangreiche musikpsychologische Literatur, deren Spektrum von gestaltpsychologischen oder psychoakustischen bis zu kognitiven Ansätzen reicht, geht zumeist nicht über modale oder tonale melodische Formen hinaus (etwa Leonard B. Meyers »Expectation-Realization«-Modell, Meyer 1973; Narmour 1990; Krumhansl 1991; Winkelhaus 2004). 2. Melodiebehandlung in der Musik seit 1945 Die Praxis der Melodiebehandlung nimmt sich differenzierter und reichhaltiger aus als es die Diskurse zur neuen Musik vermuten lassen. Messiaen hält durchgehend am Primat der Melodie fest, etwa in der langen Fis-DurVokalise im sechsten Satz der Turangalîla-Symphonie für Solo-Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester (1946–48) und noch in den »mélodies d ’ accords« (erster und neunter Satz) von Éclairs sur l’Au-delà für Orchester (1991). Der Übernahme von traditionellen Typen der Vokalmusik (Psalmodie, Hymnus, Choral, Arabeske etc.) stehen als Gegenpol Vogelgesänge in der Funktion dissonanter Einwürfe oder begleitender Motive gegenüber. Auch bei Boulez tauchen fest umrissene melodische Objekte auf. In Bourreaux de solitude (Le marteau sans maître, 1952–55, sechster Satz) wird der kantable Charakter von Stimme, Altflöte und Bratsche unterstrichen, wobei die melodischen Phrasen dreieckförmig (um einen Höhepunkt oder Tiefpunkt herum) angelegt sind. Das Motto von Don aus Pli selon pli für Sopran und Orchester (1957–62, erster Satz, Abb. 1) ist eine ausgewogene Melodie, in zwei markierte Abschnitte aufgeteilt, auf sangbare Intervalle reduziert und symmetrisch angelegt (cis2 an Anfang und Ende). Karlheinz Stockhausens Abwendung von einem punktuellen Duktus vollzog sich parallel zur Verwerfung von Variation oder Durchführung, die laut Stockhausen den Blick durch Erwartung des Kommenden ablenken von dem was ist, während »der ordnende Geist […] bei dem einzelnen Ton [ansetzt]« (1952/63, 20). In der »elektronischen und konkreten Musik« Hymnen (1966–67) tauchen Melodien nur »in flüchtigen Collagen und pluralistischen Mixturen« (Stockhausen 1969/71, 97) auf, während Inori, Anbetungen für 1 oder 2 Solisten und großes Orchester (1973–74) auf einer »Formel« beruht, die u. a. auch als reine Monodie gelesen wird. Auch die Formel von In Freundschaft (1977) besteht aus drei Schichten, deren untere und obere als »Melodie« bezeichnet werden und im siebten Zyklus dann »zu einer fließenden Melodie zusammengeschoben [werden]« (Stockhausen 1980/89, 688). Melodie Der singende Charakter von Luigi Nonos Musik, als Gegenpol zu Schrei und Parole, ist oft hervorgehoben worden (Toro-Pérez 2011). Beispiele bieten etwa die Klarinettenpassagen von Polifonica – Monodia – Ritmica für sechs Instrumente und Schlagzeug (1950–51), die Due Espressioni per orchestra, I (1953), als lyrische Überhöhung von Anton Weberns Melodik, oder die Idee eines »suspendierten« Singens in Il canto sospeso für Sopran-, Altund Tenor-Solo, gemischten Chor und Orchester (1955– 56). Der Einzelton wird (im Gegensatz zu Stockhausen) als gestauchte Melodie betrachtet: »Oft ist bei Webern ein einzelner Ton wie eine ganze Melodie bei Schubert. Die Qualität dieses Tones, die Art des Einsetzens, des Entfaltens und des Ausklingens enthalten in konzentriertester Verdichtung einen ganzen melodischen Bogen« (Nono in Nanni / Schmusch 1987/2004, 24). Der vom vokalen her gedachte Charakter taucht auch in der späten Instrumentalmusik Nonos auf: La lontananza nostalgica utopica futura für Violine und acht Tonbänder (1988–89) trägt den Untertitel »Madrigal«. Bruno Madernas Composizione N. 2 für Orchester (1950) beginnt mit dem Zitat des einzigen erhaltenen antiken Melodiefragments (Seikilos-Epitaph) und steht am Anfang einer langen Beschäftigung Madernas mit Melos (Aria für Sopran, Flöte und Orchester, 1964, Grande Aulodia für Flöte, Oboe und Orchester, 1970). Die Zwölftonmusik, der wohl die größte Quantität der Musik in der Jahrhundertmitte zuzurechnen ist, behält den Parameter Melodie weitgehend bei, und Melodik wird auch in Anleitungen zur Komposition separat behandelt (»a great deal of excellent twelve-tone music has been written using melody which retains […] certain traditional melodic principles. The student can follow the same path«, Smith Brindle 1966/86, 23). Reihen werden häufig im Sinne Schönbergs als Thema oder begleitete Melodie verstanden, etwa bei Nikos Skalkottas, Aaron Copland (Klavierquartett, 1950, vgl. Taruskin 2010, 109–113), Luigi Dallapiccola, Camillo Togni oder Hans Werner Henze, der später die Grundreihe seiner »Geschichte für Sänger und Instrumentalisten« Die Englische Katze (1980–83) so zusammensetzt, dass den Affekten der Intervalle im Sinne des Barock Rechnung getragen wird (Henze 1983, 95). Bei Komponisten, die zwischen Zwölftonmusik und Tonalität schwanken, bleibt die Melodie meist fester Bestandteil des Stils, so bei Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch (volksliedhafte, oft parodistisch eingesetzte Melodie, Zitate orthodoxer Liturgieformeln, etwa in der Fünften Sinfonie, 1937, dritter Satz,). Auch politisch engagierte Musik umgeht das Melodie-Tabu in verschiedenen Formen (Ä Collage, Übernahme rhythmischer Muster, Variation), so in Frederic Rzewskis The People United Will Never Be Defeated! für Klavier (1975) oder Nicolaus A. Hubers 370 Gespenster für großes Orchester, Sänger / Sprecher und Tonband (1976). Leonard Bernstein thematisiert in seinem Musiktheater Mass (1971) die Konkurrenz zur U-Musik: Kurz nach dem Beginn wird ein Tonband mit Zwölftonmusik ausgeschaltet und von einem Gitarrenlied zu den Worten »Sing God a simple song« abgelöst. Wenn man die Melodie allgemein als das Element betrachtet, das sich dem Hörer zuwendet (Melodie als »Gesicht«, vgl. Rzewski 2007, 201), so wird verständlich, dass in der Ä Avantgarde Melos durch Sprachkompositionen ersetzt werden konnte (Ä Sprache / Sprachkomposition): Die Verwendung von Silben, Worten, Vokalität insgesamt übernimmt die pragmatische Funktion der Melodie. Zu György Ligetis Nouvelles Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1962–65) bemerkt Albrecht von Massow, dass die »horizontale Syntax sich als quasi sprachähnliche Lautform verwirklichen soll«, wobei er Melodie allgemein mithilfe eines »gemeinsamen Bedeutungskern[s]« definiert, »der sich – mit den Implikationen Zeit, Linearität, Sukzession und Sprachtonfall bzw. Stimme – im historischen Wandel nicht wesentlich verändert« (2007, 141). Die Werke Luciano Berios liefern ein gutes Beispiel für dieses Spektrum der Vokalität: Sequenza III für Stimme (1966) als verfremdete Arie, Folk Songs für Mezzosopran und sieben Spieler (1964) als Arrangement von Volksliedern, Cries of London für acht Stimmen (1975) als Melodram, das eine Beschäftigung mit Linearität verrät und eine neue melodische Eindringlichkeit erzeugt, Linea, Sequenza VII für Oboe (1969) mit einem zugespielten Halteton als Quasi-Tonika oder Rezitationston, deutliche Wiederholungen von Figuren in Sequenza IXa für Klarinette (1980) und in Sequenza X für Trompete mit Klavierresonanz (1984)  – der Tritonus ist hier das gespannteste melodische Intervall, während die Septimen und Nonen abnehmen und Terzen und Sekunden vorherrschen (Abb. 2). Der Untertitel von Sequenza XIII (1995) für Akkordeon lautet »Chanson«. Die Tradition der (ggf. instrumental realisierten) Sprechmelodien (ggf. orientiert am Vorbild Leoš Janáček) zieht sich durch das ganze Jahrhundert, etwa in Harry Partchs Bitter Music (1929/35), Clarence Barlows Im Januar am Nil für Kammerensemble (1981–84), Jonathan Harveys Speakings für großes Orchester und Live-Elektronik (2007–08) oder Peter Ablingers Voices and Piano (1998–2009) (Ä Medien). Die Tradition der Monodie, wie sie in der 1920er Jahren gepflegt worden war, lebt weiter in der von John Cage initiierten 18-stündigen Aufführug von Erik Saties Klavierstück Vexations (1893) am 9. 9. 1963, oder in Rzewskis für sein Ensemble Musica Elettronica Viva erstelltes Improvisationskonzept Les Moutons de Panurge (1969), das auf einer 65-tönigen Melodie beruht. Die 371 Abb. 2: Luciano Berio, Sequenza X für Trompete mit Klavierresonanz, S. 9 (© 1984 by Universal Edition, Wien) Melodie 372 Melodie Arbeit mit Melodien als objet trouvé oder als Modell, das umgestellt, zerschnitten oder mit neuen Tonhöhen ausgefüllt wird, findet sich in Cages Cheap Imitation für Klavier (1969) und im »musicircus« Apartment House 1776 (1976). Andere Komponisten versuchen, eine abstrakte Gesanglichkeit zu erreichen, wie Brian Ferneyhough in Cassandra ’ s Dream Song für Flöte solo (1970) oder Helmut Lachenmann durch die (allerdings unhörbare) Verwendung von Liedern als rhythmische Raster (»O du lieber Augustin« in Mouvement  (– vor der Erstarrung) für Ensemble, 1982–84). Diese Neudefinitionen treten zunehmend nach einem Wendepunkt auf, den man auf die mittleren 1970er Jahre ansetzen kann: Das Verlangen nach Kontinuität und Linearität breitet sich, vor allem als Reaktion auf die serielle Musik, in verschiedenster Weise aus, so in Stockhausens Formel-Kompositionen, in Ligetis Melodien für Orchester (1971), bei Claude Vivier (Pièce pour flûte et piano, 1975; Siddharta für Orchester, 1976), Nicolaus A. Huber (Morgenlied für großes Orchester, 1980), Hans Abrahamsen (Lied in Fall für Violoncello und Kammerensemble, 1987) sowie im amerikanischen Ä Minimalismus: Terry Rileys In C (1964) ist eine Improvisationsvorlage über kurze melodische Floskeln mit tonalen, pentatonischen und blues-artigen Wendungen. Sowohl Nonos Auffassung von »Melodie als lineare[r] Klangentwicklung« (Toro-Pérez 2011, 7) als auch Giacinto Scelsis Darstellung des vibrierenden Klangs (Ä ThemenBeitrag 3, 2.1), der in Monodien übergeht, werden ein Bezugspunkt für die Ä Spektralmusik der 1980er Jahre (Tristan Murail, Gérard Grisey), die den Klang auseinanderzieht und aus ihm Prozesse herauslöst: Periodizität wird zu einer neuen Form von Melos, das bei Grisey im Anschluss an Scelsi auf das Ein- und Ausatmen bezogen wird. Grisey letztes Werk Quatre chants pour franchir le seuil für Sopran und 15 Instrumente (1996–98) zeigt eine Wende zu traditionellerer Melodiebehandlung. Für diese Wende bezeichnend ist auch Boulez ’ Revision von Le visage nuptial für Sopran, Alt, Frauenchor und Orchester (1951–52) in den Jahren 1986–89, in der melodische Linien stärker hervortreten und zum Teil gesanglicher gestaltet werden. Bei dem Post-Spektralisten Fausto Romitelli (EnTrance für Sopran, Ensemble und Elektronik, 1996) sind klar umrissene melodische Linien pyramidenförmig aufgebaut oder übernehmen den Typus der ostinat auf gewisse Tonhöhen zurückkehrenden Melodie in der Tradition von Igor Strawinsky und Edgard Varèse (Kaltenecker 2015). Seit den 1980er Jahren scheint sich ein entspanntes Verhältnis der Komponisten zur Melodie abzuzeichnen, ohne dass auf klassizistische Modelle zurückgegriffen werden muss (wie dies in einem Großteil der englischen Musik der Fall ist, etwa bei Matthew Arnold, Michael Tippett, Lennox Berkeley oder David Matthews). Wolfgang Rihms vielgestaltige Melodik (Kaltenecker i.V.) umfasst u. a. die Werkgruppe Über die Linie I–VII für verschiedene Besetzungen (1999–2015); Pascal Dusapin schreibt von modalen Wendungen inspirierte Melodien, die immer auf hervorgehobene Tonhöhen (etwa zu Beginn einer Phrase) zurückkehren (in der Oper Faustus, the last night, 2006, sind dies d und cis für den Protagonisten), Enno Poppe arbeitet mit linearen Streckungen (Knochen für Ensemble, 1999–2000, Speicher für großes Ensemble, 2008–13), in anderen Werken tauchen Melodien als poetische Fragmente auf (Salvatore Sciarrino, Lohengrin. Azione invisibile, 1982–83/84, Gérard Pesson, Cinq poèmes de Sandro Penna für Bariton und Klavier, 1992, Johannes Schöllhorn, Kazabana für Ensemble, 1998, dritter Satz). Die kürzlich vom Ensemble Recherche bei 30 Komponisten in Auftrag gegebene Anthologie instrumentaler »Liebeslieder« (Einspielung bei Wergo, 2014) versinnbildlicht dieses neue Verhältnis zum Melos auf breiter Basis. Ä Harmonik / Polyphonie; Kompositionstechniken; Material; Serielle Musik Ansermet, Ernest: Les fondements de la musique dans la conscience humaine, Neuchâtel 1961 „ Berger, Christian: »Harmonie« und »mélodie«. Eine musikästhetische Kontroverse im Frankreich des 18. Jh.s und ihre Auswirkungen auf das Komponieren im 19. Jh., in: Festschrift Klaus Hortschansky zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Axel Beer und Laurenz Lütteken, Tutzing 1995, 275–288 „ Boulez, Pierre: Schönberg ist tot [1952], in: Anhaltspunkte. Essays [1975], hrsg. v. Josef Häusler, Kassel 1979, 288–296 „ ders.: Einsichten, Aussichten [1954], in: WerkstattTexte, hrsg. v. Josef Häusler, Frankfurt a. M. 1972, 53–57 „ Dahlhaus, Carl / Hüschen, Heinrich: Melodie, in: MGG, Bd. 9 (1961), 36–55 „ Henze, Hans Werner: Die Englische Katze. Ein Arbeits-Tagebuch, Frankfurt a. M. 1983 „ Kaltenecker, Martin: À propos de l ’ écriture mélodique dans EnTrance de Fausto Romitelli, in: Anamorphoses. Etudes sur l ’ œuvre de Fausto Romitelli, hrsg. v. Alessandro Arbo, Paris 2015, 127–149 „ ders.: Vom Schlag zur Linie. Wolfgang Rihm und die Melodie, in: Klangbeschreibung. Zur Interpretation der Musik Wolfgang Rihms, hrsg. v. Thomas Seedorf, Sinzig i.V. „ Krumhansl, Carol L.: Melodic Structure: Theoretical and Empirical Descriptions, in: Music, Language, Speech, and Brain. Proceedings of an International Symposium at the Wenner-Gren Center, Stockholm, 5–8 September 1990, hrsg. v. Johan Sundberg und Lennart Nord, Basingstoke 1991, 269–283 „ La Motte, Diether de: Melodie. Ein Lese- und Arbeitsbuch, Kassel 1993 „ Massow, Albrecht von: Ästhetik und Analyse, in: Musikalischer Sinn, hrsg. v. Alexander Becker und Mathias Vogel, Frankfurt a. M. 2007, 129–174 „ Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache [1944], Paris 1966 „ ders.: Traité de rythme, de couleur, et d ’ ornithologie, Bd. 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Zur Bestimmung des Melodischen in der elektronischen Musik von Luigi Nono, in: Dissonance 114 (2011), 6–13 „ Utz, Christian: Struktur und Wahrnehmung. Gestalt, Kontur, Figur und Geste in Analysen der Musik des 20. Jh.s, in: Musik & Ästhetik 64, 16/4 (2012), 53– 80 „ Winkelhaus, Elke: Zur kognitionspsychologischen Begründung einer systematischen Melodielehre, Frankfurt a. M. 2004 Martin Kaltenecker Metrum Ä Rhythmus / Metrum / Tempo Mikrotonalität Ä Themen-Beitrag 7; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie Minimalismus / Minimal Music Inhalt: 1. Allgemeines „ 2. Amerikanischer Minimalismus „ 3. Postminimalismus  „ 4. Charakteristik, Techniken und Definitionsversuche  „ 5. »Europäischer Minimalismus« und parallele Entwicklungen „ 6. Rezeption Die Begriffe (musikalischer) Minimalismus (minimalism), minimalistische Musik (minimalist music) und Minimal Music bezeichnen meist Musik, Stil, Ästhetik und / oder Kompositionstechnik einer Ä Avantgarde der 1960er bis 1970er Jahre an der amerikanischen Westküste sowie in New York. Minimalistische Musik ist heute wohl die populärste und kommerziell erfolgreichste Musik, die jemals mit der Bezeichnung »Avantgarde« versehen wurde; zu- gleich ist sie jedoch auch stark umstritten und wurde im akademischen und publizistischen Bereich vielfach kritisiert (vgl. 6.). Der Begriffsgebrauch ist ambivalent und kann sich u. a. auf folgende Phänomene beziehen: (1) im engeren Sinne auf die Musik der vier Hauptvertreter La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass, oft im Sinne einer stilistischen Epoche zwischen 1960 und 1980 (vgl. 2.); (2) im weiteren Sinne auf Musik mit minimalistischen Tendenzen im Allgemeinen sowie auf die (post-) minimalistischen Nachfolger der vier Hauptvertreter im Speziellen (vgl. 3., 5.); (3) auf die unterschiedlichen mit minimalistischer oder postminimalistischer Musik einhergehenden Kompositionstechniken, Stilmerkmale oder Ästhetiken (vgl. 4.). 1. Allgemeines Der Begriff »Minimal Music« begegnet zuerst in Michael Nymans Rezension Minimal Music (1968) und ist vermutlich an den im Bereich der bildenden Künste gängigen Begriff Minimal Art angelehnt. Im anglophonen Sprachraum ist der Begriff minimal music heute wenig gebräuchlich und wurde fast vollständig von den allgemeineren Begriffen minimalism und minimalist music abgelöst (Potter 2001; Taruskin 2005/10; Potter u. a. 2013), was zum Teil mit der in den letzten Jahren immer stärker zunehmenden Bedeutung der Begriffspaare minimalism / postminimalism bzw. mininimalist music / postminimalist music zusammenhängen mag. Im deutschen Sprachgebrauch ist dagegen der Begriff »Minimal Music« immer noch weit verbreitet, wenngleich auch hier bereits erste Tendenzen zugunsten der Begriffe (Post-)Minimalismus bzw. (post-) minimalistische Musik zu beobachten sind (z. B. argumentiert Linke 1997, 106: »Musik an sich kann nicht minimal sein […], wohl dagegen […] minimalistisch.«). Die größere Popularität des Begriffes »Minimal Music« im deutschen Sprachraum mag dadurch begünstigt worden sein, dass das erste Buch über minimalistische Musik, Wim Mertens’ Amerikaanse repetitieve muziek (1980), vom Niederländischen ins Englische als American Minimal Music (1983) übersetzt wurde; mehrere deutschsprachige Publikationen behielten diesen Begriff bei (u. a. Lovisa 1996; Götte 2000). Ursprünglich bezeichnete der Begriff ein genuin US-amerikanisches Phänomen, jedoch wird in den letzten Jahren zunehmend auch zwischen »amerikanischem Minimalismus« und »europäischem Minimalismus« (als weitgehend unabhängige Parallelentwicklung oder als am amerikanischen Vorbild orientierte Strömung) unterschieden (vgl. 5.). Weitere Begriffe, die zum Teil synonym gebraucht wurden oder in unterschiedlicher Weise Teilaspekte minimalistischer Musik bzw. der damit einhergehenden Ästhetik, Stilistik, Kompositionstechnik oder Re- Minimalismus / Minimal Music zeption akzentuieren, sind u. a. repetitive, pattern, process, pulse, modular, systems, solid state, structuralist, hypnotic, meditative oder trance music (Misch 2000, 13–15; Grünzweig 1997; Warburton 1988). 2. Amerikanischer Minimalismus Die Entwicklung minimalistischer Musik lässt sich auf die Subkultur der amerikanischen Westküste zu Beginn der 1960er Jahre, insbesondere im Zusammenhang mit dem 1962 von Morton Subotnick (*1933) und Ramon Sender (*1934) gegründeten San Francisco Tape Music Center (Bernstein 2008), sowie etwas später auf die Kunstszene in Manhattan, New York, zurückführen und stand in engem Zusammenhang mit anderen künstlerischen Strömungen dieser Zeit, insbesondere Minimal Art, Fluxus, Happening und Konzeptkunst (Ä Neue Musik und bildende Kunst; Ä Konzeptuelle Musik; Ä Performance). Die Entstehung dieses ursprünglichen Minimalismus wird meist als Gegenbewegung zur Ä seriellen Musik der europäischen Avantgarde einerseits sowie zur Zufallskomposition und Ästhetik der Unbestimmtheit John Cages (Ä Zufall) andererseits interpretiert. Jedoch gibt es auch Fälle, bei denen von einer Beeinflussung der Minimalisten durch u. a. Anton Webern, Karlheinz Stockhausen oder John Cage gesprochen werden kann. Eine derartige Beeinflussung liegt insbesondere bei La Monte Young (*1935) vor, der 1959 Cages Musik bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt kennen lernte und dort ein Seminar bei Stockhausen besuchte (Kostelanetz / Young 1966/69, 28). Weitere wesentliche Einflüsse bei Young kamen von der japanischen Hofmusik gagaku und den Bordunklängen nordindischer Hindustani-Musik (Welch 1999; Brown 2010). Sein noch im ersten Semester während des Kompositionsstudiums an der Berkeley Universität (1958–60) komponiertes Trio for Strings (1958) wird oft als erstes minimalistisches Werk angesehen, ist dabei aber auch stark von der Zwölftontechnik in Weberns Streichtrio op.  20 beeinflusst. Ein der Konzeptkunst nahestehendes Pionierwerk Youngs ist Composition 1960 7 (1960), das einzig aus der Quinte hfis1 mit der Anweisung »to be held for a long time« besteht. Charakteristisch sind für Young u. a. lang ausgehaltene Töne, ungewöhnlich lange Stücke, Ä Improvisation sowie sein Bestreben, Werke als singuläre Klangereignisse aufzufassen, wobei er zunehmend auch Bereiche bzw. Intervalle der reinen Stimmung erkundete (Ä Themen-Beitrag 8): »I was perhaps the first to concentrate on and delimit the work to be a single event or object in these less traditionally musical areas« (Kostelanetz / Young 1966/69, 7). Youngs Musik hatte u. a. großen Einfluss auf die Rockband Velvet Underground, deren Mitglieder zum Teil aus 374 seinem 1962 gründeten Theatre of Eternal Music hervorgingen. Ein weiteres minimalistisches Pionierwerk ist Terry Rileys (*1935) In C für beliebige Instrumente (1964). Riley, der mit Young in Berkeley studiert und teilweise als Musiker im Theatre of Eternal Music mitgewirkt hatte, experimentierte 1962 am San Francisco Tape Music Center mit Tonband-Loops (z. B. in Mescalin Mix, 1962–63). In C besteht aus 53 Modulen bzw. Patterns, die harmonischtonal bzw. modal in unterschiedlicher Weise auf den Ton c bezogen sind. Jedes dieser Module kann beliebig oft von einem Instrument wiederholt bzw. »geloopt« werden, bevor es zum nächsten Modul übergeht. Wie Young war auch Riley stark von indischer Musik beeinflusst (er war wie Young Schüler des seit 1970 in den USA lebenden nordindischen Sängers Pandit Pran Nath, 1918–96); aber auch ein Einfluss des javanischen Gamelan wird in der Überlagerung repetitiver Muster von In C deutlich erfahrbar. Auch für Rileys weiteres Schaffen sind PatternRepetition und Looping (die er u. a. als Solokünstler im Overdubbing-Verfahren selbst einspielte), Improvisation und modale bzw. neotonale Tendenzen charakteristisch. An der Uraufführung von In C wirkte ein weiterer der Four Musical Minimalists (Potter 2002) mit: Steve Reich, der zu jener Zeit gerade am San Francisco Tape Music Center arbeitete. Interessanterweise ging ein wesentlicher Aspekt von In C  – der kontinuierlich durchgehende Achtelpuls  – auf eine Idee von Reich zurück, dessen »pulse music« später eines seiner eigenen kompositionstechnischen Markenzeichen werden sollte. Reich experimentierte mit dem sog. »phase shifting« (das auch Riley bereits erkundet hatte), bei dem zwei Tonbänder in leicht abweichender Geschwindigkeit »geloopt« werden, was zu einer Phasenverschiebung führt, welche die Tonbänder in regelmäßigen Abständen in und aus der Phase geraten lässt. Paradigmatisch für diese Technik sind Reichs Tonbandkompositionen It ’ s Gonna Rain (1965) und Come Out (1966); in Piano Phase und Violin Phase (beide 1967) überträgt Reich diese Technik dann auf Instrumentalmusik. Wesentlich war diesen Kompositionen insbesondere der für einen Hörer deutlich wahrnehmbare Prozess der Phasenverschiebung. Reich schrieb 1968 sein vielzitiertes ästhetisches Manifest Music as a Gradual Process, in dem er sich explizit gegen die Musik Cages und der Serialisten wandte: »I am interested in perceptible processes. […] John Cage has used processes […] that could not be heard when the piece was performed. […] Similarly in serial music, the series itself is seldom audible« (Reich 1968/2002, 34 f.). Neben dieser wahrnehmbaren Prozesshaftigkeit und dem erwähnten konstanten Puls gelten für Reichs Musik vergleichbare Charakteristika wie schon bei Riley: Pat- 375 tern-Repetition, Looping, harmonische Statik und Konsonanz; Reichs Musik war zudem stark von seinem Interesse für westafrikanische Musik (Klein 2014, 105–147), balinesisches Gamelan sowie den Ä Jazz geprägt. Allerdings wendet Reich diese Techniken im Gegensatz zu Riley auf eine stärker auskomponierte Musik an. Höhepunkte der frühen Schaffensperiode Reichs sind Drumming für Schlagzeug, Frauenstimmen, Pfeifen und Piccoloflöte (1970–71) sowie Music for Eighteen Musicians für Ensemble und Frauenstimmen (1974–76), die er mit seinem 1966 in New York gegründeten Ensemble Steve Reich and Musicians selbst aufführte (Ä Afrika, 5.). Der letzte Komponist im Bunde der vier Hauptvertreter ist Philip Glass (*1937), dessen persönliche Entwicklung mit jener Reichs vergleichbar ist. Glass, der Reich flüchtig von seiner Ausbildung an der Juilliard School kannte, gründete 1968 das Philip Glass Ensemble. Reich und Glass standen zu dieser Zeit in regem Kontakt und spielten zum Teil mit den Ensembles des jeweils anderen. Als Gegenstück zu Reichs »phase shifting« entwickelte Glass eine Technik der Repetition additiver und subtraktiver rhythmischer Patterns. Zu Glass ’ Einflüssen zählen neben Reichs Musik ebenfalls nordindische HindustaniMusik (er arbeitete mit Ravi Shankar zusammen) und afrikanische Musik; zudem ist Glass ’ Musik von unterschiedlichen Strömungen der Rock- und Popmusik beeinflusst (er arbeitete u. a. mit David Byrne von Talking Heads und Paul Simon zusammen; vgl. Taruskin 2005/10, 391 f., Ä Pop / Rock). Neben Two Pages for Steve Reich für Keyboards (1968; ab 1969, nachdem sich seine Freundschaft zu Steve Reich in eine Rivalität gewandelt hatte, in Two Pages umbenannt) und Music in Twelve Parts für Ensemble (1971–74) ist Glass insbesondere für seine äußerst populären Opern Einstein on the Beach (1975–76, gemeinsam mit Regisseur Robert Wilson entwickelt), Satyagraha (1980) und Akhnaten (1984) sowie seine Filmmusiken (z. B. Koyaanisqatsi, 1982) bekannt geworden. Wie so oft in der Musikgeschichtsschreibung handelt es sich bei der Reduktion des US-amerikanischen Minimalismus auf lediglich diese vier Namen um eine grobe Verallgemeinerung. Tatsächlich bleiben in dieser Darstellung viele Komponistinnen und Komponisten unberücksichtigt, die Wesentliches zur Entwicklung minimalistischer Musik in den USA beitrugen und zum Teil erst in den letzten Jahren wieder verstärkt rezipiert werden, darunter u. a. Richard Maxfield (1927–69), Pauline Oliveros (*1932), Phill Niblock (*1933), Philip Corner (*1933), Harold Budd (*1936), Angus MacLise (1938–79), Tom Johnson (*1939), Terry Jennings (1940–81), Julius Eastman (1940– 90), Tony Conrad (*1940), Jon Gibson (*1940), John Cale (*1942), Meredith Monk (*1942), Barbara Benary (*1946), Minimalismus / Minimal Music Charlemagne Palestine (*1947), Rhys Chatham (*1952) und Arnold Dreyblatt (*1953) (Potter 2001; Potter u. a. 2013). 3. Postminimalismus Ab den 1980er Jahren begann sich allmählich der Begriff Postminimalismus als Bezeichnung für jene Musik durchzusetzen, die entweder unmittelbar aus dem ursprünglichen Minimalismus der 1960er und 70er Jahre hervorgegangen ist oder sich in der einen oder anderen Weise auf diese Musik bezieht. Als postminimalistisch werden insofern meist auch die späteren Werke der ursprünglichen Minimalisten angesehen, die sich zum Teil weit von der Ästhetik der Anfangsjahre entfernen. Charakteristisch für postminimalistische Musik ist eine höhere strukturelle Komplexität, aber auch ein zunehmend neoromantischer bzw. neotonaler, zum Teil auch narrativer Gestus: »Musik [der Postminimalisten] ist in der Regel zu komplex, um sie als minimal music zu bezeichnen: Die kurzfristige Verwendung von repetitiven pattern oder das Wiederaufgreifen von Tonalität ist eben kein verläßliches Kriterium für die Bestimmung von minimalistischer Musik« (Linke 1997, 15). Auch das Adjektiv »accessible« wird gelegentlich gebraucht, um Aspekte postminimalistischer Musik zu beschreiben (z. B. Potter 2001). Weitere Begriffe, die in diesem Zusammenhang gelegentlich angeführt werden und unterschiedliche postminimalistische Tendenzen akzentuieren, sind die Bezeichnungen maximalism (Misch 2000, 18–19; vgl. Schwarz 1996) und totalism (Gann 1998, 2013, 57). Postminimalismus wird daneben oft als Phänomen der Ä »Postmoderne« oder »Posttonalität« bezeichnet (Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität). Ab Mitte der 1970er Jahre, lässt sich bei minimalistischer Musik immer stärker die Tendenz beobachten, dass sie komplexer wird und die schon vorhandene Affinität zu tonalen Elementen und harmonischen Progressionen weiter zunimmt. Die ursprünglichen ästhetischen Vorstellungen des Minimalismus treten dabei immer mehr in den Hintergrund. Anfänge dieser Entwicklung zeichnen sich z. B. schon bei Reichs Komposition Four Organs für vier E-Orgeln und Maracas (1970) ab, bei der die harmonische Struktur an eine ausgedehnte V–I Kadenz in A-Dur erinnert. In dem groß angelegten Stück Music for Eighteen Musicians (1974–76) vereint Reich schließlich alle Techniken, die er bis dahin in vorangegangenen Werken erprobt hatte. Während der rhythmische Aufbau des Werkes an Drumming erinnert, kann die Harmonik als eine Erweiterung der harmonischen Struktur von Four Organs interpretiert werden, basierend auf einer diatonischen, an erweiterte Jazz-Harmonien erinnernde, jedoch nicht funktionale Folge von elf Akkorden, die zu Beginn und Ende des Werkes fast im Sinne einer zyklischen harmoni- Minimalismus / Minimal Music schen Progression auftreten. Die Ästhetik des ursprünglichen Minimalismus ist in diesem wohl durchdachten und komplexen Werk bereits zum Großteil einem üppigen Farbenreichtum gewichen, an die reduktionistische Einfachheit erinnert lediglich das eingeschränkte Material und der formal statische Aufbau des Werkes (Taruskin 2005/10, 383–385; Bernard 2003). In vergleichbarer Weise begann Glass ab Mitte der 1970er Jahre seine Werke immer expliziter harmonisch-tonal aufzubauen, beginnend mit Stücken wie Changing Parts (1970) und Another Look at Harmony (1975–77). Insbesondere Glass ’ spätere Werke wie z. B. »Low« Symphony (1992) oder In the Penal Colony (2000) sind fast durchweg von einer neotonalen Stilistik geprägt und verweisen allenfalls partiell auf die Ursprünge minimalistischer Ästhetik (ebd.). Diese späteren Werke Reichs und Glass ’ bezeichnet Robert Schwarz als »maximalist« (1996, 77, 129). Jonathan Bernard spricht von vier Stadien dieser Entwicklung: »(1) Pieces became more complicated, which soon provoked (2) a greater concern with sonority in itself; as a result, (3) pieces began sounding more explicitly ›harmonic‹, that is, chordally oriented, though not, at this point, necessarily tonal in any sense. Eventually, however, (4) harmony of an ever more tonal (or neotonal, or quasi-tonal) aspect assumed primary control. As this occurred, the hallmark devices of minimalism […] were pushed into the background […]« (2003, 114). Etwa ab derselben Zeit tritt auch die erste Komponistengeneration in Erscheinung, die direkt oder indirekt vom frühen Minimalismus beeinflusst war. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der außerordentlich populäre John Adams (*1947), der gelegentlich als der »fünfte Minimalist« (z. B. Potter u. a. 2013, 2) geführt wird (z. B. seine frühen Werke Phrygian Gates für Klavier, 1977 und Shaker Loops für Streichseptett, 1977–78, sowie seine Oper Nixon in China, 1985–87). Weitere Komponistinnen und Komponisten denen in unterschiedlichem Maße (post-)minimalistische Tendenzen zugeschrieben wurden sind u. a. in den USA: Philip Corner (*1933), Frederic Rzewski (*1938), Meredith Monk (*1942), William Duckworth (1943–2012), Stephen Scott (*1944), Joan La Barbara (*1947), Elliott Sharp (*1951), Michael Gordon (*1956), Aaron Jay Kernis (*1960), Michael Torke (*1961); in England: John White (*1936), Michael Parsons (*1938), Gavin Bryars (*1943), Howard Skempton (*1947), Hugh Shrapnel (*1947), Christopher Hobbs (*1951); in Frankreich: Éliane Radigue (*1932) und Frederic Lagnau (1967–2010); in Ungarn: Zoltán Jeney (*1934) und László Sáry (*1940); in den Niederlanden: Louis Andriessen (*1939) und Diderik Wagenaar (*1946); sowie Karel Goeyvaerts (1923–93, Belgien), Per Nørgård (*1932, Dänemark), Erkki-Sven Tüür (*1959, Estland), Luiz Henrique Yudo (*1962, Brasilien / Nieder- 376 lande), Gordon Monahan (*1956, Kanada), Sergej Zagny (*1960, Russland). Hinzuzufügen wären außerdem noch die stärker von der Rockmusik beeinflussten Amerikaner Lois V Vierk (*1951), Paul Dresher (*1951), Rhys Chatham (*1952), David Lang (*1957), Julia Wolfe (*1958) sowie die Briten Michael Nyman (*1944), Steve Martland (1954– 2013) und Graham Fitkin (*1963); daneben die amerikanischen Komponisten Glenn Branca (*1948), John Luther Adams (*1953), Kyle Gann (*1955), und Mikel Rouse (*1957), deren Musik Gann selbst mit der Bezeichnung »totalist music« versehenen hat und denen er neben Beeinflussung durch Rockmusik auch eine erhöhte rhythmische Komplexität sowie eine Zunahme polyrhythmischer Elemente asiatischer und afrikanischer Herkunft zuschreibt (Gann 1998, 2013; Schwarz 1996, 169–192; Linke 1997; Potter 2001; Bernard 2003; Anderson 2013). Unschwer wird ersichtlich, dass die unter dem Begriff Postminimalismus summierten Tendenzen Gefahren der Pauschalisierung ausgesetzt sind: »there is another story, widely disseminated, in which minimalism is cast as the deliverer of American music from the pharaoh of Academic Serialism, leading young composers out of the desert of atonality with the reassurance that it ’ s okay to write consonances again. In the Promised Land of the new tonality, everyone is a postminimalist almost by definition, or so it would seem« (Bernard 2003, 127). Bernard schlägt deshalb vor, die Kriterien postminimalistischer Musik stärker einzuschränken: »a postminimalist […] either (1) began as a minimalist and is now writing music that, however different from those beginnings, can be plausibly traced back to them; or (2) developed after minimalism ’ s most abundant flowering, but principally in response (even if partly in opposition) to it« (ebd.). 4. Charakteristik, Techniken und Definitionsversuche Charakteristisches Merkmal minimalistischer Musik ist zunächst, dass der eine oder andere Aspekt der Musik in irgendeiner Weise »minimal«, etwa im Sinne von sparsam oder reduziert, erscheint: »Something seems minimal […] when we hear minimalist music, we get less than we expected. Fewer pitches, less contrast, fewer events, less change« (Potter u. a. 2013, 7). »Minimal« kann sich dabei z. B. auf musikalische Ä Parameter wie Tonhöhen oder Dauern, auf Rhythmen (Ä Rhythmus / Metrum / Tempo), auf den musikalischen (möglicherweise »gradualen«) Prozess (Ä Form, Ä Zeit), die Ä Instrumentation, die Partitur (Ä Notation), die Ä Kompositionstechnik oder sogar auf den Ä Schaffensprozess beziehen. Linke schlägt vor, den Begriff »minimal music« durch »Musik mit minimalistischen Aspekten (und Tendenzen)« zu ersetzen, da »[der Begriff ›minimal‹] zwangsläufig konkrete Aspekte einer 377 Komposition […] benennen muß, während [›minimalistisch‹] die Bau- bzw. Konstruktionsweise eines gesamten Werkes benennt« (Linke 1997, 106). Die mit minimalistischer Musik assoziierten Charakteristika spiegeln also eine terminologische Unschärfe wider. Wesentlich ist jedenfalls, dass ein konkretes minimalistisches Werk wohl kaum alle Charakteristika aufweisen kann, die bisher mit minimalistischer Musik in Verbindung gebracht wurden. Minimalistische Werke unterscheiden sich dementsprechend oft grundsätzlich voneinander. In der Literatur wurden u. a. folgende Kriterien minimalistischer Musik erwähnt: Reduktion des musikalischen Ä Materials, Wiederholungen, Pattern-Repetition (Riley), additive und subtraktive Patterns (Glass), Statik, lange ausgehaltene Töne (Young), reduzierte Ereignisdichte, Konsonanzreichtum und harmonische Statik, das Entfallen klarer Schlusswendungen, deutlich wahrnehmbarer Puls, Bordun-Bässe, graduale gut wahrnehmbare musikalische Prozesse (Reich), Abkehr von Aleatorik und serieller Musik, Einflüsse nicht-westlicher Musik (Afrika, Indien, Indonesien etc.) sowie von Rock-, Pop- und Jazzmusik, Affinität zu Meditation und Ritual (Textkompositionen, Happenings und Performance Art), Improvisation (Riley, Young), Anti-Narrativität, Beeinflussung durch die technologischen Möglichkeiten elektronischer Musik (»looping«, »phase shifting«) (Schwarz 1996; Linke 1997; Grünzweig 1997; Götte 2000; Potter 2001; Taruskin 2005/10): »no single technical criterion for minimal music will suffice. […] there was a general interest in a number of techniques, related but not easily reduced to a single principle« (Potter u. a. 2013, 3–6). Die Frage, ob Minimalismus nun Ästhetik, Stil oder Technik sei, mag in diesem Zusammenhang kaum verwundern: »Perhaps minimalism may be defined most accurately as a technique: a ›general reduction of materials and emphasis on repetitive schemes and stasis,‹ as described by Glenn Watkins. Thus, the term could be employed on a broader basis to describe certain features the compositions include, even if they incorporate other compositional aspects as well« (Johnson 1994, 750; Watkins 1988, 572). In seinem Gebrauch ist der Begriff Minimalismus eine Chimäre mit vielfältigen Bedeutungsfacetten. Erschwerend kommt hinzu, dass er, bedingt durch die große Popularität minimalistischer Musik, in die Alltagssprache eingegangen ist und dort auch pauschal für eine leicht zugängliche, tonal gefärbte Repetitionsmusik steht, die dabei aber dennoch einen gewissen »Zeitgeist« evoziert. Minimalismus / Minimal Music 5. »Europäischer Minimalismus« und parallele Entwicklungen Unter dem Begriff Europäischer Minimalismus werden in den letzten Jahren zunehmend zwei weitgehend unterschiedliche Phänomene zusammengefasst: (1) europäische postminimalistische Komponisten und deren Musik, die sich in der einen oder anderen Weise deutlich auf den amerikanischen Minimalismus beziehen. Beispiel hierfür wäre die niederländische postminimalistische Szene um die Komponisten Karel Goeyvaerts und Louis Andriessen, der sich am Königlichen Konservatorium in Den Haag insbesondere auch als einflussreicher Kompositionslehrer hervortat, oder die englische Szene mit Komponisten wie Gavin Bryars, Michael Nyman oder Christopher Hobbs (vgl. 3.); (2) vom amerikanischen Minimalismus weitgehend unabhängige Parallelentwicklungen europäischer neuer Musik mit vergleichbaren minimalistischen Tendenzen (Beirens 2013). Es ist allerdings nicht immer eindeutig, zu welcher dieser beiden Kategorien einzelne Komponisten gezählt werden können. So wird Goeyvaerts, bekannt als Pionier der seriellen Musik in den frühen 1950er Jahren, einerseits oft als Beispiel eines postminimalistischen Komponist genannt, andererseits wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass seine Musik bereits Anfang der 1950er Jahre minimalistische Tendenzen aufgewiesen habe (Sabbe 1987; Delaere 1996; Misch 2000, 17). Insofern könnte hier ebenso gut von einer Parallelentwicklung gesprochen werden. Europäischer Minimalismus wird, im Gegensatz zum amerikanischen Minimalismus, tendenziell oft näher an der europäischen Tradition sowie der sog. Darmstädter Schule angesiedelt (Beirens 2003). Als europäische Parallelentwicklungen zum amerikanischen Minimalismus werden meist jene Komponisten genannt, die heute gelegentlich unter dem Begriff »holy minimalism« (auch »mystic minimalism«, »spiritual minimalism« oder »sacred minimalism«) zusammengefasst werden: Henryk Górecki (1933–2010; Polen), Arvo Pärt (*1935; Estland) und John Tavener (1944–2013; England) (Fisk 1994; Potter 2001). Der Begriff »holy minimalism«, ursprünglich ein Marketing-Label der Schallplattenindustrie (Taruskin 2005/10, 408), verweist dabei auf die religiöse Grundhaltung dieser Komponisten und ihrer Werke; die Komponisten selbst lehnen diese Begriffe im Allgemeinen ab. Ähnlichkeiten zum amerikanischen Minimalismus werden diesen Komponisten z. B. bezüglich ihrer Kompositionstechnik (bspw. Pärts »tintinnabuli«, Brauneiss 2012; Ä Themen-Beitrag 9, Ä Osteuropa), ihrer Ästhetik, der neotonalen Harmonik sowie ihrer hörpsychologischen Wirkung attestiert (Skipp 2012). Die kompositorische Entwicklung dieser Komponisten und ihrer 378 Minimalismus / Minimal Music musikalischen Sprache fand jedoch im Allgemeinen unabhängig vom amerikanischen Minimalismus (und auch unabhängig voneinander) statt. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auch György Ligeti genannt (Warburton 1988; Beirens 2003), dessen Poème symphonique für 100 Metronome (1962) im Wesentlichen auf demselben gradualen Prozess basiert wie Steve Reichs konzeptuelle Manifest-Komposition Pendulum Music für drei oder mehr Mikrophone, Verstärker und Lautsprecher (1968; vgl. Taruskin 2005/10, 373). Ligeti selbst bezeichnete diese Komposition rückblickend als sein »erstes minimalistisches Stück« und verweist dabei auch auf seine spätere Komposition Continuum für Cembalo (1968) (Ligeti 1976/2007). Dennoch wird Ligeti üblicherweise nicht als »Minimalist« angesehen. Dies mag u. a. daran liegen, dass Ligetis Musik insgesamt der europäischen Avantgarde (zu der ja der Minimalismus zumindest in seiner ursprünglichen Form eine Gegenbewegung darstellen sollte) zu nahe stand und dass seine Musik zwar viele minimalistische Tendenzen aufweist (u. a. graduale Prozesse und Konsonanzreichtum z. B. in Musica ricercata für Klavier, 1951–53, sowie in seinen Klavieretüden, 1985–2001) jedoch in der Regel auch minimalistischen Stereotypen (wie z. B. geringe Ereignisdichte oder geringe Komplexität) widerspricht. In der nicht immer konsequenten und nachvollziehbaren Klassifizierung minimalistischer (bzw. nichtminimalistischer) Komponisten spiegelt sich auch die Problematik wider, dass von Minimalismus und Postminimalismus zum Teil im Sinne historischer Epochen die Rede ist, zum Teil aber im Sinne einer Reihe unterschiedlicher »minimalistischer« Kompositionstechniken. Letztere Bedeutung ist jedoch auch auf Kompositionen anwendbar, die im Sinne einer Epochenbezeichnung gewiss nicht unter die Rubrik Minimalismus fallen bzw. damit sogar unvereinbar wären (zu nennen wären hier z. B. Kompositionen Morton Feldmans wie Intermission V und Extensions III, 1952, oder Patterns in a Chromatic Field, 1981, aber auch Werke John Cages wie z. B. 4'33"; Linke schließt bei seinen Untersuchungen von »Musik mit minimalistischen Aspekten« sogar Komponisten wie Henry Purcell, Gioachino Rossini, Antonin Reicha oder Richard Wagner mit ein; Linke 1997, 106–201). Bisweilen wird in diesem Sinne auch eine Beziehung zwischen Minimalismus und neotonal orientierten Komponisten im Westdeutschland der späten 1970er Jahre hergestellt (z. B. Emons 1978; vgl. Misch 2000, 15; Ä Komplexität / Einfachheit). Zweifellos waren einige der in den 1970er Jahren hervortretenden deutschen Komponistinnen und Komponisten wie Erhard Grosskopf (*1934), Peter Michael Hamel (*1947), HansChristian von Dadelsen (*1948) oder Babette Koblenz (*1956) nachhaltig vom amerikanischen Minimalismus inspiriert (Lovisa 1996, 218–230). 6. Rezeption Die wissenschaftliche und publizistische Rezeption (post-) minimalistischer Musik ist bis heute sehr divergierend und reicht von strikter Ablehnung bis hin zu uneingeschränkter Zustimmung und willkommener Aufnahme in den Kanon postmodernen Kunstschaffens. Insbesondere in Europa war die Rezeption gerade in den Anfangsjahren zum Teil eher negativ. So stieß 1969 eine Aufführung von Terry Rileys In C bei einem Konzert der Darmstädter Ferienkurse auf Proteste und Ratlosigkeit (Beal 2006, 142). Vielzitiert ist in diesem Zusammenhang auch Steve Reichs europäische Aufführung von Drumming 1972, die aufgrund ihrer für deutsche Kritiker mechanisch und »totalitär« wirkenden Ausführung kritische Reaktionen hervorrief und drei Jahre später zu einer Auseinandersetzung zwischen Clytus Gottwald und Reich in der Musikzeitschrift Melos führte (Gottwald 1975; Reich 1975; vgl. Misch 2000, 16; Kutschke 2007, 260–287). Auf der anderen Seite gab es in Europa auch von Beginn an positive Reaktionen. So setzte sich der Berliner Komponist Erhard Grosskopf seit Anfang der 1970er Jahre für minimalistische Musik ein und machte u. a. Louis Andriessen damit bekannt, der hier stellvertretend für die sehr positive kompositorische und publizistische Rezeption in den Niederlanden genannt sei  – nicht zuletzt ist das erste Buch über Amerikaanse repetitieve muziek auch dort erschienen (Mertens 1980). Eine weitere Erfolgsgeschichte schrieb der Minimalismus in England, wo Gavin Bryars 1970 Steve Reich, der gerade in London war, dazu einlud, seine neuesten Kompositionen vorzuführen. Bei diesem Treffen waren u. a. die Komponisten Michael Nyman, Christopher Hobbs, Hugh Shrapnel und Bryn Harris sowie mehrere Mitglieder von Cornelius Cardews Scratch Orchestra anwesend (Anderson 2013). Zuletzt sei an dieser Stelle nochmals Ligeti erwähnt, der während seines USA-Aufenthalts Anfang der 1970er Jahre die amerikanische Minimal Music kennenlernte (vgl. Ligeti 1972/2007) und im Anschluss daran das zweite seiner Drei Stücke für zwei Klaviere (1976–77) als Selbstporträt mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei) bezeichnete. Vom akademischen Diskurs unbeeindruckt ist die Rezeption minimalistischer Musik bei der breiten Öffentlichkeit im Allgemeinen sehr positiv, was sich in der großen Ä Popularität sowie der ständigen Präsenz minimalistischer Musik in Film und Fernsehen spiegelt. Minimalistisches Gedankengut ist heute in vielen Lebensbereichen zu finden, so neben bildender Kunst, Literatur und Architektur sogar in ansonsten eher kunstfernen Be- 379 reichen wie der Softwareentwicklung (Obendorf 2009). Längst ist Minimalismus in unseren musikalischen Alltag eingegangen und als ästhetisches, kompositionstechnisches und stilistisch prägendes Phänomen zu einem konstitutiven Element sowohl der Popularkultur als auch postmodernen Musikdenkens geworden. Ä Themen-Beitrag 2; Nordamerika Anderson, Virginia: Systems and other Minimalism in Britain, in: The Ashgate Research Companion to Minimalist and Postminimalist Music, hrsg. v. 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Begriffsgeschichte  „ 3. Moderne als musikhistorische Epochenbezeichnung  „ 4. Kriterien der Moderne: Subjektivität und Reflexivität „ 5. Ausblick 1. Begriff Das Substantiv »Moderne« gehört neben »modern«, »Modernität«, »Modernismus«, »Modernisierung« und deren fremdsprachlichen Äquivalenten zu einem Wortfeld, das musikgeschichtlich sehr heterogene Gegenstände und Kontexte miteinander verbindet. Mit verwirrender Äquivozität kann sich der Wortgebrauch (1) auf eine musikhistorische Epoche, (2) auf Merkmale eines musikalischen Stils oder musikalisch-künstlerischer Verfahrensweisen, (3) auf die Aktualität, Fortschrittlichkeit oder Zeitgemäßheit einer Musik, (4) auf eine künstlerische Haltung oder (5) auf die Organisation und Funktionsweise der Gesellschaft beziehen, der eine Musik angehört. Nachdem im 20. Jh. angesichts der Erfahrungen von zwei Weltkriegen, im Zuge der globalen Neuordnung im Prozess der Dekolonisierung oder im Blick auf die mit der Modernisierung verbundenen ökologischen Risiken vielerorts das Bewusstsein artikuliert wurde, dass die gesellschaftliche Moderne in den westlichen Demokratien in eine tiefgreifende Krise geraten sei, wurden terminologische Unterscheidungen eingeführt, die eine historisch orientierte Interpretation des Begriffs der musikalischen Moderne zusätzlich erschweren. In kritischer Distanzierung von der Moderne konfigurierte sich nach Ansätzen im frühen 20. Jh. seit den 1960er Jahren eine von ihrem Bedeutungsspektrum her ebenfalls schillernde Ä »Postmoderne«. Die oft fälschlich auf eine bloße Epochenfolge verkürzte Gegenüberstellung von Moderne und Postmoderne ist in jüngerer Zeit dann Ansätzen gewichen, welche die Vorstellung von einer homogenen und in sich geschlos- senen Moderne zugunsten komplexerer Modernebegriffe fallen lassen, mit denen die Opposition von Moderne und Postmoderne gleichzeitig erkennbar an Trennschärfe verloren hat. Seit geraumer Zeit lässt sich in diesem Sinne ein plurales, heterogenes und weiter anwachsendes Spektrum von Moderne(n) »mit Zusätzen« beobachten. Man entwirft das Bild »anderer« im Sinne alternativer Modernen (Böhme 2006), unterscheidet historisch etwa zwischen »bürgerlicher« und »organisierter« Moderne (Reckwitz 2006), man spricht von »Amoderne«, um das hybride Ineinander von Modernem und Nicht- bzw. VorModernem zu bezeichnen (Latour 2008), man verwendet Bezeichnungen wie »reflexive« oder »zweite« Moderne als Alternativen zu »Postmoderne« (Beck / Bonß 2001), man spricht im Plural von »multiple modernities«, um die räumliche Diversität »der« Moderne in der kolonialen und post-kolonialen Welt zu fassen (Eisenstadt 2000). Im Sinne einer in sich vielfältigen und vielfach gespaltenen Konstellation ist auf einer abstrakten Theorieebene die Moderne schlicht der Schauplatz für einen »Kampf um die Öffnung und Schließung von Kontingenzen« (Reckwitz 2008). Historiker äußern allerdings auch Bedenken, was die Brauchbarkeit eines Begriffs mit einem derart weit gefächerten Bedeutungshorizont angeht, solange sich keine präzisen historischen Datierungen fänden und solange sich nicht verlässlich angeben lasse, worauf sich die jeweilige Begriffsverwendung im Einzelnen bezieht (Osterhammel 2009, 88 f.). Vor diesem Hintergrund und angesichts der theoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte ergibt sich heute das Desiderat eines sowohl begrifflich als auch musikhistorisch differenzierteren und genaueren Blicks auf die musikalische Moderne in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Janz 2014). 2. Begriffsgeschichte Die Wortgeschichte, Sachgeschichte und Begriffsgeschichte der musikalischen Moderne sind stark inkongruent, vor allem wenn man nationalsprachliche Unterschiede berücksichtigt. Die deutsche Substantivbildung »Moderne« war eine späte Wortneuschöpfung der Jahrhundertwende um 1900. Diese Substantivierung, in der sich das damalige Epochenbewusstsein ausdrückte, basiert auf einem Adjektiv, das im Deutschen – ebenfalls vergleichsweise spät – im frühen 18. Jh. aus dem Französischen übernommen wurde. Die rasche Verbreitung des Adjektivs »modern« im Laufe des 18. Jh.s, das von der Kleidung über die Kunst bis hin zur Wissenschaft und Weltanschauung alles bezeichnen konnte, was »den neuesten Sitten, dem neuesten Geschmacke, der neuesten Mode gemäß« war (Adelung u. a. 1811, 256) und generell einen Gegensatz zum Veralteten markierte, verweist ebenfalls auf ein entsprechendes Epo- 381 chenbewusstsein. Neben der Aktualitätsmarkierung, die sich beim deutschen Adjektiv »modern« umgangssprachlich vom Beginn des musikalischen Zeitschriftenwesens (z. B. Mattheson 1722, 288) bis in die Gegenwart gehalten hat, artikuliert sich spätestens mit dem neuen Geschichtsverständnis der Aufklärung aber auch das Bewusstsein, in eine wirklich neue Zeit eingetreten zu sein, für die die Vergangenheit oder die Tradition keine Maßstäbe mehr bereithalten. Die Musikgeschichtsschreibung des 19. Jh.s denkt in solchen größeren Perioden und nicht entlang der sich kontinuierlich verschiebenden Aktualitätsgrenze, wenn sie etwa Johann Sebastian Bach als »Vater der Instrumentalmusik nach moderner Weise« (Köstlin 1875, 209) bezeichnet, wenn sie in dessen Sohn Carl Philipp Emanuel eine »Gestalt von bleibender Bedeutung« im »Uebergang zu der neueren Zeit« sieht (Brendel 1848/61, 39 f.) oder die Geschichte der »modernen Oper« bei Christoph Willibald Gluck beginnen lässt (Hanslick 1875/77). Noch für Richard Wagner  – in dem Friedrich Nietzsche den »moderne[n] Künstler par excellence« sah (Nietzsche 1888/1999, 23) – war »modern« allerdings keine Bezeichnung mit hohem Identifikationswert. Ganz im Gegenteil verbirgt sich hinter seinem Aufsatz Modern (Wagner 1878) ein hasserfülltes Pamphlet gegen den »modernen« Zeitgeist, den Wagner mit dem großstädtischen Leben, Paris und seiner Mode, der Presse, dem Banken- und Finanzwesen und nicht zuletzt in antisemitischer Haltung mit den Juden assoziierte. In Wagners antimodern-moderner Poetik zeichnet sich auf extreme Weise das ab, was die Philosophin Cornelia Klinger als die »ästhetische Ideologie der Moderne« bezeichnet hat, ein Auseinandertreten von gesellschaftlicher und kultureller Moderne (Habermas 1981), wobei die ästhetische Moderne immer wieder als bessere Gegenwelt gegenüber der gesellschaftlichen positioniert werden sollte (Klinger 1995, 2002/10, 150). Für einen positiven Begriff von ästhetischer Modernität, der eine der Voraussetzungen für die deutsche Substantivbildung »Moderne« war, kamen wichtige Impulse ebenfalls aus Frankreich, wo Charles Baudelaire bereits 1863 unter dem Schlagwort »Modernité«, ganz anders als Wagner, für eine enge Anbindung der Kunst an das moderne Leben plädiert hatte (vgl. Gay 2009, 55). Mit ähnlicher Zielrichtung wie bei Baudelaire wird 1886 im Umfeld der Berliner Künstlervereinigung »Durch!« und wenig später in Wien bei Hermann Bahr dann das Substantiv »Moderne« in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt (Wolff 1886, Bahr 1890). Während für die Berliner literarische Moderne der Naturalismus und die Schilderung des großstädtischen Lebens zum ästhetischen Programm wurden, lässt sich dem deutschsprachigen Musikschrifttum, in dem sich das Substantiv Moderne nach 1898 rasch ausbreitet, kein Moderne spezifisches Programm entnehmen, dem der neue Begriff einen Namen hätte geben können. Zwar nennt etwa Arthur Seidl Momente wie einen nach außen gerichteten Realismus, der zusammen mit einer nach innen gerichteten Feinnervigkeit der musikalischen Sprache den »modernen Geist in der deutschen Tonkunst« (Seidl 1901) ausmache, generell versammeln sich unter dem Begriff »Moderne« im musikalischen Schrifttum der Jahre um 1900 jedoch sehr unterschiedliche Komponisten insbesondere aus dem Umfeld des Allgemeinen deutschen Musikvereins (ADMV): Richard Strauss, Max von Schillings, Engelbert Humperdinck, aber auch Vertreter älterer Generationen wie Anton Bruckner, Antonín Dvořák, Franz Liszt und Richard Wagner. Als wenig später das lange musikalische 19. Jh. von den modernistischen und avantgardistischen Musikrichtungen des frühen 20. Jh.s abgelöst wurde, hatte der Titel »Moderne« bereits zu veralten begonnen. Zur Bezeichnung des musikalischen Ä Fortschritts setzten sich nicht zuletzt wegen des bereits etablierten Begriffs »Moderne« mittelfristig Alternativen wie Ä »Avantgarde« oder vor allem Ä »Neue Musik« durch, die sich ihrerseits in diverse Tendenzen und Komponistengruppierungen auffächern ließen. 3. Moderne als musikhistorische Epochenbezeichnung Trotz der relativ kurzen Karriere des Substantivs Moderne im Musikschrifttum stand die Begriffsgeschichte von »Moderne« um 1920 erst in ihren Anfängen. Zwei Momente sind es, die hierfür entscheidend werden sollten: erstens der Versuch, »Moderne« nachträglich als musikhistorische Epochenbezeichnung zu etablieren, zweitens ein kontinuierlicher begrifflicher Re-Import aus der Philosophie und der Soziologie, nachdem sich der zuerst in den Künsten verwendete Terminus dort mit über die Kunst hinausgehenden Gehalten aufgeladen hatte und theoretisch präzisiert wurde. Wie stark der Umfang der musikhistorischen Epoche Moderne in musikgeschichtlichen Darstellungen variieren konnte, zeigt im deutschsprachigen Bereich der Vergleich der großen Nachschlagewerke. Die »Moderne« tritt in Ernst Bückens Band zum 19. Jh. im Rahmen des Handbuchs der Musikwissenschaft bereits als Epochenbezeichnung auf, bleibt dort als allgemeine Benennung der (nicht mehr behandelten) Musik seit Tschaikowsky allerdings konturlos und inhaltsleer (Bücken 1929). Differenziert schildert Hans Mersmann im Anschlussband als »moderne Musik« dann die Musik zwischen Richard Strauss und den Tendenzen der späten 1920er Jahre (Mersmann 1928). Für beide schließt die Moderne die Musik der unmittelbaren Gegenwart ein, wobei Mersmann nun die Musik 382 Moderne zwischen 1875 und 1925 als Phase des Zerfalls der großen, bis zu Beethoven zurückverfolgten Entwicklungslinien des 19. Jh.s schildert, aus dessen Zerfallsprodukten inzwischen eine heterogene Vielfalt nur noch im Gestus des Traditionsbruchs geeinter Musikformen entstanden sei. Carl Dahlhaus behandelt, ein halbes Jahrhundert später, die Epoche »Moderne« in seinem neuen Handbuchband über das 19. (!) Jh. Und zwar wohl nicht zuletzt deshalb unter Angabe eines präzisen und vergleichsweise frühen Enddatums, weil so die inzwischen als musikhistorischer Gegenstand eigenen Gewichts etablierte neue Musik den ihr zustehenden Raum erhalten konnte (Dahlhaus 1980/2003). Wenn Dahlhaus den zeitlichen Rahmen der Epoche Moderne mit 1889–1914 angibt – bei Mersmann markierten diese Jahreszahlen lediglich die Binnenperiode der »Auflösung des romantischen Stils« (Mersmann 1928, 70) –, hält er sich zwar grob an die Selbstbeschreibung und den zuvor skizzierten wortgeschichtlichen Befund. Gleichzeitig schildert er die Moderne aber als gesamteuropäische Epoche, nicht als die getrennter nationalstaatlicher Entwicklungen; als eine Epoche, die sowohl den Schlusspunkt eines zeitlich gegenüber dem kalendarischen 19. Jh. verschobenen musikalischen 19. Jh.s setzt, als auch die Vorgeschichte der »Neuen Musik« enthält. In beidem unterscheidet sich Dahlhaus ’ Interpretation letztlich vom Selbstverständnis der Epoche. Hermann Danuser übernimmt diesen Epochenbegriff in seinem Artikel »Neue Musik« für die Zweitauflage von Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Danuser 1997), dehnt die Epoche jedoch auch wieder ins spätere 20. Jh. aus, indem er zwischen »expressionistischer« und »klassizistischer Moderne« unterscheidet, die »Avantgarde« als radikalisierte Form des modernen Prinzips des Traditionsbruchs einschließt und alle drei unter dem Dach der neuen Musik präsentiert. Wenn in einer zeitgleich erschienenen Publikation die Darmstädter Ferienkurse nach dem Zweiten Weltkrieg als »Zenit der Moderne« bezeichnet werden (Borio / Danuser 1997), fügt sich dies zum Bild einer sich aus Moderne und neuer Musik zusammensetzenden Meta- oder Super-Epoche zusammen, deren Spät- oder Endphase dann als Postmoderne firmiert. An den Diskussionen der 1990er Jahre ließe sich zeigen, wie der Epochenbegriff »Moderne« durch Differenzierung ausgehöhlt wird (Grasskamp 2002) und dabei zunehmend neue Akzente gesetzt werden. Hierbei spielt der bereits genannte Re-Import eine wichtige Rolle, etwa wenn in Danusers Artikel von Moderne als »Instanz von Aufklärung, Rationalität und Kritik« die Rede ist (1997, 94). Die musikwissenschaftliche Modernediskussion berührt sich in solchen Formulierungen mit der philosophischen (Foucault 1984/2005, Habermas 1988), und dies wird zum Trend. Insgesamt orientiert sich die musikhistoriographische Verwendung des Modernebegriffs in den letzten Jahrzehnten zunehmend an einem interdisziplinär geführten Modernediskurs. Damit ergibt sich einerseits die Möglichkeit, die Einheit von gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne präziser zu fassen. Gleichzeitig führt der Anschluss an die interdisziplinäre Modernediskussion aber auch zu erneuten historischen Perspektivverlagerungen. Der Stand der Begriffsgeschichte außerhalb der Musikforschung zwingt gewissermaßen dazu, die Sachgeschichte der musikalischen Moderne auf neue Weise zu denken, wobei nun nicht allein das Fin de siècle oder das 20. Jh., sondern auch zum Teil weit zurückliegende Phasen der europäischen Musikgeschichte auf der einen Seite, nichtwestliche Musikkontexte auf der anderen Seite ins Blickfeld rücken. 4. Kriterien der Moderne: Subjektivität und Reflexivität Das gegenwärtige Bedürfnis, in Annährung an die Soziologie, die allgemeine Geschichte oder die Geschichte der Philosophie von einer im 18. Jh. bereits deutlich erkennbaren musikalischen Moderne zu sprechen (Massow 2001; Webster 2001/02; Berger / Newcomb 2005; Berger 2007; Janz 2009; Butt 2010; Stolzenberg 2011), wird sich allerdings erst dann durchsetzen können, wenn es gelingt, die Einheit eines nun mehrere Jahrhunderte umfassenden Zusammenhangs plausibel zu machen. Zur Diskussion stehen dabei gleich mehrere thematische Komplexe (vgl. Janz 2014). Die Frage ist zunächst, inwieweit die musikalische Moderne (1) Teil jener gesamtgesellschaftlichen Tendenz der Rationalisierung ist, die Max Weber als Triebkraft der Modernisierung der europäischen Gesellschaften beschrieben hat. Rationalität als solche ist musikbezogen freilich kein Spezifikum der Moderne oder der europäischen Musikentwicklung, sondern, folgt man Weber, in Europa zunächst das Vehikel einer fortschreitenden Differenzierung der musiksprachlichen Grundlagen bereits seit dem Mittelalter (Weber 1921/2004). Mit dem Übergang in die funktional ausdifferenzierte moderne Gesellschaft verschieben sich – und dies markiert (2) dann auch musikgeschichtlich eine Differenz zwischen Vormoderne und Moderne – allerdings die Kräfteverhältnisse. Es stabilisiert sich eine zunehmend marktförmige und zeitlich verzögert auch rechtlich regulierte (Dommann 2014) Organisation des Musiklebens, von der sich eine davon getragene, gleichzeitig sich aber auch davon abgrenzende Kultur- oder Kunstökonomie (Groys 1992/2004) der Musik unterscheiden lässt. Einer der Gründe für dieses Spannungsverhältnis ist, dass für die Musik (3) nun eine Autonomie gefordert wird, die man im selben Zug der 383 »vormodernen«, traditionellen oder funktionalen Musik abspricht. Umstritten sind bis heute alle Versuche, den Begriff der ästhetischen Autonomie auf die Musik selbst, das musikalische Kunstwerk (Hindrichs 2014) oder bestimmte musikästhetische Normen zu beziehen. Weniger strittig lässt sich die Autonomie einer musikalischen Kunstkommunikation attestieren, die im Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zunehmend selbstorganisierend, selbststeuernd und insofern autonom kommuniziert. Insbesondere das musikalische »Sub-System« der neuen Musik wird dabei zu operativer Geschlossenheit tendieren. Musikhistorisch muss allerdings der bis ins Hochmittelalter zurückreichende Prozess der Systemevolution (für die Kunst vgl. Wyss 2006) mit in den Blick genommen werden. Schon für Hegel war es ferner (4) das Prinzip der Subjektivität, welches den Unterschied des »Altertums« von der »modernen Zeit« ausmacht (Hegel 1820/1986, 233). Subjektivität ist – ebenfalls bereits bei Hegel  – mehr als die Expressivität des Ich, die sich musikgeschichtlich vom Madrigal bis zum empfindsamen Stil zunehmend bemerkbar macht. Subjektivität konstituiert sich insbesondere als Reflexivität, wobei Reflexivität als eine spezifische Form des rationalen Umgangs mit Kontingenz verstanden werden kann. Musikgeschichtlich kann sich dies etwa in einer neuen Art der musikalischen Verfügung über die Ä Zeit manifestieren, wie sie Karol Berger bereits in der Musik der Wiener Klassik beobachtet (Berger 2007). Das von Hegel formulierte philosophische Problem der Moderne besteht nach Jürgen Habermas aber ganz allgemein darin, ihre Normativität nicht mehr der Tradition entnehmen zu können, sondern die Maßstäbe des Handelns dem Prinzip der Subjektivität entsprechend reflexiv aus sich selbst gewinnen zu müssen (Habermas 1988, 55). Damit wird – positiv ausgedrückt  – aber auch jener für die Geschichte der neuen Musik grundlegende Freiraum zur Öffnung ganz neuer Materialbereiche und Verfahrensweisen der Komposition geschaffen. Reflexive Handlungsrationalität ist im Bereich der Kunst, dem Autonomieprinzip entsprechend, dabei grundsätzlich kunstbezogen, und zwar selbst dann, wenn sie sich, wie in den klassischen Avantgarden, vornimmt, als Kunst (!) die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Dies kann in der Kunst der Moderne so weit gehen, dass sie »durch die Rationalität [der aufklärerischen Vernunft, T.J.] hindurch« sich dessen annimmt, »was Rationalität vergißt«, dass das Neue in der Kunst genau dort »wahr« wird, wo sie »nicht länger vernünftig ist«, und die Kunst sich reflexiv dem Dunklen, Intentionslosen, Absurden zuwendet (Adorno 1970, 107, 105, 47). Die Transformation der alteuropäischen musikalischen Sprachgrundlagen ist bis zu deren Auflösung Moderne in den avancierten Musikrichtungen des 20. Jh.s von dem Kräftespiel dieser Momente geprägt. Im Gegenzug ist für die musikalische Moderne allerdings auch (5) ein Vorgang der Kristallisation, Verfestigung und Musealisierung charakteristisch, der sowohl Teile der musiksprachlichen Grundlagen als auch die Formation eines nur bedingt variablen Kanons der Musik betrifft (Ä Kanonisierung). Das Archiv kanonisierter Musik wird dabei seinerseits Gegenstand reflexiver Kunstkommunikation, künstlerisch-praktisch etwa dort, wo sich neue Musik als Metamusik in das Archiv einschreibt – von der »klassizistischen Moderne« in der Musik (Danuser 1997) bis hin zu sehr individuellen jüngeren Auseinandersetzungen mit älterer Musik bei Komponisten wie György Kurtág, Hans Zender oder Klaus Huber (Ä Bearbeitung; Ä Postmoderne). Zugleich wird mit der Verdauerung des musikgeschichtlichen Gedächtnisses aber auch der destabilisierende Effekt reflexiver Kunstkommunikation ein Stück weit aufgewogen. Die bis heute dominierende produktionshistorische Sicht auf die Musikgeschichte verstellt den Blick auf diesen Zusammenhang. Ein vollständiges Bild der Periode ergäbe sich erst, wenn man die produktionshistorische Perspektive stärker durch rezeptions- und interpretationsgeschichtliche Ansätze ergänzt (Ä Interpretation; Ä Rezeption). 5. Ausblick Die hier idealtypisch herausgestellten Komponenten verleihen der Konfiguration musikalische Moderne (im neueren, weitgefassten Verständnis) eine Stabilität, die durch den Fortgang gesellschaftlicher Modernisierung und den Medienwandel einstweilen nicht entscheidend gefährdet wurde. Allerdings hat sie in deren Verlauf mehrfach und spektakulär ihr Erscheinungsbild geändert. Das Ende des bürgerlich-modernen 19. Jh.s brachte eine vorher ungeahnte Pluralisierung der musikalischen Kultur mit sich: Ä Jazz, Schlager, Avantgarde, alte Musik, traditionelle Musik aus allen Erdteilen und der tradierte Kunstmusikkanon konnten sich gerade als unverbundene Formen von Musik wechselseitig beeinflussen. Im Rückblick lassen sich aber auch deutliche historische Kontinuitäten erkennen, die etwa die Romantik um 1800 mit der Avantgarde um 1910 und der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre verbinden (Stichwort »Romantik als erste Moderne«). Auch wenn für die Kulturen der Avantgarde oder der Popmusik auf der anderen Seite deren Inkommensurabilität und Eigengesetzlichkeit herausgestellt wurden (Bürger 1974, 2014, Diederichsen 2014), lassen klar erkennbare Verbindungsmomente zu historisch weit zurückreichenden Konstituenten der musikalischen Moderne es in beiden Fällen plausibel erscheinen, sie als nur relativ autonome Entwicklungen innerhalb der Moderne zu begreifen. Moderne Darüber, dass die Moderne  – wie anfangs angedeutet – spätestens im 20. Jh. in ein Stadium der Krise eingetreten sei, besteht heute weitgehend Einigkeit, nicht aber darüber, ob sie bereits der Vergangenheit angehört. Die allgegenwärtige Rede vom Tod des Subjekts, vom Zerfall des Werkbegriffs, vom Ende der Kunst und der Avantgarde, von der Erschöpfung des Materials (Lehmann 2012) ist im Bereich der Kunst und der Kunstmusik letztlich ein Symptom dieses permanenten Krisenzustands. Ob der Fortbestand der Konfiguration der musikalischen Moderne angesichts dieser (keineswegs unwidersprochenen) Diagnosen allerdings tatsächlich gefährdet ist  – etwa im digitalen High Tech-Kapitalismus und -Konsumismus der gegenwärtigen Massenkultur–, ist noch nicht abzusehen. Ist der zeitliche Umfang der musikalischen Moderne vor diesem Hintergrund weiterhin ungewiss, so gilt dies noch mehr für ihren räumlichen, denn noch nicht lange richtet sich die Aufmerksamkeit der (westlichen) Musikwissenschaft verstärkt auch auf nicht-westliche Modernekontexte (Agawu 2011; Utz 2014). Ein baldiges Ende der historisch-philosophisch-ästhetischen Reflexion über die musikalische Moderne ist in diesem Sinne jedenfalls nicht zu erwarten. Ä Musikhistoriographie; Neue Musik; Postmoderne Adelung, Johann Christoph / Soltau, Dietrich Wilhelm / Schönberger, Franz Xaver: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Wien 1811 „ Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1970 „ Agawu, Kofi: The Challenge of African Art Music, in: Circuit. Musiques contemporaines 21/2 (2011), 49–64 „ Bahr, Hermann: Die Moderne, in: Moderne Dichtung. Monatsschriften für Literatur und Kritik 1 (1890), 13–15 „ Beck, Ulrich / Bonß, Wolfgang (Hrsg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001 „ Berger, Karol: Bach ’ s Cycle, Mozart ’ s Arrow. An Essay on the Origins of Musical Modernity, Berkeley 2007 „ Berger, Karol / Newcomb, Anthony (Hrsg.): Music and the Aesthetics of Modernity. Essays, Cambridge 2005 „ Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. 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Bereits seit langem ist die Technik bekannt, durch gleichzeitiges Anblasen eines Tons und Singen in das Mundstück zwei Töne bzw. allenfalls auch deren Obertöne simultan erklingen zu lassen: Erstmals findet sie sich 1806 in Carl Maria von Webers Concertino für Horn und Orchester, und 1825 setzte sich auch der Flötist Georg Bayr mit dem Phänomen der »Doppeltöne« auseinander (vgl. Jena 2005, 234). Bei den Lippen-Multiphonics wird hingegen der Luftstrom modifiziert, sodass einzelne Teiltöne gesondert angespielt werden können. Die sog. split tones entstehen durch Vibration der Lippen in unterschiedlichem Tempo. All diese Techniken wurden seit den späten 1950er Jahren in Werken für Soloflöte von Luciano Berio (Sequenza I, 1958) und Franco Evangelisti (Proporzioni, 1958), später aber auch bei Heinz Holliger (Studie über Mehrklänge für Oboe solo, 1971) u.v. a. verwendet. Bei Streichinstrumenten werden Multiphonics ausgeführt, indem die Saite stärker als beim Flageolett, aber doch nicht ganz niedergedrückt wird. Durch diese Spieltechnik werden einzelne spektrale Komponenten herausgefiltert, wobei außerdem der Geräuschanteil des Klangs durch Variierung des Bogendrucks erhöht oder vermindert werden kann. Im Vergleich zu den Bläsern setzte die Erforschung der Streicher-Multiphonics etwas später ein. In den 1970er Jahren leistete der Kontrabassist Fernando Grillo wertvolle Pionierarbeit. Die ersten systematischen Untersuchungen folgten um die Jahrtausendwende (Robert 1995; Liebman 2001). Dazu kamen seit den 1980er Jahren Versuche, die Harmonik »spektraler« Kompositionen aus Streicher-Multiphonics abzuleiten (z. B. Kaija Saariaho, Lichtbogen für kleines Ensemble und Live-Elek- tronik, 1985–86; Io für Ensemble, Live-Elektronik und computergeneriertes Tonband, 1986–87). Vokale Mehrklangtechniken gehen häufig auf sehr alte Traditionen zurück – so z. B. auf den Obertongesang Tuvas und der Mongolei (khöömi). Hier werden »durch eine spezielle Resonanztechnik […] aus einem äußerst obertonreichen Schallspektrum mit sehr tiefer Grundfrequenz nacheinander einzelne Teiltöne verstärkt und zu einer Melodie zusammengesetzt« (Födermayr 1996, 166). Weniger bekannt ist, dass sich auch in der europäischen Tradition Ansätze zum Obertongesang bereits früh herausbildeten. So erwähnte Johannes Tinctoris in seinem Traktat De Inventione et Usu Musicae (ca. 1484) den Cantor Gerardus Brabantinus, der imstande gewesen sei, Oberstimme und Tenor des Liedes Tout aparmoy gleichzeitig zu singen (Weinmann 1917/61). Solche Experimente blieben in der Praxis der europäischen Kunstmusik zunächst vereinzelte Kuriosa. Erst seit den 1960er Jahren zeigte sich eine intensive Auseinandersetzung mit vokalen Mehrklangtechniken, allerdings zumeist ohne direkte Anknüpfung an die erwähnten Quellen. Hier sind neben den Stimmpionieren Alfred Wolfsohn und Roy Hart, für den Peter Maxwell Davies die Eight Songs for a Mad King (1969) schrieb, die Experimente La Monte Youngs und Karlheinz Stockhausens Stimmung für sechs Vokalisten (1968) zu nennen – ein Schlüsselwerk, das so unterschiedliche Komponisten wie Folke Rabe (Joe ’ s Harp, 1971), Gérard Grisey (Les chants de l’amour für 12 Stimmen und Tonband, 1982) und viele andere beeinflusste. Auch in jüngerer Zeit haben zahlreiche Komponisten Obertongesang in ihre Werke integriert (z. B. Tan Dun, Water Passion after St. Matthew, 2000; Norbert Sterk, land of closed eyes für Obertonsänger / Tenor, Sitar und Ensemble, 2012). Multiphonics finden sich aber nicht nur in der zeitgenössischen Avantgarde, sondern seit den 1960ern auch im Jazz und in der Rockmusik, z. B. bei der Band Jethro Tull (Strauf 2011) oder beim experimentellen Rocksänger Demetrio Stratos (Laino 2009). Standen Multiphonics früher für eine klangliche terra incognita, wobei sich das Publikum und selbst Fachleute nicht selten irritiert zeigten – dies dokumentiert etwa die Reaktion Bruno Madernas auf Jacques Wildbergers Oboenkonzert (1963; Kunkel 2010, 20) –, sind sie aus der heutigen Praxis der Neuen Musik nicht mehr wegzudenken. Dies legt die Notwendigkeit eines ästhetischen Umdenkprozesses nahe, ist doch die Klassifizierung von »erweiterten« oder »zeitgenössischen« Spieltechniken als »progressiv« und von »ordinario«-Spielweisen als »traditionell« in dieser Eindeutigkeit längst nicht mehr aufrechtzuerhalten (vgl. Kunkel 2010). Wohin dieser Prozess führen wird, ist offen. 386 Musikalische Logik Ä Geräusch; Instrumente und Interpreten / Interpretinnen; Klangfarbe; Kompositionstechniken Aurbacher-Liska, Hanna: Die Stimme in der neuen Musik: Notation und Ausführung erweiterter Gesangstechnik, Wilhelmshaven 2003 „ Barnett, Bonnie Mara: Aspects of Vocal Multiphonics, San Diego 1972 „ Bartolozzi, Bruno: New Sounds for Woodwinds, hrsg. v. Reginald Smith Brindle, London 1967 „ Bok, Henri / Wendel, Eugen: Nouvelles techniques de la clarinette basse, Paris 1989 „ Caravan, Ronald L.: Preliminary Exercises and Etudes in Contemporary Techniques for Saxophone, Denver 1980 „ Dick, Robert: The Other Flute. A Performance Manual of Contemporary Techniques, London 1975 „ Dörig, Ueli: Saxophone Sound Effects. Circular Breathing, Multiphonics, Altissimo Register Playing, and much more, Boston 2012 „ Farmer, Gerald: Multiphonics and Other Contemporary Clarinet Techniques, Rochester, New York 1982 „ Födermayr, Franz: Klangfarbe. 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Jh. wurde in der Musiktheorie immer wieder in unterschiedlichster Weise auf den Begriff »Logik« Bezug genommen (Nowak 2005). Mit dem Übergang zur Ä Atonalität wurde dieser Terminus weiter modifiziert: Arnold Schönberg versuchte, musikalische Zusammenhänge jenseits der Dur-Moll-Tonalität gemäß einer »motivischen Logik« (vgl. z. B. Schönbergs Analyse seiner Vier Lieder op.  22 für Gesang und Orchester; Schönberg 1932/76, 287) bzw. einer »unbewußten Logik in der harmonischen Konstruktion« (Schönberg 1911/22, 502) zu beschreiben. Zugleich wurde in den Anfängen der Neuen Musik aber auch die Frage akut, ob man den Terminus musikalische Logik auf eine Musik anwenden könne, die nicht mehr im Sinne eines direktionalen Zeitverlaufs konzipiert ist. Theodor W. Adorno argumentierte, durch die Delegierung des zusammenhangbildenden Prinzips an die Reihe (in der Ä Zwölftontechnik) und an den Außenhalt der »Stilprozeduren« (im Neoklassizismus; Adorno 1949/75, 127) seien der sinnliche Nachvollzug »der konkreten Logik des musikalisch Einzelnen« (ebd., 113) und die »faßliche Logik des Oberflächenzusammenhanges« (ebd., 127) weitgehend aufgelöst worden. In der Ä seriellen Musik der 1950er Jahre wurde der Logikbegriff entweder problematisiert oder aber erweitert und neu interpretiert: So strebte etwa Pierre Boulez einen »logische[n] Zusammenhang zwischen der Gestaltung von Reihenformen und davon abgeleiteten Strukturen« an, der »außerhalb der Gedankenwelt Schönbergs« liege (Boulez 1952/75, 292). Dabei wird nicht eine »Logik des musikalisch Einzelnen«, sondern eine »Logizität« des strukturellen Gesamtgefüges angestrebt. Ob György Ligeti diesen Ansatz im Sinn hatte, als er meinte, eine exakte Beschreibung sei nur bei Methoden angebracht, die »per se auf logischer, arithmetischer oder mathematischer Basis beruhen« (Ligeti 1965/2007, 189), ist fraglich. Möglicherweise dachte er an Iannis Xenakis, der in einigen Werken versuchte, dem Hörer »außerzeitliche« Strukturen (»hors-temps«) im Rahmen einer »symbolischen Logik« zu kommunizieren (z. B. in Herma für Klavier, 1960–61; Xenakis 1992, 176; Montague 1995; Helffer 2010, 105). Grundsätzlich besitzt der Begriff musikalische Logik für Ligeti aber eine geringe Relevanz: Von einer Analogie logischer Relationen und musikalisch-zeitlicher Abläufe könne man keinesfalls sprechen. Musikalische Bedeutung und musikalische Logik verhielten sich zu »tatsächlicher Bedeutung und tatsächlicher Logik wie Träume zur Realität«. Zudem sei »jedes Moment eines Werkes […] auf einer Ebene Element im Bezugssystem der individuellen Form, auf einer höheren Ebene aber Element im umfassenderen Bezugssystem der Geschichte« (Ligeti 1965/2007, 189). Trotz dieser Skepsis, ob der Begriff musikalische Logik überhaupt relevant sei, wurde er auch noch Ende des 20. und Anfang des 21. Jh.s wiederholt ins Spiel gebracht. Zum einen wurde er mit Überlegungen zur Ä Wahrnehmung verknüpft. Dies ist im Grunde nicht neu: Bereits Hugo Riemanns These von einer »logischen« Aktivität 387 des Musikhörens (Riemann 1914/15) und Franz Liszts Forderung, logische Entwicklungen sollten sich mit innerem Erleben verbinden (Liszt 1855/82, 12), verwiesen auf physiologische und psychologische Dimensionen musikalischer Logik. Vergleichbare expektanzpsychologische Aspekte finden sich  – auch wenn der Logikbegriff hier nicht explizit erwähnt wird  – z. B. in Klaus Hubers Vorstellung der »antizipierten Zeit« (Huber 2009, 131) oder in Hans Zenders Betonung des bewussten Mitvollzugs des Nacheinander »durch Erinnerung und Erwartung« (Zender 1996/98, 11 f.). Der Eindruck, Zusammenhänge folgten (im weitesten Sinn) »logisch« aufeinander, kann zum anderen auch aus einer musikalisch-gestischen Folgerichtigkeit resultieren – so etwa bei Brian Ferneyhough, der (im Anschluss an Gilles Deleuze) Gesten nicht als ganzheitliche Bedeutungselemente versteht (Cavallotti 2006, 65–72). Gesten gewinnen, so Ferneyhough, erst durch Auflösung und neue Zusammensetzung in die interne Logik eines Werks an Ausdruck. Dem entspricht eine nicht-diskursive, multiperspektivische Logik (Fitch 2013, 342–346). An gestische Aspekte knüpft auch Denis Smalley mit seiner Theorie der Spektromorphologie an: Aus »spektralen Energien«, die auf physische Gesten und auf die zeitlichen Phasen eines Klangs (Anfang-Dauer-Abschluss; vgl. auch Lachenmanns Begriff »Kadenzklang«, Lachenmann 1966/93/96, 3 f.) bezogen werden, leitet er »Kausalität« ab (Smalley 2011, 65). Ob sich das für die Musik des 20. Jh.s wesentliche Paradigma des Klanges mit der Vorstellung einer musikalischen Logik zusammendenken lässt, ist ungewiss. In den Schlusszeilen seiner Harmonielehre (1911) betrachtete Schönberg jene »Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt« analog zur Logik einer »Klangfarbenmelodie« (Schönberg 1911/22, 503). Was damit genau gemeint ist, bleibt aber letztlich offen (Schmidt 1996). In den 1970er Jahren strebten Komponisten wie Gérard Grisey oder Tristan Murail danach, durch Ringmodulationsprozesse und Obertoninteraktionen Abfolgen von Klängen zu etablieren, denen eine sowohl »biomorphe« als auch »technomorphe« Logik zugrunde liegt (Wilson 1988; Haselböck 2013; Ä Spektralmusik). Grundsätzlich ist der Begriff musikalische Logik dort, wo der Werkbegriff unterminiert oder zur Gänze abgeschafft ist (so bei John Cage) kaum noch anzuwenden. Insbesondere im Zusammenhang mit tonalen Systemen ist er jedoch bis heute für die Theorie europäischer Kunstmusik partiell relevant und wurde zum Teil – etwa im Sinne einer der europäischen Tradition entgegengesetzten »anti-kausalen« Logik  – auch in synoptischen Theorien außereuropäischer Musik angewandt (Maceda 1986). Musikalische Logik Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Form; Harmonik / Poyphonie; Musikalische Syntax; Musiktheorie Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ Boulez, Pierre: Schönberg ist tot [1952], in: Anhaltspunkte. Essays, hrsg. v. Josef Häusler, Kassel 1975, 288–296 „ Cavallotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen 2006 „ Fitch, Lois: Brian Ferneyhough, Bristol 2013 „ Haselböck, Lukas: Zur Klangfarbenlogik bei Schönberg, Grisey und Murail, in: Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. und 21. Jh.s (musik.theorien der gegenwart 6), hrsg. v. Christian Utz, Saarbrücken 2013, 137–162 „ Helffer, Claude: On Herma, Erikhton, and others, in: Performing Xenakis, hrsg. v. Sharon Kanach, New York 2010, 99–114 „ Huber, Klaus: Von Zeit zu Zeit. Das Gesamtschaffen. 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Christian Utz definiert »musikalische Syntax« zunächst als »Prinzipien oder Regeln, nach denen einzelne musikalische Elemente zu größeren Sinneinheiten zusammengefügt werden« (2013, 61), weist aber zugleich darauf hin, dass »musikalische Syntaxbildung entscheidend durch musikalische Korrespondenzen, Kontraste und Spannungsverläufe geprägt wird, in denen metaphorische Semantisierungen wie ›Frage und Antwort‹ oder ›Spannung und Lösung‹ letztlich nicht schlüssig von der ›technischen‹ Seite eines ›Tonsatzes‹ getrennt werden können« (ebd.). Die von Utz angesprochene untrennbare Verbindung referierbarer struktureller Bezüge und »sinnfälliger« dramaturgischer Spannungsverläufe bei der Herausbildung eines der sprachlichen Syntax adäquaten musikalisch-syntaktischen Bezugsnetzes leuchtet bei Christian Kaden in einer »dritte[n] Dimension« der »Dichotomie von ›langue‹ und ›parole‹, Sagen und Zeigen, Gestus und Aussage« auf, »die ins Logische nicht minder hineinragt als ins Rhetorische: die ›logische Artikulation‹« (2010, 447). Theodor W. Adorno beschreibt in der Ästhetischen Theorie die untrennbare Einheit von struktureller Logizität und emotionaler Plausibilität einer Syntax moderner Kunstwerke. Ihre Logik gewähre »allen Einzelereignissen und Lösungen eine unvergleichlich viel größere Variationsbreite […] als sonst die Logik«. Sie ist vergleichbar einer »Traumlogik, in der […] das Gefühl des zwingend Folgerechten mit einem Moment von Zufälligkeit sich verbindet« (1970, 206) (Ä Musikalische Logik). Derartige Folgerungen, so Adorno, »mahnen […] an eine Kommunikation zwischen den Objekten, die von Begriff und Urteil eher verdeckt werden mag, während ästhetische Konsequenz sie als Affinität der nicht identifizierten Momente bewahrt« (ebd., 208). Die so beschriebene ästhetische Konsequenz rückt die von Utz gewählte Ausgangsdefinition in modifizierter Form ins Blickfeld: »Musikalische Syntax« in Neuer Musik kann verstanden werden als Prinzip einer Kommunikation zwischen Einzelereignissen, das mittels Sinn- und Bedeutungserzeugung einzelne musikalische Elemente in der individuellen Wahrnehmung zu größeren Sinneinheiten zusammenfügt. Für die dur-moll-tonale Musik, insbesondere für die Musik des klassischen Stils, wurde der Begriff musikalische Syntax in der Musiktheorie etabliert und kann für ästhetische und analytische Diskussionen genutzt werden (Dahlhaus 1989; Utz 2010). Für eine Beschreibung der Musik des 20. und 21. Jh.s jedoch geraten die an tonale Formungsprinzipien gekoppelten Dimensionen des Begriffs zum Problem, denn die Vermittlung zwischen einer materialen Keimzelle und einer überschaubaren musikalischen Gestalt sowie deren Bedeutung und Konsequenz für die globale Formdisposition sowie teilweise die motivischthematische Gestalthaftigkeit der Musik überhaupt, also grundlegende Bauprinzipien tonaler Musik, werden von den Komponisten seit den 1910er Jahren häufig umfassend hinterfragt und destabilisiert. Damit einhergehend wurden und werden in der Neuen Musik Verknüpfungsmodelle von Klängen und musikalischen Ereignissen erprobt, die das Ä Material der Musik im Wittgensteinschen Sinn kritisch auf sinnstiftende Verknüpfungsmöglichkeiten hin »untersuchen«. So entstand eine breite Palette von abstrakten strukturellen Verfahrensweisen bis hin zu freien, nicht mehr auf quantifizierbaren »Einteilungen« beruhenden Gestaltungsprinzipien (Ä Themen-Beitrag 3; Ä Harmonik / Polyphonie; Ä Rhythmus / Metrum / Tempo; Ä Kompositionstechniken). Neben dieser produktionsästhetischen Perspektive muss berücksichtigt werden, dass syntaktische musikalische Bildungen vor allem auch kognitive Phänomene sind und auf einer »komplexen Interaktion biologischer, biographischer, soziokultureller und erlernter Aspekte der Musikwahrnehmung« beruhen (Utz 2013, 65). Utz weist darauf hin, dass »die ständige Verfügbarkeit einer großen Anzahl von Musikgenres und -grammatiken eine zunehmend unkalkulierbare Größe für individuelle Hörbiographien darstellt […]. Resultat dieser historischen Entwicklung ist eine neue Komplexität in der Interaktion zwischen sinnesbasierten bottom-up- und wissensbasierten top-down-Prozessen, die kaum noch auf spezifische Muster abstrahierbar scheint« (ebd., 65 f.). Dem wurde mit einer prominenten Integration wahrnehmungspsychologischer Überlegungen in kompositorische Poetiken seit den 1950er Jahren bis in die Gegenwart hinein zunehmend Rechnung getragen (Ä Wahrnehmung). Ä Analyse; Musikalische Logik; Musiktheorie; Wahrnehmung Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1970 „ Dahlhaus, Carl: Musikalische Syntax, in: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jh. Zweiter Teil [1989] (Gesammelte Schriften 4, 413–707), Laaber 2002, 572–587 „ Kaden, Christian: Sprache und Musik, in: Lexikon der Literatur 389 Musikästhetik Systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 6), hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Heinz von Loesch, Günther Rötter und Christian Utz, Laaber 2010, 445–448 „ La Motte Haber, Helga de: Musikalische Logik, in: ebd., 320–322 „ Mainka, Jörg: Klangrede?, in: KunstMusik 10 (2008), 21–43 „ Utz, Christian: Syntax, musikalische, in: ebd., 466–469 „ ders.: Entwürfe zu einer Theorie musikalischer Syntax. Morphosyntaktische Beziehungen zwischen Alltagswahrnehmung und dem Hören tonaler und posttonaler Musik, in: Musik-Sprachen. Beiträge zur Sprachnähe und Sprachferne von Musik im Dialog mit Albrecht Wellmer (musik.theorien der gegenwart 5), hrsg. v. Christian Utz, Dieter Kleinrath und Clemens Gadenstätter, Saarbrücken 2013, 61–101 Jörg Mainka Musikanalyse / Musikalische Analyse Ä Analyse Musikästhetik Inhalt: 1. Musikästhetik oder Musikphilosophie? „ 2. Komponisten  „ 3. Methoden  „ 3.1 Kritische Theorie  „ 3.2 Analytische Philosophie „ 3.3 Phänomenologie „ 3.4 Semiotik „ 3.5 Psychologie / Kognitionswissenschaft  „ 4. Themen  „ 4.1 Gefühl / Emotion  „ 4.2 Sinn / Verstehen  „ 4.3 Werk  „ 4.4 Zeit „ 5. Herausforderungen 1. Musikästhetik oder Musikphilosophie? Die Ästhetik ist traditionell ein Teilbereich der Philosophie. Alexander Baumgarten, der den Begriff etablierte, dachte sie als Theorie der sinnlichen Erkenntnis; seitdem ist ihr Gegenstand aber, mit Rückgriff auf Auseinandersetzungen mit künstlerischen Gestaltungen und Theorien des Schönen von der Antike an, vor allem die Kunst gewesen. In diesem Sinne ist die Ästhetik als philosophische Disziplin heute weitgehend eine Kunstphilosophie, und auch Musikästhetik daher tendenziell synonym mit Musikphilosophie. Im Rahmen der zeitgenössischen Ä Musikwissenschaft bildet die Musikästhetik demgegenüber eine Teildisziplin, die sich mehr oder weniger deutlich und erfolgreich von Historischer Musikwissenschaft, Ä Musiktheorie, Interpretationsforschung (Ä Interpretation), Ä Musiksoziologie und Musikpsychologie abgrenzt. Dabei hat die Musikästhetik ständig mit dem Verdacht zu kämpfen, ob die entscheidenden Fragen über Musik nicht an anderer Stelle verhandelt werden und sie sich lediglich mit sekundären Phänomenen beschäftigt; exemplarisch kann man an Schönbergs Forderung denken, eine schlechte Ästhetik durch eine gute Handwerkslehre zu ersetzen (Schönberg 1911/2005, 6); dass eine Handwerkslehre ohne Ästhetik kaum denkbar ist, zeigt Schönbergs Buch selbst. Auf der anderen Seite hat die musikwissenschaftliche Musikästhetik auch hier immer wieder auf ihre Nachbardisziplinen und die Philosophie ausgegriffen. Nicht zuletzt ist – mit und gegen Schönberg – ein nicht geringer Teil der Ästhetik der neuen Musik Komponistenästhetik. Die Philosophie hat sich hingegen in Deutschland und in Kontinentaleuropa insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten von der Musik weitgehend ferngehalten. Eine differenzierte, auch technisch versierte philosophische Auseinandersetzung mit der Musik, die dieses Bild korrigieren könnte, hat es seit Theodor W. Adornos Tod nur selten gegeben  – ungeachtet der seit den 1970er Jahren wachsenden Bedeutung der Ästhetik innerhalb der Philosophie mit ihrer Betonung der ästhetischen Erfahrung (Bubner 1989). In den angelsächsischen Ländern ist die philosophy of music währenddessen seit den 1970er Jahren eine etablierte Disziplin, in der eine rege Diskussion um Grundfragen geführt wird. Die Bezugspunkte dieser Philosophien liegen dabei vor allem in der Musik der klassisch-romantischen Tradition. Allerdings gab es vor allem in den 1950er und 1960er Jahren im Kontext der Darmstädter Ferienkurse einen Disziplinen übergreifenden, teilweise internationalen Diskussionszusammenhang in der neuen Musik. Die in der Reihe der Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik dokumentierten Diskussionen zeigen bis heute beispielhaft, wie stark sich Komponisten auf ästhetische und philosophische, Musikwissenschaftler und Philosophen – insbesondere Adorno – auf kompositionstechnische Fragen einließen (Borio / Danuser 1997, Bd. 1, Kapitel IV). Angesichts der insgesamt diffusen inhaltlichen Abgrenzung der beiden Begriffe Musikphilosophie und Musikästhetik scheint es bei der Alternative letztlich vor allem um disziplinäre Zuordnung zu gehen: Da die Rede von Musikphilosophie eine unnötig scharfe Grenze zur musikwissenschaftlichen Arbeit zieht, erscheint es sinnvoll, hier – anders als etwa im New Grove, der sich für »Philosophy of Music« als Leitbegriff entscheidet (Goehr u. a. 2001) – vom Begriff der Musikästhetik als dem disziplinär offeneren auszugehen und dabei bisweilen Nachbardisziplinen zugeordnete Aspekte als philosophisch relevant mit einzubeziehen. 2. Komponisten Im Anschluss an Schönbergs diskursive Begleitung und Reflexion der eigenen musikalischen Entwicklung zeichneten sich die erste und zweite Generation von Komponisten neuer Musik in Europa und den USA nach dem Zweiten Weltkrieg durch prononcierte kompositorische und ästhetische Positionen und die ständige diskursive Arbeit an ihnen aus (Borio 2005). Die Texte von Karl- 390 Musikästhetik heinz Stockhausen, Pierre Boulez, György Ligeti, Luigi Nono, John Cage und Morton Feldman, später von Dieter Schnebel, Hans Zender, Helmut Lachenmann, Nicolaus A. Huber und Brian Ferneyhough verbinden die kompositorische Selbstverständigung mit musikästhetischen und -philosophischen Reflexionen und bilden wichtige Bezugspunkte für die Diskussion. Erwähnt seien einige prägnante Beispiele: Stockhausens frühe Texte über musikalische Ä Zeit sind paradigmatisch für die Entkopplung seriellen Denkens von der Erfahrung, indem Zeit als in ungeahntem Maße konstruktiv beherrschbarer Ä Parameter behandelt wird. Dennoch wird dies begleitet von einer ständigen Rücksicht auf die Frage der Erfahrbarkeit der auf diesem Wege entstandenen Musik, nach der gehörten Ä Form, für die nicht kompositorische Konsequenz, sondern erkennbare Bezüge entscheidend sind (Ä Wahrnehmung). Das Spannungsverhältnis zwischen Konstruktion und Erfahrung ist Stockhausen dabei deutlich bewusst (Stockhausen 1955/63). Eine noch deutlich stärkere Betonung des Hörens als zentraler Kategorie findet sich bei Luigi Nono, bei dem technische Fragen in den Dienst des Hörens gestellt werden und dieses sogar die für ihn zentrale Dimension des explizit Politischen allmählich zurückdrängt. Das Ungehörte selbst gewinnt hier eine politische Dimension (Nono 1988). In der Nachfolge von Nono, aber auf eigenen Wegen, steht Helmut Lachenmanns kompositorische Ästhetik für ein befreites Hören, dem immer auch eine politische Dimension eingeschrieben ist, die sich allerdings ins Musikalische zurückgezogen hat. Das Brechen von Gewohnheiten und die musikalische Offenlegung der inneren Strukturen des musikalischen Produktions-, Reproduktions- und ideologischen Begleitapparats soll ein Hören ermöglichen, das offen und kritisch zugleich ist (Lachenmann 1985/2004). Im Falle von John Cage haben sich die Texte, die weit über eine kompositorische Selbstverständigung hinausgehen, tendenziell vor die Ä Rezeption seiner Musik geschoben. Der Band Silence (Cage 1961/73) hat seine Wirkung als programmatische Position der Freiheit in anderen Künsten mindestens ebenso deutlich entfaltet wie in der Musik. Dass Cage mit seinen unterschiedlichen Strategien der Subversion kompositorischer Kontrolle das eigentliche musikalische Geschehen zu einem guten Teil auf die Seite des Hörers verlagert, hat nicht verhindern können, dass seine Wirkung eher konzeptuell als ästhetisch war. Eher als für eine bestimmte Musik steht der Name Cage für ein entgrenztes Hören, wobei sich der dahinter stehenden »Ästhetik der Indifferenz« (Roth 1977), die auf einen radikalen Verzicht auf Einmischung und Urteil hinausläuft, nur die wenigsten verschreiben würden. 3. Methoden Mit der Skepsis des Musikhistorikers gegenüber rein systematischen Fragen schreibt Carl Dahlhaus: »Das System der Ästhetik ist ihre Geschichte« (Dahlhaus 1967, 10). Im Ganzen kann man sagen, dass die eher oder ausschließlich systematisch ansetzenden philosophischen Positionen und die eher historisch vorgehenden musikwissenschaftlichen Untersuchungen ein gutes Korrektiv füreinander abgeben, dass diese gegenseitige Korrektur aber nur selten konkret durchgeführt worden ist. Im Folgenden seien einige methodische Ansätze skizziert, bei denen das Verhältnis von Historischem und Systematischem höchst unterschiedliche Formen angenommen hat. 3.1 Kritische Theorie Die Musikästhetik in Deutschland ist über Jahrzehnte von Adorno dominiert worden. Selbst Komponist und Philosoph, konnte Adorno aus beiden Erfahrungsfeldern schöpfen, die jeweiligen Diskurse miteinander vermitteln und eine Ästhetik vorlegen, deren Reichweite und Tiefe ihresgleichen sucht und die dezidiert von der jeweils neuesten Musik auszugehen beansprucht, auch wenn ihre wesentlichen Bezugspunkte in der Vergangenheit liegen mögen (Adorno 1973, 1975, 1978). Dabei ist die Adornosche Musikphilosophie von philosophischen Grundüberzeugungen geprägt, die ein bestimmtes, kritisch anknüpfendes Verhältnis zur Tradition, einen historischen Stand des Ä Materials und ein inneres Verhältnis musikalischer mit gesellschaftlichen Zusammenhängen voraussetzen. Ästhetik lässt sich daher für Adorno weder von kompositorisch-technischen noch von politischen Fragen trennen. Die an systematischen Einsichten reiche, aber stets normativ vorgehende Philosophie Adornos ist in den Jahrzehnten nach seinem Tod Gegenstand zahlreicher Absetzbewegungen und erst neuerdings einiger systematischer Anschlüsse gewesen (Klein / Mahnkopf 1998; Mahnkopf 2006; Wellmer 2009; Klein 2014). 3.2 Analytische Philosophie Die im angelsächsischen Sprachraum dominierende analytische Philosophie ist weniger eine in sich geschlossene Methode als vielmehr ein Diskursraum, der ein spezifisches Verständnis von Problemen, Argumenten und Beispielen, bestimmte Formen der Debatte und einige philosophische Bezugspunkte teilt und dessen Fokus deutlich auf dem Systematischen liegt. Das gilt auch für die philosophy of music, die weniger durch geteilte Grundannahmen als durch die Überzeugung zusammengehalten wird, auf Musik bezogene Fragen als klar umrissene Probleme formulieren und begrifflich und argumentativ lösen zu 391 können. So wie die analytische Philosophie insgesamt ist auch diese Spielart der Musikphilosophie international dominierend. Es hat sich daraus ein differenzierter Diskussionszusammenhang ergeben, in dem ein bestimmter Bestand an Fragen und Themen (Bedeutung, Emotion, Status des Werks) dauerhaft und bisweilen höchst kontrovers behandelt wird (Kivy 1989; Levinson 1990, 1996; Davies 2003; als Überblick Alperson 1987, 1998; Gracyk / Kania 2011). Die Diskussion der neuen Musik bleibt dabei aber weitgehend ein Randphänomen. 3.3 Phänomenologie Als systematische Aufarbeitung der Erfahrung ist die Phänomenologie per definitionem nah an jenem von der ästhetischen Erfahrung ausgehenden Verständnis der Ästhetik, das sich in den vergangenen Jahren etabliert hat. Trotzdem ist die Diskussionslage phänomenologischer Ästhetik eher dünn, was insbesondere für die Musik gilt. Ansätze finden sich in den 1920er Jahren sowohl in der Musikwissenschaft als auch in der Philosophie (Mersmann 1921/22; Bekker 1925; Edelstein 1929; Blum 2010). Ihnen gemeinsam ist die Auffassung, dass die Frage nach dem Sein oder Wesen der Musik sinnvoll nur ausgehend von ihrer Erfahrung gestellt werden kann. Mehr oder weniger explizit hier anschließend sind verschiedene Theoretiker hervorgetreten, die sich mit Themen wie Ä Zeit, Raum, Bewegung und Affektivität in der gespielten und gehörten Musik beschäftigt haben (Zuckerkandl 1963; Schutz 1976; Smith 1979; Clifton 1983); darüber hinaus finden sich phänomenologische Motive bei einer Vielzahl von Theoretikern mit methodisch anderen Ausgangspunkten. Am plausibelsten erscheint vielen die Notwendigkeit eines phänomenologischen Anteils in der Ästhetik, ohne diese damit im Ganzen methodisch der Phänomenologie zu unterstellen (Janz 2010). 3.4 Semiotik Es gab einige Versuche, die Musik von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten als Zeichensystem aufzufassen: In ihrer von Ernst Cassirer inspirierten Symbolphilosophie hat Susanne K. Langer Musik als präsentatives Symbol beschrieben und damit sowohl an Semiotik als auch an Phänomenologie angeschlossen (Langer 1953). Nelson Goodman verhandelt die Musik im Rahmen seiner allgemeinen Symboltheorie, wobei vor allem das Konzept der metaphorischen Exemplifikation und die Theorie der Ä Notation relevant sind (Goodman 1976/95). Nicolas Ruwet und vor allem Jean-Jacques Nattiez haben eine detaillierte semiotische Aufarbeitung der Musik versucht und sich dabei an die Sprachwissenschaft angelehnt (Ruwet 1972; Nattiez 1975), und Vladimir Karbusicky hat den Ver- Musikästhetik such unternommen, eine musikalische Semantik zu formulieren (Karbusicky 1986). Mit der Anwendung semiotischer Kategorien scheint die Grundfrage, ob Musik Bedeutung hat oder annehmen kann, vorab bejaht zu sein. Inwiefern und in welchem Ausmaß das allerdings der Fall ist, wird von den verschiedenen Theoretikern höchst unterschiedlich beantwortet, wobei immer auch ihre Nähe oder Ferne zur Ä Sprache zur Debatte steht (Faltin / Reinecke 1973; Bierwisch 1979; Wellmer 2009). Auch wenn zeichentheoretische und eher der Rhetorik entstammende Motive weiterhin in Anspruch genommen werden (Hatten 2004; Thorau 2012), finden sich in der heutigen Diskussion kaum noch dezidiert semiotische Ansätze. 3.5 Psychologie / Kognitionswissenschaft Als Disziplin, die die Ä Wahrnehmung von Musik empirisch erforscht, sind Musikpsychologie und Kognitionswissenschaft scheinbar unabhängig von einer Ästhetik, die auf begriffliche Rekonstruktion setzt. Dabei ist die Abgrenzung bisweilen nicht so einfach: So ist Ernst Kurths Buch von 1931, das der Disziplin ihren Namen gegeben hat, in Wahrheit eine Musikästhetik (Kurth 1931/69). Die Tonpsychologie des späten 19. Jh.s, die gestalttheoretische Forschung des frühen 20. Jh.s, die empirische Musikpsychologie der Nachkriegszeit und die kognitionswissenschaftliche Forschung der Gegenwart markieren methodisch sehr unterschiedliche Ansätze des Umgangs mit Musikwahrnehmung und sind in unterschiedlichem Maße an ästhetische Diskurse angeschlossen bzw. anschließbar (La Motte-Haber / Rötter 2005; Bruhn u. a. 2008). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Thema Musik und Kognition zwischen Psychologie, Kognitionswissenschaft und Neurowissenschaft zu einem sehr intensiv bearbeiteten Forschungsfeld entwickelt (Sloboda 2005; Huron 2006; Patel 2008; Deutsch 2012; als Überblick Pearce / Rohrmeier 2012), wobei die Ansätze sich zwischen Entwürfen einer kognitiven Musiktheorie (Lerdahl / Jackendoff 1983) und Forschungen bewegen, die Musik als heuristisches Instrument zur Erforschung des Gehirns verwenden (Koelsch 2013). Der Idealfall einer produktiven und kritischen Auseinandersetzung zwischen Ästhetik und kognitionswissenschaftlicher / psychologischer Forschung bleibt vielfach ein Desiderat. 4. Themen Die in der Musikästhetik der letzten Jahrzehnte verhandelten Themen sind vielfältig, es finden sich aber einige zentrale Punkte, um die sich größere Diskussionszusammenhänge gebildet haben, die sich in unterschiedlichem Musikästhetik Maße auf die neue Musik beziehen. Auf vier von ihnen sei hier exemplarisch eingegangen. 4.1 Gefühl / Emotion Mit der Verbindung von Musik und Gefühl haben wir den bemerkenswerten Fall eines höchst traditionsreichen Themas, das fast alle Diskurse über Musik durchzieht (als Überblick mit kognitionswissenschaftlichem Schwerpunkt Juslin / Sloboda 2011), aber für die neue Musik so gut wie keine Rolle spielt. In keiner der innerhalb der neuen Musik geführten Debatten ist Gefühl ein zentrales Thema, und Ästhetik und Psychologie beschäftigen sich fast ausschließlich mit der Tradition bis 1900 und bisweilen mit Popmusik. Nachdem heute weder das Platonische Ethos oder die barocke Affektenlehre noch das romantische Ausdrucksparadigma überzeugen können – auch wenn letzteres ins Alltagsverständnis übergegangen ist –, wird die gegenwärtige Diskussion vor allem darum geführt, wo und in welcher Weise Gefühle in der Musik vorkommen (Gracyk / Kania 2011, Teil II): als Ausdruck von Komponist oder Interpret, als zeichenhafte oder über Ähnlichkeit vermittelte Darstellung innerhalb der Musik selbst (Langer 1942/84; Goodman 1976/95; Kivy 1989), über die Simulation einer fiktiven emotional bewegten Persona durch den Hörer (Levinson 1996; Robinson 2005) oder als dessen Erregung (Matravers 1998). Eine vermittelnde Rolle können Theorien einnehmen, die die scharfe Abgrenzung zwischen der Affektivität der beteiligten Personen und der Darstellung von Affektivität in der Musik (Davies 1994) sowie diejenige zwischen Ausdruck, Affektion, Ähnlichkeit und Zeichenhaftigkeit unterlaufen und Affektivität deutlich weiter fassen (Grüny 2014). 4.2 Sinn / Verstehen Die Frage nach Sinn und / oder Bedeutung in der Musik hängt mit der nach ihrer Sprachähnlichkeit zusammen, ist aber nicht damit zu identifizieren. Von elementarer Strukturiertheit bis zu expliziten Bedeutungen sind unterschiedliche Ebenen von Sinn auseinander zu halten (Coker 1972). Die elementare Form von Sinn als nachvollziehbare Gliederung, die Hörern Anknüpfungspunkte bietet, ist nicht auf die Sprachähnlichkeit harmonischer Tonalität angewiesen und kann auch von explizit skeptischen Positionen (Kneif 1973; Schnebel 1993) nicht bestritten werden. Entsprechend wird die grundlegende Ebene des Verstehens mit dem Erkennen oder Nachvollzug (neutraler: der Auffassung) von Verläufen und Ä Strukturen zusammengebracht, die sich diesseits einer Referenzbeziehung halten (Scruton 1997; Vogel 2007). Gerade in der posttonalen Musik muss auf dieser Ebene von einem Ineinander von Sinngenese und Sinnsubversion gesprochen werden. 392 Dabei ist von verschiedenen Seiten bemerkt worden, dass diese Auffassung weder affektiv neutral noch weltlos ist; dies wurde etwa mit gestalttheoretisch-energetischen (Meyer 1956) und linguistischen (Bierwisch 1979) Mitteln, unter Rückgriff auf Goodman (Mahrenholz 1998) mit Bezug zu Adorno (Wellmer 2009) oder zu Langer und anderen (Grüny 2014) festgehalten. Der Weltbezug der Musik bleibt dabei prekär und steht immer wieder neu auf dem Spiel, ohne aber ganz bestritten werden zu können (Ä Themen-Beitrag 4). Eine große Rolle spielen dabei Rezeptionskontexte (Ä Rezeption), Interpretationszusammenhänge (Ä Interpretation) und intermediale Konstellationen (Ä Intermedialität). Als kulturelle und soziale Praxis findet sich die Musik unabhängig von ihrer grundlegenden Verfasstheit immer in Zusammenhänge eingespannt, die mehr oder weniger kodifizierte Bedeutungszuschreibung und -erfahrungen mit sich bringen (Kramer 2002; Cook 2007). 4.3 Werk Der Werkbegriff ist in allen künstlerischen Disziplinen im 20. Jh. zum Problem geworden, und in seiner Behandlung laufen systematische und historische Perspektiven auf exemplarische Weise ineinander. Der Diskussion um den ontologischen Status des Musikwerks, die mit phänomenologischen Mitteln (Ingarden 1962) und dann intensiv in der analytischen Philosophie geführt wurde, wurde vorgehalten, dass das Werkparadigma nur für eine historisch eng umschriebene Zeit Geltung hat (Goehr 1992), wobei Uneinigkeit herrscht, ob der Beginn dieser Praxis um 1800 oder deutlich früher anzusetzen ist (Strohm 2000). Die Tatsache, dass von einer vollständigen Verabschiedung des Werkparadigmas heute keine Rede sein kann, lässt im Rückblick Positionen plausibel erscheinen, die dafür plädiert haben, auch angesichts von Zerfallstendenzen am Werkbegriff festzuhalten (Dahlhaus 1969) oder eher von Öffnung als von Zerfall zu sprechen (Eco 1962/1977). Angesichts dessen erscheint ein deutlich weiterer und flexiblerer Werkbegriff produktiv, der die Entfaltung in der Erfahrung und die intersubjektive und diskursive Behandlung von etwas als Werk mitberücksichtigt bzw. ins Zentrum rückt (Wellmer 2009). Im Zusammenhang mit der Erkenntnis der historischen und kulturellen Begrenztheit des Werkkonzepts und der Diskussion um seinen systematischen Status ist in den vergangenen Jahren verstärkt die Performativität (Ä Performance) musikalischer Praxis in den Vordergrund gestellt worden, womit sowohl auf ein grundsätzlich verändertes Verständnis der Tradition europäischer Kunstmusik als auch auf eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Untersuchung gezielt wird (Small 1998; Cook 393 2013). Unbeeindruckt von diesen Diskussionen ist auch kürzlich noch ein eher traditioneller Werkbegriff als idealtypischer Fluchtpunkt der gesamten europäischen Musiktradition vertreten worden (Hindrichs 2014). 4.4 Zeit Musik gilt als die Zeitkunst schlechthin, und philosophische Zeittheorien (Augustinus, Henri Bergson, Edmund Husserl) haben immer wieder an entscheidenden Stellen auf musikalische Beispiele zurückgegriffen. Angesichts dessen mag es überraschen, dass die Ä Zeit, in der zeitgenössischen Musikästhetik nicht die gleiche Rolle einnimmt wie etwa die Emotion; in der analytischen Musikphilosophie taucht sie nur selten auf. Für bestimmte kompositorische Positionen ist das Thema Zeit dagegen von zentraler Bedeutung und findet sich entsprechend auch in den ästhetischen Reflexionen wieder  – Beispiele wären Stockhausens serielle Organisation von Zeit und die »Momentform«, Cages vom Kitt befreite, ganz für sich stehende Klänge, Feldmans Stücke extremer Länge, Zenders »europäische« und »asiatische« Zeitgestalten (Stockhausen 1957/1963, 1960/1963; Cage 1958/73; Zender 1999/2004) und, an anderer Stelle, die Ä Improvisation und der um sie geführte Zeit-Diskurs (Bailey 1992; Solis / Nettl 2009; Peters 2009; Feige 2014). Die Betonung des Präsenzcharakters der Musik und ihrer Ereignishaftigkeit bieten hier theoretische Anknüpfungspunkte (Picht 1969; Mersch 2002). Auch das Motiv des utopischen Vorscheins, einer Zeit außerhalb der Geschichte, ist mit diesen Motiven verbunden worden (Adorno 1970; Bloch 1974). Auch wenn die musikwissenschaftliche und philosophische Auseinandersetzung Zeit paradoxerweise vielfach selbst dort marginalisiert hat, wo sie sich dem Ä Rhythmus zugewandt hat, finden sich Versuche einer prozesstheoretisch inspirierten Rhythmustheorie, die Zeitlichkeit und Offenheit ernst nimmt (Hasty 1997) und einer Aufarbeitung der höchst unterschiedlichen musikalischen Zeitformen (Kramer 1988; Klein u. a. 2000), die offensichtlich auch dort, wo sie sich mit Musik der Tradition beschäftigen, von den Erfahrungen der neuen Musik ausgehen. 5. Herausforderungen Die Musikästhetik im hier angesetzten weiten Sinne ist ein heterogenes, von scharfen Auseinandersetzungen und gegenseitiger Nichtbeachtung durchzogenes Feld. Über diese inneren Differenzen und die strittige Abgrenzung zu Nachbardisziplinen hinaus lässt sich an sie eine grundsätzliche Frage stellen, die sich an ihre Fixierung auf Ä Struktur und Text richtet. Hier wurde eingewendet, dass eine solche Ausrichtung einem großen Teil der Musik un- Musikästhetik angemessen ist (außereuropäische Musiken, Gebrauchsmusik, Popmusik) und es sich dabei auch in Bezug auf die westliche Kunstmusik selbst um eine Ideologie handelt (Abbate 2004). Erfahrene Klanglichkeit dagegen in Stellung zu bringen, ist dort kein Ausweg, wo Ästhetik auch im Sinne der Fokussierung auf strukturierte Wahrnehmung zum Problem wird. Thematisiert wurde dies von der Ethnomusikologie auf der einen und den Cultural Studies auf der anderen Seite, was seit den 1980er Jahren auch in der Historischen Musikwissenschaft Widerhall gefunden hat. Während Joseph Kerman (1985) noch das weitgehende Fehlen von Reflexionen der gesellschaftlichen und politischen Dimension des Faches bemängelte, hat sich seitdem ein umfangreicher Diskurs etabliert, der sich genau diesen Themen zuwendet (McClary 1991; Subotnik 1991; Cook / Everist 1999; DeNora 2000; Agawu 2003). Damit geht eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs über die westliche Kunstmusik hinaus (Ä Globalisierung) und eine grundsätzliche Befragung der Ästhetik selbst als Unternehmen einher, das seine Gegenstände zu dekontextualisieren und damit zu neutralisieren droht (Keil / Feld 1994; Nettl 2005). Auch in Bezug auf die Popmusik als der dominierenden Musikform der Gegenwart besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass sie mit rein ästhetischen Mitteln nicht angemessen beschrieben werden kann, sondern auf multimediale, gesellschaftliche, ökonomische und politische Zusammenhänge bezogen werden muss (Frith 1996; Diederichsen 2014); für die neue Musik wird diese Beziehung noch selten hergestellt (Born 1995; Ä Musiksoziologie). Die medialen Transformationen der letzten Jahrzehnte finden ihren Niederschlag auch in der neuen Musik, ohne dass schon klar wäre, was die Folgen sein werden (Kreidler u. a. 2010). Auch die postkonzeptuelle Situation, die für die bildende Kunst konstatiert worden ist (Osborne 2013), stellt die neue Musik vor große Herausforderungen (Ä Konzeptuelle Musik). Als entscheidende Aufgabe der Musikästhetik erscheint heute ihr Anschluss an die Diskussion in der philosophischen Ästhetik, die Verbindung systematischer und historischer Fragen mit fachwissenschaftlicher Kompetenz (Klein 2014) und die Notwendigkeit, den realen Veränderungen einer auf der einen Seite globalisierten, auf der anderen Seite in sich höchst differenzierten Musik Rechnung zu tragen und dabei den Dialog mit Nachbardisziplinen zu suchen. Ein solches Unternehmen kann es »eigentlich nur noch arbeitsteilig geben: im Zusammenspiel von Philosophen und reflektierten Komponisten, nicht zu sprechen von Musikologen, Kritikern, Kulturund Literaturwissenschaftlern« (Wellmer 2011, 12). Die Musikästhetik Frage nach einer »zeitgemäßen Musikästhetik« (Urbanek 2010), die sich der Gegenwart theoretisch gewachsen sieht, ist offener denn je. 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Texte zur Musik 1975–2003, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, 85–94 „ Zuckerkandl, Viktor: Die Wirklichkeit der Musik. Der musikalische Begriff der Außenwelt, Zürich 1963 Christian Grüny Musikhistoriographie Inhalt: 1. Subjekte der Musikgeschichte  „ 2. Pluralität  „ 3. Musikhistorische Darstellungen der neuen Musik  „ 4. Darstellungsform 1. Subjekte der Musikgeschichte Als Spezialgebiet der Geschichtsschreibung ist die Musikhistoriographie mit besonderen Herausforderungen an die historiographische Praxis verbunden. Resümiert man die knapp dreihundert Jahre ihrer Existenz, so ist die Frage nach dem »Subjekt der Musikgeschichte« (Dahlhaus 1977/2000, 48–56), also die Frage, wessen Geschichte erzählt wird, immer wieder anders beantwortet worden. Lange Zeit war dies sicher auch von der Stellung und Profession des Autors abhängig, der ein Kleriker, ein gebildeter Dilettant, ein Komponist und Musiker oder – fachgeschichtlich spät  – ein professionell ausgebildeter Akademiker sein konnte. Die Frage nach dem Subjekt der Musikgeschichte hängt in erster Linie aber mit dem jeweils vorausgesetzten Bild und Begriff von Geschichte zusammen. In einer sehr weit gefassten Musikgeschichte ist deren Subjekt die Menschheit in ihrer Entwicklung von den Anfängen im Paläolithikum zur Weltgesellschaft der Gegenwart (Knepler 1977/82, 1997); das Subjekt kann eine Mehrzahl von Kulturen, Gesellschaften, Milieus oder Individuen sein, was dann zu einer entsprechenden Mehrzahl von Musikgeschichten führt; enger gefasst kann das Subjekt aber auch »die Musik selbst« sein, im Sinne einer inhärenten Geschichtlichkeit, die sich an der Entstehung und Ablösung von Schulen, Ä Stilen, Ä Gattungen oder Ä Kompositionstechniken ablesen lässt; Subjekt kann  – noch enger gefasst  – die Musik als Kunst sein, deren Geschichtlichkeit sich als inhärente »Problemgeschichte des Komponierens« (Dahlhaus 1981) zeigt; in einer biographisch ausgerichteten Musikhistoriographie kann das Subjekt der »bedeutende«, geschichtswirksame Musiker Musikhistoriographie (bzw. die Musikerin) sein, in der Umkehrung dieser Perspektive, wie sie mikro- oder alltagsgeschichtliche Ansätze vornehmen, aber auch der ganz unbedeutende, der den Durchschnitt repräsentiert; das Subjekt der Musikgeschichte kann schließlich mit übergreifenden Strukturen von langer Dauer (Episteme, Dispositiv, Kommunikationssystem) oder dem von menschlichen Subjekten tendenziell unabhängigen Bereich der Technik, der »Aufschreibsysteme« und der Ä Medien gegeben sein. 396 sik im Zuge der fortschreitenden Gesellschaftstransformation. Nicht nur mit einer Pluralität von Kulturen und Gesellschaften ist die Musikhistoriographie konfrontiert, die Gesellschaft und ihre Musik selbst sind plural wie in keiner früheren Periode. Stabile gesellschaftliche Hierarchien, Klassen oder Milieus lösen sich auf, bis hin zur gegenwärtigen radikalen Individualisierung im digitalen Schwarm, die allerdings durch homogenisierende Tendenzen in der »Netzgemeinde« wieder aufgewogen wird (Ä Internet). 2. Pluralität So unterschiedlich die Bestimmung des Subjekts der Musikgeschichte ausfallen kann, so unterschiedlich kann auch die Frage nach dem Zusammenhang beantwortet werden, der aus den mit einem bestimmten Subjekt gegebenen Daten und Fakten eine Geschichte macht. Mit dem Anwachsen des Archivs musikbezogener Quellen und Dokumente wird es zunehmend schwer, Musikgeschichte als Erzählung einer Geschichte zu praktizieren. Die Folge ist eine Tendenz zur Enzyklopädie, zur Auffächerung in Einzelgeschichten. Seit die im 19. Jh. bereits artikulierte Geschichtsskepsis auch in der Historischen Musikwissenschaft die Methodendiskussion bestimmt, stellen universelle, spekulative Großentwürfe wie Walter Wioras Die vier Weltalter der Musik (1961/88) Fremdkörper dar, die im Fach auf wenig Resonanz stoßen. Dennoch steht die methodologische Reflexion seit Jahrzehnten vor dem Problem, wie sich das heterogene Feld musikbezogener Praktiken und Objekte so verdichten ließe, dass der Anspruch an die Geschichtserzählung erfüllt wird, Vergangenes verstehbar werden zu lassen. Carl Dahlhaus plädierte für einen methodischen Eklektizismus unter dem Dach der Strukturgeschichte, was die Musikhistoriographie auf die Rekonstruktion von mehrschichtigen Systemzusammenhängen verpflichtet (Dahlhaus 1977/2000, 30, 124–142). Für Georg Knepler führt die beschriebene Entwicklung zwangsläufig zu Formen einer kollaborativen, interdisziplinären Musikhistoriographie (Knepler 1997, 1317). Vor den Problemen, auf die sich Dahlhaus ’ und Kneplers Lösungsvorschläge beziehen, steht nicht erst die Musikhistoriographie des 20. und 21. Jh.s. Dort stellen sie sich allerdings in einer dramatisch zugespitzten Form, denn die Fülle von Dokumenten und Themen ist zumal nach der Einführung der elektronischen Speicherungs- und Wiedergabetechnik und im Zuge der beschleunigt fortschreitenden Ä Globalisierung exponentiell angewachsen. Die »Welt« wird durch die Entwicklung leistungsstarker und effizienter Speicherungs- und Kommunikationstechnik einerseits überschaubar, gleichzeitig in ihrer Komplexität aber immer unüberschaubarer. Hinzu kommt das Phänomen einer zunehmenden Diversifizierung der Mu- 3. Musikhistorische Darstellungen der neuen Musik Das vierzehnbändige Handbuch der Musikwissenschaft im 20. Jh. (La Motte-Haber u. a. 1999–2011) und die Cambridge History of Twentieth-Century Music (Cook / Pople 2004) versuchten sich kurz nach der Jahrtausendwende an einer Neuvermessung des musikgeschichtlichen 20. Jh.s. Als von Autorenkollektiven bearbeitete Werke unterstreichen sie den Eindruck der Heterogenität und grenzen sich konzeptionell von traditionellen Modellen der Musikhistoriographie ab. Das Resultat ist in beiden Fällen eine Mischform aus Musikgeschichte und Enzyklopädie, bei der die Frage nach geschichtlichen Zusammenhängen allerdings in den Hintergrund tritt. Von einzelnen Autoren geschriebene Musikgeschichten des 20. Jh.s, wie sie JeanNoël von der Weid (1992/2010), Richard Taruskin (2005) und Alex Ross (2007) vorgelegt haben, tendieren dagegen noch an der Schwelle des 21. Jh.s zu »klassischen« Formen der Geschichtserzählung und orientieren sich – dabei persönlichen Neigungen folgend – an Stilperioden, Personen, Nationen oder den Zäsuren der politischen Geschichte. In den Geschichtswissenschaften aktuell diskutierte Ansätze aus dem Bereich der Globalgeschichte, der transnationalen Geschichte oder der Verflechtungsgeschichte, die das Moment des Heterogenen ernst nehmen und dennoch nach Verbindungsmomenten suchen, werden in der Musikhistoriographie erst zögernd aufgegriffen. Der Begriff Ä »Neue Musik« ist ein musikgeschichtlicher Grundbegriff, er enthält einen zeitlichen Indikator, der implizit auf eine Zeitordnung verweist, in der sich das Neue vom Alten abhebt. Der emphatische Gehalt des Begriffs verweist dabei auf eine Gesellschaft oder Kultur, für deren Selbstreflexion das Geschichtsbewusstsein von zentraler Bedeutung ist. In China etwa trifft eine »neue chinesische Musik« auf anders gelagerte Formen des historischen Bewusstseins als in Europa und der Begriff »neue Musik« hat hier insofern einen anderen Klang (Liu 2010). Folgt man Liu Ching-Chihs Überlegungen, dann konnte der Begriff »neue Musik« (xin yinyue) in China zwar seit den 1930er Jahren eine realistische Massenkunst im Sinne der kommunistischen Ideologie bezeichnen, die in 397 der Folge traditionelle Musik der feudalen Zeit tatsächlich ablösen sollte. Liu selbst stellt dem jedoch einen weiter gefassten Begriff von »neuer Musik in China« gegenüber und meint dabei chinesische Musik der letzten 100 Jahre, die sich an europäische Musik – und bis in die 1980er Jahre vor allem an europäische Musik des 18. und 19. (!) Jh.s – anlehnt, eine Musik, die dabei weniger ein zeitliches »Nach«, sondern vielmehr ein »Neben« mit Bezug auf die lange (und weiterhin) bestehenden traditionellen Musikformen Chinas markiert (ebd., 7–21). Für Paul Bekker und dessen Nachfolger war »Neue Musik« zunächst eine terminologische Alternative zu Ä »Moderne«. Zum Begriff »Neue Musik« gehört für Bekker der Gedanke der »inneren Berechtigung« einer Musik in ihrer jeweiligen Gegenwart (1919/23, 97), ein Gedanke, der einer Geschichtslogik entspringt, die bestimmte Formen von Musik aus geschichtlichen Gründen gegenüber anderen auszeichnet. Zum Begriff »Neue Musik« gehört die Vorstellung, die Geschichte auf seiner Seite zu haben, eine geschichtliche Bestimmung zu erfüllen. Darin wirken sehr alte Schichten des europäischen Geschichtsdenkens fort, nicht selten religiöser Provenienz: Vorstellungen vom Schicksal oder Geschick, von Vorsehung, Erfüllung oder dem Erwählt-Sein. Dies verbindet sich allerdings mit einer dezidiert modernen Ausrichtung des Geschichtsdenkens, wie sie sich in Adornos Konzept einer »geschichtlichen Tendenz« des Ä »Materials der Musik« ausdrückt (Adorno 1949/75, 38). Das musikalische Kunstwerk erscheint hier als Kraftfeld im Kreuzungspunkt unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungslinien. Der »Stand des Materials«, der Möglichkeitsraum, in dem sich der Komponist bewegt, ergibt sich aus dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung. Hieraus resultiert bei Adorno dann auch eine Verantwortung des Komponisten bzw. Musikers, die ihm aus dem Stand der geschichtlichen Entwicklung zuwächst: die Verantwortung, künstlerisch autonom zu agieren und sich nicht von fremden Interessen bestimmen zu lassen. Die Musikhistoriographie des 20. Jh.s hat sich durchaus von dem hier skizzierten musikgeschichtlichen Grundbegriff »Neue Musik« leiten lassen. Die neue Musik wurde als in sich geschlossene Entwicklung aus der Musikgeschichte des 20. Jh.s herausgelöst, wie etwa in den vielgelesenen Monographien von Ulrich Dibelius (1998) oder auch in der jüngeren Musikgeschichte von Weid (1992/2010). Aber auch allgemein gehaltenen Darstellungen konnte das Gravitationszentrum neue Musik ihre Konturen vorprägen. So erzählt bereits Hans Mersmanns Handbuchband (1928) vom Moment der Ablösung des langen 19. Jh.s durch die neue Musik. Carl Dahlhaus (1980), dessen Periodisierung sich mit der Mersmanns be- Musikhistoriographie rührt, lässt ein langes (oder versetztes) 19. Jh. (1814–1914) mit einer Epoche Ä Moderne enden, die als Vorgeschichte der neuen Musik dieser im 20. Jh. das Feld überlässt. Auch Hermann Danuser (1984) stellt in seinem an Dahlhaus anschließenden Handbuchband insgesamt die neue Musik ins Zentrum, auch wenn mit Themen wie Ä Jazz und Musik im Ä Film der Rahmen perspektivisch geweitet wird. Diese, unterschiedlich motivierte, starke Gewichtung der neuen Musik in der Musikhistoriographie steht in letzter Zeit zunehmend in der Kritik. Eine Parteinahme für die neue Musik, einst Zeichen der Distanzierung von konservativen, rückwärtsgewandten Ausprägungen der Musikwissenschaft, kann mittlerweile durchaus ihrerseits als Voreingenommenheit und Makel registriert werden. Kritik kommt in diesem Zusammenhang von Autoren, die über Komponisten wie Richard Strauss arbeiten, der von Beginn an einen Gegenpol für die diskursive Formation der neuen Musik bildete und musikgeschichtlich insofern am Rand oder jenseits der neuen Musik stand (Lütteken 2014, Werbeck 2014), und von Autoren, die »die gesellschaftliche Isolation der neuen Musik« (Custodis 2004) als Ursache für einen generellen Niedergang der musikalischen Kultur im 20. Jh. verantwortlich machen. Insbesondere Richard Taruskin hat in den vergangenen Jahren das Bild der neuen Musik als einer ihren eigenen Utopien nachhängenden und in sich verschlossenen musikalischen Nischenkultur gezeichnet, die dem breiten Publikum ganz bewusst den Rücken zukehre und auf diese Weise, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, die zeitgenössische ernste Musik letztlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz beraube (vgl. Taruskin 2005 passim und 2009, Vorwort; für eine Kritik an Taruskins Musikhistoriographie des 20. Jh.s vgl. u. a. Cox 2012). Kritik kommt ferner von Autoren, die eine gleichrangige musikgeschichtliche Berücksichtigung von populärer oder traditioneller Musik bzw. von allen nur denkbaren kulturellen oder sozialen Musikkontexten fordern (Hentschel 2012, 248). Eine der gegenwärtig dringlichsten Aufgaben einer Musikhistoriographie des 20. Jh.s besteht vor dem Hintergrund dieser Kritik darin, den Stellenwert und die Bedeutung der neuen Musik im Rahmen eines sowohl horizontal-geographisch als auch vertikalsoziologisch geweiteten musikalischen Feldes neu zu bestimmen und kritisch zu reflektieren (Ä Musiksoziologie). 4. Darstellungsform Die Musikhistoriographie hat sich zwar inhaltlich, doch nur in geringem Maße formal an neuer Musik orientiert. Zwar gibt es eine weit fortgeschrittene Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Fachs. Dennoch sind Musikgeschichten bis in die Gegenwart hinein oft traditionell konzipiert, erstaunlicherweise gerade dort, wo der neuen 398 Musikjournalismus Musik ein großer Stellenwert eingeräumt wird. Dies lässt umgekehrt einen der neuen Musik selbst inhärenten Konservatismus erkennen, die um ihrer Selbstverortung willen an der Vorstellung der einen Geschichte festhält. Als Kunstform hat sich die neue Musik hingegen schon lange auf Momente von Nichtlinearität und Desintegration spezialisiert, sie hat im Ensemble der Künste die Pluralität, Mehrzeitigkeit und Hybridität der modernen Lebenswelt künstlerisch reflektiert (Ä Collage / Montage; Ä Globalisierung; Ä Postmoderne). Eine Musikhistoriographie, die sich konzeptionell an diesen Erfahrungen orientieren würde, sähe sich angesichts der Komplexität der Welt im 20. und 21. Jh. möglicherweise dazu gezwungen, die neue Musik aus dem Zentrum in die Peripherie zu verschieben oder zumindest deren Hegemonieanspruch zurückzuweisen. Welche Akzente sie setzt und welche Gewichtsverteilung sie vornimmt, hängt dann allerdings vom Begriff der Geschichte ab, auf dessen Grundlage sie das Vergangene rekonstruiert. Ä Themen-Beitrag 3; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Globalisierung; Moderne; Musiktheorie; Musikwissenschaft; Postmoderne Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ Bekker, Paul: Neue Musik (Gesammelte Schriften 3), Stuttgart 1923 „ Cook, Nicholas / Pople, Anthony (Hrsg.): The Cambridge History of Twentieth-Century Music, Cambridge 2004 „ Cox, Franklin: Taruskins The Oxford History of Western Music, in: Musik & Ästhetik 16/61 (2012), 95–106 „ Custodis, Michael: Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945 (BzAfMw 62), Stuttgart 2004 „ Dahlhaus, Carl: Grundlagen der Musikgeschichte [1977], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Laaber 2000, 11–155 „ ders.: Die Musik des 19. Jh.s (NHbMw 6), Laaber 1980 „ ders.: Musikalische Gattungsgeschichte als Problemgeschichte, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1979/80, Berlin 1981, 113–132 „ Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jh.s (NHbMw Bd. 7), Laaber 1984 „ Dibelius, Ulrich: Moderne Musik nach 1945, erweiterte Neuausgabe, München 1998 „ Hentschel, Frank: Modularisierte Musikgeschichte, in: Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens, hrsg. v. Sandra Danielczyk u. a., Hildesheim 2012, 241–260 „ Knepler, Georg: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung [1977], Leipzig 21982 „ ders.: Musikgeschichtsschreibung, in: MGG2S, Bd. 6 (1997), 1307–1319 „ La Motte-Haber, Helga u. a. (Hrsg.): HbM20Jh, 14 Bde., Laaber 1999–2011 „ Liu Ching-Chih: A Critical History of New Music in China, Hong Kong 2010 „ Lütteken, Laurenz: Richard Strauss. Musik der Moderne, Stuttgart 2014 „ Mersmann, Hans: Moderne Musik (Handbuch der Musikwissenschaft), Potsdam 1928 „ Ross, Alex: The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century, New York 2007 „ Taruskin, Richard: The Oxford History of Western Music, Bd. 4 und 5, Oxford 2005 „ ders.: The Danger of Music Literatur and Other Anti-Utopian Essays, Berkeley 2009 „ Weid, JeanNoël von der: La musique du XXe siècle, Paris 1992 (mehrere aktualisierte Auflagen bis 2010) „ Werbeck, Walter: Vorwort, in: Richard Strauss Handbuch, hrsg. v. Walter Werbeck, Stuttgart 2014 „ Wiora, Walter: Die vier Weltalter der Musik [1961], München 21988 Tobias Janz Musikjournalismus Inhalt: 1. Kernkompetenz Musikkritik  „ 2. Veränderungen im Praxisfeld „ 3. Probleme des Metiers Das heute generell mit der Bezeichnung »Musikjournalismus« belegte Tätigkeitsfeld umfasst eine Vielzahl von thematischen Facetten, die generell auf alle Musikgenres bezogen sind und deren Vermittlung an ein möglichst breites Publikum ebenso wie die kritische Auseinandersetzung mit ihnen beinhaltet. Als spezielle Form des Kulturjournalismus findet Musikjournalismus medienübergreifend in diversen Printmedien, in Hörfunk und Fernsehen sowie im Internet statt und bedient sich hierzu einer ganzen Reihe verschiedenartiger, dem jeweiligen Gegenstand angepasster journalistischer Formate (Ä Internet, Ä Medien). In seiner Gesamtheit ist er erst seit wenigen Jahren Gegenstand von speziell entwickelten Studiengängen. So setzt sich der Studiengang »Musikjournalismus« an der TU Dortmund als Qualifikationsziel, »eine besondere Kombination: Sachverstand in Musik und Professionalität im Umgang mit Medien« (www.musikjournalismus.tudortmund.de) zu vermitteln, ohne sich in Bezug auf das berufliche Umfeld genauer festzulegen, während der Studiengang »Musikjournalismus im öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk« an der Hochschule für Musik und Theater München schon vom Angebot her dezidiert auf bestimmte Arbeitsbereiche ausgerichtet ist, wobei auch hier der »Qualität musikjournalistischer Vermittlung« und den »Voraussetzungen für vernetztes, medienübergreifendes Arbeiten« (www.musikjournalismus.info) zentrale Bedeutung eingeräumt wird. 1. Kernkompetenz Musikkritik Ein Blick auf die heute im Musikjournalismus vorherrschenden Formate (Overbeck 2005, 2009, 2015) verdeutlicht, dass es oftmals nur um die bloße Aufbereitung und Vermittlung von Informationen geht, während eine der zentralen Kompetenzen, nämlich jene der autonomen Musikkritik, sehr stark in den Hintergrund gerückt oder bisweilen gar auf einen reinen Servicewert reduziert worden ist. Diese Reste lassen kaum mehr erahnen, dass gerade die Musikkritik vor gut einem Jahrhundert eine 399 zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik und den damit verknüpften ästhetischen Debatten gespielt hat: Seit sich ab Beginn des 20. Jh.s und verstärkt dann nach 1945 im Musikleben eine Schwerpunktverlagerung von der Pflege zeitgenössischer Produktion hin zur eher konservierenden Reproduktion älterer Werke abzeichnete, machte auch die Musikkritik einen Bedeutungswandel durch, indem sie sich von der Rolle als Instrument zur Beurteilung neuer Kompositionen löste und ihre Funktion als Werkzeug zur theoretischen und ästhetischen Auseinandersetzung mit dem modernen Musikschaffen neu definierte. Unter den deutschsprachigen Persönlichkeiten, die sich in diesem Kontext hervorgetan haben, ist vor allem Paul Bekker zu nennen, der wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit die Tendenzen des aktuellen Musiklebens analysierte und die neu entstehende Musik auf Grundlage eines soziologisch fundierten Begriffs von Musikkritik (Bekker 1916/19, 14) als Ausdruck ihrer Zeit diskutierte. Dabei setzte er sich nachhaltig für die Arbeit von Komponisten wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek oder Franz Schreker ein und prägte dafür den Ausdruck »neue Musik«, mit dem er um Verständnis für die schwer vermittelbaren ästhetischen Positionen dieser Persönlichkeiten warb (Bekker 1919; Ä Neue Musik). Die Auseinandersetzung um das zeitgenössische Musikschaffen, insbesondere die Diskurse um die Musik der Wiener Schule, wurden während der 1920er und frühen 1930er Jahre, einer wichtigen »Blütezeit der Musikkritik« (Hiekel 2012, 108), innerhalb deutschsprachiger Periodika wie der seit 1901 in Berlin erscheinenden Zeitschrift Musik, der 1919 durch Hermann Scherchen als Organ der Neuen Musikgesellschaft gegründeten Zeitschrift Melos sowie der gleichfalls seit 1919 in Wien publizierten Musikblätter des Anbruch von Autoren wie Bekker, Willi Reich, Kurt Westphal, Hans Mersmann, Theodor W. Adorno, Heinrich Strobel und Hans Heinz Stuckenschmidt vorangetrieben (Ä Institutionen, Ä Medien), verstummten jedoch ab 1933 im Zuge der Instrumentalisierung von Musikkritik während der Zeit des Ä Nationalsozialismus (Lovisa 1993). Als besonders wirkungsmächtig haben sich Strobels publizistische Arbeiten der Zwischenkriegszeit und sein Eintreten für zeitgenössische Komponisten wie Paul Hindemith und Igor Strawinsky erwiesen; darüber hinaus stehen seine Aktivitäten nach dem Zweiten Weltkrieg paradigmatisch für die eigenständige, meist modernistisch orientierte Musikkritik, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in den deutschsprachigen Ländern etablierte. So setzte sich Strobel einerseits als Herausgeber von Melos für eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Musikproduktion ein, wofür er eine in gleichem Maße »darstellende«, »erläuternde« und Musikjournalismus »klärende« (1948, 34) Methode der analytischen Betrachtung von Musik pflegte; in seiner Funktion als Leiter der Musikabteilung des Südwestfunks trug er andererseits entscheidend zur Profilierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dessen durch musikjournalistische Arbeit begleitete Stellung als »Impulsgeber und Mäzen« (Nauck 2004) zur Förderung zeitgenössischen Komponierens bei. In musikjournalistischer Hinsicht vielfach prägend für die zweite Hälfte des 20. Jh.s war im deutschsprachigen Raum auch die Arbeit Stuckenschmidts, dessen vergleichsweise weit gefasste Umschreibung von Musikkritik als »Prüfung, Beurteilung und Wertung mus[ikalischer] Kunstwerke, Auff[ührungen] und Institutionen« (1961, 1131) dem Ideal entsprach, als »wertende[r] Kritiker […] entscheidend zum Verständnis künstlerischer Leistungen« beizutragen (ebd., 1147). Solcher vorwiegend auf das Kunstwerk selbst ausgerichteten musikpublizistischen Auseinandersetzung setzte Adorno die Überzeugung entgegen, dass Musik »nicht nur ästhetisches Phänomen, sondern immer zugleich auch soziale Tatsache« (1967/86, 585) sei, weshalb es nicht genüge, »Musik von außen her unter fertige gesellschaftliche Vorstellungen zu subsumieren und danach sie zu werten« (ebd., 586), ohne nicht zugleich auch »die Reflexion auf soziale Tatsachen, etwa auf Probleme des gegenwärtigen Musiklebens« einzubeziehen (ebd., 585). Musikpublizisten wie Heinz-Klaus Metzger, Josef Häusler oder Reinhard Oehlschlägel haben daher im Anschluss an Adorno immer wieder versucht, im Kontext unterschiedlichster Formate  – und mit abweichenden Schwerpunktsetzungen  – grundsätzliche ästhetische Überlegungen und geschichtsphilosophisch verankerte Betrachtungen mit einer Darstellung analytischer Details zu verschränken. Im Idealfall ist dabei eine »immanente Kunstkritik« entstanden, der es weniger um die Beurteilung von Werken als  – ganz im Sinne Harry Lehmanns – um »die Erforschung möglicher Weltbezüge im Werk« (2012, 29) geht. Etwas früher als in Deutschland begann sich in Frankreich zu Beginn des 20. Jh.s vorwiegend an den Kompositionen Claude Debussys und Maurice Ravels eine Diskussion um die musikalische Neuausrichtung des Komponierens abzuzeichnen, in die insbesondere Debussy journalistisch aktiv eingriff und damit eine spezifisch französische, nicht zuletzt durch Hector Berlioz geprägte Tradition essayistischer Musikpublizistik fortsetzte. Für die Geschichte der jüngeren französischsprachigen Musikkritik hingegen ist insbesondere der Belgier Harry Halbreich bedeutsam: Mit seiner Arbeit für den Rundfunk, aber auch als Mitbegründer des Musikmagazins Crescendo, für das er maßgebliche Beiträge verfasste, hat er vor allem im Bereich zeitgenössischen Musikschaffens Musikjournalismus gewirkt. Seit den späten 1970er Jahren galt sein vorrangiges Interesse der Musik von Komponisten aus dem Umkreis der Ä Spektralmusik; zudem spielte er eine wichtige Rolle bei der Neubewertung von Giacinto Scelsis Musik in den 1980er Jahren. In den USA war – vergleichbar der Situation in Deutschland  – im ersten Drittel des 20. Jh.s die Diskussion über zeitgenössische Musik weitgehend an spezielle Periodika wie die Zeitschrift Modern Music gebunden. Federführend waren hierbei jedoch weniger hauptberufliche Musikkritiker als Komponisten in der Funktion des »composer critic« (etwa Aaron Copland, Roger Sessions, Virgil Thomson oder Elliott Carter). Dennoch haben sich auch einflussreiche Kritikerpersönlichkeiten wie Edwin Olin Downes im Feuilleton als prominente Fürsprecher zeitgenössischer Produktion erwiesen. Während in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zunehmend die Entwicklung des popmusikalischen Bereichs in den Fokus musikjournalistischer Tätigkeit rückte, hat in jüngster Zeit der Musikkritiker Alex Ross versucht, den engen Blick auf bestimmte Werke oder kompositorische Tendenzen durch eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Perspektive zu ersetzen, in der die Grenzen von neuer Musik, Ä Jazz, Ä Pop und Rock zunehmend verwischt werden (Ross 2007/2009 und Blog www.therestisnoise. com) – ein Ansatz, der im deutschsprachigen Raum bislang weitgehend fehlt. 2. Veränderungen im Praxisfeld In den letzten Jahrzehnten haben sich die Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten musikjournalistischer Tätigkeit im Zuge stetig steigenden Musikkonsums permanent verändert. Während das Anwachsen der medialen Distribution von Musik als Kernbereich des Kulturbetriebs zumindest dazu führte, dass die Musikkritik als Besprechung von Neuerscheinungen aller Art einen festen Platz im Spektrum möglicher Formate erhielt, bildete sich zugleich im öffentlichen Musikleben eine zunehmende Distanz zwischen avantgardistischer Produktion und Publikum heraus. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass gerade innerhalb der deutschen Rundfunklandschaft seit ihrer Neustrukturierung zu Beginn der 1950er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre ein starker Zuwachs an Sendeplätzen zur Diskussion der neuen Musik zu verzeichnen war. Durch Einführung des sog. »dualen Systems« mit seiner Konkurrenz öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten und privater Radiostationen ab 1986 sowie durch die Auflösung ganzer Kulturredaktionen im Zuge einer Neustrukturierung des Hörfunks nach der deutschen Wiedervereinigung ab 1990 hat sich die innerdeutsche Medienlandschaft tiefgreifend verändert. Dazu gehört, dass die Programme der öffentlich-rechtlichen Kultur- 400 sender seither erheblich in Richtung eines an bestimmte Formate und Sparten angelehnten und damit auch den Publikumsgeschmack berücksichtigenden Sendeschemas angepasst wurden (vgl. Lüthje 2010). Die damit einhergehende Abwendung von einem vormals nahezu unangefochten herrschenden engen Kulturbegriff mit seinem ausschließlichen Bezug auf die traditionelle »Hochkultur« (klassische Musik, Theater, Kunst und Literatur) zugunsten eines weiten Kulturbegriffs, der auch für Themen aus der Lebenswelt der Hörer sowie für Alltagskultur und populäre Musik einsteht, hat zugleich zu einer massiven Verschiebung musikjournalistisch abgehandelter Themenspektren geführt. Ein vergleichbarer Strukturwandel ging von der Einführung des Ä Internets als Konkurrenz zu den Printmedien und der damit verknüpften Abwanderung von Werbekunden vom Print- in den Onlinesektor aus, was sich nicht nur durch immer stärkere Einschnitte im klassischen Printressort »Feuilleton« bemerkbar machte, sondern auch dazu führte, dass werbefinanzierte Online-Plattformen wie klassik.com (www.klassik.com) oder das Online-Kulturmagazin European Cultural News (www.european-cultural-news.com) den Periodika bezüglich der kritischen Berichterstattung über Neuveröffentlichungen und Konzertveranstaltungen den Rang abgelaufen haben, auch wenn das Niveau der Beiträge meist sehr heterogen ist. Auch die 1991 von Mathias Döpfner festgestellte qualitative Kluft zwischen Musikrezensionen im Feuilleton der überregionalen Presse und in den Kulturteilen der lokalen Zeitungen (Döpfner 1991, 238–275; vgl. Leyendecker 2003) hat sich mittlerweile verschärft, was einerseits in der willkürlich erscheinenden Auswahl von überhaupt im Feuilleton besprochenen Veranstaltung sichtbar wird, sich andererseits aber auch darin niederschlägt, dass eine fruchtbare Diskussion über Festivals zur zeitgenössischen Musik »längst Opfer des Platzmangels« in den renommierten Blättern geworden ist (Büning 2010, 3). Vielerorts haben mittlerweile auch ins Feuilleton diskursive Strukturen Einzug gehalten, die für die im angloamerikanischen Sprachraum geprägte Musikkritik des popmusikalischen Bereichs spezifisch sind, in denen die Rolle des Kritikers »in erster Linie die eines Informanten« ist (Wicke 1997, 1381). Der Musikjournalist wird hierdurch immer mehr zu einem »Konsumentenführer«, der als »kaum kaschierte Form der Produktwerbung« (ebd., 1383) lediglich Informationen der Produzenten vertreibt. An die Stelle der fundierten Kritik tritt dadurch als »Trend einer Boulevardisierung« die »Tipp- und Servicekultur«, in deren Rahmen das »Kerngeschäft der musikalischen Kritik« zunehmend zurückgedrängt und »durch Vorberichte, Portraits, Interviews und Reportagen« (Spinola 2013, 101) ersetzt wird. 401 3. Probleme des Metiers Wie stark hierbei Kritik und Marketing miteinander verschmelzen, lässt sich seit einigen Jahren verstärkt an der Praxis beobachten, von Seiten der Tonträgerindustrie auf die Inhalte von Musikkritiken Einfluss zu nehmen. Dies geht mitunter so weit, dass Firmen ihre Produkte durch geförderte »Rezensionen« gleich selbst bewerten oder durch abhängige »Autoren« besprechen lassen, wie dies bspw. die Universal Music GmbH mit dem firmeneigenen Online-Magazin KlassikAkzente (www.klassikakzente.de) und dem Aufkleber »Empfohlen von Klassik-Experten« auf neu erscheinenden Produktionen vorgemacht hat. Auch wenn nur ein Bruchteil der hier vorgestellten Veröffentlichungen dem Bereich des zeitgenössischen Musikschaffens angehört, ist diese Entwicklung bedenklich, da sie den Versuch einer bewussten Abkoppelung der musikalischen Produktion vom Feuilleton oder anderen kritischen Foren markiert. Vergleichbare Probleme finden sich jedoch auch bei der Berichterstattung über zeitgenössische Musik, die längst von »jener Allerweltsform der Musikessayistik« (Hiekel 2012, 110) geprägt ist, die zugunsten einer Art »Hofberichterstattung« vom grundlegenden Bemühen um ein tieferes Verständnis der beschriebenen Phänomene abrückt. So ist es längst üblich, dass nicht mehr die Werke selbst, sondern die darüber im Vorfeld – oftmals vor Beginn des Entstehungsprozesses – von Komponisten geschriebenen, via Presseerklärung herausgegebenen Statements den inhaltlichen Schwerpunkt einer Berichterstattung bilden, hinter der das reale Ereignis der Aufführung verschwindet, sodass demnach auch das Verhandeln komplexer Zusammenhänge ausgeblendet bleibt. Besonders heikel wird es zudem dort, wo Musikjournalisten über Interviews und Porträts einseitige, unkritische und apologetische Komponistendarstellungen in den Medien lancieren, die dann wiederum von anderen übernommen werden und letztlich auch in musikhistorische Darstellungen einfließen (vgl. Drees 2013). Obgleich das Bewusstsein für die Problematik solcher Phänomene inzwischen deutlich gewachsen ist, haben die Thesen, mit denen Lutz Lesle in den 1980er Jahren ein kritisches Bewusstseins für die Bedeutung des qualifizierten Redens und Schreibens über Musik in der Ausbildung junger Autoren einforderte (1984, 628–659), bislang nichts an Relevanz verloren, erscheinen doch nach wie vor – und unabhängig von den mittlerweile stark gewandelten Anforderungen an die musikjournalistische Tätigkeit – »Hörerfahrungen und […] sonstige Elemente einer kulturellen Bildung für die Ausprägung eines musikalischen Bewusstseins nahezu unentbehrlich« (Hiekel 2012, 91; vgl. Oehlschlägel 2010). Insofern dürfte es die Musikjournalismus vorrangigste Aufgabe einer anspruchsvollen Ausbildung sein, die »rezeptiven und expressiven Fähigkeiten« (Spinola 2013, 98) angehender Musikjournalisten zu vertiefen, um dadurch eine in die Breite gehende Verknüpfung von Berichterstattung, analytischer Erfahrung, kulturhistorischem Reflexionsvermögen und gesamtgesellschaftlicher Perspektive zu erreichen. Ä Institutionen / Organisationen; Medien; Neue Musik Adorno, Theodor W.: Reflexionen über Musikkritik [1967], in: Musikalische Schriften VI (Gesammelte Schriften 19), Frankfurt a. M. 1986, 573–591 „ Bekker, Paul: Das deutsche Musikleben [1916], Berlin 1919 „ ders.: Neue Musik, Berlin 1919 (auch in: Neue Musik – Gesammelte Schriften, Bd. 3, Stuttgart und Berlin 1923, 85–118) „ Büning, Eleonore: Häutungen. 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Methodische Voraussetzungen  „ 1.1 Potenziale und blinde Flecken in Adornos Musiksoziologie  „ 1.2 Soziologie neuer Musik als mikrologische Prozessanalyse  „ 2. Neue Musik und Gesellschaft „ 2.1 Neue Musik in politischen Kontexten „ 2.2 Tendenzen des Marktes 1. Methodische Voraussetzungen Die Soziologie der neuen Musik ist ein bislang noch nicht entfaltetes Fach. Zwar fehlt es nicht an vereinzelten Studien, die bestimmte Bereiche des soziologischen Gegenstandsfeldes thematisieren. Hier dominiert indes die in der gängigen Musiksoziologie übliche Kombination aus positivistischer Oberflächenkartographie und Ressentiment ohne einen spezifisch soziologischen Blick auf den Gegenstand Kunst selbst. Einen zentralen Teilaspekt bildet auch auf dem Feld der neuen Musik die Rezeptionsforschung (Heinemann 1973; Schmidt 1975; Bastian 1980), auch hier mit eher beschreibenden Befunden und bisweilen im Rahmen pädagogischer Überlegungen (Bastian 1980). Katharina Inhetveen (1997) ist eine umfassende Literaturübersicht über die »Musiksoziologie in der Bundesrepublik Deutschland« bis 1997 zu verdanken, in welcher der Stand der Soziologie neuer Musik kenntlich wird durch ihre Absenz als eigener Schwerpunkt. In den verstreuten Anmerkungen dazu geht es im Wesentlichen nur um die gesellschaftliche Isolation der neuen Musik (vgl. auch Custodis 2004). Eine Ausnahmestudie stellt Georgina Borns Analyse des IRCAM als einer zentralen Form der Institutionalisierung der musikalischen Ä Avantgarde dar (Born 1995; Ä Institutionen / Organisationen). In ihrer sowohl theoretisch anspruchsvollen wie inhaltlich breit gefächerten Studie versucht sie, den inneren Zusammenhang zwischen der Struktur dieser Institution, der für sie spezifischen Ästhetik der musikalischen Ä Moderne und historischen Langzeittendenzen der Moderne darzustellen. Ausgehend von kulturanthropologischen Ansätzen erweitert sie den theoretischen Radius ihrer Arbeit u. a. durch Einbezug der Kultursoziologie von Pierre Bourdieu und der musikalischen Semiotik. Dabei spricht sie das zentrale analytische Problem einer Soziologie der musikalischen Avantgarde klar aus: »There is at present no concerted theoretical basis for the study of music as a sociocultural form« (ebd., 16). Allerdings leidet ihre Studie an zwei systematischen Beschränkungen. Ihr eigener Versuch einer kritischen Semiotik der Musik verbleibt inhaltsästhetisch im Rahmen der Decodierung außermusikalischer Bedeutungen im Medium Musik – entsprechend weist sie den Anspruch, die Musik als solche zum Gegenstand der Musiksoziologie zu machen, und so auch seine prominente Formulierung bei Theodor W. Adorno, zurück (ebd., 22). Damit ist die Reduktion der soziologischen Perspektive auf die Institutionenanalyse bzw. die Analyse instituierter Bedeutungen verbunden. Allgemein gilt hier: Die Beschränkung auf die institutionelle Betrachtung ist soziologisch eindimensional, da sie eine basale Unterscheidung von mindestens drei Ebenen unterläuft: die Dimension des (1) institutionell geordneten Handelns stellt per se eine je nachgeordnete Form der Verfestigung von (2) primären Problemlösungsformen dar, die ihre (3) spezifischen Institutionalisierungsmuster erzeugen. Die »gesellschaftliche Bedeutung« von Handlungsformen ist nur bestimmbar im Verhältnis dieser drei Ebenen zueinander. Dazu gehört immer auch die mikrologische Würdigung spezifischer Problemlösungsformen in ihrer typologischen Eigenart. Das Ziel muss dabei sein, die Palette grundlegender Handlungsprobleme oder Problembereiche zu bestimmen, auf denen die Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung inklusive der Ausbildung eines dafür relevanten Institutionenkreises beruhen (Habermas 1976; Oevermann 1996). Bezogen auf den Bereich des künstlerischen Handelns würde es zunächst darum gehen, dessen innere Struktur an spezifischen Problemlösungsfällen, sprich Werken, herauszuarbeiten, bevor eine praxeologische Vergleichsperspektive (zwischen der Sphäre der autonomen künstlerischen Problemlösung und anderen autonomisierten Handlungssphären) entfaltet werden kann. Auch die machttheoretische Perspektive kann erst greifen, wenn die spezifischen Geltungskriterien von Handlungssphären immanent erfasst sind. Erst dann lassen sich die drei grundlegenden Fälle unterscheiden: (1) Ein Handlungstypus besitzt eine eigenständige Geltung im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung; (2) seine Geltungsansprüche dienen primär der institutionellen Machterringung mit ihrer konkurrenzlogischen Ausschließungs- und Überbietungsmechanik inklusive der dafür inszenierten legitimatorischen Diskurse; (3) die Dimension (1) wird im Sinne von (2) instrumentalisiert. Die Schallmauer von Studien wie der Borns liegt darin, Beispiele für den Fall (3) zu kritisieren in der Perspektive einer Theorie über (2). Dasselbe gilt auch für eine so vielschichtige soziologische Theorie wie die von Bourdieu, die den »homo potestatis« (Alfred Adler) in den Mittelpunkt rückt und daher auch keine inneren Geltungskriterien für kulturelle Leistungen wie etwa die Kunstmusik formulie- 403 ren kann. »Die ganze Tradition einer immanenten Kritik, die in der sozialen Wirklichkeit selber die Gesichtspunkte eines begründeten Einspruchs freizulegen versucht, ist [Bourdieu] zeitlebens fremd geblieben« (Honneth 2012). Wenige Studien zu einem bestimmten Feld konstituieren jedoch kein Fach. Solange nicht einmal die fällige Paradigmenbestimmung für den übergeordneten Rahmen, also die Musiksoziologie im Allgemeinen, vorgenommen worden ist (vgl. Zehentreiter 2013), scheint es kaum möglich, dies für eine Soziologie der neuen Musik bewerkstelligen zu können. Nach derzeitigem Forschungsstand würden vor allem zwei Ansätze Möglichkeiten anbieten, Grundlagen einer solche Paradigmenbestimmung zu entwickeln: eine kritische Anamnese und Weiterentwicklung von Adornos musiksoziologischen Ideen (1.1) und eine mikrologische Annäherung an neue Musik auf der Basis eines differenzierten Autonomie- und Gesellschaftsbegriffs (1.2). 1.1 Potenziale und blinde Flecken in Adornos Musiksoziologie Adornos Philosophie der neuen Musik (Adorno 1949/75), die sich als »ausgeführter Exkurs zur ›Dialektik der Aufklärung‹« (ebd., 11) versteht, rechnet sich zwar der Philosophie zu, besitzt jedoch eine starke gesellschaftstheoretische Ausrichtung. Das Buch enthält sich einer Zurechnung zur Soziologie nicht wegen seines Erkenntnisinteresses, sondern aus der nicht unbegründeten Sorge, damit einen gängigen methodischen Rahmen zu überfordern. Dabei erweist es sich aus der Sicht einer heutigen interpretativen Soziologie als überaus zukunftsträchtig. »Die dialektische Methode […] kann nicht darin bestehen, die einzelnen Phänomene als Illustrationen oder Exempel eines bereits Feststehenden und von der Bewegung des Begriffs selber Dispensiertes abzuhandeln […]. Gefordert ist vielmehr, die Kraft des allgemeinen Begriffs in die Selbstentfaltung des konkreten Gegenstandes zu transformieren und dessen gesellschaftliches Rätselbild mit den Kräften seiner eigenen Individuation aufzulösen. Damit wird nicht auf gesellschaftliche Rechtfertigung abgezielt, sondern auf gesellschaftliche Theorie vermöge der Explikation von ästhetischem Recht und Unrecht im Herzen der Gegenstände. Der Begriff muss in die Monade sich versenken, bis das gesellschaftliche Wesen ihrer eigenen Dynamik hervortritt« (ebd., 32). Die Relevanz dieser programmatischen Forderung nach einer mikrologischen Form der theoretischen Generalisierung, die keine Trennung von Ästhetik und gesellschaftlicher Analyse vornimmt, geht deutlich über den Rahmen einer Theorie der neuen Musik hinaus. Ihrer allgemeinen Bedeutung hat Adorno in seinen Ideen zur Musiksoziologie (Adorno 1958/78) später selbst noch einmal Geltung verliehen. Dort geht es nicht nur um die Musiksoziologie Dechiffrierung der neuen Musik, sondern um das gesamte Feld der Musiksoziologie. Diese wäre, Adorno folgend, »verwiesen auf das eigentliche Verständnis von Musik bis in die kleinsten technischen Zellen hinein. Nur dann gelangt sie über die fatal äußerliche Zuordnung geistiger Gebilde und gesellschaftlicher Verhältnisse hinaus, wenn sie in der autonomen Gestalt der Gebilde, als ihres ästhetischen Gehalts, eines Gesellschaftlichen innewird« (ebd., 10). Dem Musiksoziologen wird dabei nicht weniger angetragen als eine Reform der musikalischen Ä Analyse: »Die Zukunft der Musiksoziologie wird wesentlich von der Verfeinerung und Reflexion der musikalisch-analytischen Methoden selber und ihrer Beziehung auf den geistigen Gehalt abhängen« (ebd., 12). Dass Adornos Forderungen in der Soziologie und der Ä Musikwissenschaft kaum Folgen gezeitigt haben, liegt nicht zuletzt daran, dass er sie selbst nicht paradigmatisch einzulösen vermochte. Vor allem die Philosophie der neuen Musik hat so eine fruchtbare Diskussion in doppelter Hinsicht blockiert: Zum einen ist sie dem Selbstanspruch einer mikrologischen Werkanalyse nicht gerecht geworden, da sie vor allem Ä Material und Techniken, ohne hinreichende Bezugnahme auf ihre formale Bedeutung beleuchtet. Unter dieser Perspektive fallen so Ä Form und Oberflächendisposition stets zusammen – ein Defizit, das insbesondere im Vergleich mit Adornos späterer Theorie einer »materialen Formenlehre«, etwa in der Monographie über Gustav Mahler (1960/71, 193–195), evident wird und von Adorno selbst früh kritisch gesehen wurde (1953/84, 165). Zum anderen belastet die Fokussierung auf die Dimension technischen Fortschritts auch die soziologische Diagnose. Diese reduziert sich auf den Befund der integralen Technisierung der Gesellschaft, ablesbar gerade an ihrem Vordringen noch in die feinsten Verästelungen der betriebsfernen künstlerischen Innovation. Für die Soziologie der musikalischen Ä Avantgarde bleibt dabei nur die Formel der »Werke des großartigen Mißlingens« (Adorno 1949/75, 96), deren Größe ausschließlich in der »großartigen« Konsequenz liegt, mit der sie diesen Prozess auf den Punkt zu bringen vermögen – im Gegensatz zu allen sinnlosen Versuchen, sich durch regressive Rückgriffe auf nicht mehr tragfähiges altes Material zu retten. Diskursbegründend wurde so die nicht weiter fundierte Entgegensetzung von Fortschritt und Reaktion. Gerade diese technizistische Perspektive in Adornos Soziologie der neuen Musik führte bei ihm auch zu einer verkürzten Kritik am Technizismus der jungen Nachkriegsavantgarde, am oft zitierten »Altern der Neuen Musik« (Adorno 1956/73), da er in Werken der jungen Generation von vornherein ebenfalls nur die technische Seite zu sehen vermochte. Es ist aber ein Unterschied, ob eine Technisierung des Kom- 404 Musiksoziologie ponierens naiv um ihrer selbst willen geschieht oder ob sie aus genuin ästhetischen Beweggründen benutzt wird, d. h. im Sinne der radikalen Befreiung von einer Infiltration durch Sprachmittel, die als untragbar empfunden werden (Ä Sprache / Sprachkomposition). Gerade soziologisch ist es aufschlussreich, dass diese Aufkündigung wenige Jahre nach dem größten Zivilisationsbruch der Geschichte erfolgte, und ebenso, dass Adorno selbst dies noch nicht sehen konnte. Sein blinder Fleck resultiert aus der generationsspezifischen Sorge um das Ideal des Gleichgewichts von Imagination und Konstruktion, das er der jungen Generation in Gestalt des Werkes von Alban Berg beschwörend entgegenhielt. In den Essays Alban Berg (Adorno 1956/78) und Bergs kompositionstechnische Funde (Adorno 1961/78) figuriert Berg nicht nur als Gegenmodell zu dem von jungen seriell orientierten Nachkriegskomponisten zum Modell erkorenen Anton Webern, sondern auch als das Reversbild zum Begriff einer gealterten neuen Musik. All das nämlich, was einer solchen abgesprochen wird (lebendige ästhetische Erfahrung, Formkontrolle durch das Ohr, Sprachcharakter und musikalischer Sinn in der Form selbst) attestiert Adorno gerade Bergs Musik. Dabei werden die genannten ästhetischen Momente bei Berg – und hierin ruht die Pointe des Vergleichs – herausgestellt als auf einer Ebene höchster technischer Komplexion miteinander vereint. Adornos kulturkritische Diagnose der technokratischen Naivität sollte die attackierte junge Avantgarde schließlich auch widerlegen durch die ganz »untechnische« kompositorische Vielfalt und Offenheit, zu der hin ihre Hauptvertreter sich entwickelten. Gerade bei Adorno lässt sich also sehen, inwiefern eine verkürzte ästhetische Perspektive die soziologische Diagnose blockiert. Für das Geschäft einer künftigen Soziologie neuer Musik mag dies ernüchternd wirken. Voraussetzung für diese wäre zunächst eine angemessene Ästhetik der neuen Musik, die über Adorno selbst hinausweist (Ä Musikästhetik). Denn das Problem des Adornoschen Theorieansatzes liegt nicht darin, am Kriterium des autonomen ästhetischen Artikulationszusammenhanges festzuhalten, sondern an historisch überkommenen Vorstellungen seiner Realisierbarkeit – also an besagtem Gleichgewicht von imaginativem Gestaltentwurf und Konstruktion. 1.2 Soziologie neuer Musik als mikrologische Prozessanalyse Über die Anknüpfung an Adornos ästhetisch fundierte Musiksoziologie hinaus wäre aber grundsätzlich mindestens eine weitere Möglichkeit in Betracht zu ziehen, um eine Soziologie neuer Musik zu fundieren. Dafür wäre eine revidierte Annäherung an den umstrittenen Bereich ästhetischer Autonomie und eine Erweiterung von Adornos Gesellschaftsbegriff vorauszusetzen. Dabei wäre eine innersoziologische Reduktion zu überwinden: Adornos Musiksoziologie leidet systematisch an einer Reibung zwischen seinem ästhetischen Autonomiebegriff und der institutionalistischen Verankerung seiner Soziologie. Mit Recht lenkt er zwar den Blick auf die Kunstmusik als Bereich, der gleichermaßen als »autonom« und als »fait social« (Adorno 1970, 16) zu begreifen sei, und damit auch als Ausdruck eines sozialen Differenzierungsprozesses. Allerdings kann er diese Bestimmung selbst nicht einlösen, wenn er versucht, sie mit dem Gesellschaftsbegriff zu fundieren (Zehentreiter 2015, 77–79). Denn der Gesellschaftsbegriff umfasst keineswegs die Totalität der sozialen Beziehungen, sondern nur ihre jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen. Keine soziale Praxis, die den Einbezug der ganzen Person erforderlich macht, so insbesondere künstlerisches Handeln, kann deshalb vollständig in solcher Rahmung aufgehen. Um die soziale Konstitution der Praxisformen neuer Musik zu fassen, bedarf es anderer, »mikrologischer« Strukturbegriffe. Dabei ergibt sich eine paradoxe Situation für die zweite Perspektive auf eine neue grundlagentheoretische Begründung der Soziologie neuer Musik: Durch die seit Ende der 1950er Jahre einsetzende Etablierung interpretativer Strukturmodelle in der Soziologie sind im Prinzip alle Grundlagen für Adornos Programm der mikrologischen Prozessanalyse jenseits der Spartentrennung von Soziologie und Werkästhetik geschaffen worden (Oevermann 1993). Man kann so vom Potenzial einer impliziten Musiksoziologie nach Adorno sprechen. Aber gerade dieses wurde mangels eines inhaltlichen Interesses der jüngeren Entwicklungen der Soziologie an der Kunstmusik methodisch noch nicht realisiert. Eine künftige Soziologie der (neuen) Musik müsste sich hier profilieren. Dabei wäre zunächst an folgende Bereiche anzuschließen: Methoden der »rekonstruktionslogischen« soziologischen Strukturanalyse (Oevermann 1996), Theorien der biographischen Entwicklung, Habitus- und Deutungsmustertheorien, mikrologische Theorien des künstlerischen Handelns und schließlich Professionalisierungstheorien, in denen die innere Struktur und die gesellschaftliche Rolle nicht standardisierbarer Dienstleistungen (wie Medizin, Recht, Kunst usw.) bestimmt werden. Solche Formen der Professionalisierungstheorie wären das Hauptgebiet einer Bestimmung des Verhältnisses von autonomer Kunst und Gesellschaft. 2. Neue Musik und Gesellschaft Blickt man mit theoretisch noch unvoreingenommenem Blick auf das Feld, so zeigen sich bestimmte allgemei- 405 ne Tendenzen im Verhältnis zwischen neuer Musik und Gesellschaft. Neue Musik wurde von den Siegermächten während der ersten beiden Dekaden nach 1945 als Mittel der moralisch-intellektuellen Neuordnung der europäischen Öffentlichkeit eingesetzt (Beal 2006). Durch eine gezielte und privilegierte Subventionierung sollten Entnazifizierung und Demokratisierung beschleunigt werden (vor allem in Deutschland und Italien durch den Aufbau von Orchestern und Rundfunkanstalten). Einerseits sollte damit an Entwicklungen, die durch Zivilisationsbruch, Holocaust und Exilierung vieler europäischer Künstler einen radikalen Abbruch erfahren hatten, angeknüpft werden (Ä Nationalsozialismus). Andererseits wurde das Aufleben der neuen Musik und der experimentellen Musikszene von vielen in den Zwischenkriegsjahren geborenen jungen und vorwiegend aus dem politisch links orientierten bildungsbürgerlichen Milieu stammenden Komponisten als existenzielle Chance zur Internationalisierung und Etablierung eines emanzipativen Denkens begriffen. Neue Musik, die bereits von Beginn an im Rahmen eines anspruchsvollen intellektuellen Diskurses auftritt und gesellschaftliche Tabus thematisiert, avancierte so zur sozialen Institution und zum Medium öffentlicher politischer Diskussion. Zu dem allgemeinen kritischen Selbstverständnis dieses Avantgardismus gehörte gleichzeitig der Anspruch, als neuer, antibürgerlicher Erbe der großen Tradition zu wirken. Auf den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt artikulierten sich junge Komponisten der Ä seriellen Musik und opponierten (ähnlich wie die französische musique concrète und schließlich auch die Elektronische Musik mit Zentren in Köln oder Mailand, Ä Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik) mittels ästhetischer Argumente gegen politisch und historisch verdächtig gewordene romantische Konzepte musikalischen Ausdrucks. Zugleich dominierte Anfang der 1950er Jahre noch eine paradigmatisch an Paul Hindemith orientierte konservativere Gegenwartsmusik (Iddon 2013, 102–109). 2.1 Neue Musik in politischen Kontexten Eine explizitere Politisierung der neuen Musik fand in den 1960er und den 1970er Jahren statt (Ä Themen-Beitrag 4). Neue Musik wurde hier zunehmend zum Medium persönlicher wie kollektiver politischer Emanzipation, das vorherrschende Sozialstrukturen und Konflikte kritisiert. Sie verstand sich in diesen Dekaden insbesondere als Reaktion auf einen allgemeinen affirmativen Konsumismus im Zuge des neuen Wirtschaftsaufschwungs (beispielhaft in Helmut Lachenmanns Ä musique concrète instrumentale). Bewegungen wie Fluxus, Aleatorik und die experimentelle Szene wollten künstlerischen Widerspruch gegenüber Musiksoziologie einer allgemeinen Funktionalisierung und Schematisierung des gesellschaftlichen Lebens einlegen (Ä Performance; Ä Zufall), wobei sich Unterschiede zwischen europäischem und amerikanischem Experimentiergeist zeigten (Kutschke 2007). Mit dieser Oppositionshaltung war die Rezeption von Idealen der Studentenbewegungen ab den 1960er Jahren verbunden, bisweilen auch die Hoffnung, eine Rezeptionsbasis außerhalb der Expertenkreise zu finden, etwa durch die aktive Politisierung der neuen Musik (besonders deutlich etwa in Italien bei Luigi Nono und seinen Versuchen, durch neue Musik die Fabrikarbeiterschaft zu aktivieren). Ab den 1970er Jahren machte sich ein Generationenkonflikt innerhalb der Szene bemerkbar, in dem die neue Musik nun selbst als vereinnahmend und oppressiv kritisiert wurde. Eine Fortschritts- und Radikalitätsskepsis junger Komponisten drang darauf, subjektive Imagination und Emotionalität gegen die Konstruktions- und Fortschrittsmaximen der Älteren geltend zu machen. Gleichzeitig entstanden Versuche einer Überbietung serieller Konstruktionsweisen, die mittels dramatisch-performativer Elemente neue Instrumentaltechniken erforderte und dabei einem kritischen Impuls der Abgrenzung gegenüber »regressiven« Strategien folgte (new complexity; Ä Komplexität / Einfachheit). Darin wird nun auch eine grundlegende Tendenz der neuen Musik hin zur Diversifizierung immer offener erkennbar, die von Adorno selbst noch als »ästhetischer Nominalismus« (Adorno 1970, 296 f.) etikettiert worden war und ab den 1990er Jahren als »neue Unübersichtlichkeit« der Ä »Postmoderne« – also als eine Zersplitterung der Szene mit der Folge einer allgemeinen Verunsicherung und Infragestellung von Kunstansprüchen  – beschrieben wurde. Der Einspruch gegenüber Eingrenzungen eines als »kunstfähig« geltenden Materials führte u. a. zum offensiven Einbezug profaner Alltagserfahrungen sowie zur sukzessiven Entgrenzung gegenüber der Popsphäre (Ä Konzeptuelle Musik, Ä Pop / Rock). Damit verbundene Hoffnungen auf die Öffnung der neuen Musik gegenüber dem breiten Publikum mussten jedoch weitgehend enttäuscht werden, da, trotz eines boomenden Feldes der Ä Vermittlung neuer Musik, als Zugangsvoraussetzung weiterhin etablierte Expertendiskurse erhalten blieben (Neuhoff 2001, 2008; Zehme 2005). Neue Musik bleibt bis zur Gegenwart hin vorwiegend Sache eines spezialisierten Expertenpublikums, vor allem mittleren Alters und geprägt durch ein linksliberales akademisches Milieu (Neuhoff 2008; Ä Popularität). In Ä Osteuropa wurde die neue Musik entweder als Teil der staatlichen Kulturpolitik konfektioniert oder als Medium der inneren Emigration und der künstlerischen Distanz zum Regime genutzt (wie im Festival Warschauer 406 Musiksoziologie Herbst seit 1956). Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, blühte in der Komponistenszene des Nachfolgeterrains ein interner Pluralismus aus Avantgardismus, Regionalismus und mystischer Spiritualität auf (Zehentreiter 2010; Ä Themen-Beitrag 8, 5.). Ebenso bestand im Westen, vor allem in Deutschland und Frankreich, ein immer schon breites öffentliches Kunstförderungssystem (Ä Kulturpolitik). Als Teil eines demokratischen Pluralisierungsprozesses finden seit den 1970er Jahren auch zahlreiche musikpädagogische Vermittlungsprojekte staatliche Unterstützung. 2.2 Tendenzen des Marktes Im Kontrast zu Europa sah sich die neue Musik in den USA indes von Anfang an auf das universitäre Feld verwiesen, sodass der allgemeine ästhetische Diskurs über die dortige Produktion weitgehend in Europa stattfand (etwa über die Schlüsselrolle von John Cage; Ä Nordamerika). Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit dem Siegeszug des Neoliberalismus und seiner Tendenz, die Kultur in einen umfassenden Dienstleistungsapparat zu verwandeln, veränderte sich die Gesamtkonstellation aktueller Musik in den USA nachhaltig, was auch Folgen für das Selbstverständnis von deren Vertretern zeitigte: Ein Großteil nordamerikanischer Komponisten folgt so einem explizit pragmatischen Selbstverständnis als »Musik-Unternehmer«, während aus der Werbepsychologie vertraute Strategien von Wiederholung, Wiedererkennung und die starke Fokussierung auf einzelne mediale oder technische Werkaspekte (z. B. Ä Notation) sich auch bei weniger marktorientierten Komponisten auf indirekte Weise ästhetisch geltend machen. Trotz einzelner Gegenbeispiele wirkt sich die seit der Jahrtausendwende virulente Tendenz einer Verdrängung der Hochkultur aus dem öffentlichen Bereich stark auf die neue Musik aus. Kulturelle Förderungen werden auch in Europa stark reduziert bzw. auf den privaten Sektor verlagert, dazu kommt ein einschneidender Verlust an intellektueller Diskursintensität, auch jenseits der immer schon bestehenden Isolation gegenüber dem breiten Publikum. Der Kunst- und Diskursniveau-Anspruch neuer Musik wird zunehmend als elitär beurteilt und insbesondere im argumentativen Kontext eines flächendeckend technokratisch-ökonomischen, quotenorientierten Einsparungsdenken im Musikbetrieb marginalisiert (Kommerzialisierung der Rundfunkkultur, Orchesterschließungen, Festivalbudgetreduzierungen, Anpassung der Kuratierung an marktfähige Konzepte, verringertes Budget für Kompositionsaufträge, Krisen im Verlagswesen, allgemeine Boulevardisierung der Musikkritik, Ä Musikjournalismus). Dies führt zu einer Verdrängung progressiver äs- thetischer Tendenzen innerhalb der Szene und zu einer starken, bisweilen selbsthilfeartigen Gruppenbildung. Es zeichnet sich dabei ab der Jahrtausendwende ein zunehmender interner Konflikt zwischen einem spezifischen, konventionalisierten Avantgardismusbetrieb (mit eingeschliffenen ästhetischen Usancen und Karriereritualen) und einem sich provokativ gebärdenden Rebellentum jüngerer Generationen ab (Rebhahn / Schäfer 2014). Beide Gruppen verhalten sich indes auf antagonistische Weise den spezifischen Mechanismen des Kunstmarkts gegenüber systemkonform (analog zu Entwicklungen innerhalb anderer Künste, vgl. Bürger 2014). Ein gegenwärtig virulenter Profilwechsel des Komponisten vollzieht sich dabei nicht nur durch Anpassung an Effizienzstrategien des Musikmarkts, der besagte spezifische Formen eines inszenierten Rebellentums ebenso wie konventionelle Ästhetiken goutiert, sondern auch durch Profilierung im Einbezug digitaler Techniken, die traditionelles Fortschrittsdenken auf eine technologische Vormachtstellung festlegen. Dabei kehrt eine eigene Form der Politisierung im direkten, bisweilen spielerischen Einbezug medialer Schlüsselthemen wieder (Globalisierungskritik, Kapitalismusentlarvung). Soziologisch gesehen stellt hier der auf vielen Feldern etablierte Diskurs der Delegitimation des musikalischen Kunstwerks ein neues, noch kaum bearbeitetes Schlüsselthema der Gesellschaftstheorie dar. Hier schließt sich auch der Kreis: Immanente ästhetische Analyse und soziologische Strukturanalyse müssen hier ineinandergreifen, gerade weil die ästhetischen Kriterien hier noch schwanken. Als noch weitgehend unbeschrittene Möglichkeit bietet sich dabei der Einbezug von Mitteln der Foucaultschen Diskursanalyse an (Holzer / Huber 2014; Zehentreiter i.V.). Einschneidend für die gegenwärtige Phase einer neuen Internationalisierung der Szene erweisen sich auch Prozesse der Ä Globalisierung. So ermöglicht der wirtschaftliche Aufschwung von Schwellenländern ein neues Interesse an Gegenwartsmusik vor allem in Asien (zunehmend vor allem in Ä China und Ä Südostasien) sowie in Ä Lateinamerika. Die ökonomisch aufsteigenden Mittelklassen begreifen neue Musik als Mittel, sich die Hochkultur Europas, die vor allem in Asien als aufstiegsrelevantes Mittel zur sozialen Distinktion genutzt wird, anzuverwandeln und so gegenüber dem Westen zunehmend politische und kulturelle Gleichberechtigung zu erfahren. Ä Institutionen / Organisationen; Konzert; Kulturpolitik; Popularität; Zentren neuer Musik Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und MuLiteratur 407 sik [1953], in: Gesammelte Schriften 18, Frankfurt a. M. 1984, 149–176 „ ders.: Das Altern der Neuen Musik [1956], in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (Gesammelte Schriften 14, 7–167), Frankfurt a. 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Situation und Ausblick Heute bezeichnet »Musiktheater« als Sammelbegriff sämtliche Formen musikalisch-theatraler Aufführung, von konventionellen Repertoireopern-Inszenierungen bis hin zu experimentellen Off-Theater-Produktionen (vgl. Ruf 1997, 1689 f.). Betrachtet man die Verwendung dieses Begriffs im 20. Jh., ist zu konstatieren, dass er zum Teil im Sinne eines dezidierten Gegensatzes zur Gattung Oper verwendet wurde. Dieser Gebrauch hat sich allerdings, zumindest im deutschsprachigen Bereich, letztlich nicht durchgesetzt. Einer der Gründe dafür mag darin liegen, dass es im Laufe der letzten Jahrzehnte auch von musikalischer Produzentenseite zu einer wachsenden Konvergenz der Bereiche »Musik« und »Theater« kam (vgl. u. a. Nono 1962/75, 1963/75; Zimmermann 1965/74; Zenck 2003). Wenn in anderen Sprachen teilweise eine stärkere Assoziation des Begriffs mit experimentellen Formen erhalten geblieben ist (théâtre musicale, [new] music theater, Salzman / Desi 2008, 3–10), so korrespondiert dies mit der Tatsache, dass schon in der ersten Hälfte des 20. Jh.s und erst recht seit den 1960er Jahren viele Musiktheaterkonzeptionen sich in dezidierter Abgrenzung von Ä Institution, Organisationsform und musikalischer Ä Gattung »Oper« verstanden und definierten. Prägende Beispiele solcher alternativen Gattungsentwürfe in der ersten Jahrhunderthälfte bilden etwa Arnold Schönbergs synästhetisch konzipiertes »Drama mit Musik« Die Musiktheater glückliche Hand (1910–13), Igor Strawinskys L’Histoire du Soldat (1918, Charles-Ferdinand Ramuz) für Erzähler und kleines Ensemble und Kurt Weills gemeinsam mit Bertolt Brecht entwickeltes Musik-Sprech-Theater (so das »Stück mit Musik« Die Dreigroschenoper, 1928, und die »Oper« Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 1927–30) (Mücke 2011). Versuchten die meisten solcher Werke nachdrücklich aus dem Bann der Wagnerschen Tradition zu treten (vgl. Weill 1942/75), so war das »neue« oder »experimentelle« Musiktheater nach 1945 in einigen Fällen explizit mit einem performativ erweiterten Musikbegriff verbunden, wie er sich vor allem in der US-amerikanischen Avantgarde herausgebildet hatte und rasch in Europa rezipiert wurde (vgl. 2.). Die mit einer Vielzahl an neu eingeführten Genrebezeichnungen gefassten Tendenzen (Anti-Oper, Szenische Musik, Ä Instrumentales Theater, Sprachkomposition, (Musik)-Ä Performance, Dokumentaroper, Hörmusiktheater, »Composed Theatre« u. a.) haben sich bis zur Gegenwart weiterentwickelt und pluralisiert (Salzman / Desi 2008; Rebstock / Roesner 2012). Daneben sind aber einzelne traditionskritische Ansätze spätestens seit den 1960er Jahren auch in zahlreiche musiktheatrale Konzeptionen eingeflossen, die Gattung und Institution Oper nicht grundsätzlich ablehnen. Insbesondere eine Abkehr von konventionellen narrativen Dramaturgien hat sich dabei in vielen neuen musiktheatralen Konzeptionen manifestiert und trägt entscheidend zur Komplexität und zum Rätselcharakter vieler neuer Musiktheaterwerke bei (vgl. 3.). Das Musiktheater, verstanden im breitesten Sinne, bleibt dabei trotz massiver interner Kritik und Reformbestrebungen zur Gegenwart hin die repräsentative und öffentlichkeitswirksame Gattung schlechthin, nicht zuletzt aufgrund seiner engen Verflechtung mit gesamtgesellschaftlichen Tendenzen und institutionalisierten Produktionsmitteln. Gerade institutionelle bzw. infrastrukturelle Entwicklungen haben vor allem seit den 1980er Jahren einen Boom neuer Musiktheaterproduktionen begünstigt (Reininghaus 2000, 102–104): Zu nennen sind dabei eine Fülle an Neubauten (Amsterdam 1986, Paris 1989, Sevilla 1992, Helsinki 1993 u. a.) und Restaurierungen (Zürich, London, Brüssel, Wien, München, Stuttgart u. a.), die verstärkte Nutzung alternativer Spielstätten (Muffathalle München, Rheinmetallhalle Düsseldorf, Pernerinsel Hallein / Salzburger Festspiele u. a.), vor allem aber die verstärkte Beauftragung neuer musiktheatraler Werke im Rahmen von Festivals (Münchener Biennale für neues Musiktheater, seit 1988, gegründet von Hans Werner Henze, Leitung: Henze 1988–96, Peter Ruzicka 1996–2014, Daniel Ott / Manos Tsangaris ab 2016; Wiener Festwochen; Festival Aix-en-Provence; Schwetzinger Festspiele u. a.). 408 Kritik an der Oper seit der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte sich zum einen an den ästhetischen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Gattung und ihrer repräsentatorischen Tendenz entzündet (Strobel 1948)  – gerade im Ä Nationalsozialismus fiel dieser von jeher ideologieanfälligen Seite der Oper eine fatale Rolle zu –, zum anderen an ästhetisch konservativen Tendenzen, wie sie anfangs insbesondere durch Intendanten wie Rolf Liebermann (1910–99) repräsentiert wurden (1959–73/1985–88 Intendant der Hamburgischen Staatsoper, 1973–80 Intendant der Pariser Oper). Besonders Pierre Boulez wandte sich in einer bekannten Polemik dezidiert gegen die von Liebermann in den frühen 1960er Jahren favorisierten Opernformen, als deren prominentestes Beispiel er Henzes Musiktheaterwerken einen »ganz oberflächlichen Modernismus« bescheinigte (1967, 166). Kritik an Institution und Programmdramaturgie verbinden sich bei Boulez aufs Engste mit einer Kritik an den unflexiblen räumlichen Voraussetzungen des Opernhauses. Wenige Jahre darauf produzierte Liebermann mit Mauricio Kagels Staatstheater (1967–70, UA 1971, vgl. 2.) freilich ein im hohen Maß institutionenkritisches bzw. gattungssprengendes Werk. Vor dem Hintergrund dieser institutionellen Entwicklung lassen sich drei größere Kategorien von Musiktheaterkonzeptionen seit 1945 unterscheiden, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden: (1) Musiktheatrale Werke, die durch ein Festhalten an der im 17. bis 19. Jh. herausgebildeten Gattung sowie an den institutionellen Voraussetzungen von Opernhaus, Bühne, Orchester, Gesangssolisten, ggf. Chor sowie an einer narrativen Basisdramaturgie charakterisiert sind, ggf. dabei aber eine Erneuerung von musikalisch-dramatischer Anlage und szenischer Konzeption verfolgen können; die wesentliche Form dieser Tendenz ist die narrative Literaturoper mit vielerlei Mischformen, die auch in nonnarrative Bereiche hineinreichen. (2) Musiktheatrale Werke, die sich grundsätzlich von der Gattung Oper abwenden und neue musikalischszenische bzw. vokale Formen zu etablieren suchen, oft unter ausdrücklichem Verzicht auf Textvorlagen jeglicher Art bzw. im Sinne eines aus musikalischen Handlungen und Phänomenen unmittelbar abgeleiteten szenischen Verlaufs (Ä Instrumentales Theater, Happening, Aktion, Sprachkomposition, »Anti-Oper«, Sichtbare Musik etc.). (3) Alternative Modelle bewegen sich in verschiedenster Weise zwischen diesen beiden Kategorien und konvergieren dabei zum Teil mit Tendenzen eines post-dramatischen (Sprech-)Theaters (Lehmann 1999). Dabei sind im Wesentlichen (neo-)narrative (3.1) und non-narrative (3.2) Grundtypen zu differenzieren, die freilich nicht in allen Fällen klar voneinander unterscheidbar sind. 409 Alle drei genannten Haupttendenzen finden sich im Grunde von 1945 bis in die Gegenwart, wobei sich seit den 1960er Jahren eine besonders rigorose Kritik an der Oper und damit ein nachhaltiger Entwicklungsschub alternativer Gattungsentwürfe bemerkbar macht, während gleichzeitig aber auch neue Hauptwerke entstehen, die der Gattung Oper im engeren Sinn zugerechnet werden können. Seit den 1980er Jahren dann sind breite Tendenzen einer teils auch musikalisch-stilistisch konservativen Rückkehr zur Literaturoper zu beobachten, während sich ab den 1990er Jahren verstärkt neue Synthesen und alternative Modelle herausbilden, häufig auch im Kontext intermedialer Ansätze (Ä Intermedialität). In manchen Komponistenbiographien sind größere Tendenzen seit den 1960er Jahren gut ablesbar, etwa bei Harrison Birtwistle, der sich von kleinen experimentellen Formen (Punch and Judy, 1966–67, das bei der Uraufführung beim Aldeburgh Festival 1968 einen Skandal hervorrief ) zu epischen Formen für das große Opernhaus hinschrieb (Gawain, 1990; The Second Mrs. Kong, 1993–94; The Last Supper, 1998–99). 1. Festhalten an der Gattung: Die narrative Literaturoper Unter Literaturoper kann man eine »Sonderform des Musiktheaters« verstehen, »bei der das Libretto auf einem bereits vorliegenden literarischen Text (Drama, Erzählung) basiert, dessen sprachliche, semantische und ästhetische Struktur in einen musikalisch-dramatischen Text (Opernpartitur) eingeht und dort als Strukturschicht kenntlich bleibt« (Petersen / Winter 1997, 10; ausführliche Darstellung bei Gostomzyk 2009, 13–64). Der Begriff ist in der ersten Jahrhunderthälfte vorgebildet (Istel 1914; Bekker 1919, 18 f. spricht von der »literarisierenden Musikoper« bei Richard Strauss; Abert 1926 dann von der »Literaturoper« im Gegensatz zur »Musikoper«), wird aber in der Musikwissenschaft erst ab den 1980er Jahren gebräuchlich (Wiesmann 1982; Dahlhaus 1983/89). Im Gegensatz zur »Librettooper« ist der zugrunde liegende Text der Literaturoper ein eigenständiges literarisches Kunstwerk und wird bei der Einrichtung in der Regel nur wenig verändert, wenn auch nahezu immer gekürzt. Frühe Beispiele der Literaturoper sind Claude Debussys Pelléas et Mélisande (1902, Maurice Maeterlinck), Richard Strauss ’ Salome (1905, Oscar Wilde) sowie Alban Bergs Wozzeck (1917–24, Georg Büchner) und Lulu (1928–35, Frank Wedekind). Die narrative Struktur der literarischen Vorlagen liefert einen tradierten Handlungsbogen. Dabei ist ein Typus von Literaturoper, bei der der Gesangstext ausschließlich mit wortgetreuen Textpassagen eingerichtet wird (z. B. Aribert Reimann, Lear, 1975–78, Claus H. Henneberg; Gier 2009), von Neuschaffungen auf Grundlage einer historischen Musiktheater Vorlage zu unterscheiden (Ingeborg Bachmanns Adaption des Kleist-Dramas für Henzes Prinz von Homburg, 1960, verändert die politisch-gesellschaftliche Aussage wesentlich; Tumat 2004). Die insgesamt vorwiegende Tendenz von Literaturopern, narrative Strukturen zu bewahren, muss unterschieden werden von musiktheatralen Arbeiten, die sich zwar auf literarische Vorlagen oder Texte stützen, diese aber in eine vorwiegend non-narrative Gesamtkonzeption umsetzen (z. B. Gedichte von Friedrich Hölderlin und Massimo Cacciari in Nonos Prometeo, oder Texte von Hans Christian Andersen, Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin in Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, vgl. 3.2). Auch mittels der damit getroffenen Unterscheidung narrativ vs. non-narrativ kann freilich aufgrund der zahlreichen Zwischenstufen keine allzu rigorose Kategorisierung vorgenommen werden (Danuser 2003). Narrative Formen der Literaturoper waren zumindest bis in die 1990er Jahre hinein vorwiegend ein Phänomen des deutschsprachigen Raums und können in mancher Hinsicht als Versuch der Konsolidierung eines bildungsbürgerlichen Kunstbegriffs verstanden werden. Im Zeitraum 1945–81 entstanden 266 deutschsprachige Literaturopern (Siedhoff 1982). Repräsentative Werke dieser Kategorie in den ersten Jahrzehnten nach 1945 wurden u. a. von Gottfried von Einem (Dantons Tod, 1947; Der Prozeß, 1953), Paul Hindemith (Die Harmonie der Welt, 1957), Wolfgang Fortner (Bluthochzeit, 1957), Hans Werner Henze (Boulevard Solitude, 1950–51; König Hirsch, 1956), Rolf Liebermann (Penelope, 1954; Die Schule der Frauen, 1955) und Giselher Klebe (Die Räuber, 1951–56; Jakobowsky und der Oberst, 1965) vorgelegt. Eine schlüssige Verbindung von Literaturoper und gesellschaftlicher Positionierung schuf Benjamin Britten in einem einzigartigen Opernœuvre. Als Homosexueller und Kriegsgegner in einer mehrfachen Außenseiterrolle, gelang es Britten in der Folge des spektakulären Erfolgs von Peter Grimes (1944/45, George Crabbe) mit seinen Musiktheaterwerken nationale und bald auch weltweite Anerkennung zu finden. Viele seiner Werke sind in jüngerer Zeit als Chiffren für die Diskriminierung und Isolation Homosexueller in der britischen Gesellschaft der 1940er bis 60er Jahre interpretiert worden (Brett 1994), insbesondere seine erfolgreichsten (Literatur-)Opern Peter Grimes, Billy Budd (1950–51, Herman Melville), The Turn of the Screw (1954, Henry James) und A Midsummer Night ’ s Dream (1959–60, Shakespeare) sowie Death in Venice (1971–73, Thomas Mann). Auch nach den 1980er Jahren verbindet sich die Literaturoper zum Teil mit musikalisch konservativeren Tendenzen oder aber mit einer neo-expressionistischen Aus- 410 Musiktheater drucksästhetik. Paradigmatisch dafür stehen die Opern Aribert Reimanns (Lear, 1975–78; Die Gespenstersonate, 1984; Troades, 1986; Das Schloß, 1992; Medea, 2010) und Wolfgang Rihms von der Kammeroper Jakob Lenz (1977–78) bishin zu Dionysos (2010, Salzburger Festspiele). Rihm setzt in seinen Bühnenwerken insgesamt auf eine übersteigerte Expressivität, die immer wieder den Rahmen konventionell-narrativer Darstellung sprengt und u. a. an Antonin Artauds Konzept eines »Theaters der Grausamkeit« anknüpft (Die Eroberung von Mexiko, 1987–91), das auch viele andere musiktheatrale Konzepte inspirierte, etwa Boulez ’ Entwürfe der 1950er und 60er Jahre (Zenck 2003). Das hochexpressionistische Idiom Rihms in Jakob Lenz versucht durch extreme Ausdruckwerte sich vom literarischen Stoff (Georg Büchners Erzählung Lenz) zu emanzipieren (Schmidt 1993). Rihm hat mit der Musiktheaterserie Séraphin (1993–96) aber auch eine dezidiert non-narrative Form von Musiktheater vorgelegt, in der im Anschluss an Artauds Text Théâtre de Seraphin (1948) die Stimme bzw. die Musik allein zur Protagonistin eines gänzlich textlosen »Versuch[s] eines Theaters, Instrumente / Stimmen!…« (so der Untertitel) wird und damit an Konzepte des Hörmusiktheaters grenzt (Mosch 2003, vgl. 3.2). Weitere Literaturopern der jüngeren Zeit mit unterschiedlicher Akzentuierung komponierten etwa MarkAnthony Turnage (Greek, 1988, Steven Berkoff ), Manfred Trojahn (Enrico, 1989/91, Claus H. Henneberg nach Luigi Pirandello; Was ihr wollt, 1997/98) und Detlev Glanert (Der Spiegel des großen Kaisers, nach Arnold Zweig, 1989– 93; Drei Wasserspiele, 1985–95, nach Thornton Wilder; vgl. Gostomzyk 2009). Glanert legte mit Die Befristeten (2014, Elias Canetti) zuletzt aber auch eine ungewöhnliche Form vor, in der Artikulationsweisen des Sprechtheaters und Melodrams in einer gemeinsam mit den Darstellern erarbeiteten Kollektivkomposition entwickelt wurden. Entscheidende Impulse für die Literaturoper gingen vor allem unter Henzes Leitung auch von der Münchener Biennale für neues Musiktheater aus: Insbesondere Adriana Hölszkys Kammeroper Bremer Freiheit (1988, Thomas Körner nach Rainer Werner Fassbinder), ein »Singwerk auf ein Frauenleben«, wurde dabei zu einem modellhaften Werk der späten 1980er Jahre, ebenso wie Gerd Kührs Stallerhof (1988, Franz Xaver Kroetz). Bis in die Gegenwart werden literarische Stoffe Grundlage neuer Opern und belegen die ungebrochene Faszination der Literaturoper in der Gegenwart. Genannt werden können André Previns A Streetcar Named Desire (1998, Tennessee Williams), John Harbisons The Great Gatsby (1999, F. Scott Fitzgerald), Lorin Maazels 1984 (2005, George Orwell), David Carlsons Anna Karenina (2007, Lew Tolstoi) oder Glanerts Solaris (2012, Stanisław Lem). Seit Beginn des 21. Jh.s wird die Orientierung an literarischen Vorlagen u. a. auch durch Übertragungen von Filmstoffen ergänzt, etwa in Olga Neuwirths Lost Highway (2003–04, David Lynch / Elfriede Jelinek) oder Dejan Sparavalos Die Zeit der Zigeuner (2007, Emir Kusturica), aber auch durch den Bezug auf Alltag und Popularkultur, etwa in Benedict Masons Fußballoper Playing Away (2004). 2. Gattungskritische und -erweiternde Konzeptionen Nach 1950 wurde die Kritik an herkömmlichen repräsentatorischen und narrativen Musiktheaterformen wohl am grundlegendsten markiert durch die Tendenz zu szenischer Aktion und körperorientierter und intermedialer Ä Performance. Formen des »Happening« (1959, Allan Kaprow), dessen Urform im von Cage geleiteten Untitled Event 1952 am Black Mountain College, North Carolina stattfand (u. a. unter Mitwirkung von Robert Rauschenberg, David Tudor und Merce Cunningham), und der Fluxus-Bewegung (George Brecht, Dick Higgins, Kaprow, Charlotte Moorman, Nam June Paik u. a.) fügten sich zu einer Reihe musikalisch-szenischer Konzepte und Praktiken, die sich rigoros von sämtlichen narrativen und dramaturgischen Konventionen distanzierten und in der Tradition der Ä Avantgarde der 1920er und 30er Jahre die Aufhebung der Trennung von Kunst und Lebenspraxis anstrebten. Neben Cages Theatre Piece (1960) und Karlheinz Stockhausens Originale (1961, einer szenischen Erweiterung der Komposition Kontakte für Klavier, Schlagzeug und Tonband, 1958–60), haben Mauricio Kagels Ä Instrumentales Theater (Kagel 1963; u. a. Match für drei Spieler, 1964–66; vgl. Rebstock 2007) und Dieter Schnebels »Sichtbare Musik« (Schnebel 1966/93; u. a. visible music II. Nostalgie. Solo für einen Dirigenten, 1960) diese Tendenzen am konsequentesten weitergeführt. Die Instrumentalisten werden zu Akteuren auf der Bühne, der performative Raum zwischen Körper, Aktion, Klang und Wahrnehmung wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zeitgleich wurden in der Sprachkomposition (Ä Sprache / Sprachkomposition) nachhaltig sprachliche Sinnzusammenhänge und damit Formdramaturgien dekonstruiert, aber auch neues theatrales Potenzial erschlossen (Kagel, Anagrama, 1957; Schnebel, glossolalie, 1959–60 [Ausarbeitung als Glossolalie 61, 1961–64]; Ligeti, Aventures / Nouvelles Aventures, 1962–65). Nach frühen experimentellen Versuchen wie Boris Blachers Abstraker Oper Nr. 1 (1953, Werner Egk) und Franco Evangelistis Bühnenkonzept Die Schachtel (1962–63) entstanden in jenen Jahren besonders rigorose Formen der »Anti-Oper« (vgl. Konold 2003) sowie der 411 Erweiterung narrativer Strategien. Henri Pousseurs Votre Faust (1960–68, nach Michel Butor) setzte, mittels Partizipation des Publikums, eine »offene Dramaturgie« und aleatorische Prinzipien unter Anknüpfung an Samuel Becketts Absurdes Theater um. Kagels »Szenische Komposition« Staatstheater (1967–70), ein Auftrag der Hamburgischen Staatsoper, kann als besonders facettenreicher Widerspruch zur Institution Oper bzw. als Reflexion der Institution Oper im Werk verstanden werden (Klüppelholz 1981). Ein vergleichbar selbstreflexives Konzept verfolgt Cage in Europeras 1&2 (1985–87): In 32 Bildern werden Arien und Duette mit fragmentierten instrumentalen Einzelstimmen aus 128 Opern des 18. und 19. Jh.s mittels Zufallsoperationen überlagert, wobei, wie bei Kagel, auch Bühnenbild, Requisiten, Licht und Tanzfiguren im Sinne des »Composed Theatre« in die Gesamtkonzeption »einkomponiert« sind (Europeras 3&4 für sechs Sänger, zwei Klaviere und sechs Grammophone, 1990, und Europera 5 für zwei Sänger, Klavier und Tonband, 1991, übertragen das Konzept auf kleinere Besetzungen). Für die offenen musiktheatralen Konzeption der 1960er und 70er Jahre stehen daneben singuläre Konzepte wie Sylvano Bussottis intermediales bussottioperaballet (z. B. La passion selon Sade, 1965), Jani Christous »Praxis-Metapraxis«-Konzeption, in der die herkömmliche »Praxis« des Instrumentalspiels überschritten wird und auf eine umfassende Synthese von Theater, Performance, Bühnenbild, visuellen Medien und Musik zielt (z. B. Anaparastasis III – The Pianist, 1969; vgl. Schäfer 2008) sowie Hans-Joachim Hespos ’ »Integrales Theater« (Steiert 1988; Brüstle 2013, 151–169), das eine Entgrenzung körperlicher und kommunikativer Konventionen bei Interpreten wie Publikum intendiert. Direkt von Kagel beeinflusst sind schließlich die experimentellen Sprach- und Musiktheaterkompositionen von Georges Aperghis (*1945 in Athen, seit 1963 in Paris lebend). Seit Pandaemonium (1973) hat Aperghis eine große Reihe von Musiktheaterprojekten vorgelegt, die er bis Mitte der 1990er Jahre großteils, dem Konzept des »Théâtre d ’ auteur« folgend, mit seiner eigenen Theatergruppe Atelier Théâtre et Musique (ATEM) realisierte (Rebstock 2012). Ansätze Cages, Kagels und Schnebels verbinden sich in weiterer Folge mit Einflüssen aus Performance Art und Ä Klangkunst zu singulären Formen eines situativ konzipierten und geweiteten musikalischen Theaters. Große Beachtung hat in den letzten Jahren etwa das teilweise mit dem Begriff »Stationentheater« zu beschreibende Schaffen von Manos Tsangaris gefunden (z. B. winzig, 1993; Drei Räume, 2004). Tsangaris, der in seinem Konzept einer »szenischen Anthropologie« vielfältige Perspektivenwechsel zwischen erzählten Geschich- Musiktheater ten und nicht-narrativen Situationen entfaltet, hat dabei besonders kreative Formen der Überschreitung zur Entfaltung gebracht, die aus dem bewussten Abweichen oder Entgrenzen von vertrauten Orten der Musik(theater)Darbietung resultieren (Hiekel 2009). Seine im Freien spielenden Musiktheaterwerke (Schwalbe, 2011; Mauersegler, 2013) stellen dabei, ähnlich wie auch das Schaffen von Daniel Ott (z. B. Paulinenbrücke, 2009; vgl. Brüstle 2012) in ihrer Art der Erschließung öffentlicher Räume gewisse Korrespondenzen zu installativen Konzepten der Klangkunst her. Zum Musiktheater heute gehören, über die experimentelle Ansätze von Cage, Kagel und Schnebel deutlich hinausreichend, vielerlei Tendenzen der Verknüpfung mit anderen künstlerischen Bereichen. Zu nennen sind hier einerseits die stark auf Praktiken des Erzähltheaters rekurrierenden Musiktheaterwerke von Enno Poppe, aber andererseits auch verschiedene im Grenzbereich zwischen Musik und Tanz (Ä Tanz / Tanztheater; Reininghaus / Schneider 2004; Schroedter 2012) angesiedelte Projekte. Besonders stark im Sinne eines »transdisziplinären« Konzepts ausgeformt ist diese Tendenz etwa in Isabel Mundrys Musiktheaterwerk Ein Atemzug  – die Odyssee (2005), das in Kooperation mit der Choreographin Reinhild Hoffmann entstand und den auf eine spezifische Form des Erzählens verweisenden Untertitel »Choreografische Oper« trägt (Hiekel 2011). 3. Alternative Modelle 3.1 Neo-narrative Ansätze Dass sich der Bezug auf narrative Formen und kanonisierte literarische Stoffe keineswegs mit einem konservativen Festhalten an den Gattungskonventionen verbinden muss, zeigt kein Werk seit 1945 so überzeugend wie Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten (1957–65, Jakob Michael Reinhold Lenz). Zimmermanns Vision eines »totalen Theaters« (Zimmermann 1965/74), angeregt durch Lenz ’ Schrift Anmerkungen übers Theater (1771–74) und andere theaterreformerische Ansätze, die der Komponist durch Paul Pörtners Buch Experiment Theater (1960) kennenlernte, zielte auf eine universelle Botschaft, als deren Symbol die komplexe serielle Organisation des Werks erscheint (Michaely 1988). Die Zuordnung aller Ebenen zur Protagonistin Marie als überzeitlicher Symbolfigur, die Auflösung linearer Handlung in Simultanszenen und Tableaus (Seipt 1987), die enorme musikalische wie räumlichszenische Verdichtung und Expansion mussten zunächst zu Konflikten mit der Institution Oper führen (Ebbeke 1990/98). Gerade aufgrund dieser zukunftsweisenden Ansätze aber haben sich die Soldaten zum Schlüsselwerk des neueren Musiktheaters entwickelt, dessen Aktualität Musiktheater außer Frage steht. Zimmermanns Simultankonzeption verwandt sind etwa die dramaturgisch-szenischen Konzepte in Henzes We come to the River (1976) sowie in Hans Zenders Stephen Climax (1986) nach dem Circe-Kapitel aus Joyces Ulysses (Hiekel 2013a). Die allgemeine Politisierung der 1960er und 70er Jahre fand in neuen musiktheatralen Formen wirksame Kanäle. Ein prägendes Genre, das narrative Elemente bewahrte, diese aber in einen dezidiert politisch-aktualisierenden Kontext stellte, schuf Nono mit seinen beiden »azione scenice« Intolleranza 1960 (1960–61, Uraufführung Venedig, Teatro La Fenice, 1961; Jansen / Wagner 2004) und Al gran sole carico d ’ amore (1972–74/77; Uraufführung Mailand, Teatro alla Scala 1975; Zenck 2014). Das Konzept der azione scenica wurde wesentlich beeinflusst durch die Begegnung Nonos mit Alfred Radok vom Prager Theater Laterna Magika und dessen Bühnentechniker Josef Svoboda 1958 sowie durch die Tradition des revolutionären russischen Theaters von Wsewolod Meyerhold (1874–1940) und Wladimir Majakowski (1893–1930), die Nono durch das Buch Majakowski e il Teatro Russo d’Avanguardia (1959) von Angelo Maria Ripellino kennenlernte. Kerngedanke der azione scenica war es, ein zentrales Thema (in Intolleranza 1960 das Thema der Intoleranz) nicht anhand einer linearen Geschichte zu verhandeln, sondern anhand von Episoden aus verschiedenen historischen und geographischen Kontexten so zu vermitteln, dass der Hörer zu einer Stellungnahme herausgefordert wird. Auch Luciano Berios als messa in scena bezeichnetes Werk Passaggio (Edoardo Sanguineti, 1961–62) beabsichtigte eine Identifikation des Publikums mit den Ausführenden (Chor im Publikum, Frau auf der Bühne) mit dem Ziel, Protest gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit wachzurufen. Ebenso waren Henzes theatrale Werkkonzeptionen seit den späten 1960er Jahren verstärkt durch Politisierung gekennzeichnet. Das im Royal Opera House, Covent Garden uraufgeführte We come to the River (1974–76, Edward Bond) wurde als »Actions for music« bezeichnet und thematisierte die Schrecken von Diktatur und Krieg mittels eines ins Äußerste pluralisierten Gesamtkonzepts: 50 Sänger-Darsteller, die 111 Rollen verkörpern, und drei räumlich getrennte Orchester setzten in einer Mischung tonaler und atonaler Stile die ideologischen Konfrontationen der Zeit wirksam in Szene. Zur Reihe gattungskritisch entwickelter und politisch engagierter Musiktheaterwerke zählt schließlich auch Vinko Globokars L ’ armonia drammatica (1986–89, Edoardo Sanguineti), das in einer mehrsprachigen Textanordnung Widerstand und Individualität thematisiert. Im Gegensatz zu reformatorischen Tendenzen bezeichnete György Ligeti seinen im selben Zeitraum ent- 412 standenen Le grand macabre (1974–77, Michael Meschke / Ligeti, nach Michel de Ghelderode) explizit als »Oper in zwei Akten« – der Komponist nannte sie in bewusster Abgrenzung von Kagels ikonoklastischem Ansatz und von seiner eigenen »Anti-Oper« Aventures / Nouvelles Aventures auch eine »Anti-Anti-Oper« (Konold 2003, 57 f.). Die vom Absurden Theater ausgehende musikalische Groteske wollte sich von der emphatischen Opernkonzeption des 19. Jh.s oder dem Musikdrama Wagners ebenso distanzieren wie von der non-semantischen Sprachkomposition (Ä Sprache / Sprachkomposition). Karlheinz Stockhausen bildete mit seiner Heptalogie Licht  – Die sieben Tage der Woche (1977–2003) in vieler Hinsicht einen Sonderfall der Gattung Musiktheater heraus, etwa da Stockhausen die Idee des Gesamtkunstwerks, das hier musikalisch auf der monistischen »Formelkomposition« basiert, emphatisch aufgreift und übersteigert. Stockhausens Konzept der »Szenischen Musik« (Wirtz 2000), bei dem auch szenische Vorgänge und Bewegungsabläufe musikalisch präzis notiert sind, zeigt manche Parallelen zu Kagel, ist allerdings weit stilisierter und stärker determiniert. Es kommen vorwiegend kleine Instrumentalensembles und verschiedene technischelektronische Erweiterungen zum Einsatz. Vorläufer war Stockhausens Inori, Anbetungen für 1 oder 2 Solisten und Orchester (1973–74), in dem die Parts von zwei »TänzerMimen« in der Partitur exakt festgelegt sind. Die Handlung ist auf die archetypischen Figuren Eva, Luzifer und Michael konzentriert und versteht sich als »Schöpfungsund Welttheater« (Holtsträter 2011). Einen deutlichen narrativen Subtext behalten auch die vielbeachteten montageartigen Musiktheaterprojekte von Heiner Goebbels bei. Goebbels verbindet in der Doppelfunktion von Komponist und Regisseur stilistisch divergierende Kompositionsformen mit Texten, Improvisationen und Umweltgeräuschen. Angestrebt wird insbesondere, die Ausführenden in prozesshafter Weise in die Entstehung der Projekte einzubinden, wobei Ä Improvisation eine wichtige Rolle einnimmt. So wird in Schwarz auf Weiß (1996) das Ensemble Modern durchaus im Sinn eines expandierenden Instrumentalen Theaters sowohl als Kollektiv zum Hauptakteur als auch werden einzelne Musiker mit ihren unverwechselbaren Fähigkeiten herausgehoben; dazu tritt eine von Heiner Müller gelesene Textschicht (Shadow von Edgar Allan Poe), die einen hinreichend offenen semantischen Rahmen für die vielfältigen Bühnenaktionen bereitstellt. Charakteristisch für den erweiterten Anspruch einzelner Künstler auf die Gesamtheit musiktheatraler Erfahrung ist, dass Goebbels auch als Intendant der Ruhrtriennale 2012–2014 einzelne maßstabsetzende Produktionen initiiert hat, etwa eine 413 Inszenierung von Cages Europeras 1&2 sowie eine RaumInszenierung von Zimmermanns Die Soldaten, die mehr als frühere Inszenierungen der vom Komponisten intendierten Aufführungssituation gerecht wurde. Als multimediale Weiterentwicklung eines politisch motivierten Musiktheaters der 1960er und 70er Jahre lässt sich das wohl oft nur scheinbar »sachlichere« Genre der Dokumentaroper verstehen, das ein populäres Fernsehformat auf die Opernbühne bringt. Als eine der erfolgreichsten US-amerikanischen Opern nimmt John Adams ’ Nixon in China (1985–87; Uraufführung Houston 1987, Regie: Peter Sellars) Bezug auf Richard Nixons China-Besuch im Jahr 1972, dem ersten Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten in der Volksrepublik China. Die historischen Charaktere werden bei Adams zu mythischen überzeitlichen Figuren. Dies ist nicht zuletzt bedingt durch den postminimalistischen Stil, der auf weitgehend tonaler Harmonik mit wiederholten Zitaten aus populären Musikgenres basiert. Die Überlagerung einfacher Pulse und die sprachnahe Gesangsdeklamation trugen zur Popularität des Werkes bei. Unklar bleibt dabei, ob Adams die historisch-politische Situation sarkastisch kommentiert oder heroisiert (Taruskin 2005/10, 516–523). Adams setzte das Konzept der zeitenthobenen musikalischen Inszenierung politischer Stoffe mit der Anti-Terrorismus-Oper The Death of Klinghoffer (1990–91) sowie in Doctor Atomic (2004–05) fort. Zwei bedeutende Beiträge zu diesem Genre lieferte auch Steve Reich mit seinen dokumentarischen Video-Opern, die in Kooperation mit der Videokünstlerin Beryl Korot entstanden: The Cave (1989–93) befasst sich mit der Lebensgeschichte Abrahams wie sie in den unterschiedlichen Texten der Weltreligionen überliefert ist und wie sie von Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufgefasst und erzählt wird. Reich verwendet eine im Streichquartett Different Trains (1988) entwickelte kompositorische Methode, bei der die Sprechmelodie der auf dem Video zu sehenden Sprecher im Instrumentalensemble rhythmisch und melodisch exakt verdoppelt wird. Three Tales (1997–2002) thematisiert die Schattenseiten moderner Technologie, von der Explosion der Luftschiffs Hindenburg über die Atomversuche am Bikini Atoll zum geklonten Schaf Dolly. Stilistisch stärker an der Avantgarde sowie an Rockmusik-Rezeption orientierte Ansätze wurden im europäischen Raum vor allem von Helmut Oehring (Dokumentaroper aus: Irrenoffensive, 1994–95) entwickelt, der in späteren Arbeiten (etwa SehnSuchtMeer, 2013) konkret auf Repertoirewerke (in diesem Falle auf Wagners Der fliegende Holländer) reagiert und diese mit eigenen Mitteln scharf kontrastiert. Die Übertragung von Fernsehformaten und Rezeptionsweisen führten insbesondere auch in Robert Ashleys Musiktheater collageartig populäre Stile verknüpfenden »operas for television« (Perfect Lives, 1977–83; der Komponist fungiert hier zugleich als Erzähler) zu eigenständigen Synthesen. Zuletzt wurde gar der Versuch unternommen, eine Übertragung des Sitcom-Formats auf die musiktheatrale Bühne zu bringen (Bernhard Gander, Das Leben am Rande der Milchstraße. Eine Sitcom-Oper in sieben Folgen, 2014). Eine besondere Stellung im Kontext einer Erweiterung etablierter narrativer Dramaturgien nimmt das auf das frühe 20. Jh. zurückgehende musiktheatrale psychologische Kammerspiel ein  – analog zu dem von August Strindberg begründeten Theatergenre bzw. verstehbar als dessen Weiterentwicklung, in deren Tradition sich vor allem das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule verstanden hatte (Mauser 1982). Wenige narrative Grundelemente werden bewahrt, aber stark reduziert und abstrahiert, sodass das Innenleben der Personen in den Vordergrund rückt, das aber zum Teil mehrdeutig bleibt. Ausgangspunkt dieser Tendenz können Konzeptionen wie Richard Wagners Tristan und Isolde (1857–59) und vor allem Schönbergs Monodram Erwartung (1909) sein. Wesentliche Beispiele bieten die Musiktheaterwerke Salvatore Sciarrinos. Luci mie traditrici (Die tödliche Blume, 1996–98) verkürzt ein barockes Drama zum Mord Carlo Gesualdos an seiner Gattin und deren Liebhaber auf äußerst verdichtete Textfragmente und schafft daraus einen diskontinuierlicher Handlungsaufbau ohne Verbindungsglieder (Utz 2010). In einem charakteristischen Vokalstil (sillabazione scivolata, Ä Stimme) wird der Übergangsbereich zwischen Singen und Sprechen angestrebt und die affektorientierte Konzeption von Stimme in Madrigal und Oper des frühen 17. Jh.s aufgegriffen (weitere vergleichbare Bühnenwerke Sciarrinos sind Vanitas, 1980/81; Lohengrin, 1982/83, Infinito nero, 1997–98, Macbeth, 2002, Da gelo a gelo, 2006). Zahlreiche musiktheatrale Konzeptionen der jüngeren Zeit verbinden die Skepsis gegenüber konventioneller Handlungsdramaturgie und Rauminszenierung mit einem Beibehalten literarischer Bezüge und Textvorlagen, die aber häufig unkenntlich gemacht oder semantisch gebrochen werden, so etwa in den viel diskutierten Musiktheaterwerken Bernhard Langs (Das Theater der Wiederholungen, 2000–02, Marquis de Sade, William S. Burroughs; Der Alte vom Berge, 2007; Der Reigen, 2012, Michael Sturminger nach Arthur Schnitzler). 3.2 Non-narrative Ansätze Viele non-narrative Ansätze im neueren Musiktheater stehen in Beziehung zu Entwicklungen des Sprechtheaters, insbesondere zu Tendenzen eines »postdramatischen Theaters« (Lehmann 1999), die u. a. das theatrale Arbei- Musiktheater ten mit verschiedenen simultan oder versetzt exponierten Text- und Klangschichten, die Aufgabe einer linearen Verlaufsdramaturgie, die Aufspaltung von Figuren und Handlungssträngen oder das bewusste Einbeziehen des Bühnen- und ggf. Zuschauerraums umfassen. Im musiktheatralen Kontext können solche Ansätze wie bei Zimmermann auf eine Überwältigung der Wahrnehmung zielen, der die Möglichkeiten eines vereinheitlichenden synoptischen Überblicks genommen wird (vgl. Zenck 2014), aber auch auf Formen extremer Reduktion und anti-rhetorischer Emanzipation von Stille und Schweigen (Elzenheimer 2008) bzw. einer grundlegenden Sprachskepsis (Gier 2003). Dabei ist, wie angedeutet, keine schlichte Polarität von narrativen und non-narrativen Ansätzen zu konstruieren. Vielmehr fließen in nahezu alle non-narrativen Konzepte auch narrative oder semantische Subtexte ein bzw. wird, etwa bei Brian Ferneyhough oder Mark Andre, das Aufheben der Narration im Narrativen zur zentralen Intention der Werkkonzeption. In rigoroser Form ist ein sprach- und narrationsskeptisches »Hörmusiktheater« in Morton Feldmans einziger Oper Neither (1976–77, Samuel Beckett) vorweggenommen. Der kurze zugrunde liegende Text Becketts wird von einem Sopran vorgetragen und ist, eingebettet in eine sich mit diesem Werk in Feldmans Schaffen neu konstituierende repetitive Musterkomposition, auf abendfüllende Dauer gedehnt. Die darin sich andeutende Neigung zu einem quasi rituellen Situations- oder Stationentheater, zu Tableau und Oratorium, geht mit einer Fokussierung auf musikalische gegenüber textlichen und dramatischen Aspekten einher. Ähnliches lässt sich auch für die mehrstündigen minimalistischen Porträt-Opern von Philip Glass behaupten (Einstein on the Beach, 1975–76; Satyagraha, 1980; Akhnaten, 1984), selbst wenn diese eine Reihe narrativer Elemente aufgreifen. Eine eigentümliche Variante schafft Olivier Messiaen mit der dezidierten Antitheatralik seines monumenthaften Saint François d’Assise (1975–83), musiktheatrale Tableaus bei Adriana Hölszky (Die Wände 1993–95; Tragödia (Der unsichtbare Raum), 1997) setzen diese Tendenz fort. Während in Die Wände der literarische Stoff Jean Genets immer wieder in tableauartigen Raumszenen aufgelöst wird (Petersen 2007; Zenck 2007), auch durch die Simultanschichtung von Szenen, gibt es in Tragödia keine Handlung, keine Sänger und keine Akteure auf der Bühne mehr. Die »Handlung« verlagert sich ganz ins Innere der Musik hinein (Hölszky 1997; Kostakeva 2003; Hiekel 2013b). Das Modell des Hörmusiktheaters schlechthin ist schließlich Luigi Nonos »Tragedia dell ’ ascolto« Prometeo (1981–85). Ursprünglich als dritte azione scenica geplant, wurde die Konzeption dieses Werkes in eine radikal non- 414 narrative Richtung gebracht, wobei schrittweise alle Spuren von Theatralischem und konkret Geschichtlichem getilgt wurden (Jeschke 1997). Unter dem Einfluss Massimo Cacciaris wurde das Werk zu einer geschichtlichphilosophischen Reflexion, wobei die Forderung nach einem »neuen Hören« ins Zentrum der Konzeption rückte. Nonos Hörbegriff richtete sich dabei auf ein »neues, kreatives, suchendes Hören […], das strikte Gegenteil des bestätigenden Hörens von längst Vertrautem« (Stenzl 2004, 1164). Eine besondere Rolle spielt dabei die mittels Live-Elektronik gesteuerte Raumklangverteilung, die den Hörer nach dem Modell der venezianischen Mehrchörigkeit einer immersiven Klanglichkeit aussetzt. In unterschiedlicher Weise an Nono knüpfen Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern« und Beat Furrers explizit als »Hörtheater« bezeichnetes Werk Fama (2004–05) an. Wesentlicher Impuls für Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96) war es, das Bildliche in seinem Verhältnis zum Hören neu zu bestimmen (Nanni / Schmidt 2012). Die Affinität zum Hörmusiktheater ist offenkundig in Lachenmanns Text Eine musikalische Handlung, der an die Stelle von Opernlibretto, Synopsis und Inhaltsangabe tritt. Der Text verknüpft in unnachahmlicher Weise technisch-poetische Beschreibungen musikalischer Verläufe, Bezüge zu den zugrunde gelegten Texten und musikalische Selbst- und Fremdreferenzen. Wesentlich für die Konzeption sind die mimetischen Zitationen von Körperzuständen und Wahrnehmungsgegenständen, wie dem Zittern, Händereiben oder dem Anreiben der Streichhölzchen durch das große vokal-instrumentale Ensemble (Kemper 2001). Furrers Fama nach Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else, konzipiert für einen eigens gebauten Aufführungsraum (Uraufführung Donaueschingen 2005), thematisiert räumlich differenziertes Hören als Erfahrungsfeld, in dem der Konflikt der Hauptfigur Else zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung vermittelt wird. Die Inszenierung der Hörens wird so zum musikalischen Psychogramm, das an die Stelle herkömmlicher narrativer Dramaturgie oder Textexegese tritt. Viele non-narrative Werke grenzen eng an das Konzept der Hörmusiktheaters, indem sie asemantische musikalische Strukturen in unterschiedlichster Weise in semantisierende Kontexte überführen, so etwa Chaya Czernowins Pnima … ins Innere (2000), das trotz der Inspiration durch David Grossmans Roman Stichwort: Liebe keinen Text verwendet und damit die Frage ins Zentrum rückt, ob das Thema mit Worten überhaupt adäquat zu behandeln wäre. Dieses Thema  – eine Begegnung zwischen den Generationen bei der gesellschaftlichen Verarbeitung der Schreckenserfahrungen des Holocaust – wird 415 ausschließlich durch Musik und Darstellung / Inszenierung vermittelt. Mark Andres »Musiktheater-Passion« … 22,13 … (1999–2004, nach Texten aus der Bibel) und die »Oper in vier Situationen« wunderzaichen (Stuttgart 2014, Andre / Patrick Hahn) vermitteln in ihren Engführungen verschiedenster gedanklicher Motive, die ebenfalls die Zweifel an der Darstellbarkeit existenzieller Situationen künstlerisch produktiv zu machen suchen, umgreifende klangräumliche Gesamtsituationen. Dabei ist es typisch für wunderzaichen, dass eine Geschichte erzählt wird und sich das Werk immer wieder im Kraftfeld der herkömmlichen Oper bewegt, doch an entscheidenden Stellen daraus ausbricht – mit dem Ziel andere Erfahrungsräume zu öffnen und die Frage des Verstehens selbst zum Thema zu machen (Hiekel 2015). Zur Verdichtung der klangsemantischen Ebene tragen u. a. Sprachaufnahmen sowie Aufnahmen akustischer Räume von heiliger Stätten in Israel bei. Klaus Langs stark reduzierte Texturen sind im theatralen Kontext in vergleichbarer Weise als neo-sakrale Klanginszenierungen zu begreifen. So wird in Der Handschuh des Immanuel (2010) der reale Aufführungsraum der Uraufführung, der Aachener Dom, zur »imaginären Hauptfigur«. Brian Ferneyhoughs Shadowtime (München 2004, Charles Bernstein) versteht sich im Gegensatz dazu als »Gedankenoper«. Grundlage ist eine »poetisch-philosophische Collage« auf der Basis von Texten Walter Benjamins und anderer Autoren in sieben episodenhaften Szenen in Gestalt einer Zeitreise durch die Epochen. Motive Walter Benjamins dienten daneben gleichermaßen als Vorlage für das »post-humanistische« Musiktheater von Claus-Steffen Mahnkopf (Angelus Novus, 2000; vgl. Betzwieser 2011, 160–164). Wie bei Feldman, Nono oder auch in Klaus Hubers Schwarzerde (1997–2001, Michael Schindhelm nach Ossip Mandelstam) steht bei Ferneyhough wie bei Mahnkopf die Musik im Zentrum des Geschehens. Dasselbe gilt auch häufig für intermedial angelegte Arbeiten wie die Video-Oper An Index of Metals für SoloSopran, Ensemble und Live-Elektronik (2003, Kenka Lèkovich) von Fausto Romitelli, die mittels komplexer instrumental-elektronischen Klangmischungen den Hörer in eine dichte, sich wandelnde Klangumgebung einbettet, dabei aber semantisch offen bleibt. Zumindest teilweise entstehen non-narrative oder nicht-lineare Konzepte auch im Kontext einer Globalisierung musiktheatraler Formen. Die suggestiven kontemplativen Tableaus Robert Wilsons, durch ostasiatische Theaterformen wie das Nō-Theater beeinflusst, erkunden ebenso wie eine insgesamt häufige Rückbesinnung auf kultische bzw. rituelle Ursprünge des Theaters die Faszi- Musiktheater nation durch räumlich-theatrale Präsenz. Einige musiktheatrale Werke der 1980er und 90er Jahre haben solche Momente auch kompositorisch aufgegriffen, darunter Tan Duns archaisierendes Stationenritual Nine Songs (1989, Qu Yuan) und seine interkulturelle Musik- und Textebenen verschachtelnde »Opera within an Opera« Marco Polo (1991–95, Paul Griffiths) (Utz 2002, 403–423; 460–475), Qu Xiaosongs Monodram Life on a String (1997, Wu Lan / Qu), das an die Tradition der blinden Geschichtenerzähler Chinas anknüpft, und Toshio Hosokawas Hanjo (2004, Yukio Mishima) und Matsukaze (2011), in denen Stoffe des Nō-Theaters aufgegriffen und auch musikalisch deutliche Bezüge zur Nō-Tradition hergestellt werden. Dem steht konventionell-lineares Erzählen gegenüber, etwa in Guo Wenjings Night Banquet (Ye Yan, 1997–98/2001, Zou Jingzhi) oder Toshirō Mayuzumis mit deutschem Text versehener Literaturoper Kinkakuji (Der Tempelbrand, 1976, Claus H. Henneberg nach Yukio Mishima). Interkulturelle Konflikte werden immer wieder zum Thema musiktheatraler Arbeiten, etwa in Rihms Die Eroberung von Mexiko (1987–91) oder in Hans Zenders Chief Joseph (2001–2003). 4. Situation und Ausblick Zwischen dem seit den 1970er Jahren sich etablierenden »Regietheater«  – Theateraufführungen, die wesentlich durch die Regie geprägt bzw. ggf. auch textlich von den Regisseuren selbst verfasst oder konzipiert werden – und Tendenzen des neuen Musiktheaters gibt es vielfältige Wechselwirkungen, die in den besten Fällen zu kongenialen Kooperationen führen können. Zu nennen sind hier etwa Projekte von Philip Glass und Robert Wilson (Einstein on the Beach, Avignon 1976 / New York 1978), Adriana Hölszky und Hans Neuenfels (Die Wände, Wien 1995 u. a.) oder Beat Furrer und Christoph Marthaler (Invocation, Zürich 2003; Fama, Donaueschingen 2005; Wüstenbuch, Basel 2010). Freilich stehen solchen geglückten Synergien auch problematische Konfrontationen von musikalischen und theatralen Konzepten gegenüber, die für scharfe, bisweilen öffentlich ausgetragene Kontroversen sorgen. Schließlich kann es dazu kommen, dass eine bestimmte Erstinszenierung  – etwa Messiaens FranziskusOper durch Peter Sellars (Salzburger Festspiele 1994)  – die »Theatertauglichkeit« eines neuen Werks belegt. Möglicherweise ist das Beharren auf einer Priorität des musikalischem Hörens in vielen non-narrativen Musiktheaterkonzeptionen aber auch als Gegenimpuls zur mitunter exzessiven Bilderflut im neueren Regietheater zu verstehen. Für die nähere Zukunft der Gattung dürften alle drei hier behandelten großen Tendenzen parallel bestimmend Musiktheater bleiben, vorausgesetzt dass die derzeitige Vielfalt an Gebäuden, Spielorten und Produktionsmöglichkeiten von öffentlichen Bühnen und freien Gruppen nicht durch kulturpolitische Fehlentscheidungen nachhaltig beschnitten wird. 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Kontroversen und Potenziale Musiktheorie kann traditionell verstanden werden als eine eng an musikalischer Ä Struktur, kompositorischen Methoden und musikalischen Hör- und Wahrnehmungsmodellen orientierte musikologische Disziplin, die ihre Erkenntnisse (1) in Form von emphatischen, systematisierenden und generalisierenden Theorien, (2) in Form von synoptischen analyseorientierten oder deskriptiven Stiloder Epochenbetrachtungen, (3) in Form von Ä Analysen einzelner Werke und (4) in Form von didaktisch orientierten Schriften und Konzepten vermittelt. Darüber hinaus kam es spätestens seit Hugo Riemann, verstärkt dann seit den stark musiktheoretisch orientierten Schriften von Carl Dahlhaus (u. a. 1971/2001; 1984/89/2002) zu einer wachsenden Konvergenz von musiktheoretischen und musikhistorischen Methoden. Aber auch Fragestellungen der Systematischen Musikwissenschaft, besonders der Musikpsychologie und Akustik, konvergierten von Beginn an mit jenen der Musiktheorie und bis in die Gegenwart gibt es, etwa aufgrund eines gemeinsamen Interesses an musikbezogenen Wahrnehmungsprozessen, zahlreiche Beispiele für produktive Wechselwirkungen (Cook 1994; Krumhansl 1995; La Motte-Haber 2005; Hanninen 2012). Unter dieser Voraussetzung ist es oft wenig sinnvoll, musiktheoretische und musikwissenschaftliche Forschung Musiktheorie strikt voneinander trennen zu wollen, auch wenn im Hochschulalltag die Aufgabenteilung meist relativ deutlich ist und der Musiktheorie »klassische« Gegenstände der Lehre wie Form, Kompositions- und Satztechniken (Kontrapunkt, Harmonie-, Rhythmus-, Melodielehre), Gehörbildung sowie ggf. Klavierpraxis, Instrumentation und Analyse zugeordnet werden. Bereits seit der mittelalterlichen Kontrapunktlehre war – trotz einer erheblichen »spekulativen« Tradition des Fachs  – ein wesentlicher Teil des musiktheoretischen Schrifttums der kompositorischen Praxis gewidmet, seit dem 18. Jh. explizit in Form einer »Handwerkslehre« (Dahlhaus 1989/2003, 353–366; Menke 2015). Spätestens mit Giovanni Maria Artusis Kontroverse mit Claudio und Giulio Cesare Monteverdi einen »virulent gewordenen Konflikt zwischen der Autorität des Musiktheoretikers und der an Einfluss gewinnenden Autorschaft des Komponisten« (Calella 2014, 48) dokumentierte, standen musiktheoretische Regelsysteme und kompositorische Praxis in einem Spannungsverhältnis. Dies wiederum war fortgesetzter Anlass für Komponisten, selbst als Theoretiker (in eigener Sache oder aber in erweiterter Form als Anwälte des jeweils gegenwärtigen Komponierens) aktiv zu werden. Diese Entwicklungen kulminierten mit dem Aufkommen atonaler bzw. posttonaler Kompositionsweisen in der neuen Musik und besonders dann in den 1950er Jahren (Borio 2005, vgl. 2.). 1. Musiktheorie und neue Musik: Divergenzen und Konvergenzen Die Auseinandersetzung mit neuer Musik nahm in musiktheoretischen Texten (gleichgültig ob von Musiktheoretikern oder Musikwissenschaftlern verfasst) über Jahrzehnte eine marginale Rolle im Fachdiskurs ein. Die Einebnung einer bis in die 1920er Jahre äußerst produktiven, in den Kontext wissenschaftlicher Diskurse eingebetteten deutschsprachigen Musiktheorie zur propädeutischen Tonsatzlehre seit den 1930er Jahren, die, wie Ludwig Holtmeier (2003) gezeigt hat, eng mit der nationalsozialistischen Ideologie zusammenhing, wirkte weit über das Jahr 1945 hinaus und trug so zu einer Entfernung vom zeitgenössischen Komponieren bei (Ä Nationalsozialismus). Einen gänzlich anderen Weg nahm die Begründung und Entwicklung der music theory in den USA seit den 1950er Jahren, wo Komponisten als »hauptberufliche« Musiktheoretiker neopositivistische und mathematisch orientierte Theoriebildung und kompositorische Praxis eng aufeinander bezogen (Babbitt 1946/92; Brown / Dempster 1989; Borio 2005, 256 f.). Diese weitreichende Abwendung der Theorie von aktuellen kompositorischen Tendenzen könnte man schlicht als Folge der extremen Diversifikation neuer Musik ver- 418 stehen, »die das syntaktische oder sprachähnliche system ihrer eigenen tradition suspendiert oder aufgehoben hat. sie hat zudem, anders als frühere paradigmenwechsel, keine neue verbindliche konvention an die stelle der alten gesetzt« (Spahlinger 2007, 35). Die Widerstände nahezu aller prominenter Musiktheoretiker, darunter Heinrich Schenker, Hugo Riemann und Ernst Kurth, gegen die musikalische Ä Moderne zu Beginn des 20. Jh.s lassen sich damit ebenso erklären wie die Zurückhaltung wohlgesonnener Autoren wie Hugo Leichtentritt (1927) oder Hermann Erpf (1927), die Musik ihrer Gegenwart vorwiegend auf der Grundlage tonalitätsanaloger Prinzipien deuteten (Ä Analyse, 1.). Bis zum Ende des 20. Jh.s blieben die wenigen emphatischen musiktheoretischen Entwürfe nahezu ausschließlich Theorien dur-moll-tonaler Musik. Und noch in der 1983 vorgelegten Generative Theory of Tonal Music impliziert der von Noam Chomskys generativer Transformationsgrammatik und Schenkers Schichtenlehre ausgehende nativistische und hierarchische Ansatz folgerichtig weitgehendes Unverständnis für die antihierarchischen Strukturen serieller Musik (Lerdahl / Jackendoff 1983/96, 296–301). Versuche, in der Theorie der »Tonfelder« Strukturen neuer Musik auf distanzharmonische Theoriefiguren zu reduzieren, sind kaum weniger problematisch, tendieren sie doch dazu, grundlegende musiksprachliche Innovationen der neuen Musik durch das Beharren auf systemischen Tonbeziehungen kleinzureden (Haas 2004) und – prinzipiell kaum anders als die Analysen in den 1920er Jahren – neue Musik nach Kriterien der Theorie »zurechtzuanalysieren« (Polth 2011, 256–264). Gewiss ließen die Ausdifferenzierung und die Verzweigungen der neuen Musik für universalistische Theoriemodelle wenig Raum. Dort, wo sie dennoch entwickelt wurden, das bekannteste Beispiel bietet wohl Allen Fortes Pitch-class-set-System (Forte 1973; Ä Analyse, 3.1), wurden sie entweder auf ein bestimmtes Repertoire eingegrenzt oder aber unschwer auf ihre Begrenztheiten hingewiesen (Haimo 1996). Die der Musik im 20. Jh. adäquaten Deutungsmodelle schienen so besehen weniger von einer axiomatischen Theorie als vielmehr in jener durch Theodor W. Adornos Texte verkörperten unausweichlichen Koppelung von Analyse und Ästhetik zu liegen, eine Tradition musikphilosophischer Entwürfe begründend, die sich meist auch intensiv auf eine Diskussion musiktheoretischer und -analytischer Details einlassen und besonders den deutschsprachigen Diskurs bis in die Gegenwart hinein stark prägen (u. a. Mahnkopf 2006; Wellmer 2009; Grüny 2014; Ä Musikästhetik). Die durch postmoderne Musikwissenschaft und Wissenschaftstheorie geübte nachhaltige Kritik eines auf Kohärenz, Schlüssigkeit und Konsequenz zielenden Theoriebegriffs (Cook 419 2002; Sayrs / Proctor 2008; Thorau 2012) verstärkte diese Abwendung von generalisierender Theoriebildung nachhaltig und rückte die musikalische Analyse zunehmend als wesentliches Medium ins Zentrum des theoretischen Diskurses. Analysen neuer Musik resultierten freilich besonders häufig in einer technischen Dokumentation des Kompositionsprozesses, auf die Pierre Boulez mit der Polemik gegen »Buchführungsanalysen« (1960/63, 14) reagierte (Ä Analyse, 3.2). Deutlich wird damit, dass ein Theoriemodell, in dem die komplexen Formen neuer Musik »Klang« zu komponieren in angemessener Breite reflektiert werden sollen, flexibel genug sein muss, um kontextsensitive Analyse- und Beschreibungsmodelle für die dabei auftretende Vielfalt struktureller und kognitiver Syntax- und Verknüpfungsmodelle entwickeln zu können (Hanninen 2012; Utz 2013). Plausible Beziehungen lassen sich dabei insbesondere zu phänomenologischen Traditionen der Musiktheorie aufbauen (Kurth 1931/69; Ingarden 1962; Clifton 1983; Janz 2010) sowie zu neueren Entwicklungen einer Integration von struktureller Analyse, Interpretationsanalyse und historischer Kontextualisierung (Cook 2013; Ä Analyse, 3.4). Insgesamt ist die äußerst breite Ausdifferenzierung einer wahrnehmungsorientierten Analysepraxis sicher die signifikanteste Entwicklung, in der das Verhältnis zwischen komplexen musikalischen Strukturen und Hörerfahrung zunehmend offensiv thematisiert wurde (Ä Analyse, 3.). Dennoch ist es vor dem Hintergrund der Diversifikation neuer Musik verständlich, dass viele musiktheoretische Darstellungen sich auf deskriptive und analytisch gehaltene synoptische Überblicksdarstellungen beschränken, in denen eine Rekonstruktion konzeptueller Überlegungen und theoretischer Diskurse relativ breiten Raum einnehmen (Gieseler 1975, 1996; Gieseler u. a. 1985; Holzer 2011). Auch wenn sie bisweilen äußerst übersichtlich aufbereitet werden und in aufwändiger Weise anschaulich gestaltet sind, können (und wollen) sie doch kaum Anspruch auf Theorie im emphatischen Sinn erheben. 2. Komponistentheorien Nicht zuletzt durch die philologisch-kritischen, phänomenologischen und empirischen Methoden der Ä Musikwissenschaft geriet der in früheren Zeiten verbreitete universalistische systemische Anspruch der Musiktheorie bereits um 1900 in eine nachhaltige Krise. Komponisten wie Arnold Schönberg (1911/22) oder Paul Hindemith (1937/39) versuchten im Gegenzug mit grundlegenden musiktheoretischen Schriften »die Musiktheorie in den Kompetenzbereich der Kompositionslehre zurück [zu] holen« (Holtmeier 2004, 191), wobei sich insbesondere im Falle Schönbergs kaum übersehbare Widersprüche Musiktheorie zwischen seinen eigenen innovativen kompositorischen Verfahren und seinem musiktheoretischen Konservativismus, wenn nicht – so Hugo Riemanns Urteil – »Dilettantismus« auftaten (ebd.). Schönberg mühte sich darum, die Erosion eines verbindlichen allgemeinen Begriffs von musikalischem »Handwerk« abzuwenden, indem er im Eingangskapitel seiner Harmonielehre noch die »gute Handwerkslehre« und die »schlechte Ästhetik« gegeneinander auszuspielen suchte (1911/22, 7) und das Zusammensetzen von Akkorden mit der Tätigkeit eines Tischlers verglich, der wisse wie man »aneinanderstoßende Hölzer haltbar verbindet« (ebd., 1). Zweifellos widerspricht der Rest des Buchs dieser Voraussetzung grundlegend, ist es doch zur »handwerklichen« Zwecken kaum geeignet, als Manifest eines ästhetischen bzw. poetischen Programms jedoch gewiss einzigartig. Doch die Polemik gegen eine von der Praxis abgehobene Musiktheorie, die das Komponieren mittels methodisch unzureichender »ganz unmotivierte[r] Ausflüge ins Ästhetische« (ebd., 5) zu reglementieren suche, kam nicht von ungefähr. Gänzlich sichtbar wurde der Bruch zwischen Musiktheorie und Komponistentheorie in der seriellen Theoriebildung der 1950er Jahre, an der nahezu ausschließlich Komponisten mitwirkten, wobei fundamentale Einflüsse des linguistischen Strukturalismus und der Informationstheorie bzw. -ästhetik zu verzeichnen waren (Borio 2005, 258–274). Eine Schlüsselrolle spielte aber zunächst die vor allem auf zeittheoretische Überlegungen (Ä Zeit) und dabei besonders auf eine neue Führungsrolle des Ä Rhythmus zielende Kompositionspoetik Olivier Messiaens (1944/66, 2012), die zugleich eminent analytisch fundiert war. Pierre Boulez, der die analytischen Erkenntnisse Messiaens über Strawinskys Le sacre du printemps für sich neu deutete und entfaltete (Ä Analyse, 2.), hielt dabei am radikal subjektiven Charakter analytischer Methodik fest: »Der Komponist bestimmt […] seine Koordinaten und beurteilt gleichzeitig das Maß seiner eigenen Forderungen« (Boulez 1954/79, 148; Übersetzung zit. nach Borio 2005, 247). Dabei entsprach dem Wunsch nach einem rigorosen Neuentwurf musikalischer Sprache die Entscheidung, keinerlei offenkundige Beziehung zu etablierten musiktheoretischen Begriffen oder Systemen herzustellen. Stattdessen wurde in essayistischer und meist loser Weise an Termini und Denkmodelle aus Physik, Mathematik, Phonetik und Kommunikationstheorie angeknüpft. Die serielle Theorie zielte auf eine von Grund auf neu entwickelte Form der »Klangkomposition« (Stockhausen 1953/63; Ä Themen-Beitrag 3, 2.2), in der nicht zuletzt die musikalischen Werke selbst auch als ein integraler Teil des theoretischen Diskurses verstanden werden sollten (Koenig 1958/92, 7). Knüpfte das serielle 420 Musiktheorie Denken so zwar an eine jahrhundertealte Tradition »impliziter Theorie« an, die nicht immer auch von »expliziter Theorie« begleitet sein musste und keineswegs immer in dieser aufging (Dahlhaus 1984/89/2002, 367–382; Menke 2008; Torkewitz 2012, 2014), so gelangten die expliziten theoretischen Entwürfe der seriellen Komponisten doch selten über das Genre des poetologischen Essays hinaus. Dennoch bestand der Anspruch darin, durch eine Neudefinition von musikalischem Raum und musikalischer Zeit in »einer Art Doppelbewegung  – von der Musiktheorie auf die Kompositionstechnik und umgekehrt« nicht nur den Innovationsgrad des eigenen Komponierens zu unterstreichen, sondern auch »zur Klärung der musikalischen Logik anderer Epochen beitragen zu können« (Borio 2005, 249). Boulez ’ enges Ineinanderdenken von Zeit- und Raumbegriff (1960/63, 75–78), Karlheinz Stockhausens Bemühungen um eine musikalisch relevante Verbindung von quantitativer und qualitativer Zeiterfahrung (1955/63, 1957/63) oder Henri Pousseurs Vorstellung eines »multipolaren Klangraums« (Pousseur 1955, 1956), der in der »Bildung von Klangfeldern, die in mehrere Richtungen zu durchlaufen und nicht mehr auf ein Zentrum zu beziehen sind« resultieren sollte, dokumentierten die nachhaltigen Bemühungen, praxisrelevante musiktheoretische Topoi zu entwerfen, die »eine Überwindung des gesamten Systems der Tonalität« zum Ziel hatten (Borio 2005, 251; Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität). Der hohe Anspruch serieller Theoriebildung und seine axiomatische Tendenz färbten gewiss besonders deutlich auf das Verhältnis von Theorie und kompositorischer Praxis auch bei jenen Komponisten ab, die mittels einem kritischen »Redigieren« das serielle Denken mehr oder weniger unmittelbar fortsetzten. Wenn etwa bei György Ligeti mittels der bekannten Analyse von Boulez ’ Structures Ia für zwei Klaviere (1951) Fragen zeitlicher Formgestaltung thematisiert werden (1958/2007), bei Helmut Lachenmann verstärkt Aspekte der Ä Wahrnehmung ins Spiel kommen (1985/96), bei Nicolaus A. Huber Dimensionen der gesellschaftlichen Konditionierung von Tonalität (1984/2000) oder bei Brian Ferneyhough die Dekonstruktion strukturalistischer Methoden fokussiert wird (1998), so geschieht dies im Rekurs auf Tendenzen, die im seriellen Theoriediskurs bereits angelegt waren. Insbesondere wahrnehmungstheoretische Überlegungen dienten aber auch immer wieder der Genese von »theoretischen Praktiken«, die sich dezidierter von seriellen Methoden abwandten, etwa in der als »Revolution komplexer Klänge« auftretenden französischen Ä Spektralmusik (Murail 1980) und ihrem bis in die Gegenwart wirksamem Grundgedanken einer engen Verflechtung von Harmonik und Klangfarbe (Murail 1989/2004; Lévy 2007). 3. Kontroversen und Potenziale Es wäre gewiss irreführend, die Frage Komponistenpoetik vs. Musiktheorie auf biographischer Ebene auszutragen. Selbstverständlich müssen sich individualisierende künstlerische Kraft und distanzierende, rationalisierende, kritische Theorie keineswegs ausschließen und können in derselben Person vereinigt sein (vgl. z. B. Tenney 1961/64/88; Kramer 1988; Baysal 2015). Komponistenpoetiken und -theorien sind im öffentlichen Diskurs gewiss auch besonders deutlich sichtbar, was nicht zuletzt dem Weiterwirken einer autorzentrierten Genieästhetik im marktwirtschaftlich orientierten Musikbetrieb geschuldet ist. Dass Musiktheorie bis in die Gegenwart aber ausschließlich von Komponisten gemacht werde (Fröhlich 2015, 19), ist ein zugespitzter Umkehrschluss, der jeglicher Grundlage entbehrt. Als besonders relevant für die kompositorische Praxis kann dabei etwa das höchst produktive Feld im Zwischenbereich von Struktur-, Klang- und Wahrnehmungstheorien neuer Musik genannt werden (Cogan / Escot 1976; Lindstedt 2006; Vlitakis 2008; Decroupet 2012; Utz / Kleinrath 2015). Damit wird auch ein institutionelles und pädagogisches Problem sichtbar. Über Jahrhunderte galt die Beherrschung satztechnischer Künste als unabdingbare Voraussetzung des Komponierens (Menke 2015). Durch das Verschwinden einer allgemeinverbindlichen musikalischen Strukturfolie (wie es die Tonalität bzw. die mit ihr verbundenen Satztypen, Modelle und Topoi waren) ist diese Voraussetzung heute keineswegs mehr unhinterfragt. Zwar haben alle im 20. und 21. Jh. diskursbestimmenden Komponisten eine satztechnische Ausbildung durchlaufen, doch in welcher Weise diese Kenntnisse (die nahezu immer stark auf tonalen Stilen der Vergangenheit aufbauen) sich in den bestimmenden Werken der neuen Musik am Ende tatsächlich manifestieren und ob sie nicht häufiger als Antithese des eigenen Schaffens denn als evolutives Substrat dienten, ist schwer allgemein zu beantworten. Dass Schönberg ihm seinen mangelnden Sinn für Harmonik vorgeworfen habe, diente John Cage in ironischer Brechung und Umkehrung als Leitgedanke für eine Emanzipation aller Klänge von jeglicher harmonischer Regelhaftigkeit (Cage 1990). Und in der Musik Giacinto Scelsis kontrapunktische Satzmodelle offenzulegen, mag zwar das gewiss beachtliche handwerkliche Rüstzeug von Scelsis Co-Komponisten anzeigen (Menke 2014), sollte aber nicht vergessen machen, dass Scelsi in der Tradition Dane Rudhyars wenig von der europäischen Musik und ihren hierarchischen strukturellen Organisationsformen hielt und im Sinne eines holistischen Klangbegriffs gerade dem Gedanken auseinanderstrebender Einzelstim- 421 men skeptisch gegenüberstand (Ä Themen-Beitrag 3, 2.1; Ä Harmonik / Polyphonie, 4.1). Der mit solchen Überlegungen einhergehende Reflexionsprozess über die Angemessenheit etablierter musiktheoretischer Termini und Kategorien in Forschung und Lehre hat wohl eben erst begonnen (Lang 2013; Jeßulat 2015). Eine simple Übertragung von historisch geformten Konzepten oder Kategorien der Kompositionslehre in den Kontext der jüngeren Musikgeschichte ist gewiss ebenso problematisch, wie ihr (bisweilen subkutanes) Fortwirken unbestreitbar ist (Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität, Ä Form, Ä Harmonik / Polyphonie, Ä Kompositionstechniken, Ä Rhythmus / Metrum / Tempo). So kann auf eine Kenntnis historischer und vor allem auch neuer und außereuropäischer Satz- und Strukturtypen im Rahmen einer umfassenden Kompositionsausbildung wohl auch weiterhin kaum verzichtet werden, geht man davon aus, dass nur eine aktive, praktische, analytisch-kritische Auseinandersetzen mit Stilen und Methoden globaler Kunstmusiktraditionen musikalische Bildung und ein fundiertes Verständnis für ungenutzte, unabgegoltene Potenziale der Klang-Zeit-Organisation vermitteln kann, auf denen alle herausragende kompositorische Praxis beruht. 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Anbindungen bestehen zu den Kultur- und Medienwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnologie auf der einen Seite, zu den Kunst-, Literatur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Über die Systematische Musikwissenschaft existieren starke Verbindungen zu den »MINT«-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), etwa zur Psychologie und zur Kognitionswissenschaft. Aber auch die ältesten Fachtraditionen im Bereich der (Musik-)Philosophie (Ä Musikästhetik) und der Ä Musiktheorie gehören mit gegenwärtig sehr produktiven For- 423 schungsgruppierungen zum erweiterten Feld der Musikwissenschaft. 1. Neue Musik als musikwissenschaftlicher Gegenstand Die neue Musik ist heute Gegenstand mehrerer musikwissenschaftlicher Teildisziplinen und unterschiedlicher Fragestellungen. Musiksoziologische oder kulturwissenschaftliche Arbeiten (Custodis 2004, Hentschel 2007) setzen mit »Fremdbeschreibungen« der Szene als soziales Subsystem, als Milieu oder als Kultur Kontraste zu einer von der Selbstbeschreibung oder Selbstdeutung geprägten Historiographie (Ä Musikhistoriographie, Ä Musiksoziologie) und Ä Analyse neuer Musik. Musikphilosophische Beiträge führen die Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fort (Mahnkopf 1998, 2006; Wellmer 2009), der mit Theodor W. Adorno einer der wichtigsten und einflussreichsten Theoretiker und Verteidiger der neuen Musik angehörte (Ä Musikästhetik). Jüngere musikphilosophische Arbeiten lassen aber auch Perspektivwechsel erkennen, indem etwa auch der populären Musik Aufmerksamkeit geschenkt wird (Feige 2014; Grüny 2014) oder die Auflösung der Neue-Musik-Szene in einer sich global ausbreitenden digitalen Musikkultur prognostiziert wird (Lehmann 2012). Interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte untersuchen neue Musik als Gegenstand unterschiedlicher, miteinander vernetzter Forschungsperspektiven, wie sie etwa auch am 2013 gegründeten Max Planck Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt a. M. zusammengeführt werden sollen; interdisziplinär widmet man sich dem Verhältnis von Ä Struktur und Klang (Petersen / Schneider 2003) oder dem Spannungsfeld von Komponistenintention, Werkstruktur, Ä Performativität und Hörpsychologie (Utz i.V.); größere Aufmerksamkeit wird heute den globalen Horizonten der neuen Musik in der postkolonialen Welt geschenkt (Utz 2002, 2014). Daneben sind aber auch im Bereich der neuen Musik die musikwissenschaftlich traditionelleren Herangehensweisen der Komponisten- und Musikerbiographik, der Musikhistoriographie, der Lexikographie (z. B. mit dem Nachschlagewerk Komponisten der Gegenwart, seit 1992), der Analyse, der (Editions-)Philologie sowie eine weit ausdifferenzierte Theoriebildung vertreten. 2. Institutionalisierung Dass und in welchem Umfang die neue Musik in das Aufmerksamkeitsfeld der Musikwissenschaft tritt, war im Verlauf der etwa einhundertjährigen Fachgeschichte (und ist bis heute) in starkem Maße abhängig von einzelnen Personen, von der Etablierung und Pflege eines Fachdiskurses und der Existenz von Ä Institutionen. Obwohl die Musikwissenschaft Institutionalisierung der Musikwissenschaft als Universitätsfach zeitlich grob mit dem Beginn der neuen Musik zusammenfällt (Institute oder Seminare wurden 1905 in Berlin, 1908 in Leipzig, 1911 in München gegründet, in den 1920er Jahren folgten weitere Institutsgründungen), setzte die »Akademisierung« der neuen Musik verzögert erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als ordentliche Professuren mit gegenüber der zeitgenössischen Musik aufgeschlossenen Musikwissenschaftlern wie Hans Heinz Stuckenschmidt (1953 TU Berlin), Hans Heinrich Eggebrecht (1961 Freiburg), Rudolf Stephan (1967 FU Berlin) oder Carl Dahlhaus (1967 TU Berlin) besetzt werden konnten. Themen aus dem Bereich der neuen Musik wurden nun zu einem geeigneten Gegenstand für Qualifikationsschriften (Brinkmann 1969; Budde 1971, Döhl 1976; Möllers 1977; Blumröder 1981; Abel 1982; Danuser 1984; Schmidt 1988). Im deutschsprachigen Bereich, aber auch in den USA (etwa bei Musiktheoretikern wie George Perle oder Allen Forte) stand dabei bis in die 1980er Jahre insbesondere die Musik der Wiener Schule im Zentrum des Interesses. In den vergangenen 30 Jahren lässt sich dann eine zunehmende Weitung des Gegenstandsbereichs beobachten. Mittlerweile gibt es, insbesondere an größeren Instituten, musikwissenschaftliche Professuren mit einem Profil im Bereich der zeitgenössischen Musik. Wenn die Dissertationsmeldestelle der Gesellschaft für Musikforschung von aktuell 51 Dissertationsprojekten unter den Schlagworten »Musikwissenschaft allgemein« und »20. Jh.« knapp 20 Arbeiten ausweist, die man dem engeren Themenfeld neue Musik zuordnen würde, dann lässt dies einerseits ein anhaltendes Interesse erkennen. Ein Blick auf die Themenstellungen aller 51 Arbeiten zeigt andererseits, dass inzwischen auch andere Aspekte der Musikgeschichte des 20. Jh.s (Ä Pop, Ä Jazz, Ä Film und Ä Medien, Musikkulturen, Ä Rezeptions- und Institutionengeschichte) verstärkt in den musikwissenschaftlichen Fokus gerückt sind. Dieser Trend wird beim Blick auf die internationale Musikwissenschaft bestätigt. Seit seinen Anfängen wurde der musikwissenschaftliche Diskurs über die neue Musik wesentlich von außerakademischen Institutionen und von Personen außerhalb der akademischen Musikwissenschaft bestimmt. Vor allem die Komponisten selbst betätigten sich in eigener Sache oder der Sache der neuen Musik als Publizisten. Neben den Komponisten wurden in der Öffentlichkeit sichtbare Intellektuelle wie Adorno prägend, dessen Beziehung zur akademischen Musikwissenschaft stets ambivalent blieb. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und der nationalsozialistischen (und stalinistischen) Verfemung der neuen Musik fand die Diskussion über die neue Musik weniger in den allgemeinen musikwissenschaftlichen 424 Musique concrète Periodika statt, sondern  – getragen von Musikverlagen mit Schwerpunkten in der neuen Musik, etwa der Wiener Universal Edition – in Spezialzeitschriften wie den Musikblättern des Anbruch (1919–35), Melos (1920–24, 1946–88) oder Pult und Taktstock (1924–30)  – eine Tendenz, die sich nach dem Krieg mit der Gründung von Organen wie der Neuen Musikzeitung (seit 1952), die Reihe (1955–62), PNM (seit 1962), MusikTexte (seit 1983), Dissonanz / Dissonance (seit 1984), positionen (seit 1988), Contemporary Music Review (seit 1984) und Twentieth-Century Music (seit 2004) fortsetzte. Von großer Bedeutung für die Etablierung des musikwissenschaftlichen Diskurses über die neue Musik wurde nach 1945 die Gründung fester, ortsgebundener Institutionen. In den USA häufig an führenden Universitäten, in Frankreich durch die Gründung des IRCAM (1977) oder der GRM (1958, seit 1975 INA-GRM), im deutschsprachigen Bereich etwa durch die Gründungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (1948, seit 1952 in Darmstadt), der an die Rundfunkanstalten angeschlossenen Studios für elektronische Musik, der Paul Sacher Stiftung Basel (1973), des Paul Hindemith Instituts in Frankfurt (1974) oder des Arnold Schönberg Center in Wien (1998). Zusammen mit den regelmäßig stattfindenden Festivals für neue Musik, deren Zahl sich nach 1945 kontinuierlich vermehrte, die heute allerdings vielerorts um ihre Existenz kämpfen müssen, bildeten sich Zentren des Austauschs, aber auch der Ausprägung lokaler Identitäten, die dann nicht nur auf die Musik, sondern auch auf den Forschungsdiskurs abfärbten. 3. Perspektiven Die im Zuge der Akademisierung und Institutionalisierung der neuen Musik entstandenen stabilen Netzwerke trugen ihren Teil dazu bei, dass die Neue-Musik-Szene im Sinne eines sozialen Subsystems zu funktionaler Schließung tendierte  – ein Vorgang, der vor allem von außen betrachtet auch als »gesellschaftliche Isolation« (Custodis 2004) wahrgenommen werden konnte. Da die Kunstkommunikation der neuen Musik im Zuge der (mit der Einführung des Ä Internets als Massenmedium verbundenen) digitalen Revolution sehr schnell neue Plattformen des Diskurses und auch der Musikrezeption für sich erschlossen hat, ist zu erwarten, dass sich langfristig damit auch für den musikwissenschaftlichen Diskurs die Voraussetzungen und Gegenstände verändern werden. Komponisten nutzen Web-Dienste wie SoundCloud, InstantEncore oder YouTube nicht nur zur Präsentation von Werken, sondern auch als Materialreservoir; sie betreiben Blogs und Webseiten, organisieren sich als Gemeinschaften in den sozialen Netzwerken und nutzen die heute erschwinglichen Möglichkeiten elektronischer Stu- diotechnik für die Komposition. In welchem Ausmaß dies das Erscheinungsbild und den gesellschaftlichen Ort der neuen Musik verändern wird, ist einstweilen allerdings ebenso wenig abzusehen, wie deren Stellenwert im Rahmen einer Musikwissenschaft, deren Zukunft angesichts der gegenwärtigen Umgestaltung des Bildungssystems ihrerseits alles andere als gesichert ist. Ä Musikhistoriographie; Musiksoziologie; Musiktheorie; Neue Musik Abel, Angelika: Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der Neuen Wiener Schule (BzAfMw 19), Wiesbaden 1982 „ Blumröder, Christoph von: Der Begriff »neue Musik« im 20. Jh., München 1981 „ Brinkmann, Reinhold: Arnold Schönberg. Drei Klavierstücke op.  11. Studien zur frühen Atonalität bei Schönberg (BzAfMw 7), Wiesbaden 1969 „ Budde, Elmar: Anton Weberns Lieder op.  3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern (BzAfMw 9), Wiesbaden 1971 „ Custodis, Michael: Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945 (BzAfMw 62), Stuttgart 2004 „ Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jh.s (NHbMw 7), Laaber 1984 „ Döhl, Friedhelm: Weberns Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik. Studien über Voraussetzungen, Technik und Ästhetik der »Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen«, München 1976 „ Feige, Daniel Martin: Philosophie des Jazz, Berlin 2014 „ Grüny, Christian: Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014 „ Hentschel, Frank: Die »Wittener Tage für neue Kammermusik«. Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik (BzAfMw 62), Stuttgart 2007 „ Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012 „ Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jh.s, Kassel 1998 „ ders.: Kritische Theorie der Musik, Weilerswist 2006 „ Moellers, Christian: Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schönberg (BzAfMw 17), Wiesbaden 1977 „ Petersen, Peter / Schneider, Albrecht: Ligetis Zehn Stücke für Bläserquintett (1968). Musik- und klanganalytische Anmerkungen, in: Musiktheorie 18/3 (2003), 195–222 „ Schmidt, Christian Martin: Schönbergs Oper Moses und Aron. Analyse der diastematischen, formalen und musikdramatischen Komposition, Mainz 1988 „ Utz, Christian: Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun (BzAfMw 51), Stuttgart 2002 „ ders.: Komponieren im Kontext der Globalisierung. Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jh.s, Bielefeld 2014 „ ders.: Bewegungen im KlangZeit-Raum. Theorien und Geschichte der Musikwahrnehmung als Grundlagen einer kontextsensitiven Analyse posttonaler Musik, Hildesheim, i.V. „ Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, München 2009 Literatur Tobias Janz Musique concrète Ä Themen-Beitrag 5; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik 425 Musique concrète instrumentale Musique concrète instrumentale Helmut Lachenmann beschreibt den Begriff musique concrète instrumentale 1970 folgendermaßen: »Meine letzten Werke gehen von einem Moment des Klanglichen aus, das schon immer Teil des Musik-Erlebnisses war, aber höchstens in extremen naturalistischen Fällen, und sonst nur untergeordnete Beachtung fand, obwohl die Wirkung von Musik wesentlich damit zusammenhängt: nämlich vom Klang als charakteristischem Resultat und Signal seiner mechanischen Entstehung und der dabei mehr oder weniger ökonomisch aufgewendeten Energie. […] [Ich möchte] versuchen, […] den Ton klingen zu lassen, um die ihm zugrunde liegende Anstrengung (des Spielers wie des Instruments) ins Bewußtsein zu rücken, […] was übrigens bei jedem Alltagsgeräusch selbstverständlich und  – was mich besonders reizt – nicht davon abhängig ist, ob einer ›musikalisch‹ oder ›gebildet‹ ist. Insofern also eine ›Musique concrète‹, mit dem fundamentalen Unterschied, daß diese die Alltagsgeräusche dem Musikhören einverleiben will, während ich welchen Klang auch immer zunächst als direkten oder indirekten Niederschlag von mechanischen Handlungen und Vorgängen profanieren, entmusikalisieren und von dort her zu einem neuen Verständnis ansetzen will« (Lachenmann 1970/96, 149 f.). Lachenmanns Konzept ist also grundsätzlich von Pierre Schaeffers Grundprinzip der musique concrète (Ä Elektronische Musik, 2.) abzugrenzen, da der anekdotisch-lebensweltliche Zusammenhang, dem Schaeffer seine Klangmaterialien entnimmt, in Lachenmanns Verfahren auf die physischenergetischen Bedingungen der Klanghervorbringung reduziert wird, wobei im Gegensatz zu Schaeffer assoziatives Hören nicht grundsätzlich unterdrückt werden soll (Nonnenmann 2000, 30–34; Hilberg 2009). Für diese ab Notturno für kleines Orchester mit Violoncello solo (1966–68, vgl. Horn 1999), Air, Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968–69/94), Pression für einen Cellisten (1969–70) und Kontrakadenz für großes Orchester (1970–71) entwickelte Ästhetik ist also zunächst das Herausstellen der »konkreten« Energie bei der Klangerzeugung wichtig, die, auch mit einer politischen Konnotation, Arbeit und Prozesscharakter gegenüber dem perfekten Resultat und dem glatten Klang aufwertet, den Lachenmann als »philharmonisch« bezeichnet und als Inbild des gesellschaftlichen Apparats Tonalität sieht (Lachenmann 1986/96, 88; Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität). Das Gegenbild zur musique concrète instrumentale ist daher das auratische Orchester Richard Wagners (Kaltenecker 2006), seine »quasi industrialiter geschaffene Magie« (Lachenmann 2002, 145), das Vorbild hingegen Gustav Mahler, der bereits mit der Anstrengung der Musiker arbeitet: »[D]as Holzstückchen, das beim Schlag des großen Hammers wegsplittert, die Saite, die beim ›zufahrenden‹ Auftakt in der dritten Streicherreihe reißt, das unfreiwillige Vibrato des Tubaspielers, dem am Ende der Sechsten vor Anstrengung die Lippen flattern: Sie interessieren und erschüttern mich, und zwar gerade in Beziehung zu dem Prozeß, dem sie entstammen« (Lachenmann 1975/96, 269). Umgesetzt wird die musique concrète instrumentale durch Einbeziehung von Utensilien (Äste, Peitschen, Wasserbottiche, Pfeifen, Tischtennisbälle, Radioapparate etc.), hauptsächlich aber durch eine systematische Erweiterung der Spieltechniken auf allen Instrumenten: Spiel mit Bürsten oder Stimmgabeln auf den Klaviersaiten, bei den Streichern Spiel mit der Bogenstange, hinter dem Steg, auf dem Griffbrett, der Schnecke, gepresster Klang mit starkem Bogendruck, in den Bläsern Luftgeräusche, »tonloses« Blasen, Schlag auf Mundstück oder obere Öffnung usf. (Hermann / Walczak 2013). Diese Erweiterung erlaubt es, über eine Kollektion von Klängen und Gesten hinauszugelangen und mithilfe von Ähnlichkeiten Serien oder Gruppen von Klängen zu bilden, die Lachenmann als »(Klang-)Familien« bezeichnet (Lachenmann 1978/96, 36 f.) und denen jeweils eine strukturelle Funktion zukommt, die also verarbeitet, variiert und gewissermaßen durchgeführt wird (Lachenmann 1988/96, 197). Die musique concrète instrumentale, die zahlreiche Spieltechniken der 1960er Jahre, wie sie u. a. bei Krzysztof Penderecki, Mauricio Kagel, Heinz Holliger zu finden waren, übernimmt, richtet sich an einer Typologie aus, die nicht Pierre Schaeffer, sondern Lachenmanns eigener Analyse von Klangtypen der Neuen Musik (Lachenmann 1966/93/96) folgt. Klänge werden in Bezug auf ihre mechanische Hervorbringung (gestrichen, gestoßen, gezupft, gezischt, gepresst) oder allgemein auf aufeinander beziehbare akustische Aspekte (tonhöhen- bzw. intervallbestimmt, erstickt, tonlos, knatternd, hallend) zusammengedacht. So werden ein pizzicato und ein col legno battuto »Varianten desselben Impulsprinzips« und weiterhin »verwandt gemacht«, wenn »nachhallende Flageoletts« hinzukommen, wodurch sie wiederum »beziehungsvoll trennbar« werden (Lachenmann 1988/96, 197). In Kontrakadenz bereiten rauschende und prasselnde Klänge (geriebenes Styropor, legno saltato in den Celli) eine Kadenz hin- und hergeschwenkter Wasserzuber vor, während Streicherglissandi die eiernden Klänge des ins Wasser getauchten Reibegongs widerspiegeln (Nonnenmann 2000, 110–112). Ebenso kann eine Serie von Metallklängen vernommen werden (in Drehung versetzte Münzen, Schläge auf das Mundstück der Hörner, auf Kochtopfdeckel, Becken, Röhren des Vibraphons etc.) und eine Kette von fallenden Gesten  – das Stück beginnt mit einem col legno (der Bogen fällt auf die Saite), Tischtennisbälle 426 Musique spectrale produzieren ein Rallentando, die rotierenden Münzen fallen, ein Gong wird eingetaucht und Wasser verschüttet. Lachenmann bezeichnet eine solche »(Klang-)Familie« auch als »Arpeggio« (Lachenmann 1990/96, 88 f.). Die durch sich im Laufe des Stücks verändernden Gesichtspunkte hergestellten Beziehungen sollen das Hören befreien, indem sie kulturelle Sedimentierungen ins Licht rücken und ihm zugleich die Suche nach überraschenden Querverbindungen, Reimen und gemeinsamen Nennern abverlangen; die Ä Wahrnehmung, so Lachenmann, »tastet […] nach dem übergeordneten Aspekt« (Lachenmann 1988/96, 198). Die musique concrète instrumentale umfasst also sehr spezifische ästhetische und kompositionstechnische Perspektiven, was erklären mag, dass der Begriff als solcher selten von anderen Komponisten übernommen wurde, während Lachenmanns klanglicher Erfindungsreichtum und seine Erweiterung der Spieltechniken einer der bedeutendsten Einflüsse auf die Musik der 1980er und 1990er Jahre darstellt, und von zahlreichen Komponisten (Mathias Spahlinger, Jörg Birkenkötter, Carola Bauckholt, Stefano Gervasoni, Gérard Pesson, Ramon Lazkano, Pierluigi Billone u.v. a.) übernommen und weiterentwickelt wurde. Ä Themen-Beitrag 3; Geräusch; Instrumentation; Instrumente und Interpreten / Interpretinnen; Musiksoziologie; Notation Hermann, Matthias / Walczak, Maciej (Hrsg.): Erweiterte Spieltechniken in der Musik Helmut Lachenmanns, Wiesbaden 2013 (DVD) „ Hilberg, Frank: Geräusche? Über das Literatur Problem, der Klangwelt Lachenmanns gerecht zu werden, in: Helmut Lachenmann (Musik-Konzepte 146), hrsg. v. Ulrich Tadday, München 2009, 60–75 „ Horn, Josefine Helen: Postserielle Mechanismen. Zur Entstehung von Helmut Lachenmanns Notturno, MusikTexte 79 (1999), 14–25 „ Kaltenecker, Martin: Lachenmann und das »kritische Orchester«, in: Musik inszeniert (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 46), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2006, 47–58 „ Lachenmann, Helmut: Klangtypen der Neuen Musik [1966/93], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hrsg. v. Josef Häusler, Wiesbaden 1996, 1–20 „ ders.: Werkstatt-Gespräch [1970], in: ebd., 145–152 „ ders.: Mahler  – eine Herausforderung. Antworten auf fünf Fragen [1975], in: ebd., 263–269 „ ders.: Bedingungen des Materials. Stichworte zur Praxis der Theoriebildung [1978], in: ebd., 35–47 „ ders.: Über das Komponieren [1986], in: ebd., 73–82 „ ders.: Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger [1988], in: ebd., 191–204 „ ders.: Zum Problem des Strukturalismus [1990], in: ebd., 83–92 „ ders.: Helmut Lachenmann im Gespräch mit Jürg Stenzl, in: Der Raum Bayreuth. Ein Auftrag aus der Zukunft, hrsg. v. Wolfgang Storch, Frankfurt a. M. 2002, 145–164 „ Nonnenmann, Rainer: Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns Orchesterwerken, Mainz 2000 „ ders.: Der Gang durch die Klippen. Helmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957–1990, Wiesbaden 2013 Martin Kaltenecker Musique spectrale Ä Themen-Beitrag 7, 2; Spektralmusik 427 Nationalsozialismus N Nationalsozialismus wesen der beiden deutschen Staaten. Wurden im Osten die Verlage in Volkseigentum überführt, so blieben im Westen die Besitzverhältnisse nahezu unverändert, selbst wenn entrechtete und verdrängte »nichtarische« Eigentümer, sofern sie noch lebten, entschädigt wurden. Auch der Verlag Hans Sikorski, der auf der Arisierung jüdischer Unternehmen aufbaute, konnte auf diese Weise seine Tätigkeit fortsetzen. Die von Leipzig nach Frankfurt übergewechselte Edition Peters wurde dort weiter von Johannes Petschull geleitet, der 1939 diesen Verlag aus jüdischem Besitz übernommen hatte (Fetthauer 2004, 173–212). Inhalt: 1. Überraschende Kontinuitäten im Musikleben nach 1945  „ 2. Auseinandersetzung von Komponisten mit der NS-Zeit 1. Überraschende Kontinuitäten im Musikleben nach 1945 Die NS-Zeit und ihre Strukturen wirkten noch Jahrzehnte nach, wenn auch um 1950 der Kalte Krieg sie schon weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt hatte. Kaum jemand dachte damals noch an die in den vier Besatzungszonen Deutschlands unterschiedlich konsequent gehandhabte Entnazifizierung, welche zwischen Tätern, Mitläufern und Widerständlern differenziert hatte. In der Bundesrepublik erhielt nun die Auseinandersetzung mit dem »Ostblock« und dem Kommunismus Priorität, in der DDR die mit dem Kapitalismus, sodass andere Kriterien von »gut« und »böse« galten. In der Ost-West-Konfrontation kamen westlich des »Eisernen Vorhangs« wieder Kräfte zur Geltung, die bereits vor 1945 gegen die Sowjetunion gekämpft hatten. Der bei Kriegsende ersehnte Neuanfang wurde so mehr und mehr durch Personen und Gruppierungen behindert, die Kontinuität wünschten. Die Verquickung von Fortsetzung und Neubeginn ist für viele Bereiche des damaligen Musiklebens charakteristisch. So konnte Werner Egk, vor 1945 in der Reichsmusikkammer Leiter der Fachschaft Komponisten, nach dem Krieg seine Karriere im Komponistenverband und in der GEMA beträchtlich ausweiten (Dümling 2003, 248–264; Custodis / Geiger 2013, 166–169). Er durfte einflussreiche Führungspositionen übernehmen, weil er sich als HitlerGegner darstellte. Dass er in mehreren Aufsätzen eine musikalische »Volksgemeinschaft« propagiert hatte (Prieberg 2004, 1300–1330), verschwieg er. Während in der DDR die Urheberrechtsgesellschaft AWA unter Federführung von Max Butting eine wirkliche Neugründung war, übernahm im Westen die GEMA weitgehend die vom NS-Regime geprägten Strukturen ihrer Vorgängerinstitution STAGMA. Zu den wenigen markanten Einflussnahmen der Alliierten gehörte allenfalls die Beschlagnahmung einzelner Urheberrechte, etwa für Norbert Schultzes Lied Lili Marleen (Dümling 2003, 329). Unterschiedlich entwickelte sich auch das Musikverlags- Neben ästhetischen Kehrtwendungen wie etwa beim Komponisten Wolfgang Fortner und dem Kritiker Wolfgang Steinecke, die sich nach modernefeindlichen Äußerungen in der NS-Zeit (Fortner hatte angesichts von Schönbergs Ä Zwölftontechnik von »Entwurzelung« und »Nihilismus« gesprochen, vgl. Prieberg 2004, 1638) nun bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt als Vorkämpfer des Fortschritts profilierten (Custodis 2006b, 2010), gab es ebenso überraschende Kontinuitäten. Der Musikwissenschaftler Herbert Gerigk, der im Auftrag von Alfred Rosenberg 1940 zusammen mit Theophil Stengel das berüchtigte Lexikon der Juden in der Musik herausgegeben hatte, wurde Musikkritiker in Dortmund. Der Dirigent Heinz Drewes, der die Musikabteilung im Propaganda-Ministerium geleitet hatte, fand nun eine Tätigkeit als Musikkritiker in Nürnberg. Der Musikschriftsteller Walter Abendroth, der die Ästhetik und Rassenpolitik des NS-Regimes propagiert hatte, leitete von 1948 bis 1955 die Feuilletonredaktion der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, wo er gegen die Avantgarde polemisierte (Geiger 2006). In seinem weitverbreiteten Buch Kurze Geschichte der Musik (1959) und dem Buch Selbstmord der Musik? Zur Theorie, Ideologie und Phraseologie des modernen Schaffens (1963) unterschied Abendroth erneut zwischen »kranker« und »gesunder« Musik. Auch die in der NS-Zeit immer wieder geäußerte Verurteilung der Ä Atonalität als willkürliches Konstrukt kehrte wieder, wenn Alfred Wellek sie in einem MGG-Artikel einer »seelen- und wirklichkeitsfremden Schreibtischperspektive« zuordnete (Wellek 1949–86, 763). Darauf aufbauend hat Hellmut Federhofer noch bis zum Ende der 1990er Jahre nachzuweisen versucht, dass atonale bzw. serielle Musik »unnatürlich« sei (Federhofer / Wellek 1971; Federhofer 1998). NS-Jargon fand sich auch in diversen Konzertführern von Otto Schumann, etwa in antisemitisch gefärbten Artikeln über Mendelssohn, Mahler und Schönberg, im Neuen Opernführer (1959) von Hans Költzsch, dem Autor 428 Nationalsozialismus des Artikels »Das Judentum in der Musik« im verbreiteten Handbuch der Judenfrage (1935) von Theodor Fritsch (Wiederabdruck in Dümling 2007, 299–314), oder in Oper, Operette, Konzert. Ein praktisches Nachschlagbuch (1955) von Hans Schnoor. Sein ressentimentgeladenes Buch Harmonie und Chaos. Musik der Gegenwart (1962) veröffentlichte Schnoor im gleichen Münchner Lehmanns-Verlag, in dem schon die Rassenschriften von Hans F.K. Günther und Richard Eichenauer erschienen waren. Hans Severus Ziegler, der Initiator der Düsseldorfer Hetz-Ausstellung »Entartete Musik«, verteidigte dieses Unternehmen noch 1964 in seinem in mehreren Auflagen veröffentlichten Buch Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt. Auch der Komponist und Dirigent Alois Melichar setzte seine frühere Polemik gegen Schönberg fort (Melichar 1958, 1960; Prieberg 1982, 22–24; Kaufmann 1962/93). Angesichts des Kalten Krieges verwundert nicht, dass die NS-Denkfigur »Musikbolschewismus« ebenso wieder aufgegriffen wurde. Auch in der DDR gab es eine modernefeindliche Musikpublizistik, die für »zersetzende Tendenzen« in Atonalität und Jazz allerdings statt des Judentums den westlichen Kapitalismus verantwortlich machte. Im Gegensatz zu immer noch anzutreffenden Vorurteilen gegen »Neutöner« und »Negermusik« gehörte eine veränderte Haltung zum gemeinsamen Singen ebenfalls zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Dieser Wandel geschah meist unbewusst und unreflektiert, enthielten doch viele Schulbücher der BRD zunächst weiterhin Kernlieder der Hitler-Jugend wie »Nichts kann uns rauben Liebe und Glauben«, »Morgensonne lächelt auf mein Land« oder »Gute Nacht, Kameraden« (Hodek 1984; Klopffleisch 1994). Wegen der großen Rolle und der tiefen emotionalen Wirkung, die das Singen im Dritten Reich gespielt hatte, begegnete man solchen Aktivitäten ebenso wie allen nationalen Symbolen mit wachsendem Misstrauen. Die deutsche Ä Musikwissenschaft entfernte zwar offen antisemitische Bücher aus den Institutsbibliotheken, sperrte sich jedoch noch jahrzehntelang gegen eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Rolle im NS-Staat (Potter 1998/2000, 293–296). Diese Tabuisierung erklärt sich wohl auch dadurch, dass prominente Forscher wie Heinrich Besseler, Wolfgang Boetticher, Ernst Bücken, Rudolf Gerber, Josef Müller-Blattau und Erich Schenk die Musikpolitik des Regimes aktiv unterstützt hatten. Auch Friedrich Blume, Herausgeber der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) und Präsident der Gesellschaft für Musikforschung, schwieg über seine Tätigkeit im Dritten Reich. Ebenso wenig war man bereit, sich über die Verluste Rechenschaft abzulegen, welche die Vertreibung von Wissenschaftlern wie Paul Bekker, Man- fred Bukofzer, Alfred Einstein, Hugo Leichtentritt oder Curt Sachs bedeuteten. Obwohl viele Musikhochschulen sich zunächst um einen Neuanfang bemühten, kehrten auch dort nicht selten alte Elemente wieder. So durfte in Köln der 1933 als »Halbjude« entlassene Walter Braunfels zwar wieder die Leitung der Hochschule übernehmen. Dennoch hatte er Schwierigkeiten, sich gegen bewährte Seilschaften durchzusetzen (Custodis 2006a). Nicht nur Mitläufer und Täter verschwiegen ihre Rolle im Dritten Reich, sondern häufig auch die Opfer. Wohl auch zur Vermeidung von Polarisierungen ließ der Komponist und Musikwissenschaftler Siegfried Borris, der spätere Präsident des Deutschen Musikrats, unerwähnt, dass er als »Nichtarier« das Dritte Reich in einem Versteck überlebt hatte (Dümling 2006). Konrad Latte, der langjährige Dirigent des Berliner Barockorchesters, vertraute weder seinen Musikern noch den Konzertbesuchern an, dass er unter falschem Namen der NS-Verfolgung entkommen war (Schneider 2001). Ebenso wenig sprach der Jazz-Gitarrist Coco Schumann in den ersten Jahrzehnten nach 1945 über seine Jahre in Theresienstadt und Auschwitz. 2. Auseinandersetzung von Komponisten mit der NS-Zeit Angesichts solcher Tabuisierungen verwundert es nicht, dass sich auch Komponisten nur selten mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzten. Unmittelbar nach 1945, als mit Förderung der Besatzungsmächte in Konzerten und im Rundfunk wieder Musik von Karl Amadeus Hartmann, Paul Hindemith, Ernst Krenek, Arnold Schönberg oder Kurt Weill zu hören war, hatte es zunächst noch ein Interesse an Werken NS-verfolgter Komponisten gegeben. Einige Komponisten waren aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt (Köster / Schmidt 2005). Während etwa Paul Dessau, Hanns Eisler und Ernst Hermann Meyer an führender Stelle am DDR-Musikleben mitwirkten, konnten im Westen Paul Abraham oder Friedrich Hollaender kaum noch an ihre einstigen Erfolge anknüpfen. Hindemith, Otto Klemperer, Erich Wolfgang Korngold, Krenek, Schönberg oder Ernst Toch entschlossen sich gar nicht erst zu einer dauerhaften Rückkehr, während ein großer Teil der verfolgten oder ermordeten Musiker sogar ganz in Vergessenheit geriet. In diesen Verlusten wirkt die Rassenpolitik des NS-Staates bis heute nach. Der Weltkrieg und die Zerstörung der deutschen Städte bedeuteten ein Trauma, dem sich kaum ein Musiker entziehen konnte. Dennoch haben es nur wenige Komponisten der Bundesrepublik explizit künstlerisch verarbeitet. Zu den Ausnahmen gehört Bernd Alois Zimmermann. Kriegserlebnisse gingen schon in seine im Oktober 1945 fertiggestellte Sinfonia prosodica ein, die er »den gefalle- 429 nen Studenten der Kölner Hochschule« widmete, ebenso in die 1947 begonnene Sinfonie in einem Satz. Als diese 1952 uraufgeführt wurde, rechtfertigte sich der Komponist: »Ich bin den Konsequenzen, die sich aus der jetzigen geistigen und musikalischen Situation zwangsläufig ergeben, nicht ausgewichen, und kann es nicht als meine Schuld ansehen, dass wir in einer Zeit leben, die vom apokalyptischen Sturm geschüttelt wird« (Ebbeke 1989, 46 f.). Bei weiteren Aufführungen mied Zimmermann allerdings Hinweise auf autobiographische Motive. Im Requiem für einen jungen Dichter (1967–69), einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Folgen, verwendete Zimmermann im Originalton Reden von Hitler und Goebbels (Ä Collage / Montage). Während in der neuen Musik der frühen Bundesrepublik das Strukturdenken dominierte, waren in der DDR programmatische Bezüge willkommen (Heister 2005, 53– 66). So erhielten Rudolf Mauersbergers Motette Wie liegt die Stadt so wüst (1945), eine Trauermusik für das im Bombenhagel zerstörte Dresden, sein Dresdner Requiem (1947– 48) sowie die Oper Die Verurteilung des Lukullus (1949/51) von Paul Dessau und Bertolt Brecht breite Resonanz (Heister 2005, 76–80). Im Westen waren erst Jahrzehnte später wieder Antikriegs-Kompositionen wie Zimmermanns Oper Die Soldaten (1957–65), das Oratorium Die Botschaft (1976) von Wolfgang Steffen oder Guernica für Bratsche und Orchester (1978) von Walter Steffens opportun. Die bei Kriegsende durchsickernden Nachrichten über die Verbrechen von Auschwitz lösten bei vielen Deutschen einen tiefen Schock aus. Aber noch mehr als der Krieg schien sich das Thema der Judenvernichtung gegen künstlerische Verarbeitung zu sperren. Als im Sommer 1950 Hermann Scherchen mit Teilnehmern der Darmstädter Ferienkurse Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau (1947) zur deutschen Erstaufführung bringen wollte, versuchte der Darmstädter Magistrat deshalb, die Aufführung zu verhindern (Hanheide 2007, 178 f.). Während das Darmstädter Konzert stattfand und sogar ruhig verlief, löste in Bielefeld Hans Schnoor einen Medienskandal aus, als er im Juni 1956 Schönbergs Holocaust-Melodram mit den Worten ankündigte, es handele sich um »jenes widerwärtige Stück, das auf jeden anständigen Deutschen wie eine Verhöhnung wirken muss« (zit. nach Boll 2004, 215). Schönbergs Überlebender galt für einige Komponisten dagegen als Vorbild einer politisch engagierten Musik (Carroll 2003, 116–131) und ermutigte sie, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, dem man im Bereich der Musik viel seltener begegnet als in der Literatur. Angeregt durch Schönberg schuf Luigi Nono seine Vokalkomposition Il canto sospeso (1955–56), der er Abschiedsbriefe von Nationalsozialismus zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern zugrunde legte. Als Reaktion auf den zwei Jahre zuvor begonnenen Frankfurter Auschwitz-Prozess entstand 1965 dann Nonos Tonbandkomposition Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (Gedenke dessen, was dir in Auschwitz angetan wurde). Den Aufstand im Warschauer Ghetto, auf den sich Schönbergs Melodram bezog, griffen 1960–61 auch Boris Blacher, Dessau, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Rudolf Wagner-Régeny in ihrer von Paul Dessau angeregten deutsch-deutschen Gemeinschaftskomposition Jüdische Chronik auf (Dibelius / Schneider, Bd. 1, 324–363). Nachdem Hanns Eisler schon 1955 die Musik zum Auschwitz-Dokumentarfilm Nuit et brouillard von Alain Resnais komponiert hatte, schuf sein Schüler Günther Kochan 1965 auf ein Gedicht von Stephan Hermlin die Kantate Die Asche von Birkenau (Müller 1966). Kompositionen zur Erinnerung an Auschwitz sind fast immer textgebunden. Lateinische Liturgie-Texte verwendete Krzysztof Penderecki in Dies Irae  – Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967), das in Auschwitz uraufgeführt wurde. Auf Gedichte der in Auschwitz ermordeten Lyrikerin Gertrud Kolmar stützte sich Wolfgang Steffen 1987 in seiner Gertrud-KolmarKantate. Starken Einfluss auf viele Komponisten übten die Gedichte von Paul Celan aus, vor allem seine Todesfuge (1944–45), die 1966 von Tilo Medek und 1968 von Peter Ruzicka aufgegriffen wurde. Ruzicka widmete dem aus Czernowitz stammenden jüdischen Dichter sein Musiktheater Celan (1998–99). Steve Reich wiederum verwendete 1988 für seine Streichquartett-Komposition Different Trains Interviews mit Holocaust-Überlebenden, deren Sprachmelodie er auf die Instrumente übertrug. Auschwitz ist Schauplatz der Opern Die Passagierin (1968) von Mieczysław Weinberg (1968, UA Bregenz 2010) und Das Frauenorchester von Auschwitz (2006) von Stefan Heucke. Nur selten machten Komponisten andere Stätten des nationalsozialistischen Terrors zum Thema, etwa Mikis Theodorakis in der Mauthausen-Kantate (1964) oder Dmitri Schostakowitsch in der 1962 geschaffenen 13. Sinfonie Babi Jar, die an die Ermordung von ca. 33 000 Juden bei Kiew durch Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei und des SD im September 1941 erinnert. Kritische Montagen von Tondokumenten der NSZeit erstellten Georg Katzer (Aide memoire, 1983) sowie Wilhelm Dieter Siebert und Karl Heinz Wahren (Mit Musik geht alles besser, 1983). Den politischen Widerstand gegen das NS-Regime, dem sich Luigi Nono in Il canto sospeso widmete, hatten vorher schon Paul Dessau in seiner Kantate Lilo Hermann (1954, nach Friedrich Wolf ) und Hanns Eisler in seiner 1959 uraufgeführten, auf BrechtTexten beruhenden Deutschen Sinfonie zum Thema 430 Natur gemacht (Dümling 1985, 432–451; Phleps 1988). Es folgte 1968 die Kammeroper Die Weiße Rose von Udo Zimmermann (Dibelius / Schneider 1993–99, Bd. 2, 250 f.; Bd. 4, 37) und 1988 Dieter Schnebels Dahlemer Messe, die an die evangelischen Pfarrer Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer erinnert, welche der Bekennenden Kirche angehörten. Hans Werner Henze, dessen ganzem Schaffen untergründig die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zugrunde liegt (Henze 1996, 70 f.), widmete 1997 seine Neunte Synfonie explizit »den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus«; die vom Chor gesungenen Texte basieren auf dem Roman Das siebte Kreuz (1938–42) von Anna Seghers. Ä Themen-Beitrag 4 Boll, Monika: Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004 „ Carroll, Mark: Music and Ideology in Cold War Europe, Cambridge 2003 „ Custodis, Michael: Entnazifizierung an der Kölner Musikhochschule am Beispiel von Walter Trienes und Hermann Unger, in: Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, hrsg. v. Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2006, 61–83 (2006a) „ ders.: »unter Auswertung meiner Erfahrungen aktiv mitgestaltend«. Zum Wirken von Wolfgang Steinecke bis 1950, in: ebd., 145–162 (2006b) „ ders.: »Wolfgang Steinecke und die Gründung der Internationalen Ferienkurse«, in: Traditionen – Koalitionen – Visionen. Wolfgang Steinecke und die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt, hrsg. v. Michael Custodis, Saarbrücken 2010, 9–88 „ Custodis, Michael / Geiger, Friedrich: Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel, Münster 2013 „ Dibelius, Ulrich / Schneider, Frank (Hrsg.): Neue Musik im geteilten Deutschland. Dokumente, 4 Bde., Berlin 1993–1999 „ Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985 „ ders.: Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003 „ ders.: Waldidyll inmitten einer Schreckenswelt. Zum 100. Geburtstag von Siegfried Borris, in: mr-Mitteilungen 60 (2006), 11–20 „ ders. (Hrsg.): Das verdächtige Saxophon. »Entartete Musik« im NS-Staat, Neuss 2007 „ Ebbeke, Klaus (Hrsg.): Bernd Alois Zimmermann (1918–1976). Dokumente zu Leben und Werk, Berlin 1989 „ Federhofer, Hellmut / Wellek, Albert: Tonale und dodekaphonische Musik im experimentellen Vergleich, in: Die Musikforschung 24 (1971), 260–276 „ Federhofer, Hellmut: Idee und Wirklichkeit serieller Musik, in: Studien zur Musikwissenschaft 46 (1998), 307–328 „ Fetthauer, Sophie: Musikverlage im »Dritten Reich« und im Exil, Hamburg 2004 „ Geiger, Friedrich: »Can be employed«. Walter Abendroth im Musikleben der Bundesrepublik, in: Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, hrsg. v. Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2006, 131–142 „ Hanheide, Stefan: Pace. Musik zwischen Krieg und Frieden, Kassel 2007 „ Heister, Hanns-Werner (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jh.: 1945–1975 (HbM20Jh 3), Laaber 2005 „ Henze, Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. AutobiographiLiteratur sche Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt a. M. 1996 „ Hodek, Johannes: »Sie wissen, wenn man Heroin nimmt…«. Von Sangeslust und Gewalt in Naziliedern, in: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, hrsg. v. Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein, Frankfurt a. M. 1984, 19–36 „ Kaufmann, Harald: Alois Melichar und die Ursachen [1962], in: Harald Kaufmann. Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik, hrsg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger, Hofheim 1993, 86–92 „ Klopffleisch, Richard: Lieder der Hitlerjugend. Eine psychologische Studie an ausgewählten Beispielen, Frankfurt a. M. 1994 „ Köster, Maren / Schmidt, Dörte (Hrsg.): »Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort«. Remigration und Musikkultur, München 2005 „ Melichar, Alois: Musik in der Zwangsjacke. Die deutsche Musik zwischen Orff und Schönberg, Stuttgart 1958 „ ders.: Schönberg und die Folgen, Wien 1960 „ Müller, Hans-Peter: Die Asche von Birkenau. Zu Günter Kochans neuer Solo-Kantate, in: Musik und Gesellschaft 16 (1966), 553–562 „ Phleps, Thomas: Hanns Eislers »Deutsche Sinfonie«. Ein Beitrag zur Ästhetik des Widerstands, Kassel 1988 „ Potter, Pamela: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs [1998], Stuttgart 2000 „ Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1982 „ ders.: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, CD-ROM „ Schneider, Peter: Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen. Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte, Berlin 2001 „ Sponheuer, Bernd: Nationalsozialismus, in: MGG2S, Bd. 7 (1997), 25–43 „ Wellek, Alfred: Atonalität, in: MGG, Bd. 1 (1949), 761–766 Albrecht Dümling Natur Inhalt: 1. Jenseits von Naturnachahmung  „ 2. Kosmologisches und Spirituelles  „ 3. Natur als das Unverfügbare  „ 4. Konkrete Spuren  „ 5. Mikrotonalität  „ 6. Ökologische Dimensionen „ 7. Naturerfahrung als Vorbild Das äußerst facettenreiche Verhältnis der verschiedenen Künste zur Natur gehört zu jenen Aspekten der Gegenwartskultur, die einerseits zu ästhetischen und konzeptionellen Grundfragen von Kunst führen, aber andererseits – wenn es etwa um die Eingebundenheit des Menschen in die Natur oder um die Entfremdung von ihr geht – auch zu Grundfragen der menschlichen Existenz. Im Bereich der Musik spielten alle diese Grundfragen auch in früheren Zeiten schon eine Rolle. Dennoch kann man ohne Übertreibung behaupten, dass sie in der Neuen Musik an Gewicht gewinnen und die zum Teil explizite Auseinandersetzung mit ihnen eine besonders große Ausdifferenzierung erfährt. 431 1. Jenseits von Naturnachahmung In neueren Diskursen besitzt die an traditionellen Idealen der Naturnachahmung orientierte mimetische bzw. illustrative Seite des Verhältnisses von Musik und Natur meist geringeres Gewicht. Dies dürfte einerseits mit der gewachsenen Präsenz des Ideals der absoluten Musik zu tun haben, aber andererseits mit der Tatsache, dass illustrative Aspekte auch insgesamt in der Neuen Musik des 20. und 21. Jh.s wohl nur relativ selten noch Priorität besitzen. Gerade anhand von den in vielfältiger Weise existenten Bezügen zur Natur lässt sich überdies aber ablesen, dass Neue Musik meist mehr sein will als tönend bewegte Form. Schon Claude Debussy intendierte dementsprechend, mithilfe von Naturbezügen von »kleinlichen Formmanien« loszukommen, und suchte daher in dem zu lesen, was er selbst »das Buch der Natur« nannte (Debussy 1903/74, 43). Darin sind ihm, explizit oder unausgesprochen, viele Komponisten der nachfolgenden Generationen in ihrem Rekurs auf Natur gefolgt. Wurde die musikalische Autonomie in früheren Zeiten  – vor allem im Denken der Aufklärung – als Akt der Befreiung von der Naturnachahmung empfunden, so gehört der Naturbezug im 20. und 21. Jh. zu jenen Teilaspekten des Diskurses über Neue Musik, die zuweilen umgekehrt als Befreiung von der Idee der Autonomie firmieren. Vor allem aber wurde und wird die Natur bis heute immer wieder als Ausdruck eines Freiheitsgefühls und einer Unabhängigkeit von Vorprägungen formaler Abläufe sowie von Ä musikalischer Logik verstanden (La Motte-Haber 2000; Hiekel 2014a). Dies schließt grundsätzlich an Komponisten wie Debussy oder Richard Strauss (bei dessen Umgang mit dieser Thematik die Kategorie des Erhabenen eine erhebliche Rolle spielt) an. Aber es lässt vielfach auch neue ästhetische Akzente erkennen. 2. Kosmologisches und Spirituelles Zuweilen ist der Blick auf die Natur im 20. und 21. Jh. allerdings auch durch eine bis in die Antike zurückreichende kosmologische bzw. universalistische Denktradition fundiert (La Motte-Haber 2009, 22–24). Wenn etwa Gustav Mahler über den Kopfsatz seiner Dritten Sinfonie schrieb, dies sei »beinahe keine Musik mehr […], das sind fast nur Naturlaute« (Bauer-Lechner 1923, 40), so zeichnet sich hier ein umfassender Naturbegriff ab. Dieser deutet einerseits auf die enorme klangliche Vielfalt des Satzes. Doch überdies klingt jene Weitung ins Universelle und Spirituelle an, die auch in vielen Musikwerken späterer Generationen anzutreffen ist. Beispiele dafür sind, neben vielen anderen, etwa John Cage, Karlheinz Stockhausen und besonders Olivier Messiaen. Während es allerdings im Werk Natur Stockhausens vor allem Versuche gibt, einen symbolischen Einklang von Mensch und Natur zur Darstellung zu bringen (ein Beispiel ist Stimmung für sechs Vokalsolisten [1968]), ist Cage (der in Bird Cage, 1972, zwölf Tonbänder in einem Raum erklingen lässt, in dem Vögel frei fliegen können) in umfassender Weise Impulsgeber für kompositorische Arbeiten geworden, die den Weg direkt in die Natur suchen. Wohl kein anderer bedeutender Komponist des 20. Jh.s allerdings hat in ähnlichem Maße die spirituelle Dimension der Naturthematik geprägt wie Olivier Messiaen, in dessen Gesamtschaffen diese Thematik gleichermaßen für eine universalistische Grundhaltung wie als Inspirationsquelle für ein enormes Arsenal an Gestaltungsmöglichkeiten prägend ist (Drees 2010). 3. Natur als das Unverfügbare Ist im 21. Jh. in kultur- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen in Europa von »Natur« die Rede, kristallisieren sich oft bestimmte einschlägige Dichotomien heraus: Natur vs. Technik, Ursprünglichkeit vs. Zivilisation, Kreatürlichkeit vs. künstlerische Gestaltung lauten einige der besonders geläufigen. Sie alle deuten auf die vielgestaltige und zum Teil auch widersprüchliche Rolle, die der Begriff »Natur« im Feld der Kultur einnimmt (Vietta 1995). Immer wieder geht es gerade auch im Bereich der Neuen Musik darum, durch den Natur-Rekurs das Unverfügbare, über die menschengeprägte Zivilisation Hinausgehende zu thematisieren. Dies kann heißen, dass grundlegende und von allen Normierungstendenzen wegführende Erfahrungen sensibilisieren können: Die Erfahrung von Neuer Musik kann, so lässt sich anhand einer nicht geringen Zahl von Werken diagnostizieren, für die Erfahrung einer nicht eingehegten, unbehausten Natur sensibilisieren – aber Ähnliches gilt wohl auch umgekehrt. Passend zu dieser Konvergenz gibt es nicht wenige Werke, die »Natur« mit einer spezifischen Entdeckerfreude gleichsetzen – ein markantes Beispiel, gestützt auf Leonardos berühmtes Höhlengleichnis, ist Helmut Lachenmanns Komposition »… zwei Gefühle …«, Musik mit Leonardo für ein oder zwei Sprecher und Ensemble (1991–92) (Hiekel 2014a). 4. Konkrete Spuren Das Spektrum des Themas umfasst nicht nur solche grundsätzlichen konzeptionellen und ästhetischen Dimensionen, sondern ist auch dann recht breit, wenn es um konkrete Spuren von Elementen der Natur in Musikwerken geht: Diese reichen von musikalischen Resonanzen bestimmter Naturerscheinungen mitsamt ihrer von undomestizierter Energieentfaltung geprägter Komplexität etwa bei Olga Neuwirth (Rüdiger 2014) über die Orientierung an den in der Natur zu findenden Strukturen, 432 Natur etwa der Lindenmayer-Systeme (Hanspeter Kyburz, Enno Poppe) oder der zellulären Automaten (Iannis Xenakis) (Ä Elektronische Musik, 6.3; Ä Struktur, 3.), bis hin zu musikalischen Arbeiten, die in der Natur ihren Aufführungsort haben oder sogar die Natur selbst zum Klingen bringen. Letzteres gilt etwa in Waldstücke für Schlagzeug solo (drei Baumstämme, Regenstab, Vogelstimmen, Stimme, 1987–94) von Volker Staub (Saxer 2008) oder bei einem explizit mit »Landschaftsoper« überschriebenen Projekt des oft im Zwischenbereich von Ä Neuer Musik und bildender Kunst operierenden Komponisten Peter Ablinger (Ablinger 2010). Die Natur wird heute allerdings ganz besonders auch im Bereich von Soundscapes und Ä Klangkunst direkt zum Klingen gebracht. Dieses enorm breite Feld, innerhalb dessen heute immer neue konzeptionelle Ansätze hervorgebracht werden (La Motte-Haber 2000, 2014) schließt immer wieder auch Klang-Natur-Forschung ein, die sich technischer Hilfsmittel bedient, diese aber – wie etwa bei Leif Brush – meist in organische, d. h. nicht-widersprüchliche Verbindungen zu den Naturklängen bringt (Staub 2009). Einer der Pioniere war hier der Kanadier R. Murray Schafer, der gemeinsam mit dem Stadtplaner Michael Southworth den Begriff »Soundscape« prägte, seit den 1960er Jahren Feldaufnahmen unternahm und heute als Vorbereiter der »akustischen Ökologie« gilt (Ä Themen-Beitrag 6, 11.). Diese Feldaufnahmen deuten auf eine Praxis, die von Beginn an schon in der Ethnomusikologie gängig war und die auch im Kontext der neueren Musikpädagogik gewisse Bedeutung besitzt. Überdies weist sie erkennbare Parallelen etwa zur »anekdotischen Musik« von Luc Ferrari sowie zu Teilen der musique concrète (Ä Elektronische Musik, 2.) auf. 5. Mikrotonalität Der Themenbereich »Neue Musik und Natur« schließt, von einem anderen Blickwinkel aus gesehen, immer wieder Fragen der Tonalität ein. So wird namentlich das wohltemperierte System zuweilen als ein problematischer Akt der »Naturbeherrschung« gedeutet, der auf Kosten einer als »natürlich« angesehenen Vielfalt gehe (Wilson 2001) (Ä Themen-Beitrag 7, 8.; Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Ä Neue Musik und Mathematik). Demgemäß kann die Hinwendung zur Natur durch kulturelle Konventionen Verdecktes (wieder-)entdecken. Bereits Ferruccio Busoni äußerte in diesem Sinne: »Die Natur schuf eine unendliche Abstufung  – unendlich! wer weiß es heute noch?« (1907/16/73, 35). Er meinte damit das nach seiner Ansicht verlorengegangene Bewusstsein für die Vielfalt des Natürlichen. Und auch ein Komponist wie Hans Zender grundiert sein »Gegenstrebige Harmonik« genanntes Sys- tem der Mikrotonalität (Zender 2000/02/04) durch den Gedanken der Kompensation dieser Verlusterfahrung  – allerdings nicht, um eine esoterische Außenseiterrolle zu besetzen, sondern um die Basis des heute im Bereich der Ä Harmonik Möglichen zu verbreitern (Mosch 2008). Klangforschung ist ein Aspekt, der im Komponieren der letzten Jahrzehnte eine stetig wachsende Rolle besitzt (Ä Themen-Beitrag 3). Und es liegt auf der Hand, dass dabei die Orientierung an der Vielfalt der Natur eine Konstante bildet – dies gilt namentlich etwa für Gérard Grisey, Johannes Fritsch (Fritsch 1984/2010) oder Reinhard Febel, aber auch für die Klangerkundungen von Giacinto Scelsi. Letzterer steht dafür, dass die Thematik oft eine spirituelle Prägung erhält. Dies gilt auch etwa für Horaţiu Rădulescu, dessen Gebrauch von Mikrotonalität darauf zielt, einen Weg zum »Urklang der Natur« (Nonnenmann 2014, 98) zu finden. 6. Ökologische Dimensionen In den letzten Jahrzehnten gibt es verstärkt kritische Auseinandersetzungen mit dem auf vielfache Weise fatalen menschlichen Umgang mit der Natur. Dieser macht es immer unausweichlicher und dringlicher, die ökologische Dimension des Themenfeldes, die schon seit dem 18. und 19. Jh. geläufig ist, zu beachten (Böhme 1999; La MotteHaber 2009, 27–29; Nonnenmann 2014). Oft ist bei Naturbezügen in neueren Musikwerken – so etwa bei Martin Smolka, der 1990 ein Manifest mit dem Titel Ich komponiere der Natur nach (Hiekel 2014a, 18 f.) schrieb, sowie in szenischen Werken etwa von Manos Tsangaris (Schwalbe, 2011; Mauersegler, 2013) oder Daniel Ott (Hafenbecken I & II, 2006)  – der Horizont zivilisatorischer Erfahrungen wichtig. Vor allem in einzelnen Musikwerken aus neuerer Zeit werden auch konkrete ökologische Katastrophen thematisiert (was im Felde der bildenden Künste, gerade in Arbeiten mit starkem konzeptuellem Anteil, seit längerem üblich ist). Ein Beispiel ist Malika Kishinos lamentoartige Komposition prayer / inori für gemischten Chor a cappella (2011), wo auf der Basis des Gedichtzyklus ’ Fruchtlese (1916) von Rabindranath Tagore über die Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 reflektiert wird. Über die Thematisierung der Verlusterfahrungen von Großstädtern hinaus zielen nicht wenige Ansätze auch auf die Möglichkeit, spezifische Erkenntnisse oder Erfahrungen inmitten einer Natur zu vermitteln, die entschieden mehr sein soll als ein Ort der Freizeitindustrie. Das signifikant gesteigerte Interesse daran in jüngerer Zeit ist nicht zuletzt an jenen Erfahrungsräumen inmitten der Natur ersichtlich, die bei verschiedensten Festivals der Neuen Musik geschaffen wurden und für die zahlreiche naturbezogene Auftragsarbeiten entstanden – so namentlich in 433 Donaueschingen, Witten, Graz, Schwaz und Rümlingen (Brandstätter 2014). 7. Naturerfahrung als Vorbild Naturresonanzen in Musik zu beobachten, kann auch heißen, das Verhältnis zwischen Natur- und Hörerfahrungen zu beleuchten und daran die in Zeiten der wachsenden Dominanz des Eingängigen ebenfalls immer dringlichere Frage nach dem zu stellen, was schon Friedrich Schiller als »ästhetische Erziehung« bezeichnete: Natur wird mit geläufigen kulturkritischen Argumenten und guten Gründen als etwas Bedrohtes aufgefasst (Heister 2010). Dass sie selbst auch etwas Undomestiziertes oder sogar Irritierendes sein kann, markiert für nicht wenige Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart (außer Neuwirth und Lachenmann sind hier auch etwa Adriana Hölszky und Toshio Hosokawa zu erwähnen) eine Grundeinsicht. Freilich wird gerade dies in bestimmten Denktraditionen übersehen. Und es kann behauptet werden, dass zu den bis in die Gegenwart reichenden Konstanten der Musikgeschichte auch eine gewisse Abgrenzung gegenüber der Natur gehört und dass der Begriff »Natürlichkeit« gerade im 20. Jh. (und teilweise noch im 21. Jh.) oft für ein eher konservatives Denken reklamiert wird, das jede Form von Ä Komplexität – zuweilen sogar die Neue Musik insgesamt – als »widernatürlich« ablehnt (La Motte-Haber 2000). Gewiss gibt es einige Komponisten wie etwa Olivier Messiaen (Drees 2010; Fallon 2005) oder Toshio Hosokawa (Hosokawa 1995; Hiekel 2014b; Ungeheuer 2014), bei denen die Naturthematik  – verstanden im Sinne eines Schweifens im Zauberreich des noch Unentdeckten (Messiaen) bzw. eines Aufrufs zu einer intensiven Kontemplation (Hosokawa) – sogar einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis von Musik darstellt und dabei jeweils (wie mit Blick auf Messiaen schon angedeuet) spirituelle Akzentuierungen verrät. Dabei deutet, mit deutlich anderem Habitus als bei Messiaen, auch etwa schon bei Erik Satie das Verhältnis von Tier und Mensch auf »Utopien der Verständigung« (Saxer 2011, 8). Zugleich zeigt sich hier, dass diese Thematik über eine europäische Perspektive entschieden hinausführt: Sie schließt die Reflexion über ein in manchen anderen Kulturen bisweilen selbstverständlicher wirkendes Eingebundensein in die Natur und einen verbreiteten Sinn für deren »elementare« Seite ein (Peer 2000), aber gleichzeitig auch einen Sinn für bestimmte nichteuropäische Traditionen der Strukturgebung (einschließlich der schon erwähnten Abweichung von gewohnten Tonsystemen). Wenn in den Denktraditionen mancher Kulturen »Natur« und »Kul- Natur tur« nicht als Dichotomie gedacht sind, so hat das Wissen darum längst auch vielfältige Spuren in der Neuen Musik hinterlassen – und ein mehr als oberflächliches Interesse an diesen anderen Kulturen mit beflügelt. Ä Themen-Beitrag 7; Moderne; Postmoderne Ablinger, Peter: Due Pratiche, in: Neue Musik und andere Künste (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 50), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2010, 236–244 „ Bauer-Lechner, Natalie: Erinnerungen an Gustav Mahler, Wien 1923 „ Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1999 „ Brandstätter, Ursula: Landschaft als Konzept. Konzept-Musik in der Landschaft am Beispiel des Festivals Rümlingen 2011, in: Ins Offene? Neue Musik und Natur (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 54), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2014, 72–85 „ Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst [1907/16], Hamburg 1973 „ Debussy, Claude: Musik im Freien [1903], in: Monsieur Croche. Sämtliche Schriften, hrsg. v. Josef Häusler, Stuttgart 1974, 43–45 „ Drees, Stefan: »inspiration retrouvées«: Messiaens Vogelstimmen und die Idee des Gotteslobs aus der Natur, in: Religion und Glaube als künstlerische Kernkräfte im Werk von Olivier Messiaen, hrsg. v. Albrecht Goetze und Jörn Peter Hiekel, Hofheim 2010, 97–110 „ Fallon, Robert Joseph: Messiaen ’ s Mimesis. The Language and Culture of the Bird Styles, Berkeley 2005 „ Fritsch, Johannes: Über die Natur der Töne [1984], in: Über den Inhalt von Musik. Schriften 1964–2006, hrsg. v. Rainer Nonnenmann und Robert von Zahn, Mainz 2010, 193– 197 „ Heister, Hanns-Werner: Hintergrund Klangkunst. Beitrag zur akustischen Ökologie, Mainz 2010 „ Hiekel, Jörn Peter: Ins Offene? Naturerfahrungen und Naturbezüge in (Neuer) Musik, in: Ins Offene? Neue Musik und Natur (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 54), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2014, 10–29 (2014a) „ ders.: Musik und Natur in enger Verknüpfung. Anmerkungen zum Schaffen von Toshio Hosokawa, in: NZfM 175/3 (2014), 16–26 (2014b) „ Hosokawa, Toshio: Aus der Tiefe der Erde. Musik und Natur, in: MusikTexte 60 (1995), 49–54 „ La Motte-Haber, Helga de: Musik und Natur. Naturanschauung und musikalische Poetik, Laaber 2000 „ dies.: Denkbilder der Natur: Nachahmung – Aneignung – Umgestaltung, in: Klanglandschaften. Musik und gestaltete Natur, hrsg. v. Manuel Gervink und Jörn Peter Hiekel, Hofheim 2009, 19–30 „ dies.: Natur als Kunst – Kunst als Natur, in: Ins Offene? Neue Musik und Natur (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 54), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2014, 62–71 „ Mosch, Ulrich: Ultrachromatik und Mikrotonalität. Hans Zenders Grundlegung einer neuen Harmonik, in: Hans Zender. Vielstimmig in sich (Archive zur Musik des 20. und 21. Jh.s 12), hrsg. v. Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel und Anouk Jeschke, Hofheim 2008, 61–76 „ Nonnenmann, Rainer: Gegen- oder miteinander? Mensch – Musik – Natur: Impulse zur Korrektur einer schwierigen Verwandtschaft, in: Ins Offene? Neue Musik und Natur (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 54), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2014, 88–113 „ Peer, René van: In dünner Luft singen. MusiLiteratur 434 Neue Musik kalische Naturbeziehungen außereuropäischer Kulturen, in: Positionen 45 (2000)., 26–28 „ Rüdiger, Wolfgang: »Den Pflanzen folgen«. Ein Analyse- und Interpretationsansatz zu Olga Neuwirths Lonicera Caprifolium und verwandten Werken, in: Ins Offene? Neue Musik und Natur (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 54), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2014, 192–213 „ Saxer, Marion: O-Ton-Rauschen. Der Wald in der akustischen Kunst und Klangkunst, in: Der Wald als romantischer Topos, hrsg. v. Ute Jung-Kaiser, Frankfurt a. M. 2008, 269–284 „ dies.: Tier und Mensch. 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Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, 95–135 Jörn Peter Hiekel sel, die bis ins Grundsätzliche reichen (und damit den Begriff dessen, was Musik ist und wozu sie dient, betreffen können) sich auch bis in die Gegenwart immer weiter manifestieren können. Dabei bezeichnet der Begriff »Neue Musik« keine Ideologie, sondern deutet letztlich auf einen breiten Bereich von Kunstmusik, der einerseits durch die Permanenz des Wandels und andererseits auch durch das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze gekennzeichnet ist. Neue Musik kann in dieser Hinsicht  – ähnlich wie die anderen Künste der Gegenwart und oft in Verbindungen mit ihnen – als ein Faktor und zugleich Indikator dafür gelten, dass die Gesamtkultur der Gegenwart stets in Veränderung begriffen ist. Eine (kritische) Reflexion über Elemente oder Entwicklungen dieser Gesamtkultur (vgl. 7.) kann zu ihren weltbezogenen Potenzialen und ihrer Motivation gehören (Ä Themen-Beitrag 4) – dies im Sinne einer oft herausgestellten Grundidee der Ä Moderne, die teilweise auch in der Ä Postmoderne fortgeschrieben wurde. Nachfolgend geht es anders als in einzelnen anderen Darstellungen (vgl. etwa Danuser 1997a) nicht darum, verschiedene Tendenzen der Neuen Musik zu rubrizieren bzw. zu erläutern, sondern eher darum, das bisher Gesagte zu begründen und zu vertiefen. 1. Dynamik und Pluralität des Begriffs Neue Einfachheit Ä Komplexität / Einfachheit; Postmoderne Neue Musik Inhalt: 1. Dynamik und Pluralität des Begriffs  „ 2. Innovation  „ 3. Die »Szene« der Neuen Musik  „ 4. Alternative Begriffe „ 5. Geschichtsbewusstsein „ 6. Neuere Diskurse „ 7. Möglichkeitsräume und Beschreibungsversuche »Neue Musik« bzw. »neue Musik« (beide Schreibweisen existieren heute nahezu gleichberechtigt nebeneinander; vgl. 5.) ist ein Sammelbegriff für verschiedenste Ansätze im Komponieren des 20. und 21. Jh.s einschließlich der Musik der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. Er wird heute in deutlich wachsendem Maße ohne regionale Einschränkungen und vor allem ohne die (früher zum Teil übliche) Begrenzung auf bestimmte ästhetische Leitgedanken verwendet (vgl. 1.). Aber er setzt voraus, dass (1) im frühen 20. Jh. besonders in Europa deutliche – und in vielen Fällen grundsätzliche – Wandlungen sowie Erweiterungen von ehemals selbstverständlich erscheinenden Grundlagen komponierter Musik (Tonalität, Ä Harmonik, Ä Melodie, Ä Rhythmus etc.) stattfanden und dass (2) Infragestellungen, Veränderungen und Konzeptionswech- Der Begriff Neue Musik wird, seitdem er im Jahr 1919 zur Beschreibung vorhandener musikalischer Phänomene erstmals zum Titel einer Publikation erhoben wurde (Bekker 1919/23), im Kontext der Musik des 20. und 21. Jh.s keineswegs konsequent in einer bestimmten Weise verwendet – zumal sich (wie oben angedeutet) die Wandlungen, die er indiziert, auf unterschiedliche Elemente und Ebenen beziehen können. Gewiss plausibel, wenn nicht sogar selbstverständlich erscheint insofern die Einschätzung, dass Neue Musik »als eine umfassende  – vieles, nicht alles umfassende – plurale Kategorie« aufgefasst werden sollte (Danuser 1997a, 76). Dementsprechend lässt sich auch sagen, dass sie »weder eine Stilrichtung noch eine ästhetische Idee noch auch eine zusammenhängende Epoche« (ebd., 77) ist. Sondern dieser Begriff deutet auf ein vielfältig verzweigtes Netz unterschiedlicher musikalischer Konzepte, das insgesamt für die Tendenz zum Neuen und Ungewöhnlichen, aber gewiss auch für die erhebliche Mannigfaltigkeit der Musik des 20. und 21. Jh.s steht. Diese wird heute insgesamt weniger als Ausdruck von Beliebigkeit oder Orientierungslosigkeit, sondern eher als Indiz von Freiheit und Lebendigkeit bewertet: »Es ist heute möglich, in einem einzigen Konzert mit Werken lebender Komponistinnen und Komponisten eine größere stilistische Bandbreite zu erzielen als jene zwischen den 435 Kompositionen von Johann Sebastian Bach und Gustav Mahler« (Haas 2014, 78). »Neue Musik« bezeichnet also, konkret gesagt, nicht allein sich von der Dur-Moll-Tonalität abwendende Musikstile oder -formen (was bis heute gelegentlich übersehen wird). Tonalität verlor im frühen 20 Jh., nicht zuletzt durch Arnold Schönbergs, Alban Bergs und Anton Weberns Weg in die Ä Atonalität, ihren weithin selbstverständlichen Status. Allerdings wurde sie dabei nicht, wie zuweilen behauptet, »abgeschafft« (Eggebrecht 1991, 752), sondern blieb in oft veränderten Grundsituationen präsent, zuweilen auch als Sonderfall. Noch dazu gab es bei anderen Komponisten andere Schwerpunkte eines zum Teil ebenfalls radikalen künstlerischen Aufbruchs. Insofern ist es – trotz der Tragweite der durch die Atonalität neu erschlossenen Möglichkeiten – aus heutiger Sicht übertrieben, mit der früher üblichen Verengung der Perspektive von einem »Epochenjahr [1907], in dem Schönberg den Übergang zur Atonalität wagte« zu sprechen (Dahlhaus 1980/2003, 380; vgl. Ballstaedt 2003, 86–103; Meyer 2011, 15). Überdies lässt sich nach heutigem Verständnis der Schritt zur Atonalität eher als Prozess der Öffnung (statt als Weg der Abschaffung des Bestehenden) deuten – plausibel etwa als »Abbau jener Hierarchien, die der kompositorischen Arbeit seit der Etablierung des tonalen Systems zugrunde lagen« (Borio 2011, 128). Angesichts der Breite des künstlerischen Horizonts wird der Begriff Neue Musik durchaus dem ähnlich, was man gemeinhin mit Epochenbegriffen zu fassen versucht. Plausibler indes erscheint es, das Feld der Neuen Musik als eine der wesentlichen Tendenzen innerhalb der musikalischen Moderne und Postmoderne des 20. und 21. Jh.s zu bezeichnen  – dies nicht zuletzt auch angesichts der Tatsache, dass der Begriff in anderen Sprachen kein klares Äquivalent hat (dementsprechend lautet etwa der Titel von Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik [Adorno 1949/75] in der englischsprachigen Übersetzung Philosophy of Modern Music). In anglophoner Literatur ist freilich in jüngerer Zeit auch der als Analogie gemeinte, aber oft enger gefasste Begriff »new music« (zuweilen auch »New music«) anzutreffen. 2. Innovation Doch trotz aller Differenzen und Wandlungen seiner Verwendung ist es unstrittig, dass der Begriff Neue Musik mit einer Tendenz zur Innovation verbunden ist. Diese wurde zuweilen, in nicht immer plausibler und manchmal sogar polemischer Weise, mit der Idee bzw. Ideologie des Fortschritts gleichgesetzt (Eggebrecht 1973; Ä Avantgarde). Sie kann mit der vor allem im mitteleuropäischen Kontext fortgeschriebenen Idee einer autonomen Musik in Zu- Neue Musik sammenhang gebracht werden, wie man sie – in manchmal freilich einseitiger, die Gegenbewegungen verkennender Weise – mit der Musik seit Beethoven assoziiert (der Begriff Autonomie, verstanden als Kriterium einer Unabhängigkeit von kompositorischen Normen oder sozialen Funktionen, wird im Zusammenhang mit Musik seit etwa 1925 diskutiert). Eine mit unterschiedlicher Entschiedenheit realisierte innovative Grundausrichtung kann mit der zunächst trivialen Einsicht begründet werden, dass der Kunst (und insbesondere der europäischen) seit jeher eine Tendenz zur Veränderung und zur Überbietung des Vorangegangenen eingeschrieben ist. Der Begriff des Neuen ist dabei »als historische Kategorie ebenso unumgänglich wie prekär: unumgänglich in dem trivialen Sinne, daß Gegenstand der Historie das sich Verändernde, nicht das Beharrende oder gleichförmig Wiederkehrende ist; prekär, weil das Prinzip, daß Geschichte als Kontinuität zu begreifen sei, es dem Historiker nahelegt, Neues wenn irgend möglich auf Älteres zurückzuführen« (Dahlhaus 1969/2005, 22). In spezifisch auf die Musik des 20. und 21. Jh. bezogener Weise ist diese Grundausrichtung mit jenem bewussten Abrücken von Darstellungs- bzw. Hörgewohnheiten zu beschreiben, das man (1) auch in vielen Werken früherer Zeiten (etwa jenen Beethovens oder Wagners, aber auch vieler anderer Komponisten) zu finden vermag, das (2) bis in die Gegenwart für viele kompositorische Ansätze mit immer wieder wechselnden konzeptionellen Ansätzen prägend ist (wobei es ebenfalls eine triviale Erkenntnis markiert, dass auch künstlerische Ansätze, die einstmals ungewöhnlich waren, gewöhnlich werden können) und das (3) an Unterscheidungsmerkmale denken lässt, die zum Teil auch in anderen Bereichen zu finden sind (im Bereich der Literaturwissenschaft ist die Kategorie der Innovativität, die mit dem Geniekult der Romantik einen großen Aufschwung erlebt hat, ein auf den jeweiligen Kunstcharakter bezogenes gängiges Unterscheidungsmerkmal von Hoch- und Trivialliteratur, das freilich angesichts von kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen in der Postmoderne nicht selten kritisch beurteilt wird; Seibel 2004). Diese dynamische Seite kann im Sinne einer Absetzbewegung verstanden werden, die sich (1) vor allem gegenüber Früherem zeigt (in der ersten Hälfte des 20. Jh.s zunächst besonders gegenüber der weiterhin stark präsenten Musik der Romantik bzw. der romantischen Musikästhetik), die aber (2) mitunter auch auf jene künstlerische Ansätze der eigenen Zeit bezogen sein kann, die von der Tendenz zur Innovation weithin unberührt sind. Zu diesem letztgenannten Aspekt schrieb Carl Dahlhaus: »Den eigentlichen Widerpart des Neuen bildet jedoch nicht 436 Neue Musik eine Musik, die als alt kenntlich ist und empfunden wird, sondern entweder das ›gemäßigt Moderne‹, das Robert Schumann höhnisch ›Juste-Milieu‹ nannte, oder aber eine Dogmatik, von der behauptet wird, daß sie in der Natur der Sache begründet, also der Geschichte entzogen sei« (1969/2005, 25). So treffend der hier – wie auch sonst oft – ins Spiel gebrachte Begriff der »gemäßigten Moderne« bei Charakterisierungen von Musik zuweilen erscheinen mag (vor allem angesichts des Mangels treffender alternativer Begriffe), so wenig ist indes zu leugnen, dass mit ihm vielfach eine pejorative Tendenz einhergeht, die ihn eher als Schlagwort denn als brauchbare Kategorie im Reden über die Musik des 20. und 21. Jh.s erscheinen lässt. Wo genau die innovative Seite von Musik zu verorten und wie diese zu bewerten ist, entzieht sich in manchen Fällen allerdings ohnehin einer klaren Festlegbarkeit. Aus heutiger Sicht zählen mit gewisser Selbstverständlichkeit Komponisten wie Claude Debussy, Igor Strawinsky und Paul Hindemith ebenso zur Neuen Musik wie Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern oder Béla Bartók, um hier nur einige bedeutende Namen aus der ersten Jahrhunderthälfte zu nennen. Diskussionen darüber welcher dieser Komponisten »innovativer« als seine Kollegen gewirkt hätte, wirken im Rückblick unwesentlich  – und dennoch ist es bis heute Ermessenssache, ob man das gesamte Phänomen »Neoklassizismus« oder nur Teile davon als Teilbereich der Neuen Musik ansieht (dies verweist auf die Problematik dieses Begriffes). Fragen der Kategorisierung sind insgesamt im Schrifttum über Neue Musik allerdings längst von untergeordneter Bedeutung. Es geht heute weit eher darum, spezifische künstlerische Phänomene oder Strategien und deren ästhetische Besonderheiten herauszukristallisieren als äußerliche Fragen der Innovativität oder von Prioritätsansprüchen zu diskutieren. 3. Die »Szene« der Neuen Musik Zwar ist es im Feld der Neuen Musik – wie auch im Umgang mit der bildenden Kunst oder dem Theater – üblich geworden, von einer »Szene« zu sprechen (mit diesem Begriff sind jeweils die im Bereich agierenden Künstler, aber auch Anhänger und Fachvertreter gemeint). Dennoch wäre es angesichts der sich stark öffnenden Tendenzen innerhalb dieses Feldes gewiss übertrieben, der »Szene der Neuen Musik« pauschal eine Tendenz zur Expertenkultur oder zum rigiden »Insidertum« zu unterstellen. In dieser Hinsicht besteht durchaus eine deutliche Konvergenz zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s, in denen der Begriff Neue Musik sich erstmals als triftige Möglichkeit der Rubrizierung bestimmter musikalischer Phänomene und ihrer Konzepte herauskristallisierte und auch hier ein breites Spektrum von Tendenzen einschloss. Und selbst wenn man bei jenen, die sich mit Neuer Musik vordringlich beschäftigen, von einer »Gemeinschaft der Experten« ausgeht, darf man sich diese, wie Carl Dahlhaus schon 1987 warnend anmerkte, nicht »als geschlossene Gesellschaft vorstellen, in der bestimmte Normen herrschen« (Dahlhaus 1988/2001, 636). Dementsprechend forderte Dahlhaus eine »kontinuierlich fortschreitende Diskussion über divergierende Prinzipien und Kriterien« (ebd.) Erfolgt dies nur unzureichend, wird damit die oft beschworene Gefahr der Isolation der Neuen Musik vergrößert, die nicht zuletzt mit der vielerorts herrschenden Tendenz zu tun hat, diese im öffentlichen Musikbetrieb nur wenig zu berücksichtigen. Die Grundidee von speziell ausgerichteten Festivals Neuer Musik liegt keineswegs darin, diese in »säuberlich isolierte Sektoren« bzw. »Reservate« (Adorno 1960/78, 480) zu verdrängen, sondern ist eher mit Wagners Festspielidee im Sinne der Schaffung und Bevorzugung von Orten der besonderen Konzentration sowie der besonderen Aufführungsqualität zu erläutern (Ä Säle und Gebäude; Ä Zentren neuer Musik). Und dennoch ist Adornos Analyse beizupflichten, dass die in Ä Institutionen der Neuen Musik geleistete »organisierte Hilfe« (ebd., 477), deren Wert grundsätzlich nicht zu bezweifeln ist, vielen Musikinteressierten die Haltung insinuiert, die Neue Musik sei eine »Sondergelegenheit« (ebd.). Adornos Skepsis gegenüber der vielerorts gängigen Handhabung des Begriffs Neue Musik, der das Außenseiterhafte (über-)betont, ist an diesem Punkte womöglich zu teilen: »Daß von neuer Musik immer noch unverdrossen gesprochen wird, als wäre sie etwas Abgespaltenes für sich, ohne Beziehung zu dem, was früher war, und zu dem, was weiterhin Opernhäuser, Konzertsäle und den Äther anfüllt, kommt heute eher ihrer Abwehr und Neutralisierung zugute, als daß es sie als Parole vorantriebe« (ebd.). Und doch scheint die Plausibilität des Festivalgedankens (und gleichermaßen auch der Schaffung spezialisierter Konzertreihen sowie vor allem von speziellen Ausbildungsmöglichkeiten und Förderungen) zumindest so lange außer Frage zu stehen, wie das »klassische« Musikleben stark von konzeptioneller Mutlosigkeit oder Repräsentations- bzw. Geschäftsinteressen getragen ist. 4. Alternative Begriffe Die oft unscharfen Verwendungen des Begriffs Neue Musik erweckten zuweilen den Eindruck, es handele sich bei ihm um ein bloßes Schlagwort  – obwohl Heinrich Strobel bereits im Jahr 1928 in seiner Schrift über Paul Hindemith formulierte »Neue Musik ist heute kein kämpferisches Schlagwort mehr« (1928, 7). Zu der auch in der Folgezeit oft mangelnden Präzision des Begriffs freilich passt es (und trägt es zugleich bei), dass er im Schrifttum 437 wie auch im Kontext unterschiedlichster musikalischer Aktivitäten und Institutionen (etwa von Ensembles oder von Veranstaltern) manchmal bewusst durch andere substituiert wurde. So ist zuweilen in weithin synonymer Weise auch etwa von »moderner«, »zeitgenössischer«, »avantgardistischer«, »experimenteller«, »aktueller« oder (seltener) »zeitgemäßer« Musik die Rede. Von diesen alternativen Begriffen scheint am ehesten noch der u. a. von John Cage vorgeschlagene Begriff der »experimentellen Musik«, der sich in Cages Darstellung wie auch bei Michael Nyman auf den US-amerikanischen Kontext bezieht (Cage 1958/78; Nyman 1974/99), auf eine Eigenständigkeit zu deuten (vgl. 6.). Motive für Verwendungen all dieser Begriffe liegen wohl einerseits in dem Bestreben, jene Konfliktpotenziale, die der Geschichte der Verwendung des Begriffs »Neue Musik« eingeschrieben sind, auszublenden oder zu entschärfen, aber andererseits auch darin, die plurale Seite der Musik des 20. und 21. Jh. noch sichtbarer hervortreten zu lassen. So wird besonders mit dem Terminus »zeitgenössische Musik« nicht selten signalisiert, dass es ein fruchtbares Nebeneinander, aber punktuell eben auch ein von verfließenden Grenzen geprägtes Miteinander der »Kunstmusik« (ein Begriff, der oft verwendet wird, aber angesichts seiner implizit wertenden Momente ebenfalls nicht unumstritten ist) u. a. etwa mit Sounddesign (inkl. Filmmusik) und Popkultur gibt (Kraut 2011). Ähnliches kann für den Begriff »moderne Musik« gelten, den früher einzelne Autoren favorisierten (Dibelius 1966). Eine erhebliche Gelassenheit, sichtbar erstens am längst weithin selbstverständlich gewordenen Verzicht auf kämpferische oder eindeutig fortschrittsorientierte Konnotationen und zweitens am gewachsenen Interesse innerhalb der »Szene« Neuer Musik an anderen Feldern der zeitgenössischen Musikproduktion (einschließlich jener der Popkultur; Ä Pop / Rock), kann allerdings heute auch bei jenen Aktivitäten (etwa Festivals und Konzertreihen), Institutionen (auch den Instituten für Neue Musik im Hochschulkontext) und Publikationen beobachtet werden, die am gängigen Sammelbegriff »Neue Musik« weiter festhalten. 5. Geschichtsbewusstsein Betrachtet man das Schrifttum früherer Zeiten, wird sichtbar, dass die Verwendung des Begriffs Neue Musik, entgegen der heute üblich gewordenen breiteren Auffassung, vielfach mit einer wertenden und zugleich abgrenzenden Tendenz einherging: zumeist mit einer positiven (zuweilen in deutlicher Konvergenz zum verbreiteten Innovationsanspruch in nicht-künstlerischen Feldern), jedoch in ästhetisch konservativ oder antimodern gestimmten Kreisen, die teilweise auf der vermeintlichen Neue Musik »Naturgegebenheit« bestimmter musikalischer Setzungen beharrten (Blume 1959) und damit in prekärer Weise ideologisch argumentierten, auch mit einer negativen (Ä Rezeption, Ä Wahrnehmung). Unterschiedlich bewertet wurde – und wird teilweise bis heute – die Frage, ob es hilfreich (oder sogar vonnöten) ist, den hier in Rede stehenden Begriff mit Majuskel oder Minuskel zu schreiben. Es gehört zu dieser Uneinheitlichkeit, dass keineswegs sicher ist, ob die Frage der Großschreibung überhaupt von Gewicht ist – auch Autoren wie etwa Theodor W. Adorno schwankten an diesem Punkte (Petersen 2003). Die immer noch weithin übliche Schreibweise mit großem »N« deutete in manchen Publikationen früher auf einen Innovationsanspruch (der Begriff Innovation ist seinerseits ungefähr so alt wie jener der Neuen Musik), der die Kategorie Neue Musik zuweilen zum Kampfbegriff werden ließ, mit Verfechtern auf der einen und Verächtern auf der anderen Seite. Die Großschreibung schien jedoch (wie später auch im Falle der Alten Musik) den Anspruch auf Besonderheit und Nicht-Konventionalität (Stockhausen 1973/78, 370) sowie das damit verbundene Geschichtsbewusstsein deutlicher hervortreten zu lassen (Eggebrecht 1991, 570). Ein ausgeprägte Geschichtsbewusstsein nämlich, das zuweilen (etwa bei Komponisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen) vielleicht sogar als Sendungsbewusstsein bezeichnet werden konnte, war im Laufe des 20. Jh.s bei der Verwendung des Begriffs Neue Musik  – und gewiss meist unabhängig von der Frage nach Majuskel oder Minuskel – tatsächlich oft mit im Spiel. Diese Dimension des Selbstverständnisses, die freilich schon früh auch in Avantgardekreisen kritisch diskutiert wurde (Luigi Nono sprach kritisch von jenen Komponisten, »die sich einbilden, auf diese Weise ex abrupto eine neue Ära eröffnen zu können, in der alles programmatisch ›neu‹ sein muss, und die sich so eine ziemlich billige Möglichkeit verschaffen wollen, sich selbst als Anfang und Ende, als Evangelium zu setzen«, 1959/75, 35), war nach dem Zweiten Weltkrieg beherrscht und beflügelt wohl vor allem von dem Gedanken an einen unumgänglichen Neubeginn. Dieser war, auch das sollte man nicht übersehen, gestützt durch eine Reihe wichtiger literarischer und (kunst-) philosophischer Schriften. Dazu gehörten die Schriften von Paul Klee, aber – namentlich im Falle Stockhausens (Blumröder 1993)  – etwa auch Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel (1943), in dem das von hehren idealistischen Erwägungen geprägte Sendungsbewusstsein eine wichtige Kategorie darstellt. Zu nennen sind hier natürlich auch verschiedenste Schriften und Äußerungen aus dem musikalischen Felde, allen voran jenen von Adorno. Im Falle seiner Philosophie der neuen Musik dürfte schon Neue Musik allein die Verengung des überhaupt als repräsentativ Erachteten auf einzelne wenige Protagonisten eine Zeitlang eine gewisse (prekäre) Vorbildfunktion besessen haben. Doch Adornos Denken auf ihre geschichtsphilosophische Komponente zu verengen, wäre aus heutiger Sicht eindimensional (vgl. 6.). Für Versuche der Legitimation eines eher im Sinne eines geschichtlichen Auftrags akzentuierten Geschichtsbewusstseins bot, als es im 20. Jh. um die Schärfung des Begriffs Neue Musik ging, der Blick in die Musikgeschichte durchaus einige Hilfestellungen. Namentlich auf die Bezeichnung ars nova (die ein Philippe de Vitry zugeschriebener Traktat von 1322/23 trug) oder auf die Sammlung Le nuove Musiche (Giulio Caccini, 1601) konnte man sich insofern berufen, weil es in beiden Fällen um klar hervortretende neuartige Aspekte und dabei jeweils auch um das Bewusstsein für das Abweichen des musikalischen Gegenstands vom bis dahin Üblichen geht. Doch auch die Unterschiede liegen auf der Hand, wenn man jene Auseinandersetzungen betrachtet, die etwa seit dem frühen 20. Jh. geführt wurden. Diese gaben sogar Anlass zu der Einschätzung, dass sich in dieser Zeit »die Emphase des Neuen im Begriff neue Musik zum rigorosen Ausschließlichkeitsanspruch« (Blumröder 1980/95, 299) steigerte. Diese Einschätzung ist zwar belegbar etwa durch einen kämpferischen Beitrag Karl Linkes zu Schönberg, in dem es heißt »Alles mußte fallen, was Musik hieß und Tradition […]. Die Idole einer gestorbenen Zeit mußten zertrümmert werden von einem, der unsere Zeit so vollkommen in sich fühlte« (Linke 1912, 18; vgl. Blumröder 1980/95, 300). Angesichts der Tatsache, dass auch Schönberg selbst den Traditionsbezug seines Komponierens immer wieder ausdrücklich unterstrich, ist allerdings zu präzisieren, dass der Ausschließlichkeitsanspruch eher das Schrifttum über Musik als diese selbst kennzeichnete  – was in gewissem Maße auch für die Musik nach 1945 gilt. Auch Paul Bekker hatte in seiner oft als Markstein des Diskurses erwähnten Schrift Neue Musik, in der er mit Blick auf das mit diesem Begriff Bezeichnete von »Änderungsbestrebungen elementarster Art« (Bekker 1919/23, 89) sprach, gleichzeitig sehr nachdrücklich die Bezüge zu Tendenzen des 19. Jh.s benannt. Und auch in Weberns einschlägigen Vorträgen Der Weg zur neuen Musik finden sich, obschon vor allem mit dem Gestus der Rechtfertigung des Neuen, dezidierte Bezüge zu älterer Musik – in diesem Falle zur frankoflämischen Vokalpolyphonie (1932–33/60, 42). Den Begriff Neue Musik auf einzelne Tendenzen innerhalb ihres Gesamtspektrums zu reduzieren, erscheint aus heutiger Sicht obsolet. Dies war allerdings  – unter wechselnden Vorzeichen, die einem bestimmten Segment der Neuen Musik besondere Beispielhaftigkeit zuerkann- 438 ten und zum Teil bis zu Alleinvertretungsansprüchen reichten  – jahrzehntelang nicht unüblich. In den 1920er Jahren etwa gab es durchaus auch Autoren, die im Begriff Neue Musik »schon fast ein[en] terminus technicus zur Bezeichnung der Musik des 20. Jh.s« sahen (Stefan 1925, 74). Andererseits plädierten Autoren wie Hans Mersmann und Heinrich Strobel (beide lange Zeit Wortführer in der einflussreichen Zeitschrift Melos) dafür, den Begriff angesichts der (auch von ihnen erstrebten) Distanzierung von der Romantik vor allem für Komponisten wie Hindemith und Strawinsky zu reservieren, da diese »wieder den Weg zur Allgemeinheit« (Mersmann u. a. 1928, 599) suchten. Mit dieser Argumentation, die an die seit dem frühen 19. Jh. geführten Diskussionen zum Aspekt des Elitären in der Musik anknüpfen, wird eine soziologische Perspektive im Diskurs über Neue Musik etabliert oder zumindest bekräftigt. »Von der Allerweltssoziologie, die ihr mit erhobenem Zeigefinger bedeutet, ihre Verantwortlichkeit sei unverantwortliches l ’ art pour l ’ art […], darf sie sich nicht terrorisieren lassen«, merkte bereits Adorno (1960/78, 489) zu diesem Aspekt kritisch an. Doch trotz mancher wichtiger Fragestellungen ist auch in neueren soziologisch grundierten Texten die Gefahr zu erkennen, in gewisse vergleichbare Stereotypen zu münden, sofern sie die reflexive und gegenüber der eigenen Gegenwart kritische Grundausrichtung der Neuen Musik – die sich auch im Bereich der anderen Künste der Moderne findet (vgl. 7.) – ausblendet und dabei noch dazu eher von den Kommentaren zur Neuen Musik als von werkbezogenen Betrachtungen ausgehen (Hentschel 2007, 2010; Lehmann 2012; Ä Musiksoziologie.) In krassem Widerspruch zu den Präferenzen bei Strobel oder Mersmann apostrophierte Adorno die Musik Schönbergs als Inbegriff einer emphatisch neuen Kompositionsart. Strawinsky immerhin wird in Adornos Philosophie der neuen Musik auch behandelt – um dem selbst gesetzten Anspruch gerecht zu werden, »etwas über die neue Musik als ganze aus[zu]sagen« (Adorno 1949/75, 10). Damit greift Adorno eine schon lange zuvor gängige Tendenz des Schrifttums über Musik auf, die zweifellos eine »terrible signification« (Finscher 1996, 71) war – und damit typisch für einen allzu sehr an Polaritäten orientierten erheblichen Teil des Schrifttums über Neue Musik (bis heute). In Adornos ebenso einflussreicher wie umstrittener Schrift, die im Wesentlichen soziologisch argumentiert (nun allerdings im Vergleich zu Strobel und Mersmann unter umgekehrten Vorzeichen), die Rolle zugewiesen, die »Restauration« zu repräsentieren. Das muss aus heutiger Sicht insbesondere dann als äußerst fragwürdig gelten, wenn man das Schaffen Strawinskys in seiner ganzen Breite wahrnimmt und auch die überaus originel- 439 len und innovativen Züge gewärtigt (obschon man nicht unterschlagen sollte, dass selbst in der Philosophie der neuen Musik Momente der Bewunderung für Strawinsky enthalten sind). Deutlich abweichend von Adornos Sicht des Neoklassizismus hat sich in jüngerer Zeit eine Deutung jener unter diesen Begriff gefassten kompositorischen Phänomene durchgesetzt, die sie als eine der zentralen Richtungen innerhalb der Neuen Musik in der ersten Hälfte des 20. Jh.s versteht. Zur Neubewertung dieser Richtung – die freilich alternativ auch unter den Begriff der »klassizistischen Moderne« gefasst werden kann (Danuser 1997b)  – hat eine stärkere Berücksichtigung und höhere ästhetische Bewertung der Momente von Brechung und Diskontinuität wesentlich beigetragen  – dies in ausdrücklicher Korrespondenz zu dem im Kontext des russischen Formalismus (namentlich von Wiktor Borissowitsch Schklowski) entwickelten Konzepts der »Verfremdung« (Stephan 1984). Vor allem aber hat sich schon in den 1950er Jahren in den einschlägigen musikwissenschaftlichen Publikationen eine pluralistische Sicht der Dinge durchgesetzt, die unter der Kategorie Neue Musik außer dem Trennenden auch das Verbindende ihrer verschiedenen Richtungen kenntlich zu machen sucht (Wörner 1954; vgl. Blumröder 1980/95, 304; Blumröder 1981). 6. Neuere Diskurse Adornos Philosophie der neuen Musik hat trotz ihres Einflusses gewiss nicht den Rang einer repräsentativen Leitschrift der Neuen Musik  – was der Philosoph, der in späteren Zeiten viele weitere Beiträge zu diesem Thema vorlegte, die einen weitaus offeneren Begriff ebenso wie eine Skepsis des Umgangs mit ihm erkennen lassen (Adorno 1956/73; 1960/78), auch erkannt haben dürfte. In seiner polemischen und entschiedenen Grundhaltung ist dieses Buch, das gleichsam eine Brücke von der Vorkriegs- zur Nachkriegszeit zu errichten sucht, um den Diskurs über Neue Musik zu stimulieren, eher eine Streitschrift. Das allerdings ist angesichts des historischpolitischen Umfelds, in dem sie entstand, auch durchaus verständlich. Gewiss trug sie nicht unerheblich dazu bei, dass nach 1945 die Auseinandersetzungen um die »richtige« oder »zeitgemäße« musikalische Sprache vor allem in journalistischen Texten sowie in Komponistenkommentaren mit einer manchmal unversöhnlich wirkenden Entschiedenheit geführt wurden. Bezeichnend dafür ist, dass es nicht allein Kritik an Adorno von konservativer Seite gab, sondern auch vonseiten der nächsten Generation von Theoretikern (Metzger 1958). Dies deutet erstens auf die manchmal übersehene Vielstimmigkeit im Diskurs über Neue Musik bereits in den 1950er Jahren und bestätigt Neue Musik zweitens den Eindruck, dass Adorno trotz der anregenden Diskussionen, die er stimulierte (und die außer einem erheblichen Teil der Musikjournalistik auch Theoretikern wie Heinz-Klaus Metzger, Carl Dahlhaus oder Albrecht Wellmer wichtige Impulse gaben), nicht – wie vor allem in journalistischen Texten zur Musik dieser Zeit behauptet – als maßgeblicher Repräsentant der Neuen Musik nach 1945 gelten kann. Um Adornos Schriften und ihrer Wirkung wirklich gerecht zu werden, ist überdies zu beachten, dass er selbst die eigene in diesem Buch entfaltete Position im Laufe der folgenden Jahrzehnte differenzierte und erweiterte (auch Strawinskys Potenziale für die Neue Musik nach 1945 hob er nun deutlich hervor; Adorno 1962a / 78, 383). Dies war zu einem erheblichen Teil gewiss die Folge der Auseinandersetzungen mit der Generation der jungen Komponisten. Und spätere Texte zur Neuen Musik erscheinen von einer gewachsenen Offenheit, punktuell sogar von einer gewissen (eingestandenen) Unsicherheit getragen. Diese Tendenz bezieht sich erstens auf die Bewertung der bisherigen Entwicklung der Nachkriegsmusik – in dem 1960 für den Rundfunk entstandenen Text Musik und neue Musik (1960/78) heißt es etwa zur Frage der Sinnbildungen in elektronischer Musik: »Ich selbst habe nicht elektronisch gearbeitet und bin darum nicht aus primärer Erfahrung zum Urteil […] qualifiziert« (ebd., 491). Und ebenfalls im Zusammenhang mit elektronischer Musik (und konkret zu Stockhausens Gesang der Jünglinge) wird ausdrücklich und lobend die traditionelle Seite daran hervorgehoben (ebd., 492). Aber die genannte Tendenz bezieht sich zweitens auch auf die Skizze möglicher künftiger Entwicklungen. Besonders der ein Jahr später bei den Darmstädter Ferienkursen präsentierte Vortrag Vers une musique informelle ist vom Gestus der Philosophie der neuen Musik denkbar weit entfernt, enthält auch einige wichtige Korrekturen des darin gezeichneten Bildes. Vor allem verrät dieser spätere Text das erkennbar gewachsene Bewusstsein Adornos dafür, dass das Spektrum dessen, was musikalisch möglich war, überaus breit war, und bietet eine perspektivenreiche Darstellung kompositorischer Ästhetik, mündend in der oft zitierten Forderung »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind« (Adorno 1962b / 78, 540). Gerade an das in dieser Schrift Entfaltete – viel mehr als an das in der Philosophie der neuen Musik Gesagte – vermochten auch bezeichnenderweise zahlreiche Komponisten der nachfolgenden Generationen anzuknüpfen. Ein Beispiel ist Wolfgang Rihm, dessen Orchesterzyklus Vers une symphonie fleuve (1992–2012) schon im Titel die ausdrückliche Stimulierung durch Adornos Ideen verrät und der Adornos Text Vers une musique informelle aus- Neue Musik drücklich als »zentralen Text über die Möglichkeiten des Komponierens« (Rihm 1992/97, 301) bezeichnete. In der Rezeption der Neuen Musik – vor allem jener seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – findet sich eine (über-)deutliche Neigung, neben den Musikwerken  – oder in vielen Fällen sogar anstelle von ihnen – auch manifestartige Texte über sie einzubeziehen. Das hat gewiss damit zu tun, dass »innerhalb der Avantgarden […] das programmatische Manifest besondere Bedeutung [gewann]« (Danuser 1997a, 87) und sich diese Tendenz der ersten Jahrhunderthälfte in der zweiten fortsetzte. Doch bedenkt man den großen, manchmal übergroßen Einfluss der den Werken vorgelagerten Absichtsbekundungen auf die Rezeption, gelangt man schnell zur Notwendigkeit, mit Nachdrücklichkeit einen Blick auf die Ästhetik der Werke einzufordern, der sich von allen durch Polemik oder Selbststilisierungen bestimmten Stellungnahmen fernhält und sich auch dann zunächst an den Phänomenen selbst sowie am Hören orientiert, wenn dieses von einem radikalen Paradigmenwechsel bestimmt ist und zu einer veränderten Form von Ä Wahrnehmung aufruft. Dieses Abrücken von polemischen Kontexten bei der Rezeption von Musik erweist sich namentlich etwa im Falle von Pierre Boulez als sinnvoll, einem der entschiedensten Protagonisten der Neuen Musik nach 1945. Das gilt erst recht dann, wenn man bedenkt, wie sehr in seinen frühen Äußerungen jene Tendenz zur bekennenden Einseitigkeit durchschlägt, die in der Tradition der französischen Essayistik  – zumindest etwa jener von Jean-Jacques Rousseau – steht. Dieser Aspekt verweist freilich zugleich auf jene etwa von Roland Barthes unter dem Schlagwort »Der Tod des Autors« (1968/2006) propagierte Notwendigkeit, die spezifischen Eigenarten eines Werks auch unter bewusster Hintanstellung des zu ihm Geschriebenen zu betrachten (Ä Analyse, 1.2, 1.3). Dies markiert  – bei aller Überzeichnung, die in diesem Schlagwort stecken mag – eine Perspektive, die sich für den Umgang mit Neuer Musik als überaus wichtig bezeichnen lässt (vgl. 7.). Überdies aber ist in der musikwissenschaftlichen Forschung wie auch von Komponistenseite (Rihm 1992/97) in den letzten Jahren das Multiperspektivische im Schaffen fast aller namhafter Komponisten serieller Musik erwiesen worden, das der Einseitigkeit mancher verbaler Stellungnahmen diametral entgegensteht. Es gibt im Ä Musikjournalismus nach 1989, aber zum Teil auch in der Forschung zur Musik der Nachkriegszeit Versuche, die Entschiedenheit der Wortmeldungen, die in späteren Zeiten oft befremdlich erschien, auch in Zusammenhang mit dem Beginn des Kalten Krieges in Europa und mit der Ost-West-Konfrontation zu sehen (Ross 2007; Taruskin 2010; vgl. Tischer 2011). Die Argumentationen 440 hierzu basieren u. a. auf der Einsicht, dass es in jenem Teil der Welt, in dem die Neue Musik zunächst vor allem verbreitet war, auch nachhaltige Förderungen durch USamerikanische Institutionen gab. Allerdings finden sich keine substanziellen Anhaltspunkte dafür, dass die eigentlichen Protagonisten der Neuen Musik nach 1945 im Sinne jener (kultur-)politischen Akteure des Kalten Kriegs dachten, für die es damals darum ging, die Überlegenheit eines Teils der Welt gegenüber dem anderen sichtbar werden zu lassen. Überdies steht heute außer Frage, dass die Impulse der Neuen Musik auch dort Resonanz erhielten, wo man ihnen durch institutionelle oder sogar staatlich sanktionierte Abwehrhaltungen begegnete (Kovács 1997). Nicht wenige Komponisten in Ländern des ehemaligen Ostblocks oder Ä Lateinamerikas erkannten in Strategien der Neuen Musik widerständige oder gar »subversive« Energien, auf denen sich ein musikalischer Diskurs aufbauen ließ, der teilweise regimekritisch war (und der dazu führte, dass die Musik etwa der Schönberg-Schule in diesen Ländern mehr und mehr Akzeptanz fand; Ä Osteuropa). Deutlich wurde dies etwa in der DDR, wo in den 1980er Jahren die Auseinandersetzung mit dem Erbe Schönbergs und dessen Idee von Neuer Musik offen geführt werden konnte (Glänzel 2013), nachdem man dort die Kategorie »neue Musik« zunächst – allerdings vergeblich – als Synonym für den Sozialistischen Realismus zu etablieren versucht hatte (Blumröder 1980/95, 309). Die spezifischen Energien in diesem Felde, die etwa in der Sowjetunion mit Namen wie Edisson Denissow oder Sofia Gubaidulina verbunden sind, sind (über alle zuweilen betonten Ost-WestGegensätze hinaus) für eine internationale Verbreitung der Neuen Musik überaus relevant. Zugleich trugen sie weit über den in Rede stehenden geographischen Raum dazu bei, dass im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr kompositorische Möglichkeitsräume jenseits der von der Tonalität repräsentierten Hierarchiebildungen hervortraten. Unbezweifelbar ist, dass in der Neuen Musik nach 1945, die zuweilen als »zweite Entwicklungsphase der Neuen Musik« (Eimert 1960) bezeichnet wurde, zunächst zumindest zeitweise eine signifikante Aufbruchssituation herrschte. Diese ist von der Neukonstituierung oder Stabilisierung verschiedenster mit Neuer Musik befasster Institutionen (wie etwa IGNM, Internationale Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt, Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Ä Institutionen) gekennzeichnet, aber ebenso auch durch das Herausbilden neuer kompositorischer Ansätze – wie namentlich jenem der Ä seriellen Musik. Diese Phase der jüngeren Musikgeschichte wird in nicht wenigen Publikationen bis heute als eine »heroische« Zeit bewertet: »In den meisten, nicht nur den vormals totalitär regierten Ländern fegte die Neue Musik 441 nach 1945 einen jahrelangen, mehr oder minder öden Populismus vom Tisch« (Meyer 2011, 28 f.). Allerdings lassen sich – wie Luigi Nono dies mit Blick auf J.S. Bach und Giovanni Gabrieli bereits 1960 tat (Nono 1960/75) – auch erhebliche Kontinuitäten zu früheren kompositorischen Ansätzen herausarbeiten (Zenck 1990). Unterschiedlich beantwortet wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte aber vor allem die Frage, inwieweit die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildeten Leitgedanken der Neuen Musik nicht auch weiterhin gewisse Beschränkungen implizierten. So war das Festhalten eines Großteils der Komponisten nach 1945 am Werkcharakter und an den Prämissen der absoluten Musik einer der Anlässe, die davon abweichenden US-amerikanischen Verfahrensweisen als »experimentelle Musik« zu bezeichnen (Cage 1958/78; Nyman 1974/99; vgl. 4.). Weit über die US-amerikanische Musik hinaus begründete diese Hinwendung zum Experiment eine Tradition, die in Teilen der europäischen Szene der Neuen Musik lange zum Teil heftige Kritik erntete und als »eine Art Nicht-Komponieren« (Mahnkopf 1998, 13) bezeichnet wurde, die aber andererseits bis zur Gegenwart auch in Europa vielerlei Wandlungen inspirierte oder bekräftigte. Diese Wandlungen beziehen sich teilweise kritisch auf die Tatsache, dass sowohl in der ersten Hälfte des 20. Jh.s als auch nach 1945 oft mit gewisser Selbstverständlichkeit jene Modalitäten der Präsentation und Distribution fortgesetzt werden, die seit Jahrhunderten eingespielt sind und im Kern auf das »klassische« Ä Konzert hinauslaufen. Zu den Traditionslinien mit davon abweichenden künstlerischen Strategien gehören etwa die Bereiche der Ä Improvisation, der Ä Klangkunst, der Ä Performance und der Ä konzeptuellen Musik, aber auch die verschiedensten Ausformungen eines mediengeprägten Komponierens, das nicht unbedingt auf den Konzertsaal, sondern eher auf eine Präsenz im Ä Internet zielt (Ä Themen-Beitrag 5; Ä Medien). Es erscheint unter der Prämisse einer pluralen Auffassung Neuer Musik gewiss plausibel, wenn man alle diese Bereiche als wichtige Facetten ihres breiten Spektrums ansieht: als spezifischen Ausdruck ihrer weitreichenden Tendenz zur Entgrenzung sowie zur Konvergenz mit anderen Künsten, nicht also als Alternativen zu ihr. Überdies finden sich auch in der Neuen Musik für den Konzertsaal schon seit langem  – und heute in deutlich wachsendem Maße  – immer wieder Tendenzen, die Impulse (bzw. einen Teil von ihnen) aufzugreifen (Ä Film / Video; Ä Musik und bildende Kunst). 7. Möglichkeitsräume und Beschreibungsversuche Versucht man unter solchen Prämissen, wesentliche Charakteristika der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte adäquat zu beschreiben, bieten sich zumindest zwei Wege an: Neue Musik Der erste, heute durchaus gängige, liegt darin, einige wesentliche konzeptionelle und ästhetische Ansätze zu beschreiben, um damit die ganze Breite des Spektrums einschließlich der unterschiedlichen Tendenzen zur Entgrenzung wenigstens anzudeuten und dabei gleichsam als »Akt historischer Gerechtigkeit« (Danuser 1997a, 93) auch jene Bereiche zu berücksichtigen, die etwa für Adorno (und gewiss auch für verschiedene Protagonisten der Neuen Musik in den 1950er Jahren) weit außerhalb des Spektrums der Neuen Musik lagen, dies womöglich bis hin zu einer »neotonalen Richtung« oder sogar zu »artifizieller Funktionsmusik« (ebd., 92 f.). Berücksichtigung finden sollten dabei gewiss noch weitere Teilbereiche: Einerseits seien hier jene vielfältig verzweigten interkulturellen Perspektiven von Musik genannt, die im Sinne von Anregungen oder auch von direkten Übernahmen von Strategien aus anderen (Kunst-)Musiktraditionen zu verstehen sind (Utz 2002), andererseits jener in den letzten Jahren erheblich gewachsene Zweig der Neuen Musik, der im Rekurs auf den Untertitel von Hans Zenders Bearbeitung von Franz Schuberts Winterreise (1993) als »komponierte Interpretation« bezeichnet werden kann (Zender 1993/2004). Folgt man diesem ersten Beschreibungsweg, kann es zuweilen hilfreich sein, zur Veranschaulichung von Entwicklungen und Querbeziehungen thematisch-konzeptionelle »rote Fäden« sichtbar zu machen (Ä Avantgarde; Ä Musikhistoriographie) – doch plausibel (und um so mehr als Aufgabe für die künftige Musikhistoriographie) erscheinen auch Parallelerzählungen, die von jeder fortschrittsorientierten Linearität ebenso abweichen wie von jeder Marginalisierung des Aufbruchs nach 1945 (Cook / Pople 2004; Hiekel 2007). Der zweite – nicht ohne dezidiert kritische Seitenblicke auskommende – Weg, der ebenfalls auch Plausibilität beanspruchen kann, besteht in dem Versuch, zunächst ganz unabhängig von historischen Entwicklungen (oder gar von obsoleten Fortschrittsmodellen) Kriterien zu formulieren, die das breite Feld der Neuen Musik von anderen Bereichen der Gesamtkultur abzugrenzen vermögen. Beispielhaft erwähnt sei hierfür eine Standortbestimmung des in neueren Diskursen überaus präsenten Komponisten Helmut Lachenmann. Lachenmann sprach im Jahr 2006 vom »Absagen an die Verwalt- und Verwertbarkeit durch eine auf eine angenehme Unterhaltung, billige Repräsentation oder kollektive Manipulation und demagogische Gleichschaltung bzw. auf kommerziellen Nutzen gerichtete Gesellschaft« (Lachenmann 2008, 93). Bedenkt man nun, dass diese Worte Lachenmanns zwar auf die eigene Position als Komponist im 21. Jh., aber zugleich explizit auf J.S. Bach, Mozart und Beethoven gemünzt waren, wird etwas ersichtlich, das für den jüngeren Diskurs über Neue Musik charakteristisch ist: dass es zwar Neue Musik weiterhin mancherlei Abgrenzungen gibt, diese sich aber in der Regel nicht (wie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s und zum Teil auch nach 1945) als Distanz zu früherer Musik artikulieren, sondern im Sinne einer kritischen Haltung gegenüber (kommerziell oder ökonomisch orientierten) Usancen der Musikkultur (vor allem jener von vielen klassischen Orchestern und städtischen Opernhäusern, aber überdies auch manchen Gewohnheiten der Popkultur). Geht man mit Lachenmann davon aus, dass sich in der Neuen Musik an diesem Punkte etwas artikuliert, was auch schon in früheren Zeiten – und namentlich im 19. Jh. – hervortrat, kann man sogar konstatieren: »Spätestens in der Moderne des 20. Jh.s hat sich die europäische Kunst in diesem negativen Aspekt als Moment der ständigen Grenzüberschreitung erkannt und insofern ein Stück weit zu sich selbst gefunden. Und jetzt erst durfte, konnte sie an diesem Punkt nicht stehen bleiben. Gerade das Moment der ›Brechung‹, um es akademischer Erstarrung zu entziehen, galt es – und gilt es heute – seinerseits zu reflektieren« (ebd.). Es liegt auf der Hand, dass die Neue Musik an Punkten wie diesem Bündnisse mit anderen Kunstformen anstrebt (und auch eingeht), die ihrerseits kritisch weltbezogene Potenziale aufweisen. Der Aspekt der Brechung, der in Lachenmanns Stellungnahme aufscheint, ist nach diesem Verständnis ein durchaus zentraler für die Identität Neuer Musik, dies freilich im Bewusstsein, dass er ein Wesensmerkmal auch von vieler Musik früherer Zeiten ist. Gerade Beethoven, der nach Darstellung Strawinskys »all unsere Maßstäbe über den Haufen« warf (zit. nach Fiebig 1993, 284) kann dafür ein wichtiger Orientierungspunkt sein (Ä ThemenBeitrag 4, 2., 3.). Und dabei geht es an Punkten wie diesen besonders um die Tendenz bzw. Intention von Neuer Musik, die Wahrnehmung der Hörenden fürs Nichtgewöhnliche zu stimulieren (Ä Wahrnehmung, 3.), was im Rekurs etwa auch auf die Körperdiskurse der Neuen Musik zu sehen ist (Ä Körper). Stärker als in früheren Zeiten ist dabei heute auch in der »Szene« der Neuen Musik das Bewusstsein dafür präsent, dass es neben dem Feld der Neuen Musik auch völlig andere Segmente der musikalischen Gegenwartsmusik gibt – namentlich das weite und vielfältig verzweigte der Popmusik. Dieses wird nach heutigem Verständnis nicht mehr, wie dies in der Philosophie Adornos und für manche von Adornos Generationsgenossen noch selbstverständlich war, pauschal gering geschätzt. Inwieweit auf eine Liaison mit diesem Bereich hinzuarbeiten ist, wird von Komponistinnen und Komponisten des 20. und 21. Jh. indes unterschiedlich beurteilt  – wobei es in der Neuen Musik der letzten 10 bis 15 Jahre eine deutliche Tendenz zur kreativen Nutzung der Potenziale und Strategien 442 populärer Musikformen gibt (Hiekel 2013; Ä Pop / Rock). Diese wird namentlich auch durch die verstärkte Einbeziehung digitaler Ä Medien beflügelt und dürfte dazu beitragen, dass sich im Feld der verschiedensten musikalischen Institutionen – und dabei wohl auch jenen der Neuen Musik – in den nächsten Jahren etliche Veränderungen ergeben (Lehmann 2012). Zum Diskurs über Neue Musik, der seit längerem den Schwerpunkt verschiedener Musikzeitschriften (auch etwa der einst von Robert Schumann gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik), einiger renommierter Buchreihen und nicht weniger regelmäßiger Tagungen bildet, gehören heute sehr unterschiedliche wissenschaftliche und ästhetische Fragestellungen bzw. Ansätze. Und doch kann man durchaus feststellen, dass sich an ihm heute (wie auch schon in früheren Zeiten, vgl. Oesch 1978) einstweilen nur eine begrenzte Zahl von Fachvertretern der Ä Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Ä Musiktheorie intensiv beteiligt. Das Klischee, dass die Neue Musik ihrerseits auf eine »Expertenkultur« (von der man sich mit guten Gründen fernhalten zu dürfen glaubt) ziele, scheint vor allem im Fachdiskurs noch immer eine gewisse Wirkungskraft zu besitzen. Ähnliches gilt überdies aber für die tendenziell konservative Ausbildung von Instrumentalstudierenden in ganz Europa (und auch darüber hinaus). Gewiss kann und sollte man die Relevanz und Nachdrücklichkeit der Auseinandersetzung mit Neuer Musik in keinem der drei genannten Bereiche unterschätzen (vgl. u. a. Scharenberg 2011; Lang 2013), und gerade in jüngerer Zeit sind verschiedenste früher vernachlässigte, wichtige Thematiken  – wie etwa die Wandlungen der Ä Wahrnehmung (Baumann 2013; Utz 2014), der Aspekt des Körperlichen (Drees 2011; Hiekel / Lessing 2014), Fragen der Klanggestaltung (Haselböck 2011; Decroupet 2012; Ä ThemenBeitrag 3) oder solche des differenzierten Verstehens von Neuer Musik (Wellmer 2009, 166–199; Hiekel 2012) vermehrt ins Blickfeld gerückt worden und auch bei verschiedenen Philosophen ist ein verstärktes Interesse an Neuer Musik zu beobachten (Ä Musikästhetik). Auch sind die einst von Stockhausen mit dem Ziel einer »schöpferischen Wissenschaft« vehement geforderten »engere[n] Kontakte zwischen Musikwissenschaft und Komposition« (zit. nach Oesch 1978, 15) mancherorts inzwischen tatsächlich vorhanden. Doch entgegen allzu optimistischen Einschätzungen lässt sich konstatieren, dass es starke antimoderne oder zumindest konservative (und »museale«) Tendenzen in allen drei Disziplinen seit jeher und gewiss auch in der Gegenwart gibt – nicht anders als im Musikleben selbst. Und es gibt bis in die Gegenwart hinreichend Gründe dafür, an die Forderung von Dahlhaus, dass die Wissenschaft mit der Neuen Musik »um nicht zu erstarren, in Wechsel- 443 beziehung stehen sollte« (1988/2001, 637), nachdrücklich zu erinnern. Und so lassen sich auch heute noch verschiedenste – zum Teil polemisch geführte  – Auseinandersetzungen über die Bedeutung, Notwendigkeit und Relevanz der Neuen Musik finden, in denen ihre (vermeintliche oder tatsächliche) »elitäre« Haltung zum Thema wird, von der schon im frühen 20. Jh. zuweilen die Rede war (Blumröder 1980/95, 302) und die auf einen Pluralismus der Musikproduktion deuten, der schon im 19. Jh. ausgeprägt war (Hiekel 2013). Nachklänge einer zum Ideologischen tendierenden Entschiedenheit, die im Schrifttum über Neue Musik gerade um 1950 zu finden war, kommen in manchen Schriften bis in die Gegenwart weiterhin zum Zuge (vgl. 5.). Diese Entschiedenheit (die zum Teil von Alleinvertretungsansprüchen geprägt war) kulminierte in Adornos in vieler Hinsicht einseitiger Philosophie der neuen Musik, aber auch in einzelnen Äußerungen aus der Feder von Komponisten (wie etwa Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen) und hatte hier gewiss etwas Zeitgebundenes. Andererseits kann man beobachten, dass in jüngerer Zeit verschiedenste Komponistinnen und Komponisten, die in ihren Ansätzen sehr deutliche Weltbezüge zu akzentuieren suchen, aus der Diskussion zum (vermeintlich oder tatsächlich) Elitären der heutigen Kunstmusik produktive Konsequenzen gezogen haben (Ä Themen-Beitrag 4). Bedenkt man allerdings, dass schon bei einem der ersten wichtigen Wortführer im Diskurs zur Neuen Musik, nämlich bei Paul Bekker, die stärkere Orientierung an anderen Kulturbereichen als eines ihrer Wesensmerkmale bezeichnet wurde (»Die Aufgabe liegt klar: […] Einschmelzen all dessen, was Literatur, bildende Kunst. Philosophie und Wissenschaft an neuen Ausdruckswerten kennengelernt hat«, Bekker 1917/21, 296), tritt die Notwendigkeit, die Entwicklung und Entfaltung der Neuen Musik des 20. und 21. Jh.s nicht isoliert oder aus äußerlichen Perspektiven, sondern im Kontext übergreifender ästhetischer Wandlungen und zugleich mit Blick auf ihre unterschiedlichen weltbezogenen Strategien und Akzentsetzungen zu beschreiben, umso nachdrücklicher hervor. Und wohl erst dann, wenn sich die genannten Fächer statt auf die Enge und den Habitus mancher Argumentationen stärker auf die Weite des künstlerischen Horizonts der Neuen Musik einlassen und damit auf die Werke selbst statt auf den Diskurs zu ihnen (der oft den Blick nicht erhellt, sondern verstellt), wird die tatsächliche Reichhaltigkeit des mit diesem Begriff bezeichneten musikalischen Feldes wirklich erfahrbar. Denn so deutlich wie für keine andere musikalische Epoche, Stilrichtung oder Konzeption von Musik gilt, dass die Neue Musik – schon den Singular könnte Neue Musik man obsolet nennen  – vielgestaltiger und pluralistischer ist, als es die Diskurse über sie zuweilen erahnen lassen. Ä Themen-Beitrag 4; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Globalisierung; Institutionen / Organisationen; Moderne; Musikhistoriographie; Musiksoziologie; Musiktheorie; Musikwissenschaft; Postmoderne; Zentren neuer Musik Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Das Altern der Neuen Musik [1956], in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (Gesammelte Schriften 14, 7–167), Frankfurt a. M. 1973, 143–167 „ ders.: Musik und neue Musik [1960], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 476–492 „ ders.: Strawinsky. Ein dialektisches Bild [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 382–409 (1962a) „ ders.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 492–540 (1962b) „ Ballstadt, Andreas: Wege zur Neuen Musik. 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Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 52), Mainz 2012 „ ders.: Ist Versöhnen das Ziel? Zum Spannungsfeld zwischen »Populärem« und »Elitärem« in der heutigen Musik, in: Populär vs. Elitär? Wertvorstellungen und Popularisierungen der Musik heute, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2013, 9–22 „ Hiekel, Jörn Peter / Lessing, Wolfgang (Hrsg.): Verkörperungen der Musik. Interdisziplinäre Betrachtungen, Bielefeld 2014 „ Kovács, Inge: Die Ferienkurse als Schauplatz der Ost-West-Konfrontation, in: Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt 1946–1966, Bd. 2, hrsg. v. Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg 1997, 116–139 „ Kraut, Peter: Kunstmusik, Sounddesign und Popkultur. Zugänge zur zeitgenössischen Musik, Saarbrücken 2011 „ Lachenmann, Helmut: »East meets West?  – West eats Meat« … oder das Crescendo des Bolero. Materialien, Notizen und Gedankenspiele, in: Musik-Kulturen. Texte der 43. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 2006, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Saarbrücken 2008, 84–98 „ Lang, Benjamin (Hrsg.): Ganz Ohr? Neue Musik in der Gehörbildung, Regensburg 2013 „ Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012 „ Linke, Karl: Zur Einführung, in: Arnold Schönberg, hrsg. v. Karl Linke, München 1912, 13–21 „ Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik: Entwurf einer Musik des 21. Jh. Eine Streitschrift, Kassel 1998 „ Mersmann, Hans / Schultze-Ritter, Hans / Strobel, Heinrich: Zur Soziologie der Musik, in: Melos 7 (1928), 598–600 „ Metzger, Heinz Klaus: Das Altern der Philosophie der neuen Musik, in: die reihe 4 (1958), 64–80 „ Meyer, Andreas: Volkstümlich – primitiv – populär. Neue Musik als musikalische Anthropologie, in: Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik, hrsg. v. Andreas Meyer, Mainz 2011, 11–40 „ Mosch, Ulrich: Musikalisches Hören serieller Musik. 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Condat 445 1988) auszubilden – seit der Antike nicht in Vergessenheit geraten waren, entwickelt sich ein neues Interesse an Architektur und Raum verstärkt erst in jenen Tendenzen der neueren Musik, in denen Musik nicht mehr ausschließlich als Zeitkunst verstanden wurde (Ä Zeit). Dabei ging vor allem die Suche nach neuen Formen in der Musik seit den 1960er Jahren mit einer Orientierung an zeitgenössischen architektonischen Formkonzeptionen einher. Die Ideen und Gebäude von Architekten wie Frank Lloyd Wright, Le Corbusier oder Richard Buckminster Fuller etwa regten auch in der Musik neue Formvorstellungen an. Anknüpfend an innovative Raumvisionen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, etwa im Futurismus oder in der Bauhauskunst, setzten Le Corbusier, Iannis Xenakis und Edgard Varèse mit dem Poème électronique (1957–58) bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel einen wichtigen Impuls, indem Klang in den architektonischen Raum projiziert wurde (Treib / Felciano 1996; Lukes 1996; Bienz 1999; Sterken 2007). Die Positionierung und Bewegung von Klängen im Raum sowie die klangliche Veränderung und Gestaltung von Räumen waren damit zu kompositorischen Herausforderungen geworden. Henry Brant hatte bereits zu Beginn der 1950er Jahre in seiner »spatial music« mit der räumlichen Verteilung von Instrumentalgruppen gearbeitet (Brant 1967/78), doch erst mit der Nutzung von Elektroakustik und mit der Entwicklung der digitalen Technologie konnten Klänge unabhängig von der Klangproduktion neue Symbiosen mit dem architektonischen Raum eingehen. Zeigte sich bei Xenakis eine Verschränkung von Berechnungen und Kalkulationen von Klangverläufen mit konkreten architektonischen Bauformen, etwa im Orchesterwerk Metastaseis (1953–54; Baltensperger 1996), verlegte sich Karlheinz Stockhausen zunächst auf die Bestimmung und Kontrolle von Tonorten und Klangbewegungen sowie auf die Schaffung von Raumkompositionen wie Gruppen für drei Orchester (1955–57) oder Carré für vier Orchester und vier Chöre (1959–60) (Stockhausen 1958; Nauck 1997). Sein Interesse an Architektur war verbunden mit der Idee eines Kugelauditoriums, das der Berliner Architekt Fritz Bornemann schließlich 1970 für die Weltausstellung in Osaka als Raumkonstruktion aus Stahlrohren realisierte. Einen ideellen Zugang zur Architektur komponierte Luigi Nono 1984 in seiner Hommage A Carlo Scarpa architetto, ai suoi infiniti possibili per orchestra a microintervalli (Drees 1998). Die Metapher »Architektur als gefrorene Musik« bildete umgekehrt auch für Architekten eine Anregung, sich bei baulichen Konzepten an musikalischen Formen, Strukturen und Ä Notationen zu orientieren. Peter Cook etwa hat in Bloch City (1983) die Notation von Ernst Neue Musik und Architektur Blochs Violinkonzert in eine städtebauliche Struktur zu übersetzen versucht (Müller / Jedelhauser 2007, 45). Ein weites Feld der Verknüpfungen von Musik und Architektur eröffnete sich mit der Entstehung von ortsund raumspezifischer Ä Klangkunst und mit der Entwicklung von auditiver Architektur (La Motte-Haber 1999). Bei installativer Klangkunst wird in der Regel auf Raumkomponenten von Gebäuden oder im öffentlichen Raum auf vorhandene städtebauliche Strukturen Bezug genommen. Christina Kubisch oder Hans Peter Kuhn etwa setzen klangliche Interventionen in Räumen, mit denen bestimmte Elemente unterstrichen oder verändert werden, wobei auch Licht und Farbe hinzutreten. Sabine Schäfer und Joachim Krebs entwickelten »Topophonien«, um durch Klangbewegungen in Räumen die Dimensionen der Innenarchitektur hörbar zu machen. Der Architekt und Klangkünstler Bernhard Leitner gestaltet in Objekten mit Tonfeldern, Tonpunkten oder Tonverläufen architektonische Klangräume. In der auditiven Architektur wird angestrebt, bei Bauvorhaben das klangliche Umfeld mitzuplanen (Arteaga / Kusitzky 2008). Am Centre de Recherche sur l’Espace Sonore in Grenoble wird der Zusammenhang von Architektur und Klangumgebung erforscht. Ä Themen-Beitrag 6; Elektronische Musik / Elektroakustische Musik / Computermusik; Klangkunst; Neue Musik und bildende Kunst Arteaga, Alex / Kusitzky, Thomas: Klangumwelten. Auditive Architektur als Artistic Research, in: Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, hrsg. v. Holger Schulze, Bielefeld 2008, 249–267 „ Baltensperger, André: Iannis Xenakis und die stochastische Musik. Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik, Bern 1996 „ Bienz, Peter: Le Corbusier und die Musik, Braunschweig 1999 „ Brant, Henry: Space as an Essential Aspect of Musical Composition [1965], in: Contemporary Composers on Contemporary Music, hrsg. v. Elliott Schwartz und Barney Childs, New York Reprint 1978, 223–242 „ Brüstle, Christa: Form – Raum – Situation. Zum Verhältnis von Musik und Architektur, in: Neue Musik und andere Künste (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 50), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2010, 145–158 „ Condat, Jean-Bernard (Hrsg.): Nombre d ’ or et musique / Goldener Schnitt und Musik / Golden Section and Music, Frankfurt a. M. 1988 „ Drees, Stefan: Architektur und Fragment. Studien zu späten Kompositionen Luigi Nonos, Saarbrücken 1998 „ Hochschule der Künste Berlin (Hrsg.): Komposition  – Konstruktion, Berlin 2000 „ La Motte-Haber, Helga de (Hrsg.): Klangkunst. Tönende Objekte und klingende Räume (HbM20Jh 12), Laaber 1999 „ Lammert, Angela (Hrsg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Nürnberg 2006 „ Lukes, Roberta D.: The »Poème électronique« of Edgard Varèse, Dissertation, Harvard University, Cambridge MA 1996 „ Metzger, Christoph (Hrsg.): Musik und Architektur, Saarbrücken 2003 „ Muecke, Literatur 446 Neue Musik und bildende Kunst Mikesch W. / Zach, Miriam S.: Resonance. Essays on the Intersection of Music and Architecture, Ames 2007 „ Müller, Christian Z. / Jedelhauser, Julia: Musik und Architektur  – ein Vergleich, Norderstedt 2007 „ Nauck, Gisela: Musik im Raum – Raum in der Musik (BzAfMw 38), Stuttgart 1997 „ Saleh Pascha, Khaled: »Gefrorene Musik«. Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie, Dissertation, TU Berlin 2004 „ Sterken, Sven: Music as an Art of Space. Interactions between Music and Architecture in the Work of Iannis Xenakis, in: Resonance. Essays on the Intersection of Music and Architecture, hrsg. v. Mikesch W. Muecke und Miriam S. Zach, Ames 2007, 21–51 „ Stockhausen, Karlheinz: Musik im Raum [1958], in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. v. Dieter Schnebel, Köln 1963, 152–175 „ Treib, Marc / Felciano, Richard: Space Calculated in Seconds. The Philips Pavilion, Le Corbusier, Edgard Varèse, Princeton NJ 1996 Christa Brüstle Neue Musik und bildende Kunst Inhalt: 1. Spurensuche  „ 2. Doppelbegabungen 3. Bildende Kunst als umfassende Inspirationsquelle  „ 4. Beispiele für Parallelen  „ 5. Alternative Zeitgestaltung  „ 6. Experimentelle Ansätze 1. Spurensuche Die Möglichkeit substanzieller ästhetischer Verknüpfungen von Musik und bildender Kunst verweist spätestens seit der Zeit von Robert Schumann – der Musikern eine Auseinandersetzung mit Raffael und Malern eine Beschäftigung mit Mozart anriet (Schumann 1834/1914, 26)  – auf das Selbstverständnis vieler Komponistinnen und Komponisten. Dabei liegt es auf der Hand, dass dieses Selbstverständnis im Feld der Neuen Musik besondere Relevanz besitzt. Ist man sich bei der Suche nach Parallelen der Gefahr von Simplifizierungen hinreichend bewusst, lassen sich durch den Blick auf Techniken oder künstlerische Strategien der bildenden Kunst gewiss auch bestimmte originelle Ansätze von Komponisten besser verstehen als ausschließlich im Rahmen der Musikgeschichte  – was vielfältige »Kreuz- und Quergänge durch die Moderne« (Rautmann / Schalz 1998) geradezu nahelegt. Etwas zugespitzt kann mit Blick auf die Musik nach 1945 sogar behauptet werden, dass es in diesem Rahmen kaum Komponistinnen und Komponisten gibt, die sich nicht in irgendeiner Weise mit bildender Kunst auseinandersetzen und von ihr Impulse zu erhalten suchen. Die entscheidenden Fragen bei der Suche nach Querbezügen lauten allerdings, (1) inwieweit diese Auseinandersetzungen auf spezifische kompositorische Ansätze deuten, die ohne Inspirationen durch bildende Kunst kaum denkbar gewesen wären, und (2) inwieweit sie sogar eine integrale Einbeziehung bildkünstlerischer Elemente mit einschließen. Zum Rekurs auf die bildenden Künste zählt, ähnlich wie bei jenem auf Literatur, gewiss oft eine »eklektische« Seite  – wobei es für einen angemessenen Diskurs der Wechselwirkungen hilfreich ist, diesen Begriff ohne jede Wertung zu verwenden und auch die Kategorie des produktiven Missverständnisses oder sogar die Tradition des »misreading« zu berücksichtigen. Die wohl prominentesten Beispiele für Wechselbezüge zwischen Neuer Musik und bildender Kunst aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s sind Alexander Skrjabin, der von der Idee beflügelt war, Klang und Farbe unmittelbar aufeinander zu beziehen, Claude Debussy, dessen gut dokumentiertes Interesse für den Nachbarbereich mit evidenten ästhetischen Parallelen zum Schaffen verschiedener Maler einhergeht, sowie Arnold Schönberg, der selbst malte und mit Wassily Kandinsky einige kulturhistorisch überaus bedeutsame Briefe wechselte, die vom jeweiligen Aufbruch zu neuen künstlerischen Ufern handeln (Schönberg / Kandinsky 1999; Maur 1985; Meyer 2000). Auf der Hand liegt im Falle von Schönberg und Kandinsky, worin die eigentliche Gemeinsamkeit des jeweiligen Aufbruchs gesehen werden konnte: in der jeweiligen Überwindung einer grundlegenden, mit gestalterischen Selbstverständlichkeiten wie Wahrnehmungsgewohnheiten verbundenen Prägung (jener der Tonalität bei Schönberg, jener der Gegenständlichkeit bei Kandinsky). Die Einsicht in solche Zusammenhänge veranlasste Theodor W. Adorno in seinem Text Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei zu der These, dass eine plausible Konvergenz der Künste sogar nur dann möglich sei, wenn jede einzelne Kunst sich auf ihr eigenes Medium einlässt – für Musik bedeute dies, »dass sie […] nicht identitätswütig ihr Anderes verkennen« dürfe (Adorno 1965/78, 631). Gewiss trugen Evidenz und Relevanz der (bereits häufiger in Ausstellungen dokumentierten) Querbezüge zum Nachbarbereich, die sich vor allem im Falle der Musik von Debussy und Schönberg abzeichnen, dazu bei, dass sich bis heute immer wieder Komponistinnen und Komponisten von der bildenden Kunst inspirieren lassen. Parallelen zwischen Musik und Malerei können dabei, wie besonders das Beispiel Schönberg zeigt, gewiss auch dann substanziell sein, wenn die Grundsituation des klassischen Ä Konzerts unangetastet bleibt. Dies heißt, dass der Punkt der Vergleichbarkeit Aspekte der Ä Struktur (namentlich der Gestaltung von Ä Form oder Ä Zeit) oder zentrale Fragen der Ästhetik betrifft, aber nicht unbedingt die Präsentationsform. Vielfältige Parallelen zwischen Neuer Musik und bildender Kunst lassen sich überdies aber auch mit Blick auf 447 jene Segmente der Musikkultur benennen, die von experimentellen und den klassischen Konzertsaal bewusst übersteigenden Ansätzen bestimmt sind. Zu nennen sind hier als zu unterscheidende, wenn auch manchmal sich überschneidende Teilgebiete (1) die Ä Klangkunst, (2) das (nachfolgend nicht ausführlich behandelte) Feld der audiovisuellen Musik (Daniels / Naumann 2010; Ä Intermedialität); (3) multimediale Arbeiten, die außer auf Instrumentalisten bzw. Vokalisten auch auf Videoprojektionen zurückgreifen und diese zumeist im Raum (etwa im Konzertsaal) staffeln und dabei einen bildkünstlerischen Anteil aufweisen (Ä Film / Video); (4) Ansätze, die unter dem Begriff der Ä Konzeptuellen Musik diskutiert werden können und häufig Impulse der Concept Art aufgreifen. Neben den genannten Wechselwirkungen, die im Folgenden noch weiter zu spezifizieren sind und die trotz einzelner Einzelstudien bislang noch ein Desiderat der Forschung darstellen – Ausnahmen bilden vor allem die Klangkunst (vgl. La Motte-Haber 1999; Tadday 2008, Straebel 2010) oder die experimentelle US-amerikanische Musik (vgl. La Motte-Haber 1990, 223–249) – umfasst das vorliegende Thema gewiss noch weitere Perspektiven. Genannt seien hier nur der Bereich der Doppelbegabungen (vgl. 2.) sowie jenes Feld der direkten Kooperation, für das Künstler verschiedener Bereich transdisziplinäre Arbeitsbündnisse schließen – bei denen es problematisch wäre, die bildnerische Seite nur als Inszenierung der musikalischen zu sehen. Für die Rezeption von Musik, die mit anderen Künsten eine Liaison eingeht, lassen sich, grob gesagt, zwei unterschiedliche Perspektiven benennen: (1) die aus dem Bezug zu anderen Künsten resultierenden Verbreiterungen der Gestaltungsmöglichkeiten, aber zugleich des Erfahrungsund Verstehenshorizonts eines Kunstwerks; (2) Projekte, deren intermediale Dimensionen auch bei deren Wahrnehmung und Deutung nicht voneinander abzulösen sind. Keiner der explizit im Zwischenbereich von Musik und bildender Kunst angesiedelten Arbeiten etwa im Feld der Klangkunst würde man gerecht werden, wollte man bloß ihre akustische oder bloß ihre visuelle Dimension rezipieren. In wachsendem Maße gilt Vergleichbares (vor allem in jüngerer Zeit) aber auch für Werke für den Konzertsaal. Ein Beispiel dafür ist die Farb-Raum-Komposition Hyperion (2006) von Georg Friedrich Haas (in Kooperation mit der Künstlerin rosalie), die im Untertitel ausdrücklich »Konzert für Licht und Orchester« heißt (weil sich die musikalischen Aktionen der Orchestermusiker eng auf die Lichtgestaltungen beziehen) und die sich ästhetisch erkennbar in der Nachfolge von Ivan Wyschnegradsky bewegt (Ä Synästhesie). Neue Musik und bildende Kunst 2. Doppelbegabungen Für das weite Feld von Doppelbegabungen, das in jüngerer Zeit gelegentlich ins Blickfeld geriet (Köhler / Künzig 2014) und für das ja gerade Schönberg ein bekanntes Beispiel darstellt, gilt die erwähnte Frage nach dem jeweils Spezifischen in besonderem Maße. Klarer auf der Hand liegt die Tatsache, dass die Tätigkeit als bildender Künstler bei nicht wenigen Komponisten weit mehr als marginal ist. Enorm ist die Produktivität etwa bei Friedrich Cerha (dessen bildnerisches Werk ungefähr 900 Werke in unterschiedlichsten Materialien umfasst), aber auch bei Chris Newman, Gerald Eckert (Eckert 2006) oder Knut Müller (für die das Schaffen in diesem Nachbarbereich sogar gleichberechtigt ist). Oft ist nicht leicht zu sagen, in welchem Maße die Berücksichtigung der Tätigkeit als Maler, die verschiedenste Komponistinnen oder Komponisten gleichsam »nebenbei« ausüben, für das Verständnis ihrer Werke hilfreich ist. In manchen Fällen, etwa bei Brian Ferneyhough oder Adriana Hölszky, liegt es zumindest nahe, die »polyphone« Vielschichtigkeit der regelmäßig entstehenden Bildwerke in Analogie zu einer Grundeigenschaft des kompositorischen Schaffens zu sehen (bei Ferneyhough kann man zur Beschreibung wesentlicher Merkmale seiner Computergraphiken gewiss von Ä Komplexität sprechen). Im Falle der bildnerischen Werke etwa von Pascal Dusapin erscheint eine solche Parallelisierbarkeit weniger gegeben zu sein. Freilich gehört Dusapin zu jener wachsenden Zahl von Komponistinnen und Komponisten, die außer traditionellen musikalischen Situationen auch Klanginstallationen (etwa Mille plateaux, 2014) schaffen  – und in diesem künstlerischen Feld ist eine Mehrfachbegabung zweifellos eine conditio sine qua non. Doch auch über diesen Bereich hinaus lautet eine naheliegende Frage, inwieweit Doppelbegabungen auf Projekte mit intermedialer Tendenz hinauslaufen. Es gibt in den letzten Jahrzehnten, trotz mancher konservativer, auf Trennung der Medien bedachter Tendenzen des Musikbetriebs, einige Komponisten, die diese Trennung dergestalt durchbrechen, dass sie bildkünstlerische Elemente in integraler Weise in ihre Kompositionen aufnehmen. Dafür stehen etwa Teile des Schaffens von Chris Newman. In Explanation for video, painting installation with string quartet (2014) etwa wird ein Streichquartett (dessen klassische Aura durch die Verwendung von Zitationen aus Musik früherer Zeiten unterstrichen wird) mit einer »painting installation« (einer mit malerischen Mitteln gestalteten Rauminstallation) sowie Filmsequenzen (ebenfalls mit vorgefundenem Material) kontrapunktiert. Zu nennen sind hier aber auch Manos Tsangaris, dessen Musiktheaterwerke inszenatorische Elemente mit skulpturalen Ei- Neue Musik und bildende Kunst genschaften aufweisen und in dessen Schaffen sich immer wieder installative Projekte finden, sowie François Sarhan, der im Anschluss an eine enge künstlerische Kooperation mit William Kentridge und deutlich inspiriert von diesem Bildwerke im Zwischenbereich von Realismus und Surrealismus schuf und diese auch zuweilen mit den eigenen musikalischen Arbeiten verschränkt (ebd., 112–115) Inspirierend dürfte bei Komponisten wie diesen  – und erst recht für den Bereich der Klanginstallationen – die grenzüberschreitende Tendenz im Schaffen von John Cage gewirkt haben. Gilt doch auch Cage heute als Inbegriff einer künstlerischen Doppel- bzw. Mehrfachbegabung. Man gelangt gerade an diesem Punkte, denkbar weit über eine bloß »private« Neigung hinaus, zu einem integralen Faktor seiner Ästhetik (Stoss 1991; Herzogenrath / Nierhoff-Wielk 2012). Und man kann sogar behaupten, dass Cage sozusagen »mit einem Bein« auch im Bereich der bildenden Künste angesiedelt ist (und in diesem auch so stark wahrgenommen wird wie kaum ein anderer Komponist des 20. Jh.s). Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass er stark in ein Feld von höchst produktiven Wechselwirkungen eingebunden war. Sein Schaffen war von Persönlichkeiten wie etwa Marcel Duchamp, Richard Buckminster Fuller, Morris Graves, Nam June Paik, Robert Rauschenberg, Mark Tobey nachdrücklich beeinflusst. (Bemerkenswert ist allerdings auch, dass Cage bereits lange zuvor mit dem Werk der europäischen klassischen Moderne befasst war; im Jahr 1939 etwa organisierte er Ausstellungen von Werken Paul Klees, Alexej von Jawlenskys und Wassily Kandinskys.) 3. Bildende Kunst als umfassende Inspirationsquelle Jede Spurensuche im vorliegenden Themenfeld hat sich selbst bei substanziellen und dokumentierbaren Bezügen dessen bewusst zu sein, dass Analogiebildungen nicht selten im Ungefähren verbleiben. Eine distinkte »Übersetzung« von Techniken oder künstlerischen Strategien einer Kunst in die einer anderen ist oft unmöglich (Ä Intermedialität), obwohl seit langem oft (und manchmal in durchaus plausibler Weise) vom »Klang der Bilder« (Maur 1985) die Rede ist. Der Maler Paul Klee, der selbst als Musiker aktiv war und der schon seit längerem für viele ein Inbegriff der Möglichkeit zur Verknüpfung zwischen beiden Bereichen ist, äußerte im Jahr 1905 sogar: »Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf. Doch will keine Analyse gelingen« (Klee 1976, 187). Ob Klees Diagnose immer noch gilt, darf selbst dann bezweifelt werden, wenn man konzediert, dass wenige Betrachtungen von Parallelen tatsächlich ins SubstanziellAnalytische reichen (Hiekel 2010). 448 Dabei hat Klee selbst mit seinen Werken, aber wohl vor allem mit seinen Schriften über Kunst einen gewissen Anteil an der Aufbruchssituation der Neuen Musik der 1950er Jahre gehabt. War doch seine Schrift Das bildnerische Denken (Klee 1956, vgl. Wedekind 2014) vor allem für einen der damaligen Protagonisten, nämlich Pierre Boulez (der sie von Karlheinz Stockhausen erhielt), ein wesentlicher Faktor der »ästhetischen Orientierung« (Boulez 1985/89, 2010). Boulez ’ viel diskutiertes Werk Structures I für zwei Klaviere (1951) sollte ursprünglich sogar einen auf Klee (und dessen Bild Monument an der Grenze des Fruchtlandes, 1928–29) verweisenden Titel tragen (Wedekind i.V., 41). Zum Teil deutlich abweichend von Klees eigenen Auffassungen extrahierte Boulez aus der genannten Schrift eine Gegensätzlichkeit von Emotionalität und Rationalität, die für sein eigenes Schaffen bedeutsam wurde. Womöglich gelang ihm »der Durchbruch und die Loslösung von streng mathematischen Ordnungsstrategien nur mittels seiner intensiven Befassung mit Paul Klee« (Zenck i.V.). Gewiss aber hat sie ihn dazu inspiriert oder zumindest darin bestärkt, in seinen Werken ein strenges Strukturdenken mit gegenläufigen poetischen Elementen zu verschränken – das also, was einen ästhetischen Kernpunkt der Ä seriellen Musik ausmachte. Gerade in dieser Perspektive kann man davon ausgehen, dass das tiefe Interesse von Boulez für Klee für viele Komponisten, die seit den 1950er Jahren von ähnlichen ästhetischen Grundfragen tangiert waren, überaus inspirierend gewesen ist (auch bei Bernd Alois Zimmermann etwa lässt sich eine Auseinandersetzung mit Klee nachweisen). In gewissem Maße gilt Vergleichbares wohl auch für Wassily Kandinsky und Friedrich Wilhelm [Willi] Baumeister (dessen 1947 publizierte Schrift Das Unbekannte in der Kunst, gerichtet auf den Aspekt des Numinosen in der abstrakten Kunst, zumindest im deutschsprachigen Bereich von einigen Komponisten rezipiert wurde). Ging es schon Klee bei seinem  – offenbar von Kandinsky inspirierten  – Begriff der »polyphonen Malerei« darum, mithilfe der Orientierung am anderen künstlerischen Medium eine neue, von alten Zwängen unabhängige Entwicklung zu festigen und zu legitimieren, so markiert das umgekehrte Verfahren auch bei verschiedensten Komponisten des 20. und 21. Jh.s ein Grundmotiv des intensiven Interesses für bildende Kunst, das immer wieder über die äußerliche Bezugnahme auf ein Bildsujet entschieden hinausreicht (obschon diese natürlich auch weiterhin eine künstlerische Option bleibt). Für die weitaus meisten Komponistinnen und Komponisten Neuer Musik kann wohl gelten, dass die Überwindung jener Hierarchiebildungen, die mit der traditionellen Tonalität verbunden waren, gleichsam Räume 449 öffnet für andere Aspekte des Bildlichen. Ein mehr als oberflächliches Interesse für Strategien und ästhetische Aspekte aus dem überaus präsenten Bereich der bildenden Kunst hängt insofern auch immer wieder mit dem Kerngedanken zusammen, mit diesen neu eröffneten Räumen in spezifischer Weise umzugehen. Eine Grundfrage lautet dennoch oft, was mit der produktionsästhetischen Tatsache, dass es bestimmte Inspirationen gab, für die Ä Rezeption der betreffenden Werke gewonnen ist. Eher akzidentielle oder anekdotische sind daher von substanziellen Bezügen zu unterscheiden  – selbst wenn zu konzedieren ist, dass die Grenzen zwischen beiden oft verwischen. Einzelne Beispiele, bei denen eine substanzielle Seite mit unterschiedlicher Deutlichkeit aufscheint, mögen dies veranschaulichen. 4. Beispiele für Parallelen Wenn György Ligeti zu seinem Orchesterwerk Lontano (1967) anmerkte, dass er beim Hören dieses Werkes an einer Stelle (T. 145–148) an Albrecht Altdorfers berühmtes Gemälde Die Alexanderschlacht (1529) denken müsse (»In diesem Augenblick, wenn das hohe dis als konzentriertes Bündel dieses musikalischen Strahles da ist, tut sich plötzlich irgendein Abgrund, eine Riesenentfernung, ein Loch durch die Musik hindurch, auf. Ich habe in diesem Augenblick unwillkürlich Assoziationen an das wunderbare Bild von Altdorfer […], wo die Wolken – diese blauen Wolken  – aufreißen, dahinter gibt es einen goldenen Lichtstrahl der Abendsonne, die durchscheint«; Häusler 1971, 126), so erscheint dieser Hinweis gemeinsam mit den von ihm ebenfalls erwähnten Parallelen mit M.C. Escher und Giovanni Battista Piranesi (konkret zu dessen Zyklus Carceri, 1745–50) hilfreich. Er könnte über die sich andeutenden zunächst unspezifischen strukturellen Verbindungen hinaus zumindest der Vermittlung dieser Musik dienen (Bullerjahn 1989)  – und zwar nicht bloß des in Rede stehenden Stückes, sondern auch verwandter Werke, illustriert er doch, dass Ligetis Klangflächen keine abstrakten Schichtungen ohne jeden Weltbezug sind (Rathert 2010). Entsprechendes lässt sich mit Blick auf den Bezug zu dem Pieter Bruegel dem Älteren zugeschriebenen Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (ca. 1555–68) sagen, den Ferneyhough in La chute d’Icare für Klarinette und Ensemble (1987–88) verankerte, was angesichts der Entfaltung immenser Energien in diesem komplexen Stück überaus plausibel erscheint. In vergleichbarer Weise, wiederum durch einen Werktitel ins Blickfeld gerückt, besteht ein Bezug zwischen Ferneyhoughs dreiteiligem Zyklus Carceri d’Invenzione (1981–86) und dem eben erwähnten Kupferstich-Zyklus von Piranesi, in dem außer- Neue Musik und bildende Kunst gewöhnliche architektonische Phantasien zur Entfaltung kommen (Paetzold 2010, 301–328). Ein prominentes Beispiel für eine zeitweilig enge und produktive Verbindung zwischen einem Komponisten und einem bildenden Künstler ist die zwischen Luigi Nono und Emilio Vedova. Diese liegt erstens in der Wahl der weltbezogenen Titel (Vedova thematisierte etwa die brutale Gewalt in Konzentrationslagern), zweitens in der Idee der konsequenten Erweiterung der ästhetischen Mittel mit dem (von beiden auch politisch verstandenen) Ziel der Schärfung der Wahrnehmung, aber drittens überdies in einer Kooperation bei der »azione scenica« Intolleranza 1960 (1960–61), für die Vedova ein hochkomplexes Projektionssystem entwickelte, durch die das Publikum (der Uraufführung und auch einer der späteren Produktionen) zu einem Teil der Handlung wurde. In seinem Tonbandstück Omaggio a Vedova (1960) suchte Nono überdies die Ästhetik des befreundeten Malers zu reflektieren. Die Idee einer musikalischen Hommage für einen Maler findet sich in vergleichbarer Weise auch in zahlreichen anderen Werken realisiert. Sie markiert einen der maßgeblichen Aspekte im Schaffen etwa von Morton Feldman und besonders von Hugues Dufourt (der sich vor allem auf Maler früherer Zeiten wie namentlich Giovanni Battista Tiepolo konzentriert und dabei in spezifischer Weise deren Strategien zu transformieren sucht). Aber sie kommt etwa auch in einzelnen Projekten zum Ausdruck, in denen unterschiedliche Komponistinnen und Komponisten damit beauftragt werden, auf Malerei zu reagieren. So schrieben etwa Volker Blumenthaler, Clemens Gadenstätter, Detlev Heusinger, Elena Mendoza und José Maria Sánchez-Verdú Werke für Gitarre, die sich auf Radierungen Francisco de Goyas beziehen (auf denselben Maler rekurrieren u. a. auch Hans Werner Henze in seiner Fantasia per orchestra Los Caprichos, 1963, sowie Manuel Hidalgo in seinem Werk Desastres de la guerra für Sopran und Ensemble, 1996, das im Titel schlicht »Begleitmusik« genannt wird). Hommagecharakter besitzen in gewissem Maße auch die zweiteiligen Museumsstücke für bewegliche Stimmen und Instrumente (Teil 1 1992–92, Teil 2 1994–95) von Dieter Schnebel, in denen nun aber die Perspektiven geweitet werden. Dies geschieht dadurch, dass wechselnde Adressaten – wie etwa Marcel Duchamp, Yves Klein, Anselm Kiefer oder Mark Rothko – fokussiert werden und im Rekurs auf wechselnde Bildtypen und Gattungen gerade die Mannigfaltigkeit der modernen Kunst und der durch sie stimulierten künstlerischen Wahrnehmung unterstrichen wird. Parallelen zwischen Werken der bildenden Künste und Musikwerken lassen sich im 20. und 21. Jh. mehr als in früheren Zeiten oft anhand der Techniken und Entste- Neue Musik und bildende Kunst hungsprozesse betrachten. Ein Komponist, für den dies besonders gilt, ist Wolfgang Rihm. Zu den nicht wenigen Künstlern, die für ihn inspirierend gewesen sind, gehört vor allem der Maler und Bildhauer Kurt Kocherscheidt, dies wohl nicht zuletzt mit Blick auf Atmosphäre und Grundstimmung der Werke. Der Komponist selbst betonte, er verdanke »der sinnlichen Ungefälligkeit und dunklen Schönheit vieler seiner [Kocherscheidts] Arbeiten enorme Impulse« (Rihm 1997, 405). Doch noch wichtiger im Vorliegenden erscheint die Tatsache, dass Rihm selbst im Reden über seine Musik und deren Entstehung gern auf Begriffe und Metaphern aus dem künstlerischen Nachbarbereich zurückgreift und sein Komponieren als ein skulpturales auffasst. Auf den Kern von Rihms Ästhetik verweist dabei namentlich auch die häufig ins Spiel gebrachte Metaphorik des »Übermalens«. Dieser Begriff wird in der Sekundärliteratur über Rihm wie auch von diesem selbst oft mit Blick auf den Maler Arnulf Rainer verwendet (Brügge 2013). Er meint in Rihms Schaffen (vgl. etwa den Werkzyklus Jagden und Formen für Orchester, 1995–2001) das verändernde Wiederaufgreifen von früheren Werken und damit auch Prozesse der Proliferationen und Verdichtung (zum Teil vergleichbar mit ähnlichen Prozessen bei Boulez). Wichtig indes erscheint auch Rihms eigener Hinweis auf das Musikspezifische seines Ansatzes: »Der Unterschied zur bildenden Kunst: Der alte Zustand bleibt als Musik neben dem neuen erhalten. Die übermalte BildFläche ergibt ein neues Ganzes, in welchem der frühere Zustand verschwunden ist. In der Musik könnte man jederzeit beide Zustände nebeneinander aufführen. Genau damit arbeite ich auch. Die jeweiligen Stadien erklingen so z. B. jeweils neu übermalt – danach könnte die klangliche ›Übermalung‹ als Schicht ihrerseits Gegenstand einer Übermalung einer Überschreibung werden; […] und so fort« (zit. nach ebd., 188). Der Begriff »Übermalung«, der auf eine im 20. und 21. Jh. in der bildenden Kunst gängige Strategie deutet, kann natürlich auch für verschiedenste andere Komponistinnen und Komponisten in Anschlag gebracht werden (Rautmann / Schalz 1998, 450–485). Dies gilt namentlich etwa für Heinz Holliger und sein Werk Gesänge der Frühe (nach Schumann und Hölderlin) für Chor, Orchester und Tonband (1987), für Rolf Riehm und sein Orchesterwerk He, tres doulz roussignol joly (1977–78/83), für Mathias Spahlinger und sein Werk adieu m ’ amour, hommage à guillaume dufay für violine und violoncello (1982–83) sowie für Adriana Hölszkys Hängebrücken. Streichquartett an Schubert (1989–90). Hölszky, die auch insgesamt sehr stark von bildlichen Vorstellungen beim Komponieren ausgeht, hat die »Übermalung« im zuletzt genannten Werk so angelegt, dass sie einerseits eine Vielfalt von 450 Gesten, die auf Schubert und Niccolò Paganini verweisen, in ein komplexes Gefüge einbindet, dass sie andererseits aber auch noch ein zweites Streichquartett komponierte, das mit dem ersten im Sinne der Idee des Poly-Werks (Ä Form, 3.) simultan aufgeführt werden kann. Deutlich stärker auf hervorstechende Heterogenität zielt eine von Strategien bildender Kunst inspirierte Übermalungsidee im Falle von Mark-Anthony Turnage und seinem Werk Three Screaming Popes für großes Orchester (1988/89). Bezugspunkt dabei sind drei Gemälde (1951/53) von Francis Bacon, die ihrerseits als irritierende Verzerrungen eines Gemäldes von Diego Rodríguez de Silva y Velázquez angelegt sind  – dieser Spur folgt Turnage, indem er u. a. Motive spanischer Tänze »übermalend« verzerrt. Auf kompositorische Leitgedanken, die zugleich grundsätzliche Tendenzen der Musik des 20. und 21. Jh.s berühren, verweisen in erheblichem Maße auch jene Querbezüge zur bildenden Kunst, die sich in Werken von Bernd Alois Zimmermann finden. Zimmermann, dessen kompositorischer Ansatz wie der kaum eines anderen Komponisten mit Begriffen wie Ä Collage und Montage assoziiert wird, betonte sogar, dass seine »Collage- und Montagetechnik […] der Entwicklung der modernen Dichtung (Joyce und Pound) und der modernen Malerei (vor allem der Surrealisten) stärkere Impulse als der zeitgenössischen Musik verdankt« habe (Zimmermann 1966/89, 11). Und tatsächlich lassen sich im Nachlass des Komponisten vielfältige Spuren der Inspiration finden. Außer Klee (von dem schon die Rede war, vgl. 3.) sind hier namentlich Kurt Schwitters und Max Ernst zu nennen. Im Falle von Max Ernst kann man sogar konstatieren, dass die Auseinandersetzung mit diesem Maler die Idee der komplexen Verknüpfung von klanglich-semantischem Material, die für Zimmermann so zentral ist, in nicht unerheblichem Maße geprägt haben dürfte (Hiekel 2001). Gerade Max Ernst steht – nicht anders als die Musik Zimmermanns  – für eine Avantgarde-Idee, die nicht »prinzipiell auf Neuerung«, sondern »durch den Rückgriff auf historisch bereits verfügbare Formen und Inhalte« (Spies 1988, 13) gekennzeichnet ist. Doch hinzu kommen in verschiedenen Werken greifbare konkrete bzw. ästhetische Bezüge zu bildkünstlerischen Strategien, dies namentlich im Orchesterprelude Photoptosis (1968), das auf das Denken Yves Kleins rekurriert. Im Bewusstsein von Parallelen im Bereich der bildenden Künste gelangte Zimmermann in einigen Werken zu einer eigenwilligen Form der Zeitgestaltung, die in der Forschung als »Zeitdehnungsprinzip« bezeichnet und in ihrer faszinierenden Ambivalenz zwischen Semantischem und Strukturellen betrachtet wird (Hiekel 1995; Rathert 2010; Wiener i.V.). 451 5. Alternative Zeitgestaltung Was für Zimmermann gilt, lässt sich  – zum Teil unter ganz anderen Vorzeichen  – auch für zahlreiche andere Komponisten des 20. und 21. Jh.s sagen: dass nämlich der Rekurs auf bildende Kunst vielfach dazu führt (oder einen Komponisten in dem Vorhaben bestärkt), die Grenzen der traditionellen musikalischen Darstellung und insbesondere jene der klassischen Dramaturgie zugunsten alternativer Form- und Zeitmodelle zu überschreiten. In nicht wenigen Fällen – und gerade dafür ist das »pluralistische«, vom Operieren mit Zeitschichten geprägte Komponieren Zimmermanns exemplarisch – können aus diesem Rekurs nun aber auch bewusste Ambivalenzen oder Inkongruenzen resultieren (im Falle des erwähnten Orchesterstücks Photoptosis ist dies bedingt durch die energischen, zum Teil heftigen Momente). Ähnliches lässt sich für verschiedene auf die Künstler Joseph Beuys oder WOLS rekurrierende Kompositionen von Bernd Franke sowie für die auf Gemälde Mark Tobeys bzw. Philip Gustons bezogenen Kompositionen No. 8 für Klavier solo (1991) und No. 48 (night studio) für großes Orchester (2015) von Richard Ayres sagen – wo es jeweils um eine Verknüpfung statischer und dynamischer Kräfte geht. In manchen Fällen  – so etwa in Harrison Birtwistles Orchesterstück The Triumph of Time (nach einem Kupferstich von Pieter Brueghel d.Ä., 1971/72) geben aber auch gewisse Bezüge zu Gemälden früherer Zeiten und deren ungewöhnlichen Gestaltungen den Impuls dazu, den traditionellen Prozesscharakter von Musik mit statischen, entwicklungslos in sich kreisenden Gestaltungen zu kontrapunktieren bzw. zu verschränken. Auch bei Birtwistle deutet diese Bezugnahme dabei auf den Kern seines kompositorischen Ansatzes. Bei verschiedenen anderen Komponisten, wie namentlich Earle Brown oder Morton Feldman, führte die Anregung durch Ideen aus der bildenden Kunst sogar zu einer grundlegenden Neuorientierung, punktuell sogar zu einem radikalen Bruch mit der europäischen Musikgeschichte. Bei beiden bedeutet das ebenfalls und in einer gegenüber Zimmermann noch zugespitzten Weise (dabei im Verzicht auf die benannten Ambivalenzen) vor allem eine Abwendung von geläufigen final orientierten musikalischen Zeitvorstellungen (Ä Zeit). Ähnliches gilt zumindest in Ansätzen auch etwa für Roman Haubenstock-Ramati, Gerhard Rühm, Anestis Logothetis, Friedrich Goldmann, Josef Anton Riedl (Köhler / Künzig 2014, 108–111) oder Sylvano Bussotti, die allesamt wie Brown und Feldman (und auch eine Reihe weiterer Komponistinnen und Komponisten) mit graphischen Ä Notationen arbeiteten, aber da von unterschiedlichen bildkünstlerischen Traditionen (etwa auch der »ecriture automatique« Neue Musik und bildende Kunst des Surrealismus) beeinflusst waren bzw. sind. Die in den 1950er Jahren ausgeprägten Formen graphischer Notation bzw. musikalischer Graphik, in denen sich »visuelle Anregungen für einen improvisatorischen Vollzug« (La MotteHaber 1990, 237) finden, stehen teilweise wohl sogar »im Gegensatz zu einer Tradition, die die lückenlose Notation eines Werkes anstrebt« (ebd.). Aber sie verweisen gleichzeitig selbst auch auf eine Tradition der europäischen Musikgeschichte, für die es zentral ist, dass die Notenschrift einen spezifischen (künstlerischen) Bildcharakter erhält (Ketteler / Jewanski 1997, 757–760). Obschon sich Feldman bald wieder von dem Konzept der graphischen Notation abwandte, blieb für seinen Weg als »Komponist zunehmend sich ausweitender ›Zeitleinwände‹« (Zimmermann 1995, 167) eine grundlegende Orientierung an Strategien verschiedener US-amerikanischer Maler des Abstrakten Expressionismus – wie etwa Philip Guston, Jackson Pollock, Mark Rothko, Willem de Kooning, Franz Kline, Robert Rauschenberg, Mark Tobey – auch weiterhin ein Faktor von erheblicher Relevanz. Dies gilt besonders für seine Suche nach Alternativen zum strukturellen Zusammenhang (Erdmann 1986), der im Resultat zu »einer nicht-referentiellen abstrakten Musik« (La Motte-Haber 1990, 243) führt und damit zugleich die Leidenschaft Feldmans für anatolische und persische Teppichmuster verständlich macht. Auch an diesem Punkt (im Nachlass des Komponisten finden sich 49 Teppichbücher und Ausstellungskataloge, vgl. Claren 2000, 197) ist seit etwa 1976 von einem erheblichen Einfluss auf Feldmans spezifische Art der musikalischen Zeitgestaltung auszugehen oder zumindest von einer Bekräftigung seines kompositorischen Ansatzes (ebd., 197–211). Zu den Inspirationsquellen für Komponistinnen und Komponisten, deren Werke auf spezifische und ungewöhnliche Formen der Zeitgestaltung zielen, gehören in nicht unerheblichem Maße auch Kunstwerke ostasiatischer Provenienz. Zu denken ist hier etwa an die uralte Tradition der Kalligraphie, die u. a. etwa für Hans Zender (Kalligraphie I–V für Orchester, 1997–2004) und vor allem Chou Wen-Chung (Lai 2012) wichtig wurde. »Beim Blick auf seine Landschaften verändert und erweitert sich nicht nur unser räumliches, sondern auch unser Zeit-Bewußtsein, weil wir über das Sichtbare hinaus zeitlose Realitäten ahnen, die jenseits der angedeuteten Horizonte und zugleich tief in uns selber liegen«, schrieb Helmut Lachenmann über den bildenden Künstler Karl Bohrmann (Lachenmann 2003, 99). Auch diese Äußerung kann als exemplarisch angesehen werden für die hier in Rede stehende Tendenz der Neuen Musik nach 1945, sich von spezifischen malerischen Gestaltungen der Zeit (und auch des Raumes) inspirieren zu lassen. Adornos oben Neue Musik und bildende Kunst zitierte Forderung, die Differenzen der Medien nicht zu ignorieren, ist hier – wie bei den meisten zuvor genannten Beispielen – gewiss eingelöst. Und dennoch ist von substanziellen Parallelen zu sprechen, die zu einer eingehenderen Betrachtung aufrufen. 6. Experimentelle Ansätze Geht man von der schon formulierten Einsicht aus, dass zu vielen wichtigen Teilbereichen der Neuen Musik eine Sensibilität für vergleichbare Strategien in anderen Künsten gehört (eine Tendenz, die sich in den letzten Jahrzehnten noch deutlich verstärkt hat), so sind nicht zuletzt jene experimentellen Ansätze zu erwähnen, die sich seit 1945 entwickelten und die oftmals darauf zielten, die Trennung der Künste erheblich zu relativieren oder gar aufzuheben. Zu betonen ist, dass es (wie mit Blick auf Cage schon angedeutet, vgl. 2.), namentlich in den USA seit den 1950er Jahren im Feld der Musik sowie in jenem der bildenden Künste eine Art gemeinsames Problembewusstsein mit ähnlichen künstlerischen Fragestellungen gab. Durch diese Gemeinsamkeit ist auch jene wichtige Tendenz zum Experimentellen grundiert, die sich im Schaffen verschiedenster Komponisten manifestiert (Ä Nordamerika, 2.). Zuweilen, etwa bei Alvin Lucier (Nyman 1999), ist diese auf eine Öffnung gegenüber den bildenden Künsten zielende Experimentalästhetik, deren große Verbreitung unter amerikanischen Komponisten in Europa im Schatten der Cage-Rezeption kaum umfassend zur Kenntnis genommen wurde, durch eine deutliche Abwendung von der europäischen Musikgeschichte grundiert. Im Falle der Ästhetik von Cage, der bereits früh von Impulsen anderer Künste wie namentlich von Auffassungen Oskar Fischingers inspiriert wurde (La Motte-Haber 1990, 245), ist nicht zuletzt der Einfluss des Denkens von Marcel Duchamp zu den prägenden Faktoren zu rechnen. Dies hatte wiederum auch wesentliche Auswirkungen auf Cages Formen der Zeitstrukturierung, aber führte in einem umfassenden Sinne auch zur Infragestellung und Erweiterung des europäischen Musikbegriffs (ebd., 246). »Vieles in der neuen Musik […] ist eine Erwiderung an die moderne Malerei und Skulptur« (zit. nach Kostelanetz 1973, 207) lautet ein kennzeichnender Satz von Cage, der grundlegende künstlerische Fragestellungen aus diesem Feld transformierte. Erwähnt sei etwa jene nach einer »Ordnung außerhalb der Kausalität«, die allerdings nicht nur mit Duchamps Idee einer auf einen eigenen geistigen Raum zielenden nicht-retinalen Kunst in Verbindung zu bringen ist, sondern kaum minder auch mit anderen Parallelen bzw. Einflüssen  – wie etwa jenem des ZenBuddhismus oder womöglich auch jenem von C.G. Jung (Becker / Rautmann 2000, 121). 452 Zu den namhaften Komponisten des 20. und 21. Jh.s, die von Duchamps Denken in besonderem Maße inspiriert sind, zählen neben Cage auch Nicolaus A. Huber und Peter Ablinger. Die vielfältigen Spuren des Einflusses erstrecken sich im Falle Hubers sowohl auf konkrete Bezugnahmen – so etwa in den Ensemblewerken Covered with music (1997), Rose Selavy (2000), und l ’ inframince – extended (2014) – als auch auf die von erkenntnistheoretischem Witz bestimmte ästhetische Grundhaltung (Hiekel 2015). Um diesen erkenntnistheoretischen Witz adäquat zu erfassen, ist das zu berücksichtigen, was Huber mit Blick auf seine Adaptionen von Ideen Duchamps, aber u. a. auch Andy Warhols (auf den sein Orchesterwerk To »Marilyn Six Pack«, 1995, bezogen ist) selbst »experimentelle Analogie« nannte (Huber 2010, 231). Konkret verweist dies auf die (zu einer erheblichen Veränderung der Wahrnehmung aufrufende) Vorliebe Hubers für multidimensionale Setzungen, die außer dem Hören auch die anderen Sinne (bis hin zum Geruchssinn) sowie das Denken ansprechen. Eine weitere, erkennbar kritische Perspektive des Rekurses auf bildende Kunst wird in Solo mit Koonsstück für Tuba, Zuspiel-CD und Plüschtier (2000) erfahrbar, wo Huber mit Blick auf das Schaffen von Jeff Koons zur Reflexion darüber einlädt, wozu Kunst – und auch Musik – zuweilen degradiert wird (Seidl 2006b). Duchamp ist – wie Cage – im Falle Ablingers wohl eher indirekt ein Vorbild bzw. Vorläufer (Saxer 2010, 98), wobei man diagnostizieren kann, dass die medialen Mischkonstellationen, die Ablinger in seinen Werken schafft, besonders vielfältig sind (Ablinger 2014). In manchen Fällen, etwa in der Arbeit Das Orchester für CD und Orchester (2005), geht er aus von bewussten Rückgriffen auf frühere künstlerische Erfahrungswelten, in diesem Falle auf die Wiedergabe einer fotografischen Vorlage mit den traditionellen Mitteln Pinsel, Farbe und Leinwand (Saxer 2010, 98; Ä Medien, 4.). Gewiss lässt sich mit Blick auf die experimentelle Seite etwa im Schaffen von Cage, Lucier oder Ablinger sagen, dass vieles im Zwischenbereich von Musik und bildender Kunst gesehen werden kann  – mit gleicher Berechtigung können aber auch die kompositorischen Ansätze von Duchamp oder Yves Klein als Teil der Neuen Musik gesehen werden. Freilich versteht es sich, dass heute, in Zeiten einer immer noch wachsenden Vermischung der Kunstgattungen, die Frage der Rubrizierung vollends nebensächlich wurde. Wichtiger ist die Tatsache, dass die Genannten mit der hier sichtbar werdenden Position ihrerseits Impulsgeber für unterschiedliche Ansätze bei Künstlern der nachfolgenden Generationen sind: Dies gilt etwa im Feld der Klangkunst, überdies aber auch in bestimmten Ausprägungen konzeptueller Ansätze von 453 Musik. Bei der Suche nach Vorbildern ist punktuell natürlich auch an die Fluxus-Kunst zu denken, innerhalb derer die Liaison von Musik und bildender Kunst zu den Grundprinzipien gehörte. Gleiches gilt für die (teilweise sich mit dem Bereich Fluxus überschneidenden) Bereiche von Concept Art und Destruction Art, für die das Denken von Cage wichtig war und an der Musiker wie Nam June Paik, Wolf Vostell, aber auch etwa Pete Townshend und Jimi Hendrix (der seine Gitarre beim Spielen der USamerikanischen Nationalhymne anzündete) beteiligt waren (Hoffmann 2008). Dabei haben Verknüpfungen speziell zwischen Musik und bildenden Künsten in den letzten Jahren in der Kunstszene unverkennbar an Gewicht – in manchen Feldern sogar eine gewisse Selbstverständlichkeit  – gewonnen. Zur Überwindung vertrauter Rubrizierungen passt es, dass heute häufiger als früher Komponisten zwischen einer Musik für den klassischen Konzertsaal und Musik für andere, stärker visuell geprägte Konstellationen hinund herwechseln. Das in einer jüngeren Generation von Komponisten bestehende spezifische Interesse für die bildenden Künste, das diesen eine gewisse Vorbildwirkung zuerkennt, richtet sich dabei sowohl auf deren reichhaltige Strategien wie auf deren Weltbezüge (Seidl 2006a; Ablinger 2014). Dies ist oft mit der Hoffnung verbunden, an jener größeren Aufmerksamkeit zu partizipieren, die im künstlerischen Nachbarbereich wohl aufgrund einer kontinuierlicheren Auseinandersetzung mit grenz- und genreüberschreitenden Phänomenen sowie grundlegenden Fragen der Wahrnehmung existieren (Ablinger 2014) – und überdies wohl auch an den größeren Finanzierungs- und Entfaltungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Im Zeichen der digitalen Revolution gibt es heute in einem vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbaren Maße künstlerische Ansätze, die etwa im Rückgriff auf den Bereich des Videos (Ä Film / Video) und die immer weiter wachsenden Möglichkeiten des Ä Internets die umfassende Verfügbarkeit allen Materials zum Ausgangspunkt haben (Kreidler 2012; Lehmann 2012) oder die sich im Rekurs auf die visuellen Präsentationen von Rockmusik oder Clubkultur auch auf experimentelle Formen elektronischer Musik einlassen (Lund 2009; Daniels / Neumann 2010; Ä Pop / Rock). Es kann festgestellt werden, dass es bei vielen intermedialen Strategien um die stete Erneuerung und Erweiterung von Formen und Räumen der Wahrnehmung geht. Dabei jedoch kann diese Dimension auch dann eine erhebliche Rolle spielen, wenn solche Strategien eingebettet sind in ein komplexes Setting mit bildkünstlerischen oder Video-Elementen, bei dem auch live gespielte Musik erklingt. Immer mehr aber werden die Mittel variiert. Und immer selbstverständlicher werden erstens Arbeitsbünd- Neue Musik und bildende Kunst nisse zwischen Künstlern unterschiedlicher Fächer, aber zweitens (bedingt nicht zuletzt durch die leichtere Handhabbarkeit der digitalen Medien) auch Ausprägungen jenes durchaus auch an frühere Jahrhunderte gemahnenden Künstlertypus, der dafür steht, dass die musikalische und die bildkünstlerische und / oder filmische Ebene eines Kunstwerkes in einer Hand liegen. Ä Film / Video; Intermedialität; Medien Ablinger, Peter: Cézanne und die Musik. Wahrnehmung und ihre Defizite  – Musik und Malerei der vergangenen hundertfünfzig Jahre, in: MusikTexte 140 (2014), 31–36 „ Adorno, Theodor W.: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei [1965], in: Musikalische Schriften III (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 628–642 „ Becker, Peter / Rautmann, Peter: Kann man eine Skulptur hören? Synästhetische Konzepte in der Musik der Gegenwart am Beispiel John Cage, in: Im Spiel der Wellen. 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Wesentliche Teilbereiche erstrecken sich einerseits auf die (im Folgenden schwerpunktmäßig skizzierte) Auseinandersetzung von Komponistinnen und Komponisten mit Literatur, die sich insbesondere in der Vokalmusik (Ä Stimme / Vokalmusik) sowie im Ä Musiktheater niederschlägt, aber andererseits auch auf die verschiedensten Wege der Annäherung der zeitgenössischen Literatur (insbesondere der experimentellen Lautdichtung) an die Musik. Schon im 19. Jh. und dann erst recht in der Neuen Musik des frühen 20. Jh.s gibt es etliche Beispiele für kompositorische Ansätze, die erhebliche Impulse durch literarische Werke erhielten. Zu denken ist etwa an Robert Schumanns bekannte Erklärung, er habe von Jean Paul mehr Kontrapunkt gelernt als durch die Beschäftigung mit Musik, aber auch zum Beispiel an den Einfluss von Karl Kraus auf das Denken von Alban Berg (Rode-Breymann 1988) oder an jenen von Friedrich Nietzsche auf Komponisten wie na- 455 mentlich Richard Strauss und Gustav Mahler. Vorbildlich für etliche Persönlichkeiten der nachfolgenden Generationen und ihr jeweiliges Grundverständnis von möglichen Anregungen durch die Literatur dürfte in vergleichbarem Maße auch etwa die Tatsache sein, dass die Besonderheiten der Ästhetik Claude Debussys nachdrücklich von Dichtern wie Paul Verlaine und Stéphane Mallarmé inspiriert wurden  – deren Texte er auch vertonte. Besonders seit 1945 zeichnet sich in vielen musikalischen Werken beim Umgang mit literarischen Texten eine starke Tendenz zum Abrücken von herkömmlicher Vertonung ab (obwohl diese auch weiterhin eine Option bleibt). Die Integration bzw. Entfaltung neuer Strategien kann dabei  – um hier nur wenige Möglichkeiten aus einem überaus großen Themenfeld anzudeuten – grundsätzlich heißen, dass (1) in einem neuen Umfang in Musikwerken (zum Teil auch in textlosen) ästhetische und poetologische Perspektiven von Literatur reflektiert werden, dass (2)  Texte in manchen Musikwerken nur in fragmentierter oder dissoziierter Form verwendet werden oder dass (3)  literarische Elemente mit anderen  – teilweise auch dokumentarischen – Texten kombiniert oder verschränkt werden. Die signifikante Weitung und Öffnung der Möglichkeiten des Umgangs mit Literatur (ganz besonders der modernen, häufig aber auch jener aus früheren Zeiten) zeichnet sich in vielen Fällen darin ab, dass dichterische Sprache nicht allein in ihren semantischen, sondern in gewachsenem Maße ebenso in ihren klanglichen, körperlichen, performativen Dimensionen (Ä Sprache / Sprachkomposition) zur Geltung gebracht wird. Zu den generellen Tendenzen, die dabei erkennbar sind, gehören die Neigung, außer dem Singen verstärkt auch verschiedenste andere vokale Äußerungsformen  – wie etwa Flüstern, Sprechen oder Sprechgesang (Ä Stimme / Vokalmusik, 3.) – zum Einsatz zu bringen, zudem aber auch ein erheblich gewachsenes Interesse an nicht-diskursiven Lautäußerungen sowie eine Vorliebe für Onomatopoesie und für polyphone Überlagerungen mehrerer Sprachschichten. Vergleichsweise selten hingegen ist in diesem weiten thematischen Feld die Auseinandersetzung mit theoretischen Aspekten von Dichtung realisiert (ein Beispiel hierfür ist John Adams ’ auf Friedrich Schiller bezogenes Werk Naive and Sentimental Music für Orchester, 1999). 2. Bevorzugte Dichter und Akzente Wenn nachfolgend einige der eben angedeuteten Aspekte etwas näher ausgeführt und bestimmte Akzente im Felde der Neuen Musik skizziert werden, so ist vorab zu betonen, dass diese Skizze nur eine gewisse Auswahl des Vorhandenen bieten kann (mit einer leichten Bevorzugung europäischer Perspektiven). Neue Musik und Literatur Einen polyphonen Umgang mit Sprache finden zahlreiche Komponistinnen und Komponisten besonders im Werk James Joyces, dessen Einfluss auf die europäische Neue Musik überaus groß ist und gewiss nicht nur Werke umfasst, die auch Texte des Dichters verwenden (Zenck 1989; Murphy 1999). Luciano Berio, für den die Joyce ’ sche Idee einer universellen gestischen Sprache (»gesture […] would be a universal language«, Joyce 1922/61, 432) von besonderer Bedeutung ist, macht 1958 das in drei verschiedenen Sprachen vorgetragene Lautmaterial vom Beginn des »Sirenen«-Kapitels aus Ulysses (1922) zur Grundlage seines Tema (Omaggio à Joyce) (1958), aber rekurriert auch in anderen Werken explizit oder implizit auf die Joyce ’ sche Ästhetik. Erfordert Joyces Sprache durch eine Übersemantisierung sämtlicher Vor- und Nachsilben einen neuen Begriff dessen, was Verstehen heißen kann, so lässt John Cage in seiner Bearbeitung des Textes von Joyces Finnegans Wake die semantische Dimension ganz und gar außer Acht (Köhler 2000). Ausgehend von dem Namen »James Joyce« ordnet er den Text als Mesostichon an, sodass der Name als eine vertikal hinablaufende Buchstabenfolge erscheint. Auf diese Weise schreibt er sich »durch Joyce hindurch«, indem er den Text neu ordnet, unabhängig von semantischen und syntaktischen Kriterien, z. B. in der radiophonen Komposition Roaratorio (1979–80). Andere bemerkenswerte Bezüge zu Joyce, die dessen Radikalität ebenfalls aufgreifen, finden sich u. a. in Hans Zenders Oper Stephen Climax (1986, basierend auf zwei Kapiteln von Ulysses), sowie in Rebecca Saunders ’ Zyklus Molly ’ s Song (1995–96), wo jeweils auch die Idee des stream of consciousness aufgegriffen bzw. transformiert wird und das Komponierte gerade darin als spezifischer Reflex der besonderen Machart der Literatur gelten kann. Zugleich geht es stets auch darum, die Deutungsräume zu füllen, die in den literarischen Werken offeriert werden. Auch Joyce Paraphrase für verstärktes Streichquartett und Zuspielband von Oliver Schneller (1997–98) kann hier genannt werden (es steht überdies für den in den letzten Jahren immer weiter verfeinerten Einbezug von computergestützten Analysen von Sprachklängen). Vergleichbares gilt für eine Fülle anderer Werke Neuer Musik mit Literaturbezügen. Dabei geraten oft Literaten ins Blickfeld, die in ihren Arbeiten bereits ihrerseits die vielfältigen Übergänge zwischen Klang und Sinn bewusst ausloten. Dies gilt namentlich für Carlfriedrich Claus, Gerhard Rühm, Michael Lentz oder Ernst Jandl. Alle vier genannten Dichter traten zuweilen als Akteure im Feld der Neuen Musik performativ in Erscheinung (wie übrigens auch etwa Herta Müller), aber wurden zugleich zu wichtigen Impulsgebern für das Schaffen verschiedener Komponisten (auf Rühm bezog sich u. a. HK Gruber, mit Neue Musik und Literatur Lentz kooperierten etwa Michael Hirsch und Josef Anton Riedl, auf Texte Jandls gehen besonders nachdrücklich etwa Wladimir Tarnopolski und Minas Borboudakis ein). Ähnliches lässt sich auch etwa für Helmut Heißenbüttel, H.C. Artmann (auf den etwa Gruber und Younghi Pagh-Paan eingehen), Kurt Schwitters (auf den etwa Olga Neuwirth, Stefan Wolpe und Bernd Alois Zimmermann Bezug nehmen), Konrad Bayer oder Velimir Chlebnikow (auf dessen »Sternensprache« Hanspeter Kyburz in seinem Werk The Voynich Cipher Manuscript für 24 Singstimmen und Ensemble, 1995, rekurriert) sagen. Einige prominente Literatinnen und Literaten waren bzw. sind überdies in der Hörspielkunst aktiv, in jenem Feld des Miteinanders von Musik und Literatur also, das (oft unter der Rubrik »Neues Hörspiel« und nicht selten unter künstlerischer Beteiligung von Komponisten) gerade in Deutschland stark von Rundfunkanstalten geprägt wurde – außer den schon genannten Dichtern sind hier auch Friederike Mayröcker, Franz Mon und Paul Pörtner zu erwähnen. Zu den besonders bevorzugten Bezugspunkten aus der literarischen Moderne gehören neben Joyce aber vor allem Paul Celan (auf den u. a. Wolfgang Rihm, Graciela Paraskevaídis, Harrison Birtwistle, Jan Müller-Wieland, Gerhard Stäbler, Peter Ruzicka und Paul-Heinz Dittrich in nachdrücklicher Weise Bezug nehmen), Heiner Müller (auf den sich u. a. Dittrich, Luca Francesconi, Steffen Schleiermacher und Heiner Goebbels beziehen) sowie Franz Kafka. Gerade bei den musikalischen Kafka-Reflexionen, die u. a. von Aribert Reimann, Dittrich, Isabel Mundry, Rolf Riehm, Martin Smolka, Roman Haubenstock-Ramati, Michaël Levinas, Georg Friedrich Haas, Salvatore Sciarrino, Philip Glass und Hans Werner Henze stammen, ist der Perspektivenreichtum enorm groß – es gibt sowohl stark existentiell grundierte als auch (seltener) ironische Ansätze, die eine in der Rezeption zuweilen vernachlässigte Seite akzentuieren (Hiekel / Stašková 2014). Ein vergleichbares Spannungsfeld kann man bei Musikwerken beobachten, die auf Fjodor Michailowitsch Dostojewski Bezug nehmen  – so etwa die Musiktheaterwerke Böse Geister (2014) von Adriana Hölszky, Life with an Idiot (1992) von Alfred Schnittke und La Douce (2008–09) von Emmanuel Nunes oder Bernd Alois Zimmermanns »Ekklesiastische Aktion« Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester (1970). Im zuletzt genannten Werk tritt ein Aspekt hervor, der typisch für Zimmermann, aber insgesamt im Kontext der Neuen Musik vergleichsweise selten ist: die spannungsreiche Verschränkung von Ausschnitten aus literarischen Werken mit Texten geistlicher Provenienz. Weitere bekannte Beispiele hierfür sind Benjamin Brittens 456 War Requiem für Sopran-, Tenor- und Bariton-Solisten, Knabenchor, gemischten Chor, Kammerorchester und Sinfonieorchester op. 66 (1961–62), das auf Texte Wilfred Owens rekurriert, Klaus Hubers Erniedrigt  – Geknechtet – Verlassen – Verachtet … für Solisten, Chor und Orchester (1975–82), das Texte u. a. Ernesto Cardenals und des Propheten Jesaja enthält, sowie A Relic of Memory für Chor und Orchester (2002/04) von Mark-Anthony Turnage, das sich im Titel wie auch in der Grundhaltung auf Seamus Heaney bezieht und dabei Texte der lateinischen Totenmesse mit William Shakespeares 71. Sonett kombiniert. Verbunden mit nicht wenigen anderen Komponistinnen und Komponisten des 20. und 21. Jh.s ist Zimmermann allerdings hinsichtlich eines umfassenden literarischen Interesses – sowie durch die Tatsache, dass dieses sich unmittelbar im kompositorischen Schaffen zeigt. Vergleichbares lässt sich etwa über Luigi Dallapiccola sagen, der in dem von ihm selbst als »Opus summum« bezeichneten Musiktheaterwerk Ulisse (1968) auf Quellen einer knapp dreitausendjährigen Literaturgeschichte von Homer über Dante Alighieri bis Joyce schöpfte und auch in seinem sonstigen Schaffen zwischen Bezügen zu modernen und klassischen Autoren oszillierte. Aber es gilt auch für Komponistinnen und Komponisten wie etwa Peter Maxwell Davies, Beat Furrer, Heiner Goebbels, Hans Werner Henze, Heinz Holliger, Klaus Huber, Claus-Steffen Mahnkopf, Younghi Pagh-Paan, Rolf Riehm, Charlotte Seither oder Hans Zender. Gewiss gibt es als Gegenströmung zu einem stark an Literatur orientierten Komponieren seit längerem die Tendenz, dies als »bildungsbürgerlich« abzulehnen und Bezüge eher zu Elementen aus anderen Teilbereichen der Gesamtkultur zu verankern (oder auf diese ganz zu verzichten). Dennoch finden sich auch in der Generation der um 1980–1990 Geborenen nicht wenige Komponistinnen und Komponisten, die wesentliche Impulse aus der Weltliteratur empfangen. Auch die beiden eingangs erwähnten Einflusslinien, die mit den Namen Friedrich Nietzsche und Karl Kraus gegeben sind und über das bloß Vertonen von Weltliteratur denkbar weit hinaus reichen, setzen sich in gewissem, freilich etwas abgeschwächten Maße bis in die Gegenwart fort (beispielhaft erwähnt seien auf der einen Seite etwa die auf Nietzsche bezogene Werke von Adriana Hölszky, Helmut Lachenmann, Luigi Nono und Wolfgang Rihm und auf der anderen Seite Steven Kazuo Tagasugis KrausZyklus, 2009–2010, sowie Schatten für Sopran und Bariton von Paraskevaídis, 1970). Anhand einzelner der auf Kafka bezogenen Werke – etwa György Kurtágs viel beachteter Kafka-Fragmente für 457 Sopran und Violine op. 24 (1985–87), aber auch bei Werken mit anderen Referenzpunkten kann eine wichtige allgemeine Tendenz des Umgangs mit Literatur im Bereich der Neuen Musik beobachtet werden, die als typisches Merkmal der Ä Postmoderne zu bezeichnen ist: die Aufwertung des Fragmentarischen (Ä Fragment). Zu denken ist hier nicht zuletzt an die (durch Dietrich Eberhard Sattlers historisch-kritische Ausgabe beflügelte) Neuentdeckung Friedrich Hölderlins  – und dabei namentlich seiner Entwürfe und Fragmente. Diese Tendenz zum Fragmentarischen, aber auch der politischexistentielle Gehalt von Hölderlins Dichtungen, sind Faktoren für den ab Mitte der 1970er Jahre zu beobachtenden Hölderlin-Boom. Beispiele dafür sind Wolfgang Rihms Hölderlin-Fragmente für Gesang und Klavier (1976–77), György Ligetis Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin für gemischten Chor (1983), Heinz Holligers ScardanelliZyklus für Solo-Flöte, kleines Orchester, Tonband und gemischten Chor (1975–91), Wilhelm Killmayers Hölderlin-Lieder nach Gedichten aus der Spätzeit für Tenor und Klavier (1982–87), Hans Zenders Hölderlin lesen I–V (1997/87/91/2000/12) für Sprech- / Singstimme und verschiedene Besetzungen und Nicolaus A. Hubers An Hölderlins Umnachtung für Kammerensemble (1992). Über weite Strecken ist die musikalische Hölderlin-Rezeption einerseits ein weiteres Indiz dafür, dass mit einer gewissen Vorliebe über jedes bloße bildungsbürgerliche Interesse hinaus grundlegende ästhetische und poetologische Prämissen von Literatur in der Neuen Musik reflektiert werden. Andererseits jedoch kann diese Rezeption als Teil eines tiefer greifenden Interesses an Dichtern gesehen werden, die ihren Zeitgenossen als wahnsinnig galten (neben dem späten Hölderlin auch Dichter wie Adolf Wölfli, Robert Walser oder Conrad Ferdinand Meyer). In deren Scheitern und Verstummen erkennen Komponistinnen und Komponisten wie etwa Rihm, Holliger, Killmayer, Lucia Ronchetti, Georg Friedrich Haas (der über Wölfli und Hölderlin jeweils eine Oper schrieb), Peter Ruzicka (von dem eine Oper über Hölderlin stammt) oder Per Nørgård Züge einer modernen, zeitgenössischen Künstlerexistenz. Ein radikaler Fall der Hölderlin-Rezeption, der eine andere Richtung aufzeigt, ist Nonos Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979–80), in dem Kurzzitate aus Hölderlins Spätwerk in die Partitur einfügt sind, ohne dass die Zitate für die Zuhörer hörbar werden sollen; auf Hölderlin hat Nono später auch in der »Hörtragödie« Prometeo (1981–85) rekurriert, wo Texte Hölderlins neben jenen von Aischylos und Walter Benjamin stehen. Die in Nonos Streichquartett zum Ausdruck kommende Dialektik der An- und Abwesenheit von Dichtung bildet insgesamt eine wichtige Form der kompositorischen Neue Musik und Literatur Annäherung an Literatur in der Neuen Musik. Sie prägt auch Pierre Boulez ’ Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) nach Gedichten René Chars sowie sein Stéphane Mallarmé-Portrait Pli selon pli für Sopran und Orchester (1957–62). Die Dichtung steht hier, folgt man der Erläuterung des Komponisten, zugleich »im Mittelpunkt und außerhalb der Musik« (Boulez 1958/72, 117), oft erklingen nur einzelne Verse, auf ganze Strophen wird hingegen nur virtuell Bezug genommen. Dabei erscheint Boulez gerade in seinem Rekurs auf Mallarmé in spezifischer Weise als ein Nachfahre Debussys. Seit den 1970er Jahren zeichnet sich in der Textwahl eine Vorliebe für vermeintlich randständige Subjektpositionen ab. Diese sind oft verbunden mit einem Potenzial zur subjektiven Dissidenz. Dies gilt etwa für die Auseinandersetzung Morton Feldmans, Kurtàgs und Holligers mit den Texten Samuel Becketts, die immer wieder den Umschlag von Sprache in Verstummen oder Schweigen thematisieren (Feldmans Oper Neither, 1976–77, Holliger, Not I – Monodram für Sopran, Tonband und Video, 1980, Kurtàg, What is the word für Alt solo, Stimmen und zwei im Raum verteilte Kammerensembles op. 30b, 1991). Vergleichbar damit sind Werke, die um Fragen der weiblichen Subjektivität kreisen, wie etwa in Kurtágs Poslanija pokojnoj R.V. Trusovoj [Botschaften des verstorbenen Fräuleins R.V. Trusova] für Sopran und Kammerensemble op. 17 (1976–80) nach Rimma Dalos oder in Beat Furrers Hörtheater Fama für großes Ensemble, acht Stimmen und Schauspielerin (2004–05) nach Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else (1924) sowie Texten von Lukrez und Carlo Emilio Gadda. Dieselbe Tendenz zeigt die dekonstruierende Lesart und Neukomposition kanonischer Musiktheater-Werke aus der Perspektive einer weiblichen Haupt- oder Nebenfigur an, etwa in Salvatore Sciarrinos Lohengrin. Azione invisibile (1982–83/84, Jules Laforgue). Auch Formen hybrider Identitätsbildung sind im neueren Musiktheater zu finden, z. B. in Toshio Hosokawas Hanjo (2004) und Matsukaze (2011), die beide Stoffe des japanischen Nō-Theaters aufgreifen (Ä Japan). Signifikante Bezugnahmen auf spezifische literarische Traditionen Ostasiens wie namentlich die Form des etwa von Matsuo Bashō geprägten japanischen Kurzgedichts haiku finden sich überdies bei etlichen europäischen Komponisten (etwa bei Olivier Messiaen, Hans Zender und Ton de Leeuw). Auch Literatur orientalischer Traditionen spielt in Werken der Neuen Musik häufiger eine zentrale Rolle. Komplexe Werkkonzeptionen, für die dies gilt und bei denen diese Traditionen weit mehr als eine bloß dekorative Funktion erfüllen, bieten Michaël Levinas ’ La conférence des oiseaux, ein musikalisches Schauspiel für Sopran, Erzähler und Ensemble (1984–85), das auf eine Erzäh- Neue Musik und Literatur lung des islamischen Mystikers Farīd al-Dīn Muhammad ’Attār (1136–1220) zurückgeht, sowie Liza Lims Tongue of the Invisible für improvisierenden Pianisten, Bariton und 16 Musiker (2011) nach Texten des Sufi-Dichters Hafiz (1320–ca. 1389). Ein deutlich weltbezogener Aspekt des Miteinanders von Neuer Musik und Literatur ist in der Anreicherung und Erweiterung literarischer durch dokumentarische oder politische Texte gegeben, die ab den 1960er Jahren verstärkt einsetzen. Dies geht oft mit einer Integration politischer Perspektiven einher, so z. B. in Nonos Intolleranza 1960 (1960–61) nach Texten Bertolt Brechts, Paul Éluards und Wladimir Majakowskis sowie unter Verwendung dokumentarischer Texte wie der Parole »¡no pasarán!« aus dem Spanischen Bürgerkrieg, in der Azione szenica Al gran sole carico d ’ amore (1972–74/77) desselben Komponisten (darin gibt es Ausschnitte aus Werken u. a. von Brecht, Arthur Rimbaud, Cesare Pavese und Maxim Gorki) oder in Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) mit Texten u. a. von Majakowski, Konrad Bayer, Joyce, Schwitters, Ezra Pound, Sándor Weöres und Hans Henny Jahnn. Im zuletzt genannten Werk wird im Rekurs auch auf politische Reden unterschiedlichster Provenienz sowie auf philosophische Texte ein umfassendes kulturelles Panorama des 20. Jh.s gezeichnet, das mit besonderem Nachdruck auch die ästhetischen Eigenheiten der literarischen Werke reflektiert (Hiekel 1995)  – es fällt nicht schwer, von hier wiederum einen Bezug zum Denken von Joyce herzustellen, der gerade für Zimmermann eine zentrale Leitfigur war. Auch Hans Werner Henze, der sich in den 1950er und 1960er Jahren intensiv mit der Dichtung Ingeborg Bachmanns auseinandergesetzt hatte (u. a. Nachtstücke und Arien, 1957, die Chorfantasie Lieder von einer Insel, 1964 sowie die beiden Opern Der Prinz von Homburg nach Heinrich von Kleist, 1959, und Der junge Lord nach Wilhelm Hauff, 1965; Andraschke 2001), wandte sich mit seinem Musiktheaterwerk El Cimarrón (1969–70), nach einem autobiographischen Text des früheren Sklaven Montejo (bearbeitet von Hans Magnus Enzensberger), verstärkt dokumentarischen Texten zu. Gerade Brecht-Bezüge stehen in unterschiedlichsten Werken der Neuen Musik (außer Hanns Eisler, Kurt Weill und Paul Dessau, die zuweilen als »Brecht-Komponisten« bezeichnet werden, und neben Nono sind hier etwa Nicolaus A. Huber und Wolfgang Hufschmidt zu nennen) besonders für die Verankerung politischer Dimensionen. Umgekehrt gibt es nicht wenige Komponisten, die in ihrem Werk vorzugsweise politische Literatur  – bzw. Literatur mit politischen oder gesellschaftskritischen Konnotationen – einbeziehen. Dies gilt etwa für Jacques 458 Wildberger, der in La Notte für Mezzosopran, fünf Instrumente und Tonband (1967) in scharfem Kontrast zu Texten Michelangelos ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger gegen den Vietnam-Krieg setzt, um so die Funktion des Dichters in der Gesellschaft zu thematisieren. Aber es lässt sich ganz besonders auch für Klaus Huber sagen, der mit gewisser Vorliebe auf Dichter arabischer oder lateinamerikanischer Provenienz (wie etwa Mahmoud Darwisch bzw. Octavio Paz und Ernesto Cardenal) zurückgreift, um damit jeweils auch den Kontext der Entstehung der verwendeten Literatur ins Spiel zu bringen. Gestützt durch vergleichbare Überlegungen hat er in seinem Bühnenwerk Schwarzerde (1997–2001) Gedichte Ossip Mandelstams zugrunde gelegt – wie vorher überdies schon im Streichtrio Des Dichters Pflug (1989), welches den Untertitel »In memoriam Ossip Mandelstam« trägt. Ein besonders geläufiges Beispiel für eine literarische Orientierung mit deutlich politischer Ausrichtung ist Dmitri Schostakowitsch, der etwa in seiner Sinfonie Nr. 13 op. 113 »Babi Jar« (1961–62) ein zeitgenössisches Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko verwendet, das sich gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion richtet, und der in verschiedenen anderen späten Werken auf Dichterinnen und Dichter (wie Alexandr Blok und Anna Achmatova) rekurriert, deren Schicksal (wie das des Komponisten selbst) eng mit diesem Land verbunden war. Schostakowitsch steht damit exemplarisch für jene nicht kleine Schar von Komponistinnen und Komponisten aus Ländern des ehemaligen Ostblocks, für die ein Bezug zur Literatur stark von existentiellen Aspekten grundiert ist. An Beispielen wie diesen wird unterstrichen, was auch für manche der zuvor genannten Komponistinnen und Komponisten gilt: dass sich bei den musikalische Bezugnahmen auf moderne Literatur im Felde der Neuen Musik immer wieder – wohl insgesamt stärker als bei Querbezügen zu bildender Kunst und Film (Ä Musik und bildende Kunst, Ä Film / Video) – auch kulturell bedingte Akzente finden lassen. Freilich gibt es auch Fälle, wo Komponisten sich besonders nachdrücklich für die Literatur anderer Kulturen interessieren – ein Beispiel hierfür ist die intensive Beschäftigung Nigel Osbornes mit osteuropäischer Dichtung. Überdies ist zu betonen, dass das Interesse mancher Komponisten für Literatur geradezu obsessive Züge besitzt. Beispielhaft erwähnt sei erstens die Tatsache, dass Jean Barraqué in gleich mehreren Kompositionen auf eine bestimmte Passage des Romanwerks Der Tod des Vergil von Hermann Broch rekurrierte, zweitens der aus sechs großen Werken bestehende Leopardi-Zyklus von Klaus Ospald (zwischen 2005 und 2012 entstanden), drittens die lange und intensive Auseinandersetzung Peter Ruzickas mit dem Schaffen Paul Celans (woraus nicht nur etliche 459 Vertonungen resultierten, sondern auch eine Oper über den Dichter) und viertens die als work in progres angelegte Komposition pijnberichten (1996) von Eric Verbugt, die sich auf Arno Schmidts Monumentalwerk Zettels Traum bezieht (auf Schmidt rekurrierten außerdem u. a. Robert HP Platz, Matthias Kaul, Michael Reudenbach, Andrea Lorenzo Scartazzini und Juliane Klein). Ausdrücklich ist hervorzuheben, dass es neben den hier erwähnten Dichtern noch etliche andere Persönlichkeiten gibt, die in der Musik der letzten Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen. Neben der Tendenz zu bestimmten großen Namen gibt es allerdings unübersehbar auch eine Gegentendenz. Dessen ungeachtet kann ein spezifisches Interesse von Komponisten an (vor allem moderner) Literatur und deren Ausdrucksmitteln und künstlerischen Strategien auch international gesehen geradezu als Signum von Neuer Musik gelten. 3. Neue Erzählstrategien im Musiktheater Bei alledem bleibt ganz besonders für das zeitgenössische Ä Musiktheater die kanonische klassische Literatur weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt. Dies gilt etwa für die Dramen William Shakespeares, die nicht nur in Benjamin Brittens A Midsummer Night ’ s Dream (1959–60), sondern später auch in Aribert Reimanns Lear (1975–78), Toshio Hosokawas Vision of Lear (1998), Thomas Adès ’ The Tempest (2003) oder Ming Tsaos Die Geisterinsel (2011) verwendet werden. Auch Werke von Autoren, die  – wie Georg Büchner oder Jakob Michael Reinhold Lenz  – im 20. Jh. neu entdeckt werden (Schmidt 1993), bilden den Ausgangspunkt für Literaturopern (z. B. Bernd Alois Zimmermann, Die Soldaten, 1957–65, Wolfgang Rihm, Jakob Lenz, 1977–78). Die konkrete Semantik und lineare Narrativität der literarischen Vorlage ist dabei oftmals aufgebrochen und erweitert. Wichtige Anregungen zu einer solchen nicht-linearen Dramaturgie und zur Auseinandersetzung mit nicht-diskursiven Elementen menschlicher Äußerungen, wie Atem oder Schrei, gehen von den Texten Antonin Artauds aus (Zenck 2003), etwa in Wolfgang Rihms Musiktheater Die Eroberung von Mexico (1992) oder auch im Schaffen von Boulez. Um die innovativen Potentiale einschlägiger weltliterarischer Werke früherer Zeiten geht es wie schon in Zimmermanns Oper auch in verschiedensten anderen Musiktheaterwerken. Zender etwa lässt in seiner auf Miguel de Cervantes bezogenen Oper Don Quijote de la Mancha (31 theatralische Abenteuer, 1989–91/99) die gleichsam prismatische Gebrochenheit der Erzählhaltung in die Gesamtstruktur des Werkes einfließen. Auch Komponistinnen und Komponisten wie Péter Eötvös, Adriana Hölszky, Helmut Lachenmann und Isabel Mundry greifen Neue Musik und Literatur in ihren Musiktheaterwerken über den konkreten Handlungsverlauf der jeweiligen Vorlagen deutlich hinaus. Eötvös fragmentarisiert den Text von Anton Tschechows Drei Schwestern in seiner gleichnamigen Oper (1998) und collagiert ihn neu. Adriana Hölszky hat in einer ganzen Reihe von Musiktheaterwerken (und auch in ihrem sonstigen Vokalschaffen) mit vielfältigen Bezügen zur modernen Literatur immer wieder neu die Grenzen zwischen Erzählbarem und nur noch Erahnbarem ausgelotet (Gratzer / Hiekel 2007), etwa in Die Wände (1993–95) nach Jean Genets Theaterstück Les paravants (1956–64), wo sich ein pointiertes Wechselspiel zwischen narrativen und nichtnarrativen Momenten entfaltet. Lachenmann orientiert sich in seinem Werk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96) am Märchen von Hans Christian Andersen, aber fragmentiert an vielen Stellen die Texte daraus (es erklingen zudem aber Texte von Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci, letzterer mit deutlich programmatischen Perspektiven für Lachenmanns Komponieren insgesamt) und gibt dafür der Musik die Aufgabe, Bilder zu kreieren, die dieses Märchen assoziieren lassen. Mundry rückt die räumliche und zeitliche Wahrnehmung der Protagonisten der Homer ’ schen Odyssee in den Vordergrund, wählt aber statt der originalen Texte moderne Dichtungen (von Unica Zürn, Carolin Emcke und Giovanni Pascoli). Sie gelangt so zu einer Neuprägung der narrativen Seite, die als Radikalisierung der Ideen von Homer verstanden werden kann. Der Untertitel »choreografische Oper« deutet dabei auf die Verdichtung der semantischen Elemente durch Bewegungen der Akteure im Raum. Mit besonders komplexen literarischen Konstellationen, die größtenteils auf die Dominanz eines einzelnen Textes verzichten, aber doch sehr stark von klanglichen und poetologischen Dimensionen von Literatur inspiriert sind, warten die Musiktheaterwerke von Heiner Goebbels und Beat Furrer auf. Beide Komponisten schrieben, wenn auch mit sehr unterschiedlichen musikalischen Mitteln, jeweils mehrere Stücke, die sich durch die Reihung oder Verschränkung von lyrischen Texten (und manchmal auch erzählerischen und philosophischen) auszeichnen. Typisch sind dabei jeweils Konstallationen, die sich von jeder herkömmlichen Form von Narration deutlich entfernen (Hiekel 2011) und nach Möglichkeiten der semantischen wie musikalischen Verdichtung suchen, die im Sinne neuerer Diskussionen als »postdramatisch« (Lehmann 1999) zu bezeichnen sind. Furrer etwa schuf außer im schon erwähnten Werk Fama auch in Wüstenbuch (2010) ein »polyphon« zu nennendes Literaturgefüge (auf Texte vor allem von Bachmann, aber auch von Antonio Machado, Händl Klaus, José Angel Valente, Lukrez und Apuleius, also auf Literatur denkbar unterschiedlicher Provenienz). 460 Neue Musik und Mathematik Gerade im neueren Musiktheater gibt es über alle bisher skizzierten Ansätze hinaus auch etliche Projekte, in denen Komponisten eng mit Literaten kooperierten. In gewisser Weise auf den Spuren der legendären Kooperation von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, wenn auch zumeist mit deutlich gewandelten künstlerischen Mitteln, geht es dabei immer wieder auch darum, die klassischen Formen des Erzählens zu weiten. Exemplarisch seien dafür jene Projekte erwähnt, die Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek (etwa Bählamms Fest nach Leonora Carrington, 1997–99), Enno Poppe und Marcel Beyer (so etwa IQ, Testbatterie in acht Akten, 2011–12), Johannes Maria Staud und Durs Grünbein (Die Antilope, 2013–14) sowie Manos Tsangaris und Marcel Beyer (Karl May, Raum der Wahrheit, 2014) gemeinsam entwickelten. Vergleichbares gibt es allerdings auch außerhalb des Musiktheaterbereichs, ein Beispiel ist die regelmäßige Zusammenarbeit des Komponisten Clemens Gadenstätter mit der Dichterin Lisa Spalt (Gadenstätter / Spalt 2010). hjs.ff.cuni.cz/archives/v2/murphy/index.html (1. 7. 2015) „ Nanni, Matteo / Schmidt, Matthias (Hrsg.): Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern?, München 2012 „ Reichardt, Klaus: Musik und Poesie im 20. Jh., in: Musikalische Lyrik, Bd. 2 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/2), hrsg. v. Hermann Danuser, 319–326 „ Rode-Breymann, Susanne: Alban Berg und Karl Kraus. 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The Post-Serial Avant-Garde, in: Hypermedia Joyce Studies 2/1 (1999), http:// Literatur Neue Musik und Mathematik Inhalt: 1. Neopythagoräische Tendenzen  „ 2. Organisation des Zwölftonraums  „ 3. Konzeptionelle Orientierung an der formalen Mathematik 1. Neopythagoräische Tendenzen Viele Komponisten, die in der ersten Hälfte des 20. Jh.s versuchten, traditionelle Grenzen der Musik durch die Entwicklung neuer theoretischer Grundlagen des Komponierens zu überschreiten, taten dies auf Grundlage mathematischer Überlegungen bzw. der Rezeption neuerer naturwissenschaftlicher und mathematischer Theorien. Viele distanzierten sich dabei in unterschiedlichem Grad von dem Paradigma der Teiltonreihe bzw. den ganzzahligen Intervallproportionen, die in pythagoräischen und neopythagoräischen Traditionen stets als Fundament der Musiktheorie und als Hauptquelle ihres Verhältnisses zur Mathematik gegolten hatten. Einige Komponisten griffen allerdings auch weiterhin und zum Teil mit verstärkten praktischen Konsequenzen auf die Teiltonreihe zurück. Im Bereich der Harmonielehre ist hierfür vor allem Paul Hindemiths Unterweisung im Tonsatz (1937) zu nennen, in der versucht wird, auf Grundlage der Intervallproportionen ein »harmonisches Gefälle« mittels unterschiedlicher Spannungsgrade von Akkordbildungen zu gestalten (Ä Harmonik / Polyphonie). Harry Partch (1949/74) und La Monte Young, später auch James Tenney und Ben Johnston u. a. untersuchten die Folgen des Einbezugs von höheren Spektralkomponenten oberhalb des fünften Teiltons im Rahmen einer Entwicklung von mikrotonalen 461 Tonhöhensystemen mit dem Ziel, rein gestimmte Intervallkonstellationen zu erzeugen (Gilmore 1995; Ä ThemenBeitrag 7, 4.). In einer frühen Übertragung der musiktheoretischen Rationalisierung vom Bereich der Tonhöhen auf den Rhythmus hatte Henry Cowell (1930/96) den Grad an »Konsonanz« oder »Dissonanz« von komplexen polyrhythmischen Überlagerungen anhand von ganzzahligen Proportionen analog zur Teiltonreihe bestimmt. Dieser Ansatz fand seit den 1940er Jahren seine Weiterentwicklung u. a. in den »Tempokanons« von Conlon Nancarrow (Gann 1995) und in den »rhythmischen Modulationen« von Elliott Carter (Bernard 1988) (Ä Rhythmik / Metrum / Tempo). Sie wurden in den 1980er Jahren in veränderter Form auch von György Ligeti aufgegriffen, der sich daneben intensiv mit neuen mathematischen Forschungen in der fraktalen Geometrie, dem damit verbundenen Prinzip der Selbstähnlichkeit und der Chaostheorie auseinandersetzte (Ligeti 1989/2007; Steinitz 1996a, 1996b). Dabei spielte die pythagoräische Tradition, Modelle der Ä Natur zu entnehmen, vor allem in Ligetis Klavieretüden (1985– 2001) eine prägende Rolle, etwa wenn spiralförmige dynamische Modelle auf die musikalische Form übertragen werden wie in den Etüden Vertige (Nr. 9), L ’ escalier du diable (Nr. 13) oder Columna infinita (Nr. 14) (Steinitz 1996a). Abstand von der pythagoräischen Tradition hielten Komponisten wie Joseph Schillinger und Ivan Wyschnegradsky. Schillinger entwickelte mit seinem in den 1920er und 30er Jahren entworfenen Schillinger System of Musical Composition (1946, 1948) stilübergreifende theoretische Begriffe, die es erlauben, ohne Anlehnung an die Proportionen der Teiltonreihe traditionell notierte Musik in mathematischer und / oder graphischer Form darzustellen. Das System übte u. a. einen großen Einfluss auf Earle Browns graphische Partituren aus (Pine 2011; Ä Themen-Beitrag 2, 12.) und wurde aufgrund seiner universalistischen Ausrichtung 1959 zum Objekt einer scharfen Kritik Luigi Nonos (1959/75, 34–36). Wyschnegradsky (1953/96, 2013) strebte nach einer völlig erneuerten Basis der Komposition auf Grundlage von Bruchzahlen, die er zur Darstellung und Erforschung seiner »pansonoren« Klangwelten anwendete. Sie dienten als Mittel zur Konstruktion äquidistanter Skalen (in Drittel-, Viertel-, Sechstel-, Achtelund Zwölfteltönen) innerhalb des gesamten als »Klangkontinuum« verstandenen Frequenzspektrums bzw. als Mittel zur Kontrolle von Beschleunigungen und Verzögerungen rhythmischer Abläufe (Ä Themen-Beitrag 7, 2.). 2. Organisation des Zwölftonraums Seit der Entwicklung der Ä Zwölftontechnik bis zu Olivier Messiaen konzentrierten sich viele Komponisten auf eine konsistente Definition musikstrukturierender Mittel wie Neue Musik und Mathematik Reihen, Tropen oder symmetrischer Modi, die etablierte dur-moll-tonale Beziehungen neutralisieren und unabhängig vom Paradigma der Teiltonreihe Ordnungen des Tonraums erkunden. Die umfangreichen Auflistungen, die Josef Matthias Hauers Tropuslehre (1926) und Messiaens Modi mit begrenzter Transponierbarkeit (1944/66, 56–68; 2012, 458–476) erfordern, zeugen vom zunehmenden Interesse, durch Katalogisierung Überblick über die möglichen Formen und Entwicklungsmöglichkeiten des Ä Materials zu gewinnen. Herbert Eimert (1924) wendet bereits in der 1920er Jahren mathematische Prinzipien zur Berechnung möglicher Tonkombinationen und -gruppen an. Ernst Krenek geht von der zu dieser Zeit noch offenen Frage der Anzahl möglicher Allintervallreihen aus, um aufzuzeigen, welche neue Rolle der Mathematik in solchen Kontexten zukommen kann (Krenek 1937, 71–80). Das Zahlenmodell des Zwölftonraums – d. h. die Umschreibung der zwölf (oktavunabhängigen) Tonqualitäten (pitch classes) in Zahlenform, sodass Intervallgrößen oktavunabhängig als Differenzen modulo 12 wiedergegeben werden können – stellt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung dar. Mit der zusätzlichen Einführung von Grundoperationen und -relationen aus der mathematischen Mengenlehre können musikalische Strukturen in eine formallogische Sprache übersetzt werden und in Form geordneter oder ungeordneter Tonhöhenmengen nicht nur empirisch, sondern auch deduktiv erforscht werden (Rahn 1981; Straus 1990/2005, vgl. Nolan 2002, 289–295). Milton Babbitt begründete diese Methoden in den 1940er Jahren (Babbitt 1946/92) und entwickelte zugleich serielle Kompositionsprinzipien, die von einer eigenständigen Rezeption der Dodekaphonie Schönbergs ausgehen und stark von Einsichten in die strukturellen Eigenschaften der Schönbergschen Reihentechnik geprägt sind (Mead 1994; Herzfeld-Schild 2013; Ä Serielle Musik). Der formallogische Ansatz Babbitts und dessen Bezug zur Gruppentheorie der modernen Algebra führten in den USA seit Ende der 1950er Jahre zu zahlreichen Arbeiten weiterer Komponisten und Theoretiker wie David Lewin, John Rahn, Donald Martino oder Robert Morris (Morris 2007). In den 1980er Jahren schließt der rumänische Komponist Anatol Vieru (1985) mit einem »modalen« theoretischen Modell von mittels Transposition äquivalenten Intervallkonstellationen an diese Tradition an (Ä Osteuropa). Das Zahlenmodell des Zwölftonraums findet auch analytische und kompositorische Anwendungen, die weniger von deduktiven Methoden abhängen. Der Musiktheoretiker Allen Forte (1973) entwickelt die in der Folge weit verbreitete Methode der (pitch class) set theory, die es erlaubt, eine beliebige Gruppe von Tonhöhen durch Umkehrung, Transposition und Permutation auf eine von Neue Musik und Mathematik 208 definierte Äquivalenzklassen von Tonhöhenmengen (set classes) zu reduzieren. Zwischen diesen Konstellationen können, u. a. durch den Intervallgehalt, verschiedene Ähnlichkeitsbeziehungen hergestellt und ggf. kompositorisch genutzt werden. Ähnliche, aber weniger mathematisierte Klassifikationen wurden bereits seit den 1950er Jahren von Howard Hanson (1960) und Elliott Carter (2002) entwickelt. George Perle (1977) verwendet eine Variante des Zahlenmodells in der Darstellung seiner (tendenziell modal konzipierten) »Zwölfton-Tonalität«, in der Zentraltöne oder -klänge mit reihenartig angeordneten Tongruppen und Intervallzyklen kombiniert werden. 3. Konzeptionelle Orientierung an der formalen Mathematik Krenek sieht in den 1930er Jahren eine Verwandtschaft zwischen der Entwicklung der Mathematik seit Mitte des 19. Jh.s zu einer rein formallogischen, und somit auch autonomen Disziplin und dem Wandel der musikalischen Komposition (Krenek 1937, 80–89). Anhand von Auszügen aus den Grundlagen der Geometrie David Hilberts (1862–1943) plädiert Krenek für eine Rückkehr der Musik in die »Zone des reinen Gedankens« (ebd., 82) und integriert diese Überlegungen in eine »Ästhetik der neuen Musik«. Babbitt begreift die »Revolution im musikalischen Gedanken«, ausgelöst u. a. durch die Zwölftontechnik, als analog zu derjenigen der theoretischen Physik ab Mitte des 19. Jh.s und als Anlass einer eingehenden Überprüfung der theoretischen Fundamente von Musik (Babbitt 1958/2003, 48 f.). Über den formallogischen Ansatz hinaus, den er zur Erforschung des Zwölftonsystems anwendet, entwickelt Babbitt eine nominalistische Erkenntnistheorie der Musik, die stark vom logischen Positivismus Rudolf Carnaps (1891–1970) geprägt ist (Babbitt 1961, 1965). Sie wird in den USA u. a. von Benjamin Boretz (Boretz 1969–72) weiterentwickelt und bleibt zumindest bis in die 1980er Jahre Gegenstand allgemeiner methodologischer Auseinandersetzungen in der amerikanischen music theory (Brown / Dempster 1989). Die Bezüge zwischen formaler Mathematik und Musik, die Pierre Boulez, angeregt durch die Schriften von u. a. Léon Brillouin (1889–1969) und Louis Rougier (1889– 1982) in seinen Darmstädter Vortragszyklus Musikdenken heute von 1960 integriert (Boulez 1960/63), sind ganz anderer Natur als die von Babbitt hergestellten, auch wenn sie in ähnlicher Weise mit dem Ideal der »Notwendigkeit […], ein logisch organisiertes Bewußtsein zu entwickeln, das sich hütet, ins Nebensächliche zu verfallen« (ebd., 28) verknüpft sind. Sie zielen nicht auf die Regulierung von Aussagen über Musik, sondern auf eine Neuorientierung des kompositorischen Schaffens, die mit der »axiomati- 462 schen Methode« Rougiers in Einklang stehen soll, den Boulez ausführlich zitiert: »Die axiomatische Methode erlaubt, rein formale Theorien zu konstruieren, Beziehungsnetze, Tabellen von fix und fertigen Deduktionen. Folglich kann ein und dieselbe Form auf verschiedene Materien angewendet werden, auf Objektmengen unterschiedlicher Natur; mit der einzigen Bedingung allerdings, daß diese Objekte unter sich dieselben Beziehungen respektieren, wie sie zwischen den Symbolen herrschen, für die die Theorie keine Definition gibt« (Rougier zit. nach ebd., 25). Dieser Vorsatz Boulez ’ spiegelt sich u. a. in den abstrakten Kategorien, die er im Verlauf der Darstellung seiner »musikalischen Technik« definiert und auf verschiedene Parameter und Zeitdimensionen der Musik überträgt (ebd., 29–123). Boulez ’ Beispiel macht besonders deutlich, dass mathematische Bezüge einerseits »die Fundierung und die innere Stimmigkeit der Theorie« gewährleisten, andererseits aber es darüber hinaus auch erlauben »eine begrenzte Anzahl von Operationen« für die kompositorische Praxis verfügbar zu machen (Borio 2005, 255). Besonders Iannis Xenakis macht dann die Formalisierung kompositorischer Prozesse im Sinne einer umfassenden »Philosophie der Musik« (1966; 1992, 201–241) zum Programm und prägt damit eine seit den 1950er Jahren sich stetig verbreiternde Tendenz zur formalisierten und algorithmischen Komposition (Ä Elektronische Musik, 6.). Im Zentrum seines Schaffens steht zunächst die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie, die er auf der Basis des Gedankens einer »stochastischen Musik« (Xenakis 1956, 1958, 1960–61, 1963/92, 1–154; Baltensperger 1996) auf verschiedenen Ebenen einsetzt: Sie wirkt als Mittel zur Erzeugung orchestraler Klangmassen (Pithoprakta für Orchester 1955–56, ebd., 12–21), zur Definition eines allgemeinen Erzeugungsverfahrens auf Basis von Folgen abhängiger Zufallsgrößen (»Markowketten«), das sowohl im instrumentalen als auch im elektronischen Medium anwendbar ist (Analogique A+B, 1959; ebd., 43–109) oder zur Kontrolle der Überlagerungen von Klangkonstellationen, die von zwei »in Konkurrenz stehenden« Orchestern ausgehen (Duel für zwei Orchester, 1959, ebd., 110–130). Als »ästhetisches Gesetz« wird die Wahrscheinlichkeitstheorie auch in einem Ansatz umgesetzt, der ein Werk mit einem »minimum of constraints, causality, rules« ins Leben ruft (Achorripsis für 21 Musiker, 1956–57; ebd., 23 f.). Mit dem Schritt zur »symbolischen Musik« wird dann die »axiomatische Methode« für Xenakis zum Leitgedanken einer »reconstruction, as much as possible ex nihilo, of the ideas basic to musical composition« (ebd., 207). Er interpretiert Mengenlehre und moderne Algebra einerseits als Resultat eines Gedankenexperiments, das eine Formalisierung von Grundlagen des Hörens und Denkens über 463 Musik anstrebt, und andererseits als mögliche Basis für die Konzeption musikalischer Werke. Über den spekulativen Charakter seines Ansatzes hinaus illustriert Xenakis seine Theorie durch detaillierte Darstellungen der Kompositionsprozesse von Herma für Klavier (1960–61, ebd., 155–177) und von Nomos alpha für Violoncello (1966, ebd., 201–236). In der Folge nutzt Xenakis zahlreiche weitere mathematische Theorien, darunter zelluläre Automaten und Chaostheorie, für die Erzeugung neuer kompositorischer Ansätze (Hoffmann 1994, 2002; Ä Elektronische Musik, 6.3). Für Xenakis, Boulez und andere Komponisten, die sich in den 1950er Jahren mit mathematischen Theorien befassten, wie Karlheinz Stockhausen (1957/63), Henri Pousseur (1970) oder Gottfried Michael Koenig (1958) sind mathematische Operationen vorwiegend an quantisierbare musikalische Ä Parameter gebunden, welche die physische Realität und / oder die Wahrnehmung von Klangereignissen abbilden bzw. charakterisieren. Einfache Klangereignisse werden mit quantisierten Skalen von Tonhöhen, Zeitdauern, Lautstärken und Klangfarben versehen und ihre Zusammensetzung in Klanggebilde mit Parametern wie Dichte, Phase und Geschwindigkeit oder, wie Stockhausen (1954/1963) vorschlägt, mit einer aus der Statistik übernommenen Terminologie beschrieben. Der Einfluss der neuen Klangerzeugungstechnologien in der Ä elektronischen Musik ist in diesen Entwicklungen deutlich spürbar, die mit Bezugnahmen auf naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Ä Akustik, die strukturale Linguistik oder die Informationstheorie bzw. -ästhetik von Werner Meyer-Eppler (1913–60) und Abraham Moles (1920–92) verbunden sind. Sie prägen die theoretischen Auseinandersetzungen wie auch kompositorischen Vorgehensweisen durch neue, teils mathematisierte Konzepte (Feß 2004; Borio 2005), die aufgrund ihrer rein quantitativen Auffassung menschlicher Wahrnehmung aber bald unter Kritik geraten (Ä Wahrnehmung). Ä Themen-Beitrag 7; Analyse; Musiktheorie; Neue Musik und Architektur Babbitt, Milton: The Function of Set Structure in the Twelve–Tone System, [1946], Princeton 1992 „ ders.: The Composer as Specialist [Who Cares if you Listen?, 1958], in: The Collected Essays of Milton Babbitt, hrsg. v. Stephen Peles, Stephen Dembski, Andrew Mead und Joseph N. 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Einleitung Die Musikgeschichte Nordamerikas wird aus europäischer Warte in der Regel mit derjenigen der USA gleichgesetzt, was angesichts von Umfang, Ausstrahlung und globaler Dominanz der Musik, die vor allem seit dem 20. Jh. in den Vereinigten Staaten entstanden ist, verständlich erscheint. Aber die genannten Gründe sind trügerisch und verzerren eine komplexe geschichtliche und ästhetische Wirklichkeit, in der quantitative Faktoren (und Argumente) nur bedingt tauglich sind. So ist die Frage, ob die musikgeschichtlichen Entwicklungen Nordamerikas zusammen oder getrennt zu behandeln sind, nicht eindeutig zu beantworten, wenn man sich die verwickelten geschichtlichen Voraussetzungen vergegenwärtigt. Der föderale Staatenbund USA mit einem Präsidenten als Oberhaupt entstand 1776 aus dem Zusammenschluss 13 ehemaliger britischer Kolonien an der amerikanischen Ostküste; vorausgegangen war eine ca. 200-jährige Kolonisierung von Teilen des späteren Staatsgebiets durch europäische Großmächte – Spanien (ab 1565), Frankreich (ab 1605), England (ab 1607), Niederlande (ab 1613) und das Russische Reich (ab 1741)  – und dies in Verbindung mit der Zwangsdeportation von ca. 12 Millionen Afrikanern als Sklaven (ab 1619) sowie der parallelen Einwanderung aus Europa, vornehmlich aus den deutschsprachigen Gebieten (ab 1670). Abgeschlossen wurde die territoriale und politische Konstituierung der USA mit insgesamt 50 Bundesstaaten jedoch erst 1959 durch das Hinzukommen von Alaska und Hawaii; das Staatsgebiet umfasst heute eine Fläche von knapp 10 Millionen km2, auf der ca. 317 Millionen Menschen leben. Kanada  – von der Staatsform eine parlamentarische Monarchie, vom Regierungssystem her eine parlamentarische Demokratie – erlangte dagegen erst mit dem Konstitutionsgesetz vom 17. April 1982 seine volle rechtliche Souveränität innerhalb des Commonwealth. Damit wurde ein langwieriger Prozess abgeschlossen, der Ende des 15. Jh.s mit der englischen Inbesitznahme der Kap-Breton-Inseln begann und über die französische Gründung Québecs 1608 sowie eine Reihe von Kriegen zwischen den beiden Kolonialmächten England und Frankreich (und verschiedenen Indianerstämmen als jeweiligen Verbündeten) im 18. Jh. schließlich nach dem Ende des nordamerikanischen Bürgerkriegs 1867 zur Gründung des Dominiums Kanada mit weitgehender Unabhängigkeit von England führte. Das heutige Kanada umfasst ungefähr dieselbe Fläche wie die USA, mit 35 Millionen Einwohnern jedoch nur ca. 10  der dortigen Einwohnerzahl. Auch wenn Kanada mit den USA eine Reihe von Problemen teilt (etwa im Hinblick auf die Rechte der indigenen Bevölkerung und die Rolle der Einwanderer) und einen regen wirtschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Austausch mit den angrenzenden Bundesstaaten der USA pflegt, so unterscheidet sich das Land durch den Antagonismus von anglo- und frankophoner Kultur und ein anderes Verhältnis 465 von Staat und Gesellschaft wesentlich von den USA; dies hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die musikalische Kultur. 2. Vereinigte Staaten Die Genese und Physiognomie der neuen Musik in den USA wird  – im Gegensatz zur europäischen Situation  – weniger durch (relativ) genau bestimmbare musik- und kompositionsgeschichtliche Konstellationen als durch eine Vielzahl innerer und äußerer Faktoren bestimmt; entsprechend schwierig ist es, eine chronologische wie inhaltliche Definition des »Neuen« in der Musikgeschichte der USA zu geben. Kann man in Europa von mehreren Zäsuren sprechen, die gegen 1890 mit der sog. Ersten Moderne (Debussy, Mahler, Strauss), um 1909 mit dem Übergang zur freien Atonalität und nach 1918 mit der Bewegung der sog. Ä Neuen Musik in Deutschland und der Formierung des Neoklassizismus gegeben sind, so ist in den USA aufgrund der paradoxen Verschränkung von Kürze und Dynamik der musikgeschichtlichen Entwicklung kaum zu entscheiden, welche Impulse als zentral angesehen werden können. (Und damit ist sogar die stillschweigende Voraussetzung, dass es nur eine, singuläre Musikgeschichte gibt, infrage gestellt: In der USamerikanischen Musikwissenschaft hat sich daher der Plural »musics« gegenüber »music« durchgesetzt.) Zwar gibt es von Beginn einer eigenständigen Musikgeschichte der USA an die Dichotomie zwischen einer »ernsten« und »populären« Musikkultur, doch wurden und werden solche soziologisch definierten Grenzen – ebenso wie ethnische, religiöse oder weltanschauliche Konstrukte  – in der Realität beständig überschritten oder verschoben. Die Frage der musikalischen Identität der USA (Ä ThemenBeitrag 2) wurde erst nach dem Ende des Sezessionskriegs 1865 virulent, wenngleich sie schon zuvor von Stephen Foster (1826–64) in seinen Songs, die Melodien und Idiome der Lieder der afroamerikanischen Sklaven aufgreifen, und Louis Moreau Gottschalk (1829–69) in seinen von der karibischen Rhythmik inspirierten Klavierwerken berührt wurde. Der politisch motivierte Gebrauch des bereits bestehenden Repertoires an populärer Musik (Militärsignale und -märsche, Volksmusik verschiedener Ethnien, weltliche und geistliche Hymnen) während des Bürgerkriegs schuf ein semantisch und symbolisch aufgeladenes musikalisches Vokabular, auf das amerikanische Komponisten seit Charles Ives (1874–1954) bis Michael Daugherty (*1954) zurückgreifen. Während des »Gilded Age« (ca. 1870–1918), das den Aufstieg der USA zur Weltmacht einleitete, aber den Rassenkonflikt nicht zu lösen vermochte, konstituierte sich das »Neue« der amerikanischen Musik in verschiedenen Physiognomien. Als grundsätzlich von Nordamerika Europa unterschiedene Musiksprachen, die von der Musikkultur der Südstaaten ausgingen, gelten Blues, Gospel, früher Jazz und Ragtime. In ihnen wurden archaische, bislang vorwiegend mündlich überlieferte Formen des Musizierens, kontrollierte Ä Improvisationen oder ungewohnte Zeitgestaltungen erprobt und zugleich neue ästhetische und soziale Funktionen von Musik etabliert, die mit dem Begriff der »Unterhaltung« nur unzureichend gefasst sind. Einen zweiten Weg, die Integration indigener musikalischer Elemente in vertraute europäische Gattungsmuster, stieß Dvořák mit seiner Sinfonie Aus der Neuen Welt an, in der er u. a. Gospelzitate zur symbolischen Nobilitierung einer vermeintlichen amerikanischen Ursprungsmusik einsetzte; der ethnologisch orientierte »Indianismus« der Jahrhundertwende, den Arthur Farwell und Edward MacDowell propagierten, erwies sich dagegen als Sackgasse. (Dass die indianische Musik sich aufgrund ihrer monodischen Anlage und rhythmischen Struktur nicht im westlichen Sinn verarbeiten ließ, konstatierte bereits 1910 Ferruccio Busoni, der als einer der wenigen Europäer kompositorisch auf diese Entwicklung reagierte; Busoni 1935, 284.) Von einer Außenseiterposition her beschritt zur selben Zeit Charles Ives mit der Konzeption eines offensiven ästhetischen Synkretismus einen dritten Weg, der die Heterogenität der amerikanischen Musiksprachen reflektierte und sich dabei radikaler und weit in die Zukunft weisender Mittel bediente. Obwohl Ives ’ Musik zu Lebzeiten des Komponisten erst spät und nur zögerlich rezipiert wurde, nahm sie auf die nachfolgenden amerikanischen Komponistengenerationen unabhängig von deren jeweiliger ideologischer Ausrichtung enormen Einfluss; darüber hinaus unterstützte Ives die institutionelle Konsolidierung der amerikanischen Ä Avantgarde nach 1918 mäzenatisch. Parallel zu Ives konzipierte der in Kalifornien lehrende Musikwissenschaftler und -theoretiker Charles Seeger (1886–1979) während des Ersten Weltkriegs einen neuartigen Ansatz, der jegliche kompositorische Arbeit als Konkretisierung eines universal gültigen musikalischen Feldes ansah (Seeger 1994). Er gab diese Theorie – u. a. in der Anwendung des sog. »dissonant counterpoint« (Seeger 1930; 1994, 163–228)  – an seinen Schüler Henry Cowell (1897–1965) weiter, der sie in seiner frühen experimentellen Klaviermusik durch Nutzung neuer Spielund Klangtechniken erweiterte (vor allem durch Cluster und das Streichen der Saiten in Stücken wie The Tides of Manaunaun, 1917, und The Banshee, 1925). Parallel dazu entwickelte er in der bereits 1919 fertiggestellten, aber erst 1930 veröffentlichten Schrift New Musical Resources eine monokausale Herleitung aller nur denkbaren klanglichen Erscheinungsformen aus den Proportionen der Obertonreihe (Cowell 1930/96). Nordamerika Zusammen mit den Impulsen eingewanderter europäischer Komponisten, unter ihnen Leo Ornstein (1893– 2002) und vor allem Edgard Varèse (1883–1965), führte diese Entwicklung zur Entstehung der sog. »Ultramoderne« in den USA (Oja 2000). Sie war eine Antwort auf die europäischen Avantgardebewegungen, von denen sie sich durch einen radikal heuristischen Ansatz abgrenzte, der das voraussetzungslose klangliche Experiment ins Zentrum stellte, nicht aber die Negation von Tradition(en). Von hieraus ist das umfassende musikalische, literarische und auch bildnerische Werk von John Cage (1912–92) einzuordnen, der als Schüler Cowells (und zeitweise, nach dessen Emigration in die USA, auch Arnold Schönbergs) eine umfassende Kritik und Umdeutung der Kategorien der europäischen Kunstmusik einleitete. Dazu gehörte insbesondere die Ablehnung einer narrativen Funktion von Musik und eine Abkehr von intertextuellen Bezugnahmen auf frühere (eigene oder fremde) Werke und Traditionszusammenhänge; nicht-determinierte, zufallsgesteuerte Verfahrensweisen zur Herstellung unvorhersehbarer Texturen sollten dem entgegenwirken (Ä Zufall). In diesem Zusammenhang forderte Cage auch, u. a. beeinflusst von Varèse, die Gleichberechtigung des Ä Geräuschs und elektroakustischer Instrumente sowie die interdisziplinäre Öffnung von Musik hin zum Ä Tanz, zur bildenden Kunst (Ä Neue Musik und bildende Kunst) und zur Ä Performance, womit er auch der technologischen Revolution in der amerikanischen Avantgarde nach 1945 entscheidende Anstöße gab. Demgegenüber hatten George Antheil (1900–59), George Gershwin (1898–1937) und Aaron Copland (1900–90) ab 1924 mit der Fusion von Ä Jazz und neuer europäischer Musik (Wiener Schule, Strawinsky) experimentiert. In der politisch und ökonomisch schwierigen Phase des New Deal ab 1933, in der erst- und bislang einmalig der Staat die Kultur umfassend und systematisch förderte, strebte Copland zusammen mit Roy Harris (1898–1979) über die (mythisch überhöhte und von Hollywood unterstützte) Bezugnahme auf amerikanische Volkmusik einen einheitlichen und allgemein verständlichen Stil auf der Basis einer neoklassizistischen Musiksprache an. Daran beteiligten sich erstmals auch afroamerikanische Musiker, so der Stride Piano-Pionier James P. Johnson (1894–1955), der Komponist der Afro-American Symphony William Grant Still (1895–1978) und – unter Einbeziehung der Stilelemente des Swing – Duke Ellington (1899–1974). Seine kulturpolitisch brisante Suite Black, Brown, and Beige (1943) verkörpert eine frühe Verbindung von (schwarzem) Jazz und (weißer) Konzertmusik, die Charles Mingus (1922–79) mit seiner unvollendet gebliebenen, mehr als zweistündigen Komposition Epitaph (erste Teilaufführung 1962) weiterführte. Die maß- 466 geblichen Positionen der amerikanischen Moderne (allerdings unter Ausnahme schwarzer Komponisten) sind in der 1933 von Cowell herausgegebenen Anthologie American Composers on American Music dokumentiert (Cowell 1933). Durch die Emigration eines Großteils der Vertreter der europäischen klassizistischen Moderne und Avantgarde in die USA nach 1933 wurde die Situation während des Zweiten Weltkriegs vollends unübersichtlich. Zu diesem Zeitpunkt wirkten u. a. Béla Bartók, Paul Dessau, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek, Bohuslav Martinů, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Kurt Weill und Stefan Wolpe in den Zentren der Ost- bzw. Westküste  – jeder von ihnen mit dezidierten eigenen Vorstellungen über die Art seines Beitrags zur amerikanischen Musik(geschichte) und unterschiedlichsten Anpassungs- bzw. Verweigerungsstrategien gegenüber dem hochprofessionellen amerikanischen Musikmarkt. Ebenso individuell und originell arbeiteten die führenden amerikanischen Komponisten der jüngeren Generation – neben Cage seien hier Elliott Carter (1908–2012), Lou Harrison (1917–2003), Conlon Nancarrow (1912–97), Harry Partch (1901–74) und Milton Babbitt (1916–2011) genannt – an der (Re-)Formulierung ästhetischer Ziele der amerikanischen Moderne. Unabhängig von ihrer eigenen Prägung setzten sie sich kontinuierlich mit ihren europäischen Zeitgenossen und deren Positionen auseinander, wie der Briefwechsel zwischen Cage und Pierre Boulez (Cage / Boulez 1997), die kontroversen Reaktionen auf die neue amerikanische Musik auf den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt im Schatten des Kalten Kriegs (Beal 2006), Partchs musikalische Privatmythologie einer Rekonstruktion der pythagoräischen Stimmung (Ä Themen-Beitrag 8) oder auch die intensive Rezeption der dodekaphonen Techniken Schönbergs und Strawinskys durch Babbitt und Carter (Ä Zwölftontechnik) belegen. Der Einfluss prominenter europäischer Komponisten wie Luciano Berio, Darius Milhaud und Karlheinz Stockhausen, die in den USA unterrichteten bzw. regelmäßig eigene Werke vorstellten, darf ebenfalls nicht unterschätzt werden. Umgekehrt nahm Nancarrows Musik einen starken Einfluss auf Ligeti, der sie zu Beginn der 1970er Jahre für sich entdeckt hatte (Gann 1995). Die zweite Hälfte des 20. Jh.s hat indes gezeigt, wie abhängig die Wahrnehmung und Bewertung des Neuen in der amerikanischen Musik vom Rezeptionsstandpunkt geworden ist. In Europa wurde ab 1970 vor allem der musikalische Ä Minimalismus mit seinen Hauptvertretern Terry Riley (*1935), Steve Reich (*1936), Philip Glass (*1937) und aus der zweiten Generation John Adams (*1947) populär; La Monte Young (*1935) nimmt eine Son- 467 derstellung ein. Eine große Rolle für die Faszination, die von den minimalistischen Werken ausging, spielte dabei der Umstand, dass die Komponisten ihre Werke in der Regel selbst mit speziell geschulten Musikern aufführten, sowie die Verbreitung im Rundfunk bzw. auf Tonträgern (etwa die Veröffentlichung von Hauptwerken Reichs auf einer 3 LP-Box der Deutschen Grammophon 1974). Der europäische Postminimalismus entstand in unmittelbarer Reaktion auf die amerikanische Szene (Potter u. a. 2013). In den USA selbst sind eher die Vertreter einer im weitesten Sinn wertkonservativen Komponierhaltung wie Samuel Barber (1910–81), Carter oder George Rochberg (1918–2005) als repräsentativ für eine amerikanische Moderne gewürdigt worden (erkennbar in den Entscheidungen des Pulitzer-Preis-Komitees, vgl. Fischer 2001), auch wenn die Komponisten sich selbst immer wieder als Außenseiter sahen (Rochberg 2004) oder die Entfremdung vom Publikum beklagten (Carter 1960/97). Leonard Bernstein (1918–90), der wohl bekannteste amerikanische Komponist nach 1945, legte seine Musik von Beginn an als Plädoyer für eine universale künstlerische und kulturelle Toleranz an (Bernstein 1982/90). Ebenso erfolgreich war Gunther Schullers Programm eines »Third Stream« (Schuller 1961/86), durch das sich auch bedeutende Jazzmusiker anregen ließen, darunter John Coltrane (1926–67), Ornette Coleman (1930–2015), William Russo (1928–2003) und Miles Davis (1926–91) in Kompositionen wie Pangaea, 1975. Die hybriden und teilweise durch Lautstärke und Dauer stark provozierenden stilistischen Fusionen, mit denen die Rockmusiker Frank Zappa (1940–93) und Glenn Branca (*1948) nach 1980 hervortraten, lassen sich allerdings kaum noch mit diesem Konzept verbinden, ebenso wie die gleichzeitigen experimentellen Exkurse Keith Jarretts (*1945), etwa in dem Album Sleeper von 1979. (Das kommerziell erfolgreichste Crossover-Werk war allerdings Wendy Carlos ’ [*1939] LP Switched on Bach mit Transkriptionen von Werken J.S. Bachs für Moog-Synthesizer, die über eine halbe Millionen Mal verkauft wurde.) Auf größeres internationales Interesse stießen auch Komponisten aus dem Umkreis des Minimalismus wie Alvin Lucier (*1931), Phill Niblock (*1933), Charlemagne Palestine (*1945) und vor allem La Monte Young, die mit Konzeptkunstwerken auf die Happening- und Performancebewegung der 1960er Jahre reagierten. Reichtum und Originalität der musikalischen Avantgarde(n) der USA, die sich immer wieder in »Off-Avantgarden« ausdifferenzieren (Gann 1997), gehen aber noch wesentlich weiter: So decken die Werke von Robert Ashley (1930–2014), Henry Brant (1913–2008), Jacob Druckman (1928–96), Morton Subotnick (*1933), Roger Reynolds (*1934), James Tenney (1934–2006), Gordon Nordamerika Mumma (*1935) oder Tom Johnson (1939–83) ein breites Spektrum zwischen elektronischer Musik, Mixed Media, Fernsehoper, Environmental Art und Mikrotonalität ab (Ä Themen-Beitrag 8, Ä Musiktheater, Ä Performance). Die Gründung des Columbia-Princeton Electronic Music Center durch Babbitt, Otto Luening (1900–96), Roger Sessions (1896–1985) und Vladimir Ussachevsky (1911–90) im Jahr 1959 hatte hierfür für einen wichtigen institutionellen Anstoß geschaffen. Unter den großen Individualisten der amerikanischen Musik hat sich vor allem George Crumb (*1928) den Ruf eines Erneuerers erworben, dessen klangliche Exotismen die von Cowell antizipierte Vision einer aus vielen Kulturen gespeisten »world music« surrealistisch verfremdet haben. Eine stark ambivalente Rezeption haben die Konzepte der New York School ausgelöst, die sich Anfang der 1950er Jahre um Cage bildete und der Earle Brown (1926–2002), Cage, Morton Feldman (1926–87) und Christian Wolff (*1934) angehörten und deren Ideen sich später Frederic Rzewski (*1938) und der englische Komponist und Interpret Cornelius Cardew (1936–81) anschlossen. Die von Tendenzen der bildenden Kunst angeregte Erforschung des strukturellen und sozialen Potenzials klanglicher Konstellationen mit dem (vorübergehenden) Übergang zu graphischer Ä Notation, der Gewährung weitreichender Gestaltungsautonomie der Interpreten und der Schaffung bewusst mehrdeutiger Situationen führte zu Werken, die hinsichtlich des Komplexitätsgrads, der Länge oder der Wahl der Mittel unterschiedlichste und unvorhersehbare Lösungen zulassen. Trotz des Kultstatus, den die Kompositionen Cages und Feldmans in Europa genießen, ist hier eine grundsätzliche Widerständigkeit spürbar, die bislang dem globalen Druck medialer und kommerzieller Vereinnahmung Stand gehalten hat. Demgegenüber sind die meisten der im Gefolge von Fluxus entstandenen Spielarten urbaner (Off-)Kulturen im kulturellen Mainstream aufgegangen; nur wenigen Konzeptkünstlern wie Pauline Oliveros (*1932), Joan La Barbara (*1947), Meredith Monk (*1942) oder John Zorn (*1953) ist es gelungen, eine unabhängige Position zu bewahren. Seit der politischen Zäsur des Jahres 1990 und im Zuge der digitalen Revolution ist der Einfluss der amerikanischen musikalischen Avantgarde(n) auf Europa stark zurückgegangen und im Moment vielleicht sogar inexistent. Vertreter der jüngeren Generation amerikanischer Komponistinnen und Komponisten  – genannt seien Julia Wolfe (*1958), Steven Kazuo Takasugi (*1960) und Mark Randall Osborn (1969–2002) – greifen in ihrem Bestreben, tradierte Hörund Rezeptionsmuster infrage zu stellen, jedoch deutlich die Positionen der älteren mavericks auf. Möglicherweise wird der Schwerpunkt zukünftig dennoch stärker auf Nordamerika ethnisch inspirierten Crossover-Ansätzen liegen, wie sie amerikanisch-chinesische Komponistinnen und Komponisten wie Chen Yi (*1953) und Tan Dun (*1957) (Ä China / Taiwan / Hong Kong) oder der aus Argentinien stammende Osvaldo Golijov (*1960) entwickelten. Für die Verbreitung neuer amerikanischer Musik nehmen die Spezialensembles in den großen Städten und an den führenden Hochschulen bzw. Universitäten eine wichtige Funktion ein, die sich als Reaktion auf die von Komponisten gegründeten Ensembles (Partch 1947, Reich 1966, Glass 1968) bildeten. Dazu gehören das von Joel Sachs und Cheryl Seltzer 1966 gegründete Continuum Ensemble, das in der Besetzung von Schönbergs Pierrot lunaire spielende New York Music Ensemble (gegründet 1976), das Argento Chamber Ensemble (2000), das Talea Ensemble (2007) und seit 2010 das New Yorker Vokalensemble Ekmeles. Enorme Verdienste um die amerikanische Avantgarde erwarb sich das 1973 in Seattle gegründete und seit 1978 in San Francisco ansässige Kronos Quartet. 3. Kanada Während die Zahl der Komponisten oder Musiker auf dem Gebiet der neuen Musik in den USA fast unüberschaubar ist und Persönlichkeiten wie John Adams, Philip Glass oder Steve Reich Weltruhm genießen, fällt es schwer, einen vergleichbare prominenten kanadischen Namen zu nennen. Die meisten Hörer dürften die kanadische Musikkultur wohl mit dem Pianisten Glenn Gould (1932–82) assoziieren, der den größten Teil seines Lebens in seiner Geburtsstadt Toronto verbrachte. Kennern der neuen Musik ist der Name von R. Murray Schafer (*1933) vertraut, der zu den Pionieren der Klangkunst und acoustic ecology zählt (Schafer 1977/2010), sowie der nach Frankreich übersiedelte Claude Vivier (1948–83), einer der eigenwilligsten Komponisten der zweiten Jahrhunderthälfte überhaupt (Gilmore 2014). Diese Diskrepanz hat nicht nur mit der erwähnten Relation von Einwohnerzahlen und Bevölkerungsdichte zu tun, sondern auch mit der politisch bedingten späten Autonomie Kanadas. So kann man anders als in den USA erst nach 1945 von einer eigenständigen kanadischen Moderne in der Musik sprechen, als das Land im Zuge institutioneller Reformen ein starkes, wenngleich durch die Sprach- und Kulturgrenze gespaltenes nationales Selbstbewusstsein erlangte. Zuvor war das kanadische Musikleben eine Kopie europäischer Verhältnisse und spielte sich aufgrund der riesigen Entfernungen hauptsächlich in den Großstädten (Calgary, Halifax, Montreal, Quebec und Toronto) ab. Erst die Schaffung einer flächendeckenden Kommunikationsinfrastruktur durch die Gründung der 468 staatlichen Canadian Broadcasting Corporation / Société Radio Canada (CBC / SRC) im Jahr 1936 ermöglichte eine entscheidende Verbesserung der kulturellen und damit auch musikalischen Bildung. Der Radiosender wurde in der Folge auch zum wichtigsten Arbeit- und Auftraggeber für Musiker und Komponisten. Vergleichbar der Situation im amerikanischen New Deal wurden in den 1930er Jahren zahlreiche Orchester und Festivals gegründet, die das Musikleben institutionell konsolidierten. Der 1945 von der Regierung initiierte Canadian Music Council erfüllte dann eine zentrale Koordinierungs- und Finanzierungsfunktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte ein künstlerischer Aufschwung, an dem sich europäische Emigranten (u. a. Sophie-Carmen Eckhardt-Grammaté [1899–1974] und Oskar Morawetz [1917–2007]) maßgeblich beteiligten und der schließlich zur Profilierung einer eigenständigen kanadischen Komponistenszene geführt hat. Zu den Hauptvertretern einer international ausgerichteten kanadischen Moderne zählen – neben den bereits erwähnten Schafer und Vivier  – Louis Applebaum (1919–2000, Schüler von Ernest MacMillan), John Beckwith (*1927, Schüler von Nadia Boulanger), Jacques Hétu (1938–2010, Schüler von Lukas Foss und Olivier Messiaen), die Deutsch-Kanadierin Hildegard Westerkamp (*1946, in den 1980er Jahren Mitarbeiterin Schafers am World Soundscape Project) und Denys Bouliane (*1955, Schüler von Mauricio Kagel und György Ligeti). Daneben hat aber auch die schöpferische Auseinandersetzung mit der Musik der Inuit und der indianischen Ureinwohner sowie den diversen folkloristischen Musiktraditionen auf kanadischem Boden eine zunehmende Bedeutung erlangt; in diesem Kontext sind Werke von Harry Somers (1925–99), Malcolm Forsyth (1936–2011), Christos Hatzis (*1953) und Barbara Croall (*1966) entstanden, die ihrer Entdeckung durch ein europäisches Publikum noch harren. Dies gilt auch für die jüngere Generation kanadischer Komponistinnen und Komponisten, in der sich Jean-François Laporte (*1968), Chris Paul Harmon (*1970), Nicole Lizee (*1973), Derek Clarke (*1974) und Gabriel Dharmoo (*1981) profiliert haben. Zur Präsenz neuer Musik in Kanada tragen darüber hinaus die umfangreichen Aktivitäten des 1989 in Montreal gegründeten Nouvel Ensemble Moderne bei, das sich mit einem jährlichen Forum für junge Komponisten gezielt der Nachwuchsförderung widmet. Das vom indischdeutschen Komponisten Sandeep Bhagwati (*1963) an der Concordia University in Montreal geleitete matralab verfolgt eine interdisziplinäre und intermediale Ausrichtung und fördert mit seinen »Research-Creation«-Projekten die Zusammenarbeit von künstlerischer Produktion und Forschung, häufig mit einem interkulturellem Schwerpunkt. 469 Nordeuropa Ä Themen-Beitrag 3; Minimalismus / Minimal Music Beal, Amy: New Music, New Allies. 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Mit »norden« oder »nordiska länderna« (schwed.) werden jene Länder bezeichnet, die, schon lange bevor sie ab 1952 auch politisch im Nordischen Rat zusammenfanden, in gemeinsamen kulturellen Institutionen immer wieder kooperiert haben: Schweden, Norwegen, Dänemark, Island und Finnland. Freilich sollte man weder aus dem weithin existierenden Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit noch aus den institutionellen Verbindungen darauf schließen, dass es in diesen Ländern so etwas wie eine gemeinsame musikalische Ästhetik gäbe. Und wenngleich der Topos von der engen Verbindung nordischer Musik zur Ä Natur, zur Landschaft und zum Licht teilweise in der Selbstwahrnehmung und der werbewirksamen Außendarstellung bis heute lebendig ist, so ist ihm doch mit Skepsis zu begegnen. Er hat schon die Rezeption der nationalen Heroen Edvard Grieg, Carl Nielsen und Jean Sibelius allzu klischeehaft belastet. Die nordischen Länder stehen für gemeinsame Grundsätze und Werte, für Volksbildung, für klassische Arbeiterbewegungen, für soziales Engagement bspw. in den Freikirchen. Solche Werte waren stets auch mit kulturellen Ausprägungen verbunden. Gemeinsamkeiten zu institutionalisieren und dadurch festzuschreiben wird indes immer schwieriger. Nicht nur weil die jüngeren Generationen mobil sind und sich geographisch wie kulturell in andere Richtungen orientieren, sondern auch weil die politischen Übereinstimmungen zwischen den Ländern geringer werden. Das Verhältnis zur Europäischen Union ist unterschiedlich. Seit 1989 gibt es starke Bemühungen, die alten historischen Beziehungen Schwedens und Dänemarks zum Baltikum wiederzubeleben. Vor allem aber scheint der skandinavische Wohlfahrtsstaat, der die Kultur ideell wie materiell gestützt hat, seinem Ende entgegenzugehen. Per Nørgårds berühmter Begriff vom Universum eines nordischen Sinns (»Det nordlige sinds univers«, Nørgård 1956, 66), 1956 geprägt und seither oft zitiert, ist heute schwer mit Leben zu füllen. Möglicherweise ist der nordische Sinn schon bald nur mehr eine Reminiszenz. Nordeuropa 1. Entwicklungen und Tendenzen Manche musikgeschichtliche Strömungen und Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die häufig als historisch folgerichtig dargestellt wurden (Ä Musikhistoriographie), finden ihren Niederschlag in Nordeuropa verzögert oder abgeschwächt. Der Vergleich mit den in der Musikgeschichtsschreibung oft herausgehobenen Schulen und Stilen in Westeuropa oder Nordamerika ist daher nicht immer zielführend. Vielmehr sollte man auch versuchen, nordeuropäische Perspektiven in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu begreifen. Vorbedingungen kompositorischer Reflexion liegen für die nordischen Länder nicht nur in der Wiener Schule, in den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt oder der FluxusBewegung, sondern z. B. in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen nationalen Ikonen der Kompositionsgeschichte, im Bemühen, nationale Traditionen wiederzubeleben oder erst zu begründen, oder in einem humanistisch-demokratischen Kulturbegriff, der den für alle Gesellschaftsschichten leistbaren Zugang zur Kunst zum Prinzip erhebt. Diese Bedingungen führten in Nordeuropa u. a. zu einer spezifischen Gewichtung musikalischer Ä Gattungen, einer eigenständig entwickelten Vielfalt musikalischer Ä Stile sowie einem zeitweise gut ausgebauten Netz von nationalen und transnationalen Ä Institutionen zur Organisation und Förderung zeitgenössischer Musik. Eine deutliche Spannung zwischen Traditionalisten und Modernisten manifestierte sich ab den 1940er Jahren in Schweden, als sich Komponisten wie Karl-Birger Blomdahl (1916–68), Ingvar Lidholm (*1921), Sven-Erik Bäck (1919–94) und Sven-Eric Johanson (1919–97) zur sog. Montagsgruppe zusammenschlossen, die verschiedenste musiktheoretische Schriften diskutierte, sich ästhetisch aber besonders der Wiener Schule verpflichtet fühlte. Sie richtete sich explizit gegen die neoklassizistische Strömung, die bspw. durch Lars-Erik Larsson (1908–86) repräsentiert war. In den 1960er und 1970er Jahren dominierte die Ä Moderne das schwedische Musikleben, an der Musikhochschule in Stockholm waren Dozenten wie Karlheinz Stockhausen, John Cage, György Ligeti oder Luigi Nono zu Gast, die jüngeren Komponisten dieser Zeit waren vorwiegend durch Ä serielle Musik und WebernRezeption beeinflusst. Das Fehlen eines nationalen Übervaters, wie ihn Finnland mit Sibelius, Norwegen mit Grieg hatte, mag gerade in Schweden zu einer offeneren und rascheren Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen geführt haben. Mit aller Vorsicht kann vielleicht festgestellt werden, dass bis heute der ästhetische Diskurs, den wir aus dem deutschen Sprachraum kennen, sich in den nordischen Ländern am ehesten in Schweden 470 abbildet. Bewusste Opposition zur Moderne, deren Theorien er nahezu unterschiedslos verachtete, findet sich bei Anders Eliasson (1947–2013). Er entwickelte in den 1960er Jahren eine Skala und Akkordstrukturen, die auf Quintverhältnissen beruhen (Lundman 2012), und schuf wie in Desert Point für Streichorchester (1981) oder der Vierten Sinfonie (2005) eine expressive und zugleich kontrapunktisch durchgearbeitete Musik, die gerade in jüngster Zeit sehr positiv rezipiert wird. Als Vertreter eines Stilpluralismus kann Hans Gefors (*1952) genannt werden. Die Suche nach neuen Stilmitteln führt bei Karin Rehnqvist (*1957) zur Verwendung volksmusikalischer Elemente, bei Pär Lindgren (*1952) zur Beschäftigung mit afrikanischer Rhythmik. Kent Olofsson (*1962) schreibt sehr erfolgreich Werke unterschiedlicher Gattungen, einen explizit historischen Bezug findet man in Treccia (seit 1989), einer Reihe von hochvirtuosen Solowerken nach dem Vorbild von Luciano Berios Sequenze. Gleichfalls in weitem Sinn einer Tradition der Moderne zurechnen lassen sich Madeleine Isaksson (*1956), die mit kontrastierenden Klangmaterialien und wandelbaren Metren arbeitet, sowie Chrichan Larson (*1956), dessen klanglich äußerst differenzierte Musik auf der Verwendung strukturbildender Muster und gleichsam experimentellen Schichtungen basiert. Hanna Hartman (*1961) benutzt in ihren Kompositionen selbstkonstruierte Klangerzeuger sowie aufgenommene Klänge, die ihres ursprünglichen Kontexts beraubt werden und dadurch sehr unvermittelte Wirkung erzielen. Britta Byström (*1977) komponiert vorwiegend Orchestermusik, die mit ihren flirrenden Klangfarben ein geradezu impressionistisches Idiom aufweist. In Norwegen dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg lange ein neoklassizistischer Stil, der durch Namen wie Edvard Hagerup Bull (1922–2012) oder den aus Triest eingewanderten Opernkomponisten Antonio Bibalo (1922– 2008) repräsentiert wird. Für die Verbindung zur Darmstädter Avantgarde, die ab ca. 1960 hauptsächlich über die Musikszene in Stockholm zustande kam, steht vor allem Finn Mortensen (1922–83), der einen von ihm selbst als »neoseriell« eingestuften Kompositionsstil pflegte (Moe / Skouen 1982) und durch seine Unterrichtstätigkeit an der Osloer Musikhochschule eine große Zahl von Schülern beeinflusste. Internationalen Ruhm errang unter den Komponisten dieser Generation vor allem Arne Nordheim (1931–2010), der mit Ä elektronischer Musik und seiner Klangflächenkomposition neue Wege aufzeigte. Auf die avantgardistische und experimentelle Phase in Norwegen folgten Werke einer »Neuen Einfachheit« (z. B. Kåre Kolberg, 1936–2014; Ä Komplexität / Einfachheit) und der Neoromantik (Alfred Janson, *1937). Recht erfolgreich wurde ab den 1980er Jahren auch der Trend, volksmusi- 471 kalische Elemente in die Kunstmusik einzubringen: Lasse Thoresen (*1949) steht für diesen Stil. Rolf Wallin (*1957) wiederum kann stellvertretend als einer jener Schüler Mortensens genannt werden, die offen für verschiedene Genres sind und doch – Wallin bspw. durch algorithmische Verfahren  – die Verbindung zu Entwicklungen der Moderne nicht verleugnen. Cecilie Ore (*1954) hat mit elektronischer Musik und Werken für Kammerensemble auf sich aufmerksam gemacht, in den letzten Jahren aber vor allem politisch engagierte Bühnenwerke geschrieben. Vertreter einer jüngeren Generation sind bspw. Eivind Buene (*1973), dessen Musik sich oft im Grenzbereich von Ä Notation und Ä Improvisation bewegt, oder Lars Petter Hagen (*1975), der u. a. viel beachtete Klanginstallationen geschaffen hat. Dänemark hat in Per Nørgård (*1932) so etwas wie einen neuen Nationalheroen hervorgebracht, dessen Einfluss durch sein Werk und seine Lehrtätigkeit kaum hoch genug veranschlagt werden kann. Nørgårds »Unendlichkeitsreihen« zur Organisation von Tonhöhen, die Ableitung der Harmonik aus der Teiltonreihe oder die Verwendung rhythmischer Verhältnisse im Goldenen Schnitt verbinden seine Musik mit seriellem Denken und fraktaler Geometrie (Beyer 1996). Klanglich jedoch ist, etwa in den Sinfonien und der Filmmusik Nørgårds, die Assoziation zu Sibelius viel naheliegender. Tatsächlich ist er einer der wenigen Komponisten, die auch theoretisch versucht haben, den »nordischen Ton« wiederzuentdecken und fortzuspinnen (Nørgård 1956, 2012). Die internationale Avantgarde fand in Dänemark wenig Anklang, Gunnar Berg (1909–89) blieb mit seinen seriellen Werken zu Lebzeiten ein Außenseiter, erst in jüngerer Zeit wird seine Musik breiter rezipiert. Karl Aage Rasmussen (*1947) mit seinen Collagetechniken (Ä Collage / Montage) und Palimpsesten (Berio Mask, 1977) oder Hans Abrahamsen (*1952) mit seiner poetisch-lyrischen Musik, in der häufig ältere, auch eigene Werke paraphrasiert werden, sind die bekanntesten Vertreter der Nachkriegsgeneration. In der Musik von Bent Sørensen (*1958) vernimmt man flirrende Klangfarben und scheinbar vertraute Harmonien, die durch Mikrotonalität und Glissandi verwischt werden. In Reykjavík trug der 1959 gegründete Verein Musica Nova dazu bei, avantgardistische Strömungen verschiedener Herkunft ins Konzertleben zu bringen. Isländische Komponisten zog es zur Ausbildung meist in die Ferne, sie brachten eine erstaunliche Vielfalt an Konzepten zurück. Jón Nordal (*1926) war beeinflusst von Hindemith, Bartók und Webern, Magnús Blöndal Jóhannsson (1925–2005), der erste Zwölftonkomponist Islands, wurde nach seinen Besuchen der elektronischen Studios in Köln, Paris und Warschau ein Vorreiter der elektronischen Musik. Atli Nordeuropa Heimir Sveinsson (*1938) komponierte nach einem Aufenthalt bei Gottfried Michael Koenig ebenfalls elektronische Musik, wurde später aber vor allem als Opernkomponist bekannt. Europaweit vielleicht beispiellos in ihrem Erfolg ist die jüngere Kompositionsgeschichte Finnlands. Sie ist zugleich nachvollziehbares Zeugnis einer budgetär gut ausgestatteten und vorbildlich geführten Bildungs- und Ä Kulturpolitik. Der Zwischenkriegsgeneration gelang es, aus dem langen Schatten von Sibelius herauszutreten, ohne jedoch die Tradition zu verleugnen. Erik Bergman (1911–2006), Einar Englund (1916–99), Joonas Kokkonen (1921–96), Einojuhani Rautavaara (*1928), Usko Meriläinen (1930–2004) und Aulis Sallinen (*1935) sind die bekanntesten Namen. Rautavaaras Œuvre bildet mit seinem mehrfachen Stilwandel – vom Neoklassizismus über Dodekaphonie und serielle Musik zu Stilpluralismus und Neoromantik – fast so etwas wie den Prototyp einer finnischen Komponistenbiographie dieser Generation ab. Sehr ähnlich jedenfalls war die Entwicklung bei Kokkonen. Zusammen mit Paavo Heininen (*1938), der weitgehend an einer modernistischen, spätseriellen Linie festhielt, wurden sie zu den einflussreichsten Lehrern der nächsten Generation, aus der eine vielfältige und lebendige Musikszene mit zahlreichen Musikern und Musikerinnen von internationalem Rang erwuchs. Die 1977 gegründete, bis heute existierende Vereinigung Korvat auki! (Ohren auf!) ist der prägnanteste Ausdruck dieser Szene. Zu den Gründungsmitgliedern zählten u. a. Kaija Saariaho (*1952), Magnus Lindberg (*1958) und Esa-Pekka Salonen (*1958). Saariahos Musik ist spätestens seit ihren klanganalytischen Studien am IRCAM in Paris stark durch äußerste Differenzierung der Klangfarben gekennzeichnet. Dies gilt für frühere, energiegeladene Werke wie das Streichquartett Nymphea (1987) ebenso wie für spätere, eher introvertierte Musik wie ihre Oper L’Amour de loin (2000). Die großen Orchesterwerke von Magnus Lindberg verraten die Lehrer Rautavaara und Heininen nur noch in der Virtuosität der Ä Instrumentation. In Kraft (1985) lassen die motorischen Rhythmen an Igor Strawinsky denken, die gewaltigen Klangeruptionen an Punk oder Heavy Metal. Von zarten Farben eines vermeintlich nordischen Tons hat sich dieser Stil weit entfernt. Einen relativ hohen Stellenwert hat in den nordischen Ländern die elektronische Musik. Den Weg bereitete das 1964 gegründete Studio EMS (Elektronmusikstudion) in Stockholm, prominente Komponisten wie Koenig, Iannis Xenakis oder Henri Pousseur unterrichteten hier schon in den ersten Jahren. Weitere Studios folgten, das avancierteste Projekt ist heute das an der Osloer Universität beheimatete NoTAM (Norsk nettverk for Teknologi, Akus- 472 Nordeuropa tikk og Musikk). Frühe Vertreter elektronischer Musik in Schweden sind etwa Folke Rabe (*1935) und Bo Nilsson (*1937). Der Däne Gunner Møller Pedersen (*1943) produziert elektronische Musik und Filmmusik, Åke Parmerud (*1953, Schweden) ist heute der wohl bekannteste Komponist und Musiker für Multimedia und Live-Elektronik aus Nordeuropa. 2. Gattungen Beim Blick auf die Musikproduktion der nordischen Länder fällt das enorme Ausmaß an international erfolgreichen Werken in groß besetzten Gattungen wie Sinfonie und Oper auf. In der Hinwendung zu Gattungen, die im 20. Jh. weithin als krisenhaft oder gar obsolet galten, spiegeln sich künstlerisches Selbstbewusstsein und autarke Tendenzen wider. Vor allem aber sind diese Werke Ausdruck eines Bemühens um nationale Kultur und einer entsprechenden staatlichen Förderung durch eine lange Zeit sozialdemokratisch geprägte Kulturpolitik. In Helsinki (eröffnet 1993), Göteborg (1994) und Reykjavík (2011) wurden neue Opernhäuser gebaut. Kleinere Bühnen wie Den Jyske Opera in Århus (gegründet 1947) oder Den Anden Opera in Kopenhagen (gegründet 1995) und Festivals wie die seit 1967 jährlich stattfindenden Opernwochen im finnischen Savonlinna decken stilistisch vielfältige Bereiche des Ä Musiktheaters ab und bringen die Musik auch in Regionen außerhalb der Hauptstädte. Das traditionsreiche Königliche Theater in Stockholm hat sich nach dem Krieg mit einer beachtlichen Zahl an Kompositionsaufträgen und Uraufführungen als eine der wichtigsten Bühnen für modernes Musiktheater etablieren können. Karl-Birger Blomdahls Science-Fiction-Epos Aniara (1957–58) ist bis heute eine der meistgespielten Opern aus Nordeuropa, György Ligetis Le grand macabre (1974–77) das bekannteste Beispiel eines in Stockholm uraufgeführten Werkes aus der internationalen Szene. Blomdahl nimmt in Aniara bereits früh einen (dramaturgisch begründeten) musikalischen Stilpluralismus voraus, der sich in der Folge in vielen schwedischen Opern (z. B. in Christina von Hans Gefors, 1982–86) findet. Das musikdramatische Schaffen Dänemarks wird im Ausland nahezu synonym mit dem Namen Per Nørgård gesetzt, dessen Opern von Labyrinten (1963) bis Nuit des Hommes (1995) große Beachtung gefunden haben. Nørgårds Bekanntheit sollte allerdings nicht den Blick auf die kleineren, teilweise experimentellen Produktionen der letzten Jahrzehnte verstellen (etwa Karl Aage Rasmussens Titanics Undergang, 1993). In Finnland existierte keine bis in das 19. Jh. zurückreichende Operntradition wie in Schweden, die massive staatliche Unterstützung zielte daher in erster Linie auf die Etablierung einer finnischen Nationaloper, die zunächst 1963 durch die posthume Uraufführung von Aarre Merikantos (1893–1958) Oper Juha (1922) erreicht wurde. Joonas Kokkonens international höchst erfolgreiche Oper Viimeiset kiusaukset (Die letzten Versuchungen, 1972–75) oder Aulis Sallinens Kullervo (1986–88, finnische Erstaufführung 1993 zur Einweihung des Opernhauses Helsinki) sind weitere Meilensteine der jungen nationalen Operntradition. Kokkonens Oper schildert das Leben des Erweckungspredigers Paavo Ruotsalainen, Sallinens Oper bezieht ihren Stoff aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. Erst mit der nächsten Generation und Opern wie jenen von Kaija Saariaho scheint die Verpflichtung auf eine nationale Anbindung des Stoffes gänzlich zu entfallen. Eine ungebrochene sinfonische Tradition findet sich in Finnland, teilweise auch in Dänemark und Schweden. In Schweden gilt Allan Pettersson (1911–80) mit seinen 17 Sinfonien als bedeutendster Vertreter der Gattung. Obwohl Pettersson bei Olivier Messiaen und René Leibowitz Unterricht genommen hatte, blieb sein Stil von den Tendenzen der europäischen Avantgarde weitgehend unbeeinflusst. Die hochdramatischen, expressionistischen Sinfonien sind Zeugnis einer persönlichen Tonsprache, die sich nie ganz von der Tonalität löst und oft als Bekenntnismusik aufgefasst wurde (Aare 1978; Kube 1994). Finnlands außergewöhnliche Produktivität auf dem Gebiet der Sinfonie bezeugen Komponisten wie Kokkonen (vier Sinfonien), Rautavaara (acht) oder Heininen (fünf ). Rautavaaras Siebte Sinfonie Angel of Light (1994) gehört zu den populärsten sinfonischen Werken des 20. Jh.s. Sein Schüler Kalevi Aho (*1949) setzt die sinfonische Tradition mit bisher 16 Sinfonien fort, die neben dem Einfluss seines Lehrers auch eine Nähe zu Dmitri Schostakowitsch zeigen. Die bei Aho typischen Schichtungen verschiedener Stilebenen wurden mit Gustav Mahler und Alfred Schnittke in Verbindung gebracht (Korhonen 1995) (Ä Polystilistik). 3. Institutionen und Veranstaltungen Der Ursprung gemeinsamer Veranstaltungen der nordischen Länder liegt weit zurück. Die Sängerfeste haben eine Tradition, die in die Mitte des 19. Jh.s zurückreicht. 1929 wurde in Kopenhagen das Nordiska sångfesten (Nordisches Sängerfest) veranstaltet, das sogar eine Gemeinschaftskomposition, die Kantate Sangen i Norden, hervorbrachte. Für Instrumentalmusik gab es vergleichbare Feste seit 1888, seit 1946 firmieren sie unter dem Titel Nordiska Musikdagar (Nordische Musiktage) – sie werden mittlerweile jährlich in einem der fünf Länder von der jeweiligen nationalen Komponistenvereinigung veranstaltet. Die Komponistenvereinigungen wiederum sind in einem 473 Dachverband, dem Nordiska komponistrådet, zusammengeschlossen. In Schweden existierten von 1968 bis 2010 die Rikskonserter, eine staatliche Stiftung, die ursprünglich eine volksbildnerische Zielsetzung hatte, später jedoch für die internationale Verbreitung schwedischer Musik aller Genres zuständig wurde. Sie organisierte Festivals, vergab Kompositionsaufträge, produzierte Tonträger, publizierte Zeitschriften und Bücher. Einige dieser Aufgaben gingen ab 2011 auf eine Behörde des Kulturministeriums, Statens musikverk, über. Die Ziele des norwegischen Pendants Rikskonsertene, sind mehr als in Schweden auf die nationale Ä Vermittlung von Musik, etwa durch Konzerte in Schulen, ausgelegt. Zu den aktuell bedeutendsten Festivals für zeitgenössische Musik zählen Ultima in Oslo (seit 1991) und Borealis in Bergen (seit 2006), Sound of Stockholm (seit 2010) und GAS (Göteborg Art Sound, seit 1999), Musica nova in Helsinki (seit 1981) und die Tampere Biennale (seit 1986), SPOR in Århus (seit 2005) und Wundergrund in Kopenhagen (seit 2006). Auch Island hat in Reykjavík mit den Myrkir músíkdagar (Dunkle Musiktage, seit 1980) und Tectonics (seit 2012) eigene Festivals für neue Musik. Alle Länder Nordeuropas verfügen über eine Reihe von renommierten Ensembles für neue Musik. Zu nennen sind bspw. für Finnland das Avanti! Kammerorchester (Helsinki, gegründet 1983) und das Uusinta Ensemble (Helsinki, 1998), für Schweden das Schlagzeugensemble Kroumata (Stockholm, 1978), das KammarensembleN (Stockholm, 1984), das Ensemble Ars Nova (Malmö, 1986), das Ensemble Norrbotten NEO (Piteå, 2007), für Norwegen das BIT20 Ensemble (Bergen, 1989), Oslo Sinfonietta (1993), Trondheim Sinfonietta (1998), für Dänemark Athelas Sinfonietta (Kopenhagen, 1990), Århus Sinfonietta (1990), für Island das CAPUT New Music Ensemble (Reykjavík, 1987). Insgesamt ist die Szene der zeitgenössischen Musik vielfältig und auch regional weit aufgefächert. Die Musikhochschulen genießen international einen guten Ruf, insbesondere die Sibelius-Akademie in Helsinki hat eine beachtliche Zahl international anerkannter Komponisten hervorgebracht. Gerade der weltweite Erfolg finnischer Künstler ist auch ein Beleg für die Bedeutung der Musikinformationszentren (MIC), die durch Webpräsenz, durch Archiv- und Öffentlichkeitsarbeit die Musik ihrer Länder verbreiten. Jedes der nordischen Länder hat sein eigenes MIC; besonders vorbildlich ist die finanzielle und personelle Ausstattung des finnischen MIC, das u. a. eine Reihe mit englischsprachigen Büchern zu aktuellen Entwicklungen der finnischen Musik sowie die Zeitschrift FMQ (Finnish Music Quarterly) herausgibt. Ein ähnliches Produkt bestand Nordeuropa von 1993 bis 2001 in Norwegen mit dem Magazin Listen to Norway. Die Musikinformationszentren bieten umfassende Werkkataloge und Hinweise oder direkten Zugriff auf Noten und Aufnahmen, teilweise in Verbindung mit nationalen Verlagsanstalten, wie etwa der Edition Suecia, dem Verlag der schwedischen Verwertungsgesellschaft STIM. In Dänemark, Norwegen und Finnland wurden die Musikinformationszentren in den letzten Jahren in größere Gesellschaften eingegliedert, die vorwiegend auf Vermarktung und Export ausgerichtet sind. Ob die archivalischen und dokumentarischen Aufgaben darunter leiden werden, bleibt abzuwarten. Ä Minimalismus / Minimal Music; Postmoderne; Zentren neuer Musik Literatur Aare, Leif: Allan Pettersson, Stockholm 1978 „ Andersson, Greger (Hrsg.): Musikgeschichte Nordeuropas. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden, Stuttgart 2001 „ ders.: Die Musik in Schweden im Spannungsfeld zwischen Nationalem und Internationalem im 20. Jh., in: Nationale Musik im 20. Jh. 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Überdetermination  „ 7. Raum, Echtzeitnotation und computergestütztes Komponieren 1. Kategorien und Entwicklungen Die Notation von Musik dient in erster Linie der Fixierung von Aktionen oder Klangstrukturen zur Memorierung, Dokumentation, Kommunikation und Reproduktion von musikalischen Abläufen oder Kompositionen. »Schriftliche Notationssysteme bannen einen seriellen, zeitlich versetzten Datenfluß in ein visuelles Feld und lösen dabei Teile der Kommunikation vom Kontext ihrer Entstehung« Abb. 1: Morton Feldman, Intersection 3 für Klavier (1953) (Möller 1997, 276; vgl. Boretz / Cone 1976; Bent u. a. 2001; Schmid 2012; De Assis u. a. 2013). Es wird grundsätzlich zwischen Resultat- und Aktionsnotation unterschieden, wobei in beiden Notationsweisen abbildende, beschreibende oder symbolisierende Zeichensysteme vorkommen, die sich in vielen Kulturen entwickelt haben, oft in Kombination verwendet werden und bis heute nebeneinander bestehen. Aktionsnotation zeigt durch verbale Anweisungen, durch Zeichen oder durch graphische Elemente im »Gegensatz zur konventionellen Tonhöhen- und Dauernnotation« der Resultatnotation »nicht das Klangresultat an, sondern die Aktion, die zum Resultat führt« (Karkoschka 1966, 3; vgl. Thomas 1965; Sabbe u. a. 1975). Dabei stellt die Aufzeichnungsform einer Partitur eine vertikal geordnete Fixierung von gleichzeitig erklingenden Stimmen dar und gibt »sämtliche Einzelstimmen […] sowohl im individuellen Verlauf als auch in ihrer musikalischen Koordination innerhalb des betreffenden Stückes eindeutig wieder« (Sachs / Röder 1997, 1424). Ferner ist zwischen präskriptiver und deskriptiver Notation zu unterscheiden (Seeger 1958). Während erstere in zunehmend verfeinerter Form charakteristisch für die Entwicklung europäisch geprägter Kunstmusik der letzten Jahrhunderte bis zur Gegenwart ist, versuchen deskriptive Formen der Notierung ein Klangresultat durch schriftliche Transkription mit maximaler Präzision adäquat abzubilden. In manchen Fällen, etwa während der Entstehung der Werke Giacinto Scelsis, bei der die Partituren von Mitarbeitern mittels einer erweiterten Transkription von Tonbandaufnahmen angefertigt wurden (Jaecker 2005), gehen deskriptive und präskriptive Notationsformen nahtlos ineinander über. In der Musik des 20. Jh.s ist zunächst eine große Differenzierung der Notationssymbole und Spielanweisungen zu verzeichnen, in der sich Tendenzen des 19. Jh.s fortgesetzt haben (Warfield 1976). Generell ist  – nicht zuletzt mit der Intention, »Willkür« seitens der Interpreten einzudämmen oder zu unterbinden  – eine starke Präzisierung und ein wachsender Detailreichtum der schriftlichen 475 Notation Abb. 2a: Charmion von Wiegand, Untitled (1947) (links); Abb. 2b: John Cage, Concert for Piano and Orchestra, Notation T (rechts) (© 1960 by Henmar Press, New York) Darstellung zu beobachten. Dies geht einher mit der Intention, verfeinerte oder neue Klangdimensionen zu erschließen, etwa mikrotonale Tonhöhendifferenzierungen, für die Alois Hába neue Versetzungszeichen vorschlug, oder perkussive Klangtechniken der Streicher bei Béla Bartók, Flageolettklänge am Klavier bei Arnold Schönberg oder Klaviercluster bei Henry Cowell, die in neuartiger Form durch schwarze Balken notiert wurden (Elias 1984). Die zunehmende Ä Komplexität der musikalischen Ä Strukturen führte früh zu Versuchen einer Reform der Notenschrift, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten (Schönberg 1925/76; Karkoschka 1966). Auch die Sprechstimme wurde als Klangfarbe erschlossen: Tonhöhen und Rhythmen von Sprechstimmen wurden ausnotiert, so in Schönbergs Pierrot lunaire für eine Sprechstimme, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier op. 21 (1912), in Franz Schrekers Oper Die Gezeichneten (1916) oder in der Oper Lulu (1928–35) von Alban Berg (Stephan 1997). In späteren Vokalkompositionen wurden häufig Symbole des International Phonetic Alphabet eingesetzt (Gee 2013). Gerade über die Notation der Sprechstimme wurden lange, unabgeschlossene Kontroversen geführt. Erkennbar wird dabei, dass besonders im Bereich der experimentellen Vokalmusik selbst eine hochgradige Differenzierung der Notation letztlich viele Facetten des Stimmklangs nicht erfassen kann, etwa dort, wo eine Stimme graduell zwischen unterschiedlichen phonetischen Typen oder Kategorien changiert (ebd.). Die Verwendung additiver Rhythmen und die Differenzierung von rhythmischen Verhältnissen führte zu raschen und unregelmäßigen Taktwechseln oder zur Ausnotierung von Dauernproportionen, die jedoch in der frühen seriellen Musik wie etwa in der ersten (nicht veröffentlichten) Fassung von Pierre Boulez ’ Structures I für zwei Klaviere (1951) zum Teil nicht mehr exakt realisiert werden konnten (Read 1980; Brüstle 2013, 19–28). Für die Umsetzung komplexer Rhythmen benutzte Conlon Nancarrow in den 1940er und 1950er Jahren dagegen ein Lochkarten-Aufzeichnungssystem für selbstspielende player pianos, auf deren Grundlage er erst nachträglich »Lesepartituren« in konventioneller Notenschrift erstellte (Gann 1995; Hocker 2002). 2. Graphische Notation – musikalische Graphik Die Tendenz zu immer präziseren notenschriftlichen Fixierungen des musikalischen Geschehens wurde seit den 1950er und 1960er Jahren durch gegenläufige Notationskonzepte kontrastiert. Mit Morton Feldmans auf Millimeterpapier (»graph paper«) notierten Projections 1–5 für verschiedene Besetzungen (1950–51) lagen erste graphisch notierte Partituren vor, bei denen mittels eines Kästchenrasters Aktionen der Klangerzeugung, Register und relative Dauern, nicht aber Tonhöhen festgelegt waren. Feldman variierte in seinen nachfolgenden Intersections 1–4 für verschiedene Besetzungen (1951–1953, Abb. 1) diesen Ansatz, um die zeitliche Erscheinung der Klänge zu flexibilisieren (Claren 2000, 45–58). Earle Browns erste graphische Notationen mit unspezifischen bzw. mehrdeutigen Symbolen waren November 1952 (Synergy) und, durch Alexander Calders mobiles beeinflusst, December 1952 aus der Sammlung Folio (1952–54) (Ä Performance). John Cage begann ab 1951 sukzessive mit der Reduktion von Spielvorgaben und Notationssymbolen. Seine »time-space notation« bezog horizontale Abstände in einer Partitur auf gemessene Dauern von Minuten oder Sekunden, erstmals realisiert in der Music of Changes für 476 Notation Abb. 3: Martin Daske, Foliant Nr. 29 (Foto: Thomas Nitz Tutti) Klavier (1951) und exemplarisch präsentiert in der 1967 veröffentlichten zweiten Fassung von 4'33"  – for an instrument or combination of instruments (1952) (»proportional notation«, 1 Partiturseite = 7 inches = 56 Sekunden; Fetterman 1996, 69–84). Die Notation von metrischen Dauern wurde in Water Music for a solo pianist, using also radio, whistles, water containers, a deck of cards, a wooden stick, and objects for preparing a piano (1952) durch die Angabe von Zeiträumen in Minuten und Sekunden ersetzt, wobei auch die Anordnung der Partitur neuartig war. »The resulting score is rather strikingly notated on a single large page, which is to be mounted as a poster and displayed for the audience to see during the performance« (Pritchett 1993, 89). Weitere Neuerungen in der Gestaltung von Partituren bei Cage bezogen sich auf die Implementierung des Ä Zufalls in ihre Produktion etwa durch die Übertragung von Punkten auf Papier in Music for Carillon No.  1 (1952), durch den Einbezug der Papierunreinheiten in Music for Piano (1952–56) oder durch die Nutzung von Transpartentfolien und von graphischen Elementen und Farben wie in Aria for voice (1958), einer für Cathy Berberian erstellten Ausarbeitung der graphischen Partitur Fontana Mix (1958). Ein Panorama unterschiedlicher Notationsformen findet sich in den 84 verschiedenen Notationsvarianten im Solopart des Concert for Piano and Orchestra (1957–58), die auch eine intensive Auseinandersetzung Cages mit zeitgenössischer bildender Kunst dokumentieren (Radnitzky 2003, Abb. 2). Musikalische Graphik als Zeichnung oder als Bild wurde zum Teil von Partiturcollagen, von Plastiken oder Mobiles und von der Malerei angeregt, so etwa bei Roman Haubenstock-Ramati (Haubenstock-Ramati 1980), Anestis Logothetis (Logothetis 1974), Robert Moran, Josef Anton Riedl, Dieter Schnebel oder Sylvano Bussotti. Daneben wurden durch Martin Daske auch dreidimensionale musikalische Graphiken entworfen, die der Komponist »Folianten« nennt (Daske 2010, Abb. 3). »Als Gegenpol zu möglichst präzisen Vorschriften will die musikalische Graphik anregen, ohne festzulegen. Außerdem kann sie der Kundige als reine Lektüre genießen, wobei freilich die Möglichkeiten des Interpretierens in das Lesen hineinwirken und es so bereichern« (Karkoschka 1966, 79; vgl. Cope 1976; Sündermann / Ernst 1981; Read 1998). Graphische Elemente in Partituren und musikalische Graphik avancierten in den 1950er und 1960er Jahren zu elementaren Neuerungen in Spielvorlagen, zu denen auch die Entwicklung von innovativen Partiturlayouts gehörte. Viele »visuellen Partituren« (Frank 1985; Bosseur 1993) konnten auch zu reinen Lese- und Bildobjekten werden. So veröffentlichte Schnebel mit dem Buch MO-NO (1969) eine Musik zum Lesen. Als Bildobjekte verstandene Partituren oder Partiturbearbeitungen stammen daneben von John Cage, Jannis Kounellis, Mary Bauermeister, Gerhard Rühm, Hubertus Gojowczyk, Jack Ox, Hanne Darboven, Max Maxelon, Milan Adamčiak oder Susan Philipsz. 3. Notation elektronischer Musik Cage legte zu seinem Tonbandstück Williams Mix (1951– 53) eine erste »Realisationspartitur« elektroakustischer Musik vor, die Schnitt- und Montagetechniken der benutzten Tonbänder festlegt (Pritchett 1993, 90 f.; Sachs / Röder 1997, 1437). Karlheinz Stockhausen verzeichnete in seinen »Realisationspartituren« zu den elektronischen Kompositionen Studie I (1953) und Studie II (1954) Frequenzen, Dauern und Dynamik der Töne bzw. Tongemische. In seiner »Aufführungspartitur« der Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958–1960) findet sich im Gegensatz zu ihrer »Realisationspartitur« eine vereinfachte morphologische Darstellung der elektronischen Klänge (Mowitz 2010). Neben den »Realisations-« und »Aufführungspartituren« entstanden auch »Hörpartituren« oder deskriptive Darstellungen elektronischer und elektroakustischer Musik, in denen Graphiken und / oder Sonagramme verwendet werden (Fennelly 1968; Wehinger 1970; Brech 1994, 2002). 4. Mischformen Laut Erhard Karkoschka behalten »präzise Notation«, »hinweisende Notation« und »Rahmennotation« im Ge- 477 Notation Abb. 4: Karlheinz Stockhausen, Zyklus für einen Schlagzeuger (1959); Periode 12 (© 1961 by Universal Edition, Wien) gensatz zur musikalischen Graphik »das übliche Koordinatensystem von Zeit und Raum« bei und gehen dabei weiterhin »von einer zeilenhaften Darstellung« aus (Karkoschka 1966, 80; vgl. Cage 1969; Stone 1980). Es treten aber vielfältige Mischformen auf. So kann in mobilen Partituren mit frei sortierbaren Seiten wie etwa in Helmut Lachenmanns Intérieur I für einen Schlagzeugsolisten (1965–66) oder mit beweglichen Partiturelementen und Fenstern wie in Mauricio Kagels Transición II für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder (1958–59) oder in Henri Pousseurs Caractères für Klavier (1961), in kreisförmigen Notensystemen wie in Stockhausens Refrain für drei Spieler (1959), in Robert Ashleys »symphony« in memoriam Crazy Horse (1963) oder in George Crumbs Makrokosmos I–II für verstärktes Klavier (1972–73) der musikalische Ablauf präzise ausnotiert sein (Schwartz / Godfrey 1993, 394–416). Vergleichbares gilt für Partituren, in denen keine übergeordnete lineare Reihenfolge der musikalischen Abläufe vorgegeben ist, Notengruppen oder Partiturteile also nach bestimmten Regeln oder beliebig nacheinander gespielt werden können, während die einzelnen Segmente aber exakt ausnotiert sind, so etwa in der Dritten Klaviersonate von Pierre Boulez (1955–57) oder in Stockhausens Klavierstück XI (1956). Hinweisende Notationen können eine große Bandbreite aufweisen (Karkoschka 1966, 65–78), von approximativ nach Symbolen zu spielenden Tonhöhen, Dau- ern, Lautstärken, Spielweisen von Instrumenten oder Stimmartikulationen, etwa in Stockhausens Zyklus für einen Schlagzeuger (1959, Abb. 4), in György Ligetis Volumina für Orgel (1961–62) oder in Haubenstock-Ramatis Credentials für Stimme und acht Spieler (1960), bis hin zu Vorgaben für rhythmische Bewegungen mit Händen und Füßen wie bspw. in Dieter Schnebels »Organkomposition« Körper-Sprache (1979–80). Eine Reduktion von Dauernangaben kann zu einer proportionalen Notation führen, bei der sich die Dauer von Tönen oder Klängen danach richtet, welchen Raum eine Note oder eine Notengruppe in ihrer horizontalen Ausdehnung einnimmt, wie bspw. in Krzysztof Pendereckis Tren ofiarom Hiroszimy (Threnos für die Opfer von Hiroshima) für 52 Solostreicher (1960). Der Begriff »Rahmennotation« geht auf Bogusław Schaeffer zurück und bezieht sich darauf, »daß innerhalb festgelegter Grenzen Wahlmöglichkeiten bestehen« (Karkoschka 1966, 57). Witold Lutosławski prägte in diesem Zusammenhang den Begriff »begrenzte Aleatorik« oder »Aleatorik der Textur« (1969, 458 f.) und entwarf entsprechende Notationsformen seit seinen Jeux vénitiens für Orchester (1961). 5. Erweiterungen Die Veränderungen der musikalischen Notation standen nicht nur in Verbindung mit dem Aufkommen von kompositorischer Aleatorik und Indetermination, sondern 478 Notation Abb. 5: Christian Wolff, For 1, 2, or 3 People (© 1964 by C.F. Peters Corporation, New York) auch mit der Idee der mitschöpferischen Tätigkeit von Interpreten. Die Ausführenden erhielten häufig eher Anregungen zur Ä Improvisation oder »Werkzeuge« zur Erarbeitung individueller Spielpartituren. Exemplarisch dafür ist etwa Cornelius Cardews Treatise (1963–67), der eine »improvisierte Interpretation« (Feißt 1997, 121) verfolgte, oder die Partitur von Dieter Schnebels Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968–74), die aus vielen graphischen und zeichenhaften Anweisungen für Übungen zur Sprachartikulation besteht, aber keinen musikalischen Ablauf vorgibt. Die Interpreten sind dazu aufgefordert, eigene Aufführungsversionen zu erstellen, wie etwa auch in Werken von Christian Wolff, so in den (halb-)graphisch notierten For 1, 2, or 3 People (1964, Abb. 5), in Edges für eine beliebige Anzahl von Spielern und Arten von Instrumenten (1968), in den Textkompositionen der Prose Collection (1969–85) oder in den ab 1973 herausgegebenen Exercises, in denen nur einzelne musikalische Parameter vorgegeben sind (Wolff 1998; Asplund / Hicks 2012). Allerdings haben nicht nur im Kontext experimenteller Musik graphische Elemente zur Verdeutlichung von Spielanweisungen großes Gewicht erhalten. Sie beziehen sich häufig auch auf die Klangerzeugung und auf szenische Aktionen der Spieler sowie Bewegungen auf dem Konzertpodium oder im Raum, sind dabei aber in eine traditionelle oder präzise Notation eingebettet (Dimpker 2013). Beispielhaft hierfür sind die Partituren von Helmut Lachenmanns Ä musique concrète instrumentale wie etwa Pression für einen Cellisten (1969–70; Orning 2013), Guero, Studie für Klavier (1970) oder Gran Torso für Streichquartett (1971–72). Die Notation von Bewegungen auf dem Konzertpodium sind verknüpft mit der Entwicklung von komponierter Raummusik und szenischen Konzertstücken, wobei bspw. hinzuweisen ist auf Luciano Berios Circles für Frauenstimme, Harfe und Schlagzeug (1960) mit Bewegungen der Sängerin zwischen Harfe und Perkussion, Roger Reynolds ’ The Emperor of Ice-Cream (1961–62) für acht Stimmen, Schlagzeug, Klavier, Kontrabass mit beweglichen Vokalisten, Partituren von Gordon Mumma wie bspw. Medium Size Mograph 1962 für Klavier, Iannis Xenakis ’ Eonta (1963–64) für Klavier und fünf mobile Blechbläser, George Crumbs Echoes of Time and the River für Orchester (1967), Schnebels Orchestra (1974–77) mit Bewegungen der Orchestermitglieder oder Kagels Staatstheater (1967–70) als inszenierte Anti-Oper mit beweglichen Stühlen für die Musiker (Ä Musiktheater). 6. Überdetermination Außerordentliche oder ungewöhnliche verbale Anweisungen können eine ähnliche Funktion einnehmen wie unkonventionelle graphische Vorgaben, bspw. in den Partituren von Hans-Joachim Hespos (Baucke 1985). Bei Hespos wird die phantasievolle und zum Teil widersprüchliche verbale Beschreibung von Klangereignissen in den Partituren für seine Interpreten zu einer großen Herausforderung, die beabsichtigt ist, um die Musik mit Spannung und Energie aufzuladen. Der Instrumentalist in Anjol für Dirigent und improvisierendes Saxophon (2000) beginnt z. B. mit einem Klangfeld aus »Atemsabberzischel«, einem »diffusen Schluckblasen«, »multiphonen Farbstochergemurmel«, »Rastergebrüll« sowie einer »Turbo-Improvisation«. Überdetermination besteht auch in den Werken und Partituren von Komponisten der »complexity« wie etwa in Brian Ferneyhoughs Time and Motion Study II für verstärktes Violoncello und Live-Elektronik (1973–76, Abb. 6) oder Carceri d’Invenzione I für kleines Orchester 479 Notation Abb. 6: Brian Ferneyhough, Time and Motion Study II für verstärktes Violoncello und Live-Elektronik, S. 12, Ausschnitt (© 1978 by C. F. Peters Corporation, New York) (1982) oder in James Dillons Orchesterwerken helle nacht (1986–87) und ignis noster (1991–92). Ziel der komplexen Notation ist es, eine intensive und mit Energie aufgeladene Klanggestaltung zu erreichen. Es wird durch diese »Überdetermination« also nicht notwendigerweise der von den jüngeren performance studies verworfene Gedanke von Ä Interpretation als »Reproduktion« impliziert. Vielmehr versteht Ferneyhough die Komplexität seiner Notation als Rahmen, in dem die Ausführenden zu »Resonatoren« werden: »performers are no longer expected to function solely as optimally efficient reproducers of imagined sounds; they are also themselves ›resonators‹ in and through which the initial impetus provided by the score is amplified and modulated in the most varied ways imaginable« (Ferneyhough 1980/98, 100). Dennoch soll freilich eine möglichst präzise Umsetzung der Partitur erfolgen; die Kriterien für eine angemessene Ausführung liegen für Ferneyhough – wie in aller Musik »von Haydn bis Xenakis« – im »extent to which the performer is technically and spiritually able to recognize and embody the demands of fidelity (NOT ›exactitude‹!)« (Ferneyhough 1990/98, 71). 7. Raum, Echtzeitnotation und computergestütztes Komponieren Ein neues Verständnis von Partituren entwickelte sich einerseits mit der Entstehung von Ä Klangkunst und Musik im öffentlichen Raum oder in der Ä Natur, denn in diesem Zusammenhang können Ort und Räume, öffentliche Plätze, Gebäude oder Landschaften als Partituren verstanden werden (La Motte-Haber 1999; Hiekel 2009). Andererseits haben sich neue Auffassungen von Notation und Partitur auf der Grundlage von Computersoftware herausgebildet, z. B. in der Live-Elektronik oder in Videokonzerten (Möller / Shim / Stäbler 2005; Sauer 2009). Hier sind Partituren teilweise zu interaktiven Elementen oder veränderbaren Vorlagen geworden, die im Spiel erst generiert werden (Herndler / Neuner 2014). Zu den Pionieren in der Entwicklung solcher »Real-Time-Scores« gehört Gerhard E. Winkler (Winkler 2004), etwa mit der Konzertinstallation Terra Incognita für Ensemble, Frauenstimme und Videoprojektion (2003–04). Die heute gängigen Notationsprogramme wie Sibelius oder Finale können in manchen Fällen Wechselwirkungen bzw. Übersetzungen zwischen Klanglichkeit und Schriftlichkeit erleichtern, etwa indem die Abspielfunktion bei der Einstudierung von »irrationalen« Metren oder von komplexen Polyrhythmen durch Interpreten genutzt wird. Sowohl mittels Klanganalyse oder -synthese als auch mittels algorithmischer Systeme gewonnene Klangstrukturen (Ä Elektronische Musik) können zudem zwischenzeitlich in Notationsprogramme importiert und dort weiterbearbeitet werden. Solche und weitere interfaces führen zu gänzlich neuen Schaffensprozessen, in denen Computerarbeit und Papierarbeit in vielfältiger Weise kombiniert werden (Hohmaier / Albrecht-Hohmaier 2010; Garcia 2014). Auch durch automatisierte Instrumentationsprozesse können Partituren mit Computerunterstützung erstellt werden (Maresz 2013; Ä Instrumentation). 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Rückblick Für die kompositorischen Entwicklungen neuer Musik in der Nachkriegszeit spielten vor allem solistische und kammermusikalische Besetzungen eine große Rolle. Schon seit den späten 1950er Jahren ist die verstärkte Bildung von Ä Kammerensembles zu beobachten, und diese Tendenz setzt sich bis heute ungebrochen fort. Gleichzeitig ist die »Institution Orchester« oftmals kritisiert worden bzw. lagen die Schwierigkeiten im Verhältnis von neuer Musik und Orchester auf der Hand: Die neuen Spieltechniken, die oft nicht nur eine Erweiterung, sondern auch einen Widerspruch zu den »klassischen« Spieltechniken darstellten (Ä Instrumente und Interpreten), die intonatorischen Besonderheiten, die rhythmische und sonstige Komplexität zahlreicher Partituren wie auch eine gewisse Trägheit der traditionellen Orchesterapparatur in Kombination mit einem mehr oder minder ausgeprägten Konservatismus des großen Publikums sind tief sitzende strukturelle und institutionelle Probleme. Trotz alledem ist im Laufe der vergangenen 70 Jahre ein sehr vielfältiges und vitales Repertoire für Orchester entstanden und es gibt kaum einen erstrangigen Komponisten, der nicht auch im Bereich der Orchesterkomposition künstlerisch bedeutende Beiträge geliefert hat. Die Gründe für diese Entwicklung sind ebenso vielfältig wie die geschilderten Schwierigkeiten: Zunächst gab es in der Nachkriegszeit hervorragende Dirigentenpersönlichkeiten, die neues und anspruchsvolles Repertoire in exemplarischer Weise vermittelten (Ä Dirigieren). Eine verbreitete Institutionalisierung mit den die neue Musik unterstützenden RundfunkOrchestern, zahlreichen Festivals, der entsprechenden Auftragspolitik sowie flankierenden Einrichtungen wie Composer in Residence trug auch nachhaltig zu der positiven Entwicklung bei (Ä Institutionen / Organisationen). Nicht zuletzt übt das Phänomen Orchester weiterhin eine ungebrochene Faszination auf Komponisten aus: Die unerschöpflichen Möglichkeiten der klanglichen Organisation und der Klangfarbenbildung sowie die Arbeit mit Klangmassen, die vielfältigen Optionen der Verräumlichung von Klang und Klangquelle (Ä Themen-Beitrag 3) und nicht zuletzt die »Ereignishaftigkeit« einer Orchesteraufführung, die das Erreichen eines größeren Publikums ermöglicht, haben das Komponieren für Orchester erheblich motiviert. Alle erwähnten Aspekte führten allerdings zu einer zunehmenden Verwischung der Grenze zwischen (großem) Ensemble und (kleinem) Orchester, letzten Endes zwischen Ä Kammermusik und Orchestermusik: Sowohl wurden Ensemblewerke immer wieder mit orchestralen Texturen ausgestattet als auch (zum Teil groß besetzte) Orchesterwerke kammermusikalisch gehandhabt. Dies legt nahe, den Begriff »Orchesterkomposition« zu erweitern und ihn sowohl von der Besetzung (z. B. chorische Streicher) als auch von der Komponierweise (z. B. flächige Texturen) her zu definieren. Ähnlich verhält es sich auch mit der seit der Konstituierung des klassischen Orchesters vor etwa 200 Jahren aufs Engste mit dem »Instrument« Orchester verbundenen Ä Gattung »Sinfonie«. Einerseits wurde die sinfonische Gattung, die in den als »Welt-Erzählung und Welt-Deutung« (Finscher 1998, 84) rezipierten Werken Gustav Mahlers für viele einen Höhe- und Endpunkt erreicht hatte, von neueren Komponistengenerationen eher gemieden. Andererseits gibt es zahlreiche genuine »Sinfoniker«, die im 20. Jh. ein umfangreiches und teilweise bedeutendes sinfonisches Werk schufen: Dmitri Schostakowitsch (15 Sinfonien, 1923–71), Alfred Schnittke (9 Sinfonien, 1969–97/2006), Ralph Vaughan Williams (9 Sinfonien, 1903–58), Peter Maxwell Davies (10 Sinfonien, 1976–2013), Witold Lutosławski (4 Sinfonien, 1941–92), Krzysztof Penderecki (7 Sinfonien, 1973–2005), Andrzej Panufnik (10 Sinfonien, 1948–90), Henri Dutilleux (2 Sinfonien, 1950–59), Karl Amadeus Hartmann (8 Sinfonien, 1935–62), Hans Werner Henze (10 Sinfonien, 1947–2000), Wolfgang Rihm (3 Sinfonien, 1969–77; Vers une symphonie fleuve, 1992–2012; »Séraphin«-Sinfonie für Ensemble und großes Orchester, 1993–2011), Manfred Trojahn (5 Sinfonien, 1974–2004), Friedrich Goldmann (4 Sinfonien, 1972–89), Isang Yun (5 Sinfonien, 1982–87), Orchester Roger Sessions (9 Sinfonien, 1926–78), Roy Harris (13 Sinfonien, 1933–75), Allan Pettersson (17 Sinfonien, 1951–80), Einojuhani Rautavaara (8 Sinfonien, 1956–1999), Zhu Jian ’ er (10 Sinfonien, 1977–98) u.v. a. Der Begriff »Sinfonie« wurde in anderen Werken wiederum stark gedehnt (oder ironisch gebrochen), sodass mit der Titelbezeichnung »Sinfonie« nicht unbedingt die sinfonische Tradition im emphatischen Sinn aufgerufen wird; dies gilt etwa für Schostakowitschs 14. Sinfonie (1969), einen Liederzyklus mit Streichorchester und Schlagzeug. Und doch scheint selbst in solchen Werken der Titel »Sinfonie« weiterhin den Topos der »Universalität« zu implizieren, erkennbar in einer Verbindung des Botschaftscharakters der Musik mit einer Expansion musiksprachlicher und klanglicher Mittel. Eine weitere Entgrenzung betrifft auch das Verhältnis von Orchester- und Konzertkomposition: Musik wie der erste Satz aus György Ligetis Cellokonzert (1966) definiert das Verhältnis zwischen Solo und Orchester neu und führt dabei abschnittsweise eine »Verschmelzung« zwischen beiden Instanzen herbei. In Marc-André Dalbavies Violinkonzert (1996) bewirkt der Einsatz verräumlichter Instrumentengruppen eine Auflösung der klassischen polaren Konzertsituation und lässt das Violinkonzert gewissermaßen in ein Konzert für Orchester mutieren (Dalbavie 2005, 52 f.). In Hanspeter Kyburz ’ Malstrom für raumverteiltes Orchester (1999) wiederum »wetteifern« die Orchestergruppen miteinander und erweitern durch die Verräumlichung der Gruppen das konzertierende Prinzip. Dieses Eingehen der Konzert- in die Orchestermusik ist gewiss nur eine von mehreren zu beobachtenden Tendenzen, neben der in vielen Solo-Konzerten weiterhin konventionelle Solisten- und Orchesterrollen vorherrschen (Roeder 2000, 287–405), aber auch, paradigmatisch in John Cages Concert for Piano and Orchestra (1957–58), die Gattung ikonoklastisch gebrochen und neu gedeutet wird. Insgesamt legen solche Entgrenzungen methodologisch nahe, dass bei der folgenden Betrachtung der Orchestermusik immer wieder Konzertkompositionen mitberücksichtigt werden. 1. 1950er Jahre: Neubeginn und Konsequenzen In Bezug auf die Erfordernisse der Ä seriellen Musik konvergierte das »Instrument« Orchester durch seinen Klangfarbenreichtum (in diesem Punkt der elektronischen Musik nicht unähnlich) mit einer erheblichen Aufwertung des Ä Parameters Ä Klangfarbe. Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang Pierre Boulez ’ Polyphonie X für 18 Instrumente (1950–51), Karlheinz Stockhausens Spiel (1952), Luciano Berios Nones (1954) und Luigi 482 Nonos Il canto sospeso für Soli, gemischten Chor und Orchester (1955–56). Die Breite der musiksprachlichen Entwicklung dieser Zeit kann u. a. in den Orchesterwerken Bruno Madernas (wenn auch in etwas »unorthodoxer« Weise) beobachtet werden: Von der Composizione N. 2 (1950–51) über die Improvvisazione N. 1 (1951–52) und die Improvvisazione N. 2 (1953) bis hin zum Flötenkonzert und zur Composizione in tre tempi (beide 1954) wird die Reflexion (und auch Brechung) seriellen Gedankenguts erkennbar, indem der Gang von einer ungebrochenen Linearität zur (durch Punktualität oder »Klangfarbenmelodie« herbeigeführten) Brechung der Linie nicht nur einen allmählichen Prozess darstellt, sondern auch als Polarität innerhalb eines einzigen Werkes existiert. Ähnlich vielfältig und »pluralistisch« ist die Orchesterbehandlung Madernas: sie verbindet konventionelle »Breitwirkung« mit kammermusikalischer Linearität und Klangflächen, welche die Klangkompositionen der späten 1950er und 1960er Jahre ansatzweise vorwegnehmen, Webernsche Reduktion, aber auch einen pulsierenden Punktualismus, der an den späten Strawinsky denken lässt. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde zunehmend der Aspekt Raum (Ä Themen-Beitrag  6) in die Orchesterkomposition einbezogen. Zu den ersten Werken, die Serialität mit Verräumlichung vereinen, gehören Berios Allelujah I und II (1955–56, 1957–58), wo das in Klanggruppen gegliederte Orchester den Spielraum der Klangfarbenentfaltung erweitert, sowie Stockhausens epochemachende Komposition Gruppen für drei Orchester (1955–57). Stockhausens Konzeption weist jedem Orchester einen eigenen Zeitraum zu und thematisiert dabei den Raum als zusätzlichen Parameter. Die Interferenz der drei Klangkörper bzw. Zeiträume erscheint dabei als kompositorisch schlüssige Umsetzung einer visionären Konzeption. Der Raum in seinen vielfältigen Perspektiven wird in den folgenden Jahrzehnten in der Orchesterkomposition intensiv erforscht, u. a. in Stockhausens Carré für vier Orchester und vier Chöre (1959–60), Boulez’ Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht Gruppen (1974–75) und Répons für sechs Solisten, Kammerensemble, Computerklänge und Live-Elektronik (1981–84/85), John Cages Thirty Pieces for Five Orchestras (1981), Nonos Prometeo. Tragedia dell ’ ascolto (1981–85) und Bernhard Langs Monadologie XIII: The Saucy Maid für zwei Orchestergruppen im Vierteltonabstand (nach Anton Bruckners »Linzer Sinfonie – Das Kecke Beserl«) (2011–12). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die konzeptionelle Komposition des musikalischen (Klang-)Raumes ohne explizite Aufteilung des Orchesters im Raum in den Orchesterwerken Ligetis, vor allem in Lontano (1967) und San Francisco Polyphony (1973–74). 483 Auch die Anfänge der Komposition für Orchester und Elektronik sind in den 1950er Jahren zu orten. Bezeichnend hierfür ist die Komposition Déserts (1949–54) von Edgard Varèse, wobei die elektronischen Klänge als Einschübe (Interpolations, 1953–61) streng von den Orchesterklängen abgegrenzt werden – es entsteht eine dialogische bzw. zyklische Form. Auch in Boulez ’ Poésie pour pouvoir für fünfspuriges Tonband und drei Orchester (1958) sind beide Ebenen zunächst deutlich voneinander abgegrenzt; im Verlauf des Stückes kommt es aber immer wieder zu Interferenzen und Infiltrierungen, was wegweisend wirkte. Die zunehmende technische Verfeinerung und die Einbeziehung des Computers führten in den folgenden Jahrzehnten zu einer Erweiterung des Repertoires für Orchester und Elektronik, das u. a. folgende Schlüsselwerke umfasst: Friedrich Cerhas Spiegel IV, V und VII für großes Orchester und Tonband (1960–61), Stockhausens Mixtur für Orchester, vier Sinusgeneratoren und vier Ringmodulatoren (1964) und Hymnen (Dritte Region)  – elektronische Musik mit Orchester (1969), Milton Babbitts Correspondences für Streichorchester und Tonband (1967), Iannis Xenakis ’ Kraanerg  – Ballettmusik für Orchester und Vierspur-Tonband (1969), Nonos Prometeo, Boulez ’ konzertant disponierte Komposition …explosante-fixe… für MIDI-Flöte, zwei Flöten, Kammerensemble und station informatique musicale (1991–93), York Höllers Schwarze Halbinseln für großes Orchester und VierkanalTonband (1982), Jonathan Harveys Speakings für Orchester und Elektronik (2007–08), Tristan Murails Les sept paroles für Orchester, Chor und Elektronik (2010). Nicht zuletzt hat die sog. Klangkomposition, eine explizite Arbeitsweise mit Klangmassen und -farben unter weitgehender Neutralisierung von Intervallqualitäten, ihre Wurzeln im angesprochenen Dezennium: Xenakis ’ Metastaseis (1953–54) und Pithoprakta (1955–56), Ligetis Apparitions (1958–59) und wenig später seine maßstabsetzende Komposition Atmosphères (1960–61), Pendereckis Anaklasis für Streicher und Schlagzeuggruppen (1959– 60) und Cerhas Spiegel I–VII (1960–61) gehören zu den ersten Kompositionen mit Klangtexturen und -flächen. Diese Komponierweise setzt auf eine immanente Qualität des Orchesters, nämlich die Möglichkeit, durch die chorische Zusammensetzung und die große Anzahl verschiedener Instrumente sowohl »breite« als auch in sich differenzierte Klangblöcke zu produzieren, beides Eigenschaften, die das Orchester deutlich von allen kammermusikalischen Besetzungen unterscheidet und in dieser Hinsicht eine Brücke zur elektronischen Musik bildet. Tatsächlich resultierten einige der texturbildendenden Techniken Ligetis wie Clusterbildung, Mikropolyphonie oder Filtertechniken direkt aus den Erfahrungen im Orchester elektronischen Studio (Ligeti 1980/2007; Iverson 2010; Ä Klangfarbe). Die vielfältige Verwendung solcher Klangtexturen innerhalb unterschiedlicher kompositorischer Ästhetiken ist Ausgangspunkt mehrerer Entwicklungsstränge, so bspw. für die französische Ä Spektralmusik. Ligeti und Xenakis waren für die »Spektralisten« ausschlaggebend, wie auch und in besonderer Weise Giacinto Scelsis energetisch belebte Klangbänder (vgl. u. a. Quattro pezzi [su una nota sola], 1959). Richtungsweisend war dabei eine klangzentrierte und anti-figurative Kompositionsart, die sich der maximal ausdifferenzierten »Figur« in der seriellen Komposition diametral entgegensetzte (Ä Wahrnehmung, 2.). 2. 1960er Jahre: Klang, »losere« Strukturen und stilistischer Pluralismus Die Orchesterwerke der 1960er Jahre zeigen verstärkte Tendenzen kompositorischer und musikgeschichtlicher (Selbst-)Reflexion, besonders klar erkennbar in der zunehmenden Verwendung von Zitaten und Allusionen  – Anspielungen auf bestimmte Werke, Musiksprachen oder Komponisten ohne direktes »Zitieren« (Ä Collage / Montage; Ä Postmoderne). Beispiele hierfür sind u. a. Berios Sinfonia für acht Solostimmen und Orchester (1968–69), Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis. Prélude für großes Orchester (1968) sowie Kompositionen mit OrchesterMitwirkung wie Zimmermanns Oper Die Soldaten (1957– 65) und sein Requiem für einen jungen Dichter – Lingual für Sprecher, Sopran- und Baritonsolo, drei Chöre, Tonband, Orchester, Jazz-Combo und Orgel (1967–69). Solche Ansätze beeinflussten dann auch Schnittkes sog. Ä Polystilistik (Erste Sinfonie, 1969–72). Helmut Lachenmann wiederum thematisiert in Accanto, Musik für einen Solo-Klarinettisten mit Orchester (1975–76) durch die latente oder gefiltert auftauchende Ebene des Mozartschen Klarinettenkonzerts einen zwiespältigen, gleichermaßen distanzierenden wie neuentdeckenden Umgang mit Musikgeschichte. Seine Komposition Air, Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968–69/94) hatte eine Reihe von Stücken inauguriert, in denen die sog. Ä musique concrète instrumentale im Sinne einer »Klangrealistik« auf orchestralem Terrain ausprägt wurde. Dies führte zu einer »Prosaisierung« aber auch zu einer beträchtlichen Erweiterung des orchestralen Klangmaterials, wobei die erweiterten Spieltechniken allmählich zum festen Bestandteil eines »präparierten Orchesters« (Nonnenmann 2000, 84–88) wurden. Als besondere Leistung Lachenmanns erscheint, das durch diese »Prosaisierung« erweiterte Klangmaterial mittels einer vielschichtigen Anordnung und Organisation auf einer gänzlich neuen Ebene wieder »poetisiert« zu haben. Vor allem in Tab- Orchester leau (1988–89) gelingt durch die Dialektik von Klang und Ä Geräusch, von Musik und Stille (oder eben von Ä Sprache und Sprachlosigkeit) eine formerzeugende neuartige Ausdruckshaftigkeit. Die enorme stilistische Vielfalt der 1960er Jahre, die teilweise mit den Auswirkungen Cagescher Denkweisen, mit einer »Öffnung« der kompositorischen Sprachen gegenüber weiteren geschichtlichen und kulturellen (Zeit-) Räumen und mit der zunehmenden Bedeutung des klanglichen Aspekts zusammenhängen, lässt sich mittels einer kurzen Liste von Werken mit Orchesterbeteiligung veranschaulichen: Olivier Messiaens Chronochromie (1959–60), Lutosławskis Jeux vénitiens für Orchester (1961), Cages Atlas Eclipticalis (1961–62), Stockhausens Punkte (1952/62), Boulez ’ Pli selon pli, portrait de Mallarmé für Sopran und Orchester (1957–62), Xenakis ’ ST/481,240162 (1956–62), Igor Strawinskys Requiem Canticles (1965–66) für Alt, Bass, vierstimmigen Chor und Orchester, Hans Werner Henzes Sechste Sinfonie für zwei Orchester (1969/94), Elliott Carters Concerto for Orchestra (1969). 3. 1970er Jahre: »Institution Orchester«, Wahrnehmung, neuer Ausdruck In den 1970er Jahren setzt sich der stilistische Pluralismus in der Orchesterkomposition fort: Verräumlichung bzw. eine wie auch immer geartete Gruppierung der Orchestermusiker spielen weiterhin eine Rolle (Carter, A Symphony of Three Orchestras, 1976); die Komposition mit (statischen) Klangflächen ist vereinzelt weiter zu finden (Cerha, Fasce, 1959/74). Ligeti allerdings beginnt nun, seine mikropolyphonen Klanggewebe in teilweise real wahrnehmbare Polyphonie aufzulösen (Melodien, 1971). Politisch motiviertes »kritisches Komponieren« rückt im Zuge der Nachwirkungen der Studentenproteste 1968 verstärkt ins Zentrum (Nono, Henze, Nicolaus A. Huber, Lachenmann, Mathias Spahlinger u. a.; Ä Neue Musik und Politik). Auch eine Diskussion über das Verhältnis zeitgenössischer Komponisten und der »Institution Orchester« bzw. eine Kritik dieser Institution entfaltet sich in vielfältiger Weise (z. B. bei Vinko Globokar, Hans Zender, Michael Gielen, Stockhausen, Boulez u. a.). Daneben werden die 1970er Jahre durch auf Ä Wahrnehmung zentrierte Ästhetiken geprägt, so bspw. bei der Ä Spektralmusik und der schon erwähnten musique concrète instrumentale Lachenmanns. Für die spektrale Musik waren zunächst kammermusikalische Besetzungen emblematisch, bald entstanden aber auch grundlegende Orchesterwerke: Griseys visionäre Komposition Les espaces acoustiques (1974–85) ist nicht nur ein Kompendium spektraler Techniken, realisiert mit unterschiedli- 484 chen Klangkörpern vom Soloinstrument bis zum großen Orchester, in den sechs Einzelwerken dieses Zyklus wird spektrale Ästhetik auch stringent und dramaturgisch einleuchtend in großformale Prozesse eingespannt. Murails Gondwana (1980) mit der Modellierung von Klangfarbenmutationen ist ein weiteres Paradigma spektraler Orchesterkomposition. Zu erwähnen wären weiterhin Murails Le partage des eaux (1995) und die Zyklen großer Ensemble- und Orchesterwerke von Hugues Dufourt, die sich auf Gemälde beziehen (u. a. Le Philosophe selon Rembrandt, 1992 und Le Déluge d ’ après Poussin, 2001). Aus der mittleren oder zweiten spektralen Generation wäre u. a. Georg Friedrich Haas zu nennen, der spektrale »Sprache« mit handwerklicher Souveränität realisiert (In vain, 2000, für großes Ensemble, Natures mortes, 2003, für großes Orchester, Limited approximations, 2010, für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester). Gegen Ende der 1970er Jahre entsteht dann bei den Komponisten, die man mit dem umstrittenen Begriff »Neue Einfachheit« in Zusammenhang brachte (Rihm, Hans-Jürgen von Bose, Detlev Müller-Siemens u. a.; Ä Komplexität / Einfachheit) sowohl eine Tendenz zur Einbeziehung von historischem Material als auch eine Neigung zu einem ausdrucksbetonten Orchestersatz, der in dieser Art in den vergangenen Dekaden, zumindest innerhalb der Darmstädter Avantgarde, gemieden worden war. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die Rezeption der neu entdeckten Sinfonik Gustav Mahlers (Schäfer 1999), etwa in Werken wie Rihms Sub-Kontur (1974–75) und DisKontur (1974/84), Henzes Barcarola (1979) oder Peter Ruzickas Befragung (1974), an das sich »… den Impuls zum Weitersprechen erst empfinge« für Viola und Orchester (1981) anschloss. Kompositionen für Solo-Instrumente und Orchester sind weiterhin reichlich vorhanden: So unterschiedliche Komponisten wie Morton Feldman, Edisson Denissow, Penderecki oder Berio bieten individuelle Betrachtungsweisen der alten Konzertform, die sowohl die Form als auch den »Duktus« der Soloinstrumente und ihr Verhältnis zum Kollektiv (Orchester) rekonfigurieren. Gleichzeitig entstehen viele Einzelwerke, die nicht innerhalb von Gesamttendenzen ortbar und dennoch höchst originell und repertoirebildend sind. Dazu gehören bspw. Messiaens Des canyons aux étoiles für Klavier, Horn, Xylorimba und Orchester (1971–74), das durch das Verhältnis von vier Soloinstrumenten und Orchester und die Teilung des Orchesters in charakteristische Teilgruppen eine unverwechselbare Orchestersprache erreicht. In Berios Coro für 40 Stimmen und Orchester (1974–76) wiederum werden strukturalistische Kompositionstechniken und die Anlehnung an tradiertes Liedgut (nicht durch Zitate, sondern 485 durch die Verwendung unterschiedlicher volkstümlicher Techniken und Klanggesten aus verschiedenen Kulturkreisen, vgl. Berio 1976) in einen kompositorischen Dialog gebracht. Die räumliche Durchdringung von Chor und Orchester lässt sich dabei sowohl im Sinne einer Wechselwirkung erfahren als auch vorübergehend als Synthese unterschiedlicher »Gattungen«. 4. 1980er Jahre: Das »akustische« Orchester Die 1980er Jahre sind insgesamt durch eine zunehmende Verwendung spektraler Schreibweisen und die Integration elektronischer Klangmittel geprägt, die durch den Fortschritt der Computertechnologien befördert werden. Zu den herausragenden Orchesterpartituren der 1980er Jahre gehören Boulez ’ Notations I–IV (1978–80), in denen verschiedene Ebenen und Perspektiven in der Ausarbeitung der frühen aphoristischen Klavierstücke 12 Notations (1945) zusammentreffen: kompositorische und dirigentische Erfahrung, linear geschärftes strukturelles Gerüst und psychoakustisch informiertes Denken. Das Ergebnis ist eine überaus differenzierte Partitur, die als solistisch individualisierte Kammermusik im Rahmen eines breiten Orchesterklangs verstanden werden kann. Die (Orchester-)Masse wird durch präzise Detailarbeit transzendiert und durchleuchtet, sodass eine neue Qualität von Orchestermusik entsteht (Vlitakis 2008, 73–130). Insgesamt lässt sich eine zunehmende Zuwendung auch jener Komponisten zur Orchesterkomposition feststellen, die zuvor diese Formation eher gemieden hatten; dies lässt sich bspw. am Werk Steve Reichs beobachten, der u. a. The Desert Music für verstärkten Chor und Orchester (1984) und Three Movements (1986) vorlegt. Innerhalb der stilistischen Vielfalt der Orchesterwerke lassen sich immer wieder gemeinsame Teilansätze finden, so etwa eine übergeordnete »Cantus-firmus«-Schreibweise in Berios Requies (1983–85) und Formazioni (1986), Lachenmanns Staub (1985–87) und Tableau (1988–89), Harrison Birtwistles Earth Dances (1985–86) und Reichs Four Sections (1987), Techniken, die von der Arbeit im elektronischen Studio inspiriert sind wie hall- oder echoartige Iterationen (Berio, Boulez) etc. »Unikate« sind auch in dieser Dekade nicht selten, wie das faszinierende KlangKaleidoskop Coptic Light (1985) von Morton Feldman und das in klanglich-rhythmischer Hinsicht außerordentlich facettenreiche Klavierkonzert Ligetis (1985–88). 5. 1990er Jahre: Neue Perspektiven auf Raum und »Allusionen«, Sinfonisches Zu den »Hauptthemen« des Orchesterkomponierens in den 1990er Jahren gehört neben einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Klang und Klangfarbe ein erneu- Orchester tes Interesse am Aspekt Raum. Die immanente Bedeutung dieser Kategorie für die elektronische Musik und der gleichsam parameterartige Status innerhalb des seriellen Denkens hatten seit den 1950er Jahren wichtige Entwicklungen gefördert (s. o.). Nichtsdestotrotz markieren die 1990er Jahre aufgrund von technischen Errungenschaften der Klang-Raum-Steuerung (u. a. durch die IRCAMSoftware Spatialisateur) und die Verbreiterung spektralen Denkens einen weiteren Wendepunkt. Einleuchtend in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen MarcAndré Dalbavies zur Übertragung des spektralen Prozessprinzips und mancher Aspekte der Klangabstrahlung auf die Verräumlichung des Klanges wie auch die Erweiterung bzw. Transformation tradierter (Konzert-)Formen durch die Interaktion mit Verräumlichungskonzepten (Dalbavie 2005, 46–58), etwa in Werken wie Dalbavies The Dream of the Unified Space. Concerto pour orchestre (1999), Concerto pour violon et orchestre (1996), Antiphonie. Double Concerto pour clarinette et cor de basset (1999) und Concertate il suono. Concerto pour orchestre (2000). Am Beginn der Dekade erklingt in Donaueschingen passage / paysage (1989–90) von Spahlinger. Das vielbeachtete Werk kann als (Selbst-)Reflexion (neuer) Musik verstanden werden. Klangtypisches von Lachenmann, Grisey, Scelsi, Feldman u. a. wird hier individuell ausgearbeitet und weitergedacht, wobei offen bleibt, ob diese Bezüge immer intendiert sind. Es entsteht eine Musik des Übergangs zwischen verschiedenen »Materialständen«, eine Art elaboriertes Weiterdenken neuer Musik-Sprachen und Topoi (Hechtle 2005, 66–70). Kurz vor Ende des zweiten Millenniums zeigt Carters Symphonia: Sum Fluxae Pretiam Spei (1993–97), was mit einem relativ konventionell verwendeten Orchester noch zu leisten ist. Die für Carter typische Dynamisierung und Transparenz der einzelnen Linie auch im komplexesten Stimmengewirr und der Facettenreichtum seiner orchestralen Klangbewegungen erreichen hier einen Höhepunkt, der trotz manch konventioneller Instrumentationstechnik das Medium Orchester von innen her nahezu transzendiert. Die 1990er Jahre werden weiterhin von einer Fülle einzelner hochqualitativer Orchesterwerke geprägt. Dazu zählen u. a. Messiaens letztes vollendetes Werk Éclairs sur l’Au-delà (1987–91), Kagels pointierte Études I–III (1992; 1995–96), Kurtàgs ΣΤΗΛΗ (Stele) (1994) sowie die durch harmonisch-klangliche Eloquenz und hohe handwerkliche Kunst – wenn auch nicht ohne einen gewissen Hang zur Konventionalität – gekennzeichneten Orchesterwerke von Magnus Lindberg (u. a. das sinfonische Triptychon Feria – Parada – Cantigas, 1997, 2001, 1997–99). Auch die »Konzertkomposition« der Zeit liefert prägende Momen- 486 Orchester te, wie bspw. die Cellokonzerte von Cerha, Harvey und Lindberg. Ligeti bietet mit dem Violinkonzert (1990/92) und dem Hamburgischen Konzert für Horn und Kammerorchester (1998–99/2002) eine durch satztechnische Mittel erreichte Neu-Kontextualisierung und Mutation des tradierten Violinklangs einerseits und eine Synthese sowie Erweiterung seiner Kompositionstechniken um eine »spektrale« Dimension andererseits. 6. Ab 2000: (Inter-)Medialität, »Sinfonisches« Der Donaueschinger Festivalmacher Armin Köhler sah in einem zusammenfassenden Aufsatz über die Orchesterentwicklungen der letzten Jahrzehnte nur dann »neue Potentiale für die ›Institution Orchester‹ […] erwachsen, wenn entsprechende ästhetische Herausforderungen an die Institution gegeben sind« (Köhler 2009/11, 84). Als Beispiele führte Köhler drei Donaueschinger Projekte an: Spahlingers doppelt bejaht. etüden für orchester ohne dirigent (2009), in denen die Musiker in »Selbstbestimmung« das Klanggeschehen entfalten, und dies ohne dirigentisches Zutun und unter Relativierung der Funktion des Komponisten, der hier nicht mehr als Spiel- und Kommunikationsregeln sowie rudimentäre Klangaktionen und -materialien liefert. Das Ganze lässt Spahlinger als Entwurf einer künstlerischen und gesellschaftspolitischen Utopie der »nicht entfremdeten Arbeit« gelten (Spahlinger 2009; Nonnenmann 2010). In Manos Tsangaris ’ Bathsheba. Eat The History! Installation opera für Schauspieler, Sänger, Chor und Orchestermäander (2008–09) sieht Köhler das Orchester als »sozial-theatral-musikalisches Instrument« verwirklicht, das in diesem Fall in verschiedenen Orten der Stadt und über zwei Konzerttage hinweg simultan musiziert (wobei freilich die zeitlich-räumliche Einheit eines Konzerterlebnisses gesprengt wird). Als drittes Beispiel bringt Köhler Haas ’ Komposition Hyperion – Konzert für Licht und Orchester (2006) ein, in der das Licht in »Doppelfunktion als ästhetisches Medium und Signalgeber auch als Koordinator fungierte« (Köhler 2009/11, 84). Die Argumentationsweise Köhlers zeigt, dass er als »ästhetische Herausforderungen« an die Institution Orchester eher die Art der medialen Präsentation und Realisierung als die musikalische Immanenz der Werke versteht. Diese Denkweise ist symptomatisch für eine Entwicklung, die sich im 21. Jh. immer stärker verbreitert. Möglicherweise durch die medial »überflutete« gesellschaftliche Realität bedingt, rückt die Art der (inter)medialen Präsentation ins Zentrum der ästhetischen Wahrnehmung (Ä Intermedialität, Ä Medien). Zwar bleibt es unstrittig, dass das »Medium« auf den dargestellten »Inhalt« einwirkt (und Boulez ’ Notations für Orchester sind ein gutes Beispiel dafür, wie das Medium Orchester die Klavier-Vorlage »wesentlich« neu gestaltet und artikuliert). Nichtsdestotrotz aber scheint die Tendenz, mit einem Diskurs über das Medium den Diskurs über kompositorische Gehalte ersetzen zu wollen, fragwürdig und sich bisweilen in einer gewissen Verflachung der kompositorischen Produktion zu spiegeln. Zu den Werken, die nach wie vor einen höchsten kompositorischen Anspruch formulieren, gehören seit der Jahrtausendwende u. a. Rihms »Séraphin«-Sinfonie (1993– 2011) für Ensemble und großes Orchester und Boulez ’ endgültige Ausarbeitung von Dérive 2 für 11 Instrumente (1988–2006/09). Zwar ist das Boulezsche Werk keine originäre Orchesterkomposition, durch die Dichte der écriture und die große zeitliche, formal stringente Ausdehnung scheint es aber dennoch einen sinfonischen Anspruch neu zu formulieren. Rihm, der sein Werk »Sinfonie« nennt und möglicherweise von Dérive 2 nicht unbeeinflusst blieb, erweitert mit der Maximierung eines ConcertoGrosso-Prinzips und der Überarbeitung früherer kompositorischer Schichten und ihrer orchestralen »Rahmung« die üblichen Dimensionen eines »sinfonischen« Werkes. Eine »frische« Alternative zur kontinentaleuropäischen Orchestermusik bieten immer wieder Vertreter der neueren britischen Generation. Komponisten wie Thomas Adès, Mark-Anthony Turnage und George Benjamin vereint eine klare und flexible Linienbildung, eine rhythmische »Konkretion« und eine klanglich-gestische Direktheit; bei Adès und Turnage gibt es zudem hörbare Verbindungen zu historischer Musik und zum Jazz, die dem Orchesterklang eine andere Perspektivierung verleihen. Zu weiteren Einzelleistungen, die hier nur andeutungsweise angesprochen werden können, gehören u. a. Noesis (2001/03) von Kyburz, der die Errungenschaften der Boulezschen Notations in beeindruckender Souveränität weiterführt, aber auch Enno Poppes eigentümlicher Altbau (2008), in dem einer spezifischen ostinatoartigen Generierungstechnik »schiefe« spektrale Klangobjekte »eingepflanzt« werden. Luca Francesconis Rest für Violoncello und Orchester (2004) beweist durch Erfindungsreichtum und kompositorische Virtuosität die andauernde Relevanz der Konzertgattung. 7. Spezifische Entwicklungen Zu den spezifischen Entwicklungen der Orchestermusik gehören auch der Austausch mit dem Ä Jazz bzw. ÄPop / Rock und mit den außereuropäischen Musikkulturen (Ä Globalisierung). Beziehungen zu Jazz und Popularmusik wurden oft von Komponisten des angelsächsischen Raumes entwickelt, wie Gunther Schuller, Lukas Foss oder den erwähnten britischen Komponisten. Im deutschsprachigen Raum erreicht Helmut Oehring durch 487 eine Integration von Rock-Topoi energetische Direktheit, während Spahlinger den (Free-)Jazz thematisierte, etwa in RoaiuGHFF (strange?) für fünf Jazzsolisten und Orchester (1981). Tendenzen der Ä Globalisierung zeichnen sich etwa in den Orchesterwerken von Isang Yun, Toshio Hosokawa und Klaus Huber ab. Yun verwendete konventionelle Orchesterformationen und eine grundsätzlich an europäischen Entwicklungen seit den späten 1950er Jahren orientierte Kompositionstechnik, die er durch den linearen und gestischen Duktus koreanischer Hofmusik anreicherte (Réak, 1966). Hosokawa ließ, u. a. orientiert an der epochalen Wirkung von Tōru Takemitsus November Steps für shakuhachi, biwa und Orchester (1967), immer wieder auch traditionelle ostasiatische Instrumente mit dem Orchesterapparat in Dialog treten (z. B. in UtsurohiNagi für shō und Streichorchester mit Harfe, Celesta und Schlagzeug, 1995–96) (Ä Japan). Huber verwendete wiederholt arabische Textvorlagen sowie Modi und Stimmungssysteme der traditionellen arabischen Musik (Die Seele muss vom Reittier steigen … für Violoncello, Baryton, Contratenor und zwei Orchestergruppen, 2002). Dem Thema Stimmung, einem zentralen Aspekt für viele kompositorische Entwicklungen seit 1950, sind im Orchester gewisse Grenzen gesetzt, da die Komplexität der instrumentalen Masse in dieser Hinsicht schwieriger handhabbar ist als kammermusikalische Besetzungen. Trotzdem wurde das Orchester spätestens ab den 1980er Jahren und vor allem im Rahmen »spektraler« Tendenzen immer wieder mit Konzepten von Mikrotonalität konfrontiert. Eine »Zusammenfassung« verschiedenster mikrotonaler Systeme ist u. a. im Violinkonzert Ligetis zu finden. 8. Rückblick Rückblickend hat sich die »Institution Orchester« um vieles standfester, flexibler und wandlungsfähiger gezeigt als die zahlreichen Kritiker der vergangenen 70 Jahre es vermutet hätten. Gewiss haben diese Kritiker selbst und der hartnäckige Einsatz mancher komponierender und dirigierender Pioniere wesentlich dazu beigetragen, dass diese Institution ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Kompetenz bezüglich der zeitgenössischen Musik kontinuierlich, in den letzten 20 Jahren deutlich verstärkt ausgebaut hat. Trotz des nach wie vor für die Einstudierung anspruchsvoller neuer Werke einschränkenden Probenbetriebs bleibt das Orchester eine der größten Errungenschaften europäischer Musikkultur, für Komponisten jeglicher Provenienz reizvoll und faszinierend. Ä Dirigieren; Instrumente und Interpreten / Interpretinnen Osteuropa Berio, Luciano: Coro [Werkeinführung, 1976], http:// www.lucianoberio.org/node/1434?1011856635=1 (10. 7. 2015) „ Dalbavie, Marc-André: Le son en tout sens. Entretiens avec Guy Lelong, Paris 2005 „ Dibelius, Ulrich: Moderne Musik I, 1945– 1965. 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Die Balkanländer und das ehemalige Jugoslawien  „ 8. Tschechien und Slowakei  „ 9. Ungarn  „ 10. Polen „ 11. Fazit Die historischen Prozesse, sozialen Situationen und Ästhetiken der neuen Musik in den Ländern Osteuropas seit der Nachkriegszeit weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, die eine zusammenfassende Darstellung rechtfertigen. Nicht zuletzt entstanden solche Gemeinsamkeiten durch eine weitgehend von Westeuropa und der übrigen Welt isolierte Entwicklung. Unvermeidlich ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf den Sozialistischen Realismus, der von Stalin und Andrei Schdanow ab 1934 in der Sowjetunion institutionalisiert wurde, um nach 1945 allen anderen kommunistischen Staaten aufgedrängt zu werden. Die Debatten über »nationale Eigentümlichkeiten« in der Musik  – einschließlich aller Nuancen in der Umwandlung der mündlich überlieferten (volkstümlichen oder byzantinischen) Traditionen in moderne Musik  – weisen ebenfalls viele Gemeinsamkeiten in diesen Ländern auf. Ähnlich verhält es sich bei der schwierigen, aber häufig enthusiastischen Übernahme des Gedankenguts der Ä Avantgarde Westeuropas im heimischen Musikleben. Viele junge Komponisten, die in den 1950er und 1960er Jahren debütiert hatten, brachen mit neo-klassizistischen Modellen ihrer Lehrer, denen sie zunächst gefolgt waren, um so gegen die Doktrin des Sozialistischen Realismus zu rebellieren, der durch die Verbände der Kunstschaffenden durchgesetzt und kontrolliert wurde. Trotz der ideologischen und politischen Abschirmung der kommunistischen Staaten und ihrer Abgrenzung untereinander waren Komponisten wie Pierre Boulez und Krzysztof Penderecki, Edisson Denissow und Karlheinz Stockhausen, Alfred Schnittke und Luciano Berio, György Ligeti und Mauricio Kagel gleichermaßen vom Zeitgeist des experimentellen Komponierens der Nachkriegszeit animiert. Auch die osteuropäischen Komponisten der Nachfolgegenerationen konnten sich allmählich – insbesondere nach 1990 – einen Namen in der internationalen Szene der neuen Musik machen. 1. Sowjetische Musik in der Nachkriegszeit: Vom Sozialistischen Realismus zur Ausformulierung des Neuen Die in Russland, dem Zentrum der UdSSR, formulierte Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Maßstab aller Komponistenverbände in den kommunistisch regierten Ländern. Nach dem Tod Stalins (1953) und dem Anfang der sog. »Tauwetterperiode« erfährt die Musikszene eine starke Diversifizierung. Kompositionen mit sowjetischer Thematik 488 (Oktoberrevolution, Gestalt Lenins) entstehen zwar bis in die 1980er Jahre, sie stehen aber neben neuen Ausdrucksweisen, die mit Ä Atonalität und Ä serieller Musik, Aleatorik (Ä Zufall), Sonorismus (vgl. 10.), Mikrotonalität (Ä Themen-Beitrag 7), Polymodalität, Ä Polystilistik u. a. arbeiten. Selbst Dmitri Schostakowitsch (1906–75), die herausragende Vaterfigur der russischen Musik, bedient sich in seinen letzten Sinfonien einer intensiven, bisweilen an Ä Zwölftontechnik grenzenden Chromatisierung. Seine Schüler und Befürworter seiner Musik, Komponisten, die in den 1950er bis 1960er Jahren debütieren, bewundern ihn anfangs vorbehaltslos, um später auf neutrale Distanz zu gehen oder Schostakowitsch für seinen Kompositionsstil und vor allem wegen seiner ambivalenten Haltung gegenüber dem Machtapparat zu kritisieren. Sein Einfluss bleibt jedoch unbestreitbar. Die Sowjetunion zerfiel 1991 nach den Jahren der Perestroika und der Glasnost, und ehemals sowjetische Komponisten wie etwa der Este Arvo Pärt (*1935), der Ukrainer Walentyn Sylwestrow (*1937), der Armenier Awet Terterjan (1929–94), der Georgier Gija Kantscheli (*1935) oder der Litauer Osvaldas Balakauskas (*1937) wollten nun nicht mehr als »sowjetische« Komponisten verstanden werden. Allerdings waren alle Genannten (und auch viele andere) in der sowjetischen Zeit aktiv, sie hatten in Moskau oder Leningrad studiert und ihre Musik wurde von sowjetischen Institutionen aufgeführt und verlegt (Redepenning 2008a, 753 f.). Für die Zeit bis 1990 erscheint daher eine Vorgehensweise, die »russische«, »estnische« oder »georgische« Musik und sowjetische Musik voneinander trennen würde, als forciert und kaum sinnvoll. Global betrachtet kann man heute auf eine sowjetische Epoche zurückblicken, die vom Nationalkommunismus geprägt war, und eine postsowjetische Ära untersuchen, in der ein zunehmend ethnischer Nationalismus präsent war und ist. In der poststalinistischen Ära traten in Russland wie auch in anderen osteuropäischen Ländern mehrere Komponisten an die Öffentlichkeit, die eine gesamteuropäische Geschichte der neuen Musik maßgeblich zu prägen vermochten, obwohl sie hinter dem Eisernen Vorhang erhebliche Schwierigkeiten hatten, die Ideen ihrer westeuropäischen Kollegen zu verfolgen. Vor allem das 1956 gegründete Festival Warschauer Herbst brachte in dieser Hinsicht entscheidende Impulse: Die polnische Hauptstadt diente zahlreichen osteuropäischen Musikern als internationales Sprungbrett und bot gleichzeitig eine einzigartige Gelegenheit, in Westeuropa gängige Kompositionstechniken kennenzulernen (Ä Institutionen / Organisationen). 489 2. Von der Zwölftonmusik zur Polystilistik und einer neuen Sakralmusik in Russland Für die Dodekaphonie hatte sich anfangs in Russland eine heute kaum noch bekannte Persönlichkeit eingesetzt: der in Rumänien geborene Philip Herschkowitz (1906–89), ein Schüler von Anton Webern, der 1946 nach Moskau übersiedelt war. Er scharte enthusiastische Befürworter der Zwölftontechnik um sich, die mit dodekaphonen Stücken zu experimentieren begannen. Unter ihnen befand sich Andrej Wolkonskij (1933–2008), Nachkomme eines russischen Adelsgeschlechts und ein Schüler Dinu Lipattis; Wolkonskij schrieb 1956 die serielle Klaviersuite Musica Stricta, die seine Komponistenkollegen stark beeinflussen sollte. Mit dieser kompositorischen Option stemmte sich Wolkonskij gegen den Sozialistischen Realismus. Er schrieb auch später Werke in der Manier von Webern oder Boulez, wobei seine Kompositionen im damaligen Russland nicht aufgeführt werden konnten. Letztendlich wanderte Wolkonskij 1973 nach Westeuropa aus, ließ sich in Frankreich nieder und setzte sich dort insbesondere mit Fragen der historisch informierten Aufführungspraxis auseinander. Ebenfalls in Frankreich verbrachte Edisson Denissow (1929–96) seine letzten Lebensjahre, der vielleicht eigenwilligste unter den russischen Modernisten. Seit seinem Erstlingswerk, der Kantate Le soleil des incas für Sopran und Kammerensemble (1964), die er Boulez widmete und die von diesem inspiriert worden war, setzte sich Denissow unentwegt für die westeuropäische Moderne ein und er blieb auch in den 1970er Jahren der seriellen Methode verpflichtet, als seine Komponistenkollegen andere stilistische Wege einschlugen. Wie zu erwarten war, wurde er dafür vom sowjetischen Komponistenverband kritisiert, schikaniert und Verfolgungen ausgesetzt, was grundsätzlich jedem Komponisten widerfuhr, der gegensätzliche Positionen zum Sozialistischen Realismus vertrat. Doch die Werke Denissows wurden in Westeuropa bereits in den 1960er Jahren aufgeführt und verlegt (bei Boosey & Hawkes und Sikorski) und sein Einfluss als Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium war richtungsweisend für jüngere Kollegen wie Jelena Firsowa (*1950), Sergej Pawlenko (1952–2012), Juri Kasparow (*1955), Dmitri Smirnow (*1955), Wladimir Tarnopolski (*1955) und Iwan Sokolow (*1960). Erst in den 1980er Jahren sind in den Werken Denissows stilistische Anspielungen auf die Tonalität und tonale Fragmente zu hören (etwa in Requiem nach Gedichten von Francisco Tanzer und liturgischen Texten für Sopran, Tenor, Chor und Orchester, 1980, und in der Oper L ’ écume de jours, 1981). Zuvor hatte der Komponist in Anlehnung an die französische Musik Osteuropa mit raffinierten Klangfarben experimentiert (z. B. Peinture für großes Orchester, 1970). Die seit den 1970er Jahren bis heute international bekannteste Trias neuer russischer Musik bilden ohne Zweifel Denissow, Sofia Gubaidulina (*1931) und Alfred Schnittke (1934–98), die man mitunter als »Speerspitze« der »sowjetischen Avantgarde« bezeichnete – ein Begriff, der Anfang der 1960er Jahre von der russischen Musikwissenschaft kritisiert wurde, da er vorwiegend westeuropäische Kompositionstechniken wie serielle Musik, Aleatorik, Klangkomposition, Ä elektronische Musik usw. zur Grundlage nahm, wie sie in den Programmen des Warschauer Herbstes berücksichtigt wurden (Redepenning 2008a, 650 f.). Aber auch wenn Schnittke und Gubaidulina am Anfang ebenfalls mit seriellen Methoden arbeiteten, wandten sie sich, im Gegensatz zu Denissow, rasch von diesen ab und entwickelten eigene neue Ansätze. Die Uraufführung der Ersten Sinfonie (1969/72) von Alfred Schnittke im Jahr 1974 bot ein markantes Beispiel für Schnittkes Ä Polystilistik, in der musikalische Vergangenheit und Gegenwart durch Zitate, Stilimitate, stilistische Anspielungen, die Collage unterschiedlicher Musikrichtungen (E-Musik und U-Musik) und Genres (Sakralmusik und Jazz) neu beleuchtet wurden. Damit reflektierte Schnittke die dünne Grenze zwischen Banalität und Erhabenheit, zwischen »gehobenem« und »trivialem« Ä Stil, und entwickelte dabei Kompositionstechniken wie Stil-Polyphonie und Stil-Modulation. Mit seinen neun Sinfonien (von denen die letzte unvollendet blieb), den sechs Concerti grossi (1977–93), den zahlreichen kammermusikalischen Werken oder den Opern Leben mit einem Idioten (1992), Gesualdo (1993) und Historia von D. Johann Fausten (1994) liegen eine Fülle von stilistischen »Konfrontationen« vor. Der Sohn eines in Frankfurt geborenen Juden (der Komponist selbst übersiedelte 1990 nach Hamburg) huldigte auch der deutschen Musik: Seine Hommagen setzt er nicht nur über Zitate um, sondern auch in der Verwendung musikalischer Monogramme (etwa Schostakowitschs Initialen D–Es–C–H im Dritten Streichquartett, 1983). Religiöse Sujets waren selbst während der dunkelsten Jahre der sowjetischen Zeit nie gänzlich aus der russischen Musik verschwunden, auch wenn manche sakral oder spirituell konzipierte Werke erst nach 1989 veröffentlicht werden konnten (Ä Themen-Beitrag 8). Solche religiösen Schichten in der Musik treten ab den 1970er Jahren verstärkt auf und verbinden sich nicht selten mit der Gedankenwelt des vorrevolutionären Russland, etwa der Alexander Skrjabins. Nach 1990 nimmt diese Tendenz zu, russische oder andere exsowjetische religiöse Traditionen werden neu rezipiert. Schnittke etwa, der 1980 490 Osteuropa zum Christentum konvertierte, greift häufig auf liturgische Inhalte zurück (so in seiner Vierten Sinfonie, 1984, in der er den Gedanken der Ökumene mittels Polystilistik illustriert). Sofia Gubaidulina verknüpft ihre Faszination für unkonventionelle Klangfarben und Schlaginstrumente mit einer Evokation des russisch-orthodoxen Glaubens. Zusammen mit Viktor Suslin (1942–2012) und Wjatscheslaw Artjomow (*1940) gründete Gubaidulina 1975 die Gruppe Astreja. Gemeinsam improvisierten sie auf Instrumenten, die sie im Kaukasus und Mittelasien gesammelt hatten. Eine neofolkloristische Welle erfasste einen guten Teil der russischen Komponisten jener Zeit. Religiöse Darstellungen bestimmen die Form und andere kompositorische Parameter in der Musik Gubaidulinas, ohne dass die Komponistin auf Zitate aus der byzantinischen Musik im engeren Sinne zurückzugreift (Introitus für Klavier und Kammerorchester, 1978, Descensio für drei Posaunen, drei Schlagzeuger, Harfe, Cembalo / Celesta und Celesta / Klavier, 1981, Sieben Worte für Violoncello, Bajan und Streicher, 1982, Alleluja für gemischten Chor, Knabensopran, Orgel und großes Orchester, 1990 etc.). Das internationale Ansehen der Komponistin festigte sich mit der Uraufführung ihres Werks Offertorium für Violine und Orchester (1980–86) durch Gidon Kremer im Jahr 1981. Gubaidulina siedelte 1992 nach Deutschland (in die Nähe von Hamburg) über, im Jahr 2000 entstand ihre Johannes-Passion für Sopran, Tenor, Bariton, Bass, zwei Chöre, Orgel und Orchester im Auftrag der Bach-Akademie Stuttgart, die sie 2002 durch das Werk JohannesOstern für Soli, Chor und Orchester zu einem Diptychon über Tod und Auferstehung Jesu Christi ergänzte. Es sei hier präzisiert, dass religiöse Sujets im sowjetischen Russland anfangs in der Instrumentalmusik Einzug hielten, sodass der direkte Bezug auf Sakraltexte vermieden werden konnte. Neben Gubaidulina wurde ein solcher Ansatz auch von Alemdar Karamanow (1934–2007) verfolgt, der erste sowjetische Komponist, der bereits in den 1960er Jahren eine »Religion der Töne« (Redepenning 2008a, 679) vorschlug. Ähnlich wie Karamanow galt Galina Ustwolskaja (1919–2006) zunächst, trotz ihres an der westeuropäischen Moderne orientierten Debütwerkes Oktett für zwei Oboen, vier Violinen, Pauken und Klavier (1949–50), lange als eine von der sowjetischen Presse gefeierte Exponentin des Sozialistischen Realismus. Nach einem kompositorischen Schweigen von nahezu einem Jahrzehnt (von Chvalebnaja pesn ’ »Mir!« [Loblied »Frieden!«] für Knabenchor, Klavier, vier Trompeten und Schlagzeug, 1961, bis Dona nobis pacem für Piccoloflöte, Tuba und Klavier, 1970–71) wählte Ustwolskaja wiederholt Titel oder Untertitel mit religiösem Inhalt. Ihr Kompositionsstil änderte sich aber nur unwesentlich: Scharfe Kon- traste und extreme Dynamik- und Ausdruckanweisungen (ppppp–fffff, expressivissimo), eruptive Klangeffekte und eine Notation ohne Taktstriche zeugen von einem dramatischen, die Extreme suchenden Temperament. Den Kern von Ustwolskajas Werken bilden die drei Kompositionen Nr.  1–3 (1970–75), die fünf Sinfonien (1955–90) und die sechs Klaviersonaten (1947–88). In den Sinfonien wird eine ökumenische Mixtur von Schlüsselwörtern der katholischen Liturgie und dem Melos des orthodoxen Kirchengesangs sichtbar. Im Unterschied zu Schnittke und Gubaidulina blieb Ustwolskaja ihr ganzes Leben ihrer Heimatstadt Leningrad / Sankt Petersburg verbunden, wo ihre Karriere als Schülerin von Schostakowitsch auch begonnen hatte. 3. Weitere Tendenzen der neuen Musik in der Sowjetunion Nicht nur Schostakowitsch galt jüngeren sowjetischen Komponisten als Vorbild, wenn es darum ging, traditionelle Musik im Geiste der Ä Moderne umzuformen, sondern auch Igor Strawinsky. Georgi Swiridow (1915–98) eröffnet in den 1960er Jahren eine neue folkloristische Welle, mit dem Versuch, eine Musik zu skizzieren, die eine gewisse »Einfachheit« ausprägen wollte und dabei zugleich auf Topoi nationaler Identität abzielte, die sich von jenen des Sozialistischen Realismus abheben sollten. Andere Komponisten integrierten folkloristische Anspielungen, ohne jedoch Kompositionstechniken der Moderne und Avantgarde (serielle Prinzipien, Mikrointervalle, »Primitivismus«, Cluster etc.) auszuschließen; allerdings ziehen sie traditionelle Genres vor und verbleiben somit eher im Rahmen einer »gemäßigten Moderne«. Zu dieser Gruppe von Komponisten gehören Roman Ledenew (*1930), Nikolaj Sidelnikow (1930–92), Sergei Slonimski (*1932), Rodion Schtschedrin (*1932), Jurij Buzko (*1938), Walerij Gawrilin (1939–99) und Boris Tistschenko (1939–2010). In der Landschaft der neuen russischen bzw. sowjetischen Musik sind auch Strömungen präsent, die zeitgleich in Westeuropa auftreten. Dabei sind experimentelle Ansätze der 1960er Jahre ebenso zu nennen wie neotonale Tendenzen, Minimalismus, Neoromantik und meditative Musik. Allerdings ähnelt der sowjetische Ä Minimalismus (Redepenning 2008a, 712 f.) dem amerikanischen nur wenig, zielt er doch noch stärker als jener auf die Rezeption breiter Publikumsschichten. Insbesondere im Baltikum und im Kaukasus machte die Hinwendung zu einer repetitiven Meditationsmusik Schule, wobei auch aus den jeweils spezifisch ethnischen Quellen geschöpft wird. Als Repräsentanten dieser Tendenz können der Russe Wladimir Martynow (*1946), der Este Arvo Pärt, der Georgier Gija Kantscheli sowie die Armenier Tigran Mansurjan (*1939) 491 und Awet Terterjan gelten. Weitere Tendenzen der jüngeren sowjetischen Musik thematisieren Grenzbereiche zur Filmmusik oder den Synkretismus des »Symphonic Rock«. Seit den 1950er Jahren hat jedoch trotz dieser Diversifizierung in der sowjetischen und postsowjetischen Avantgarde eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit den neuesten kompositorischen Entwicklungen stattgefunden. Besonders Vertreter jüngerer Generationen haben sich dabei auch von den traditionellen Formmodellen und Ä Gattungen distanziert, die das Schaffen der älteren Komponistengeneration in hohem Maß prägte, etwa indem sie sich kleineren Formen zuwandten. Wladimir Tarnopolski und Juri Kasparow, beide Professoren am Moskauer Konservatorium, tragen entscheidend zu einer solchen fortgesetzten Auseinandersetzung mit der internationalen Avantgarde bei. Selbst wenn nach 1990 einige Komponisten in andere Länder übersiedelten und die Grenzen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken nun eine gewisse Distanz zwischen den – ehemals sowjetischen – Kollegen mit sich brachten, so bleibt dennoch eine grundsätzliche Solidarität bestehen, wovon auch die Neugründung des Vereins für Zeitgenössische Musik (ASM, Assoziazija Sowremennoj Musyki) in 1990 zeugt. Der Verein war 1931 verboten worden, um durch den Komponistenverband der Sowjetunion ersetzt zu werden, der von 1948 bis 1991 von Tichon Chrennikow (1913–2007) geleitet wurde. Unter Chrennikow registrierte der Komponistenverband die neue Musik und die Kontakte der sowjetischen Komponisten zu Westeuropa sehr kritisch und behinderte wiederholt die Ausreise sowjetischer Komponisten. 1979 unternahm Chrennikow eine scharfe Attacke gegen sieben rebellische Komponisten: Jelena Firsowa, Dmitri Smirnow, Aleksandr Knajfel (*1943), Viktor Suslin, Wjatscheslaw Artjomow, Sofia Gubaidulina und Edisson Denissow (Schmelz 2009, 325). Auf Initiative des zuletzt Genannten schlossen sich die meisten dieser Komponisten mit weiteren Kollegen aus verschiedenen Generationen  – Nikolaj Korndorf (1947– 2001), Wladimir Martynow (*1946), Aleksander Raskatow (*1953), Wladimir Tarnopolski  – und aus unterschiedlichen exsowjetischen Republiken  – Leonid Grabowski (*1935, Ukraine), Walentyn Sylwestrow (*1937 Ukraine), Tigran Mansurjan (*1939, Armenien), Faradsch Karajew (*1943, Aserbeidschan), Pēteris Vasks (*1946, Lettland)  – zusammen, um die Idee des ASM wiederzubeleben, hochwertige neue Musik in Osteuropa zu fördern und sich von jedwedem sowjetischen Modell zu befreien. 4. Baltikum, Kaukasus, Weißrussland In den 1960er bis 1970er Jahren war für baltische Komponisten insbesondere eine folkloristisch orientierte Kom- Osteuropa positionstechnik stilprägend, ein Phänomen, das zu jener Zeit bei der Musik aller Sowjetrepubliken als Ausdruck nationalistischer Ideologien in Erscheinung trat. In diese Kategorie fallen Werke der Esten Jaan Rääts (*1932) und Veljo Tormis (*1930), des Letten Pauls Dambis (*1936), des Georgiers Otar Taktaschwili (1924–89) und des Dagestaners Schirwani Tschalajew (*1936). Andere baltische Komponisten können zur »sowjetischen Avantgarde« (vgl. 2.) gezählt werden; so attestierte die westeuropäische Presse Werken des Esten Kuldar Sink (1942–95), des Georgiers Nodar Mamissaschwili und des Armeniers Arno Babadschanjan (1921–83) einen gewissen Nonkonformismus (Redepenning 2008a, 650). Nach 1990 wandten sich die meisten Komponisten im Baltikum minimalistisch-repetitiven Techniken zu: Beispiele hierfür sind die Litauer Bronius Kutavičius (*1932), Feliksas Bajoras (*1934), Osvaldas Balakauskas (der zuvor mit serieller Musik experimentiert hatte) sowie die Letten Pēteris Plakidis (*1947) und Pēteris Vasks. In Litauen waren es Komponisten wie Balakauskas, Kutavičius, Bajoras oder Vytautas Barkauskas (*1931), die nachdrücklich an der Durchsetzung westlich orientierter neuer Musik beteiligt waren; sie waren nicht zuletzt von vielen beim Warschauer Herbst präsentierten Werken beeinflusst, der in der sowjetischen Zeit die Drehscheibe der Ost-West-Kontakte schlechthin war. Die jüngeren Komponisten Algirdas Martinaitis (*1950), Mindaugas Urbaitis (*1952), Vidmantas Bartulis (*1954) und Onutė Narbutaitė (*1956) bildeten eine Komponistengruppierung, die sich der Neoromantik verschrieb, während Mitte der 1980er Jahre Ričardas Kabelis (*1957), Rytis Mažulis (*1961), Nomeda Valančiūtė (*1961), Gintaras Sodeika (*1961) und Šarūnas Nakas (*1962) eine andere Gruppierung formten, die sich mit mathematisch-formalisierter Musik, repetitiven Techniken und scharfen klanglichen Kontrasten beschäftigte. Die jüngste Komponistengeneration nach 1990 wandte sich entweder wiederum der Neoromantik zu (Raminta Šerkšnytė, *1975) oder trat durch theatrale und intermediale Projekte hervor (Vykintas Baltakas, *1972, Vytautas V. Jurgutis, *1976). Der zweifellos berühmteste Komponist aus dem Baltikum ist der Este Arvo Pärt. Mitte der 1960er Jahre stand er der »sowjetischen Avantgarde« nahe, nach 1976 entwickelt er eine eigene vom ihm als »Tintinnabuli« bezeichnete Kompositionstechnik (Chikinda 2011; Shenton 2012), die stark an minimalistischen Strukturen und religiösen Sujets orientiert ist (Redepenning 2008a, 673). Nach seiner Auswanderung 1980 (zunächst nach Österreich, später nach Deutschland) erfreute sich Pärt einer zunehmend weltweiten Anerkennung. Seine jüngeren estnischen Komponistenkollegen spiegeln eine vielfältige Mu- Osteuropa siklandschaft wider, die von Neoklassik über französisch beeinflusste Ä Spektralmusik bis hin zu Ä Collagen oder ritualistisch-meditativen Klängen reicht: Lepo Sumera (1950–2000), Raimo Kangro (1949–2001), Erkki-Sven Tüür (*1959), Galina Grigorjeva (*1962), Mart Siimer (*1967), Tõnu Kõrvits (*1969), Tõnis Kaumann (*1971), Helena Tulve (*1972), Märt-Matis Lill (*1975), Mirjam Tally (*1976). Der international bekannteste Komponist Lettlands ist Pēteris Vasks, dessen Musik wie die anderer Vertreter der älteren Generation durch eine Vorliebe für neotonale Harmonik und minimalistische Strukturen geprägt ist, während die jüngere Komponistengeneration gerne auf Techniken der westlichen Avantgarde zurückgreift. Der Dialog zwischen den Generationen wird in der Regel im Rahmen von Lehrer-Schüler-Verhältnissen ausgetragen: So waren Romualds Kalsons (*1936) und Raymond Pauls (*1936, lettischer Kulturminister 1988–93) u. a. Lehrer von Uģis Prauliņš (*1957), Ilona Breģe (*1959), Rihards Dubra (*1964), Kārlis Lācis (*1977), Andris Dzenītis (*1978), Jānis Petraškevičs (*1978) u. a. (Karnes / Braun 2013). Während die baltischen Staaten bereits in den 1980er Jahren international Aufmerksamkeit erlangten (hauptsächlich dank des Ansehens Pärts) und die hier entstandene neue Musik nach 1990 ein integraler Teil des internationalen Musiklebens wurde, steht eine derartige Entwicklung bei manch anderen exsowjetischen Republiken in musikalischer Hinsicht noch aus. Repetitive meditative Musik mit Anklängen an Minimalismus und Neoromantik ist auch charakteristisch für manche Komponisten aus dem Kaukasus, z. B. Kantscheli (seit 1995 in Antwerpen lebend), Terterjan oder Mansurjan. Andere Komponisten versuchen, mündlich überlieferte Traditionen mit Kompositionstechniken der neuen Musik westlicher Prägung zu kombinieren, z. B. die Armenier Martunik Israeljan (*1938) und Aschot Sochrabjan (*1945) sowie die Aserbaidschaner Faradsch Karajew und Frangis Ali-Sade (*1947, seit 1999 in Deutschland lebend). In Weißrussland haben Anatoli Bogatyrjow (1913– 2003), Jewgeni Glebow (1929–2000), Dmitri Smolski (*1937), Waleri Karetnikow (*1940) in der sowjetischen Epoche den Grundstein einer modernen Musiksprache und Kompositionsausbildung gelegt. Zu ihren Schülern zählen Komponistinnen und Komponisten wie Galina Gorelowa (Halina Harelava, *1951), Sergej Beltjukow (*1956) und Dmitri Lybin (*1963). 5. Ukraine Boris Ljatoschynskyi (1895–1968), der erste ukrainische Komponist, der die Moderne in Kiew prägte, stimulierte in den 1960er Jahren seine Schüler Grabowski, Sylwestrow und Vitaly Godziacki (Witali Hodzjazki, *1936), sich der 492 neuen Musik zuzuwenden. Der bekannteste unter ihnen, Sylwestrow, verschrieb sich einer pointilistischen Technik und konzentrierten, an Webern erinnernden Miniaturen und arbeitete mit Klangtexturen und aleatorischen Verfahren; dies brachte ihm wichtige Auszeichnungen und die Wertschätzung Theodor W. Adornos ein (GienowHecht 2015, 209). In den 1970er Jahren beginnt er, Happenings und Ä Instrumentales Theater in seine Kompositionen einzubinden und atonale mit tonaler Musik zu verknüpfen. Ein markanter Stilwandel wird in der Folge bemerkbar, als Sylwestrow in seiner Musik verstärkt Anspielungen auf die Romantik integriert; seine Kompositionen werden funktional, kantabel und stellen die Klangschönheit in den Vordergrund. Sein sinfonisches Konzept wurde daher als »neoromantisch« beschrieben, jedoch ist diese »Rückwendung« keineswegs naiv, sondern filtert aus der Moderne des 20. Jh.s eine »Metamusik« heraus (Schmelz 2009, 257), etwa in seinen kammermusikalischen und sinfonischen Postludien (ab 1981). Unter seinen Generationskollegen bleibt Godziacki am stärksten der Moderne verpflichtet – er geht von musique concrète (Ä Elektronische Musik, 2.), seriellen und punktuellen Techniken aus und ist an Stockhausen orientiert. Grabowski (seit 1989 in den USA lebend) wiederum entfachte eine neue folkloristische Welle in der ukrainischen Musik; in den 1970er Jahren erachtet er sich als der erste sowjetische Minimalist, er komponiert zunächst mithilfe von algorithmischen Verfahren, später mit der von ihm als »controlled casual processes« bezeichneten Technik (Kyyanovska / Loos 2013, 40). Auch in anderen Städten der Ukraine gruppieren sich Komponisten und manchmal kommt es auch zu Festivals neuer Musik. In der multiethnischen Region Galizien einschließlich Lwiw (Lemberg) wurden erste Zeichen zum Neuen durch Myroslaw Skoryk (*1938) gesetzt, gefolgt von Wiktor Kaminskyj (*1953) und Juri Lanjuk (*1958). Der Einfluss Schostakowitschs ist in Charkow am meisten zu spüren, insbesondere bei Dmitri Klebanow (1907–1983) und Witalij Gubarenko (Hubarenko, 1934–2000). In Odessa sind schließlich Komponisten aktiv, die in den 1980er und 1990er Jahren in den Vordergrund traten – Ludmila Samodajewa (*1951), Karmella Zepkolenko (*1955), Julija Gomelskaja (*1964) – und eine expressionistische Ästhetik befürworten, aphoristische Formen kultivieren oder für eine neue stilistische Orientierung eintreten, die sie als »Postneoromantik« bezeichnen (Kyyanovska / Loos 2013, 50). Zepkolenko gründete und leitete verschiedene Institutionen zur Förderung der neuen Musik, die ukrainischen Sektion der Internationale Gesellschaft für neue Musik (IGNM) sowie das internationale Festival Zwei Tage und zwei Nächte der neuen Musik. 493 6. Die Moldaurepublik und Rumänien In der kulturell am Schnittpunkt zwischen dem rumänischen und russischen Raum liegenden Moldaurepublik hat die Rezeption der westeuropäischen neuen Musik erst in den 1980er und 1990er Jahren eingesetzt. Erst in der spätsowjetischen Zeit wurde der Zugang zu Information aus Westeuropa möglich und stilistische Diversität gefördert, etwa im Rahmen des Festivals Zilele muzicii noi [Tage der neuen Musik]. Der Gründer und Leiter dieses Festivals, Ghenadie Ciobanu (*1957), war zugleich Vorsitzender des Komponisten- und Musikwissenschaftlerverbandes der Moldaurepublik (UCMM, Uniunea Compozitorilor şi Muzicologilor din Moldova), Vorsitzender der moldauischen Sektion der IGNM und einige Jahre (1997– 2001) sogar Kulturminister. Nach Ciobanu übernahm der Komponist Wladimir Beljajew (Vladimir Beleaev, *1955) die Leitung des UCMM. Beide Komponisten legten Werke in allen Genres vor und erforschten vorurteilslos Avantgardetechniken sowie Aspekte der byzantinischen Musik und mündlich überlieferte Traditionen. Die Nachkriegsgeschichte der Musik in Rumänien ähnelt weitgehend den Entwicklungen in der Sowjetunion. Sie wurde unvermeidlich vom Sozialistischen Realismus der 1950er Jahre geprägt, aber auch von einer brillanten Komponistengeneration angetrieben, die Vorbilder der neuen Musik des Westens enthusiastisch verinnerlichte. Tiberiu Olah (1928–2002), Theodor Grigoriu (1926–2014) und Anatol Vieru (1926–98) studierten in Moskau (Olah: 1949–54; Grigoriu: 1955–56; Vieru: 1951–54) und freundeten sich dort mit ihren sowjetischen Kollegen Schnittke, Denissow und Gubaidulina an. Bei ihrer Rückkehr nach Rumänien waren sie keineswegs von der offiziellen Ideologie Moskaus indoktriniert, sie besaßen vielmehr eine solide Kompositionstechnik, die sie im Dialog mit Kollegen, die an den Musikhochschulen in Bukarest, Cluj (Klausenburg) und Iaşi (Jassy) studiert hatten, weiterentwickelten. Komponisten wie Vieru, Ştefan Niculescu (1927–2008), Olah, Miriam Marbe (1931–1997), Dan Constantinescu (1931–1993), Aurel Stroe (1932–2008) und der Klausenburger Cornel Ţăranu (*1934) bildeten in der Folge eine einheitliche und geschlossen auftretende Gruppe, die ein großes Interesse an Fragen neuer Musik teilte. Die Quellen, die sie leidenschaftlich erforschten, waren die Modernität in George Enescus (1881–1955) letztem Werk, der Kammersinfonie für 12 Instrumente op. 33 (1954), die Musik von Bartók, Schönberg und seinen Schülern, von Hindemith, Messiaen und Strawinsky. Diese jungen Komponisten wohnten stets geschlossen den Aufführungen von Werken ihrer Kollegen bei und diskutierten sie anschließend eingehend; sie experimentierten mit seriellen Osteuropa Methoden, die dergestalt kaschiert wurden, dass sie die Zensur (ausgeübt durch das Büro für sinfonische Musik des Komponistenverbandes [Uniunea Compozitorilor şi Muzicologilor din România]) nicht zu erkennen vermochte. Sie waren nur sporadisch im Konzertleben präsent, und auch die Teilnahme an europäischen Festivals (etwa an den Darmstädter Ferienkursen oder am Warschauer Herbst) wurde ihnen bis 1965 verweigert. Eine bescheidene internationale Anerkennung setzte erst nach 1965 allmählich ein, als Auslandsreisen in beschränktem Maße möglich wurden. Die Machtübernahme Nicolae Ceauşescus brachte damals eine gewisse Liberalisierung mit sich, die nur ein paar Jahre dauerte (1971 besuchte Ceauşescu Nordkorea und die VR China, die zum Vorbild für seine eigene Diktatur wurden). In den 1970er bis 1990er Jahren führte die an der Avantgarde orientierte Haltung dieser Komponisten dann zur Entstehung origineller Kompositionssysteme. Sie zeichneten sich aus durch heterophone, auf einem Orgelpunkt (ison, ein aus der griechisch-orthodoxen Tradition übernommenes Konzept) basierende Texturen (Ştefan Niculescu, Ison I für 14 Solisten oder großes Orchester, 1973, Ison II für Orchester, 1975–76), die mathematische Generierung von Modi (Anatol Vieru, Sonnenuhr für Orchester, 1969), eine »morphogenetische« Musik und alternative Stimmungssysteme (Aurel Stroe, Capricci und Ragas – Konzert für Geige und Solistenensemble, 1990), die Umformulierung von pentatonischer und tonaler Harmonik (Tiberiu Olah, Zweite Sinfonie, 1987), archaische Improvisation und Ritualität (Miriam Marbe, Ritual für den Durst der Erde für sieben Stimmen, Vokalensemble und präpariertes Klavier, 1968) oder die Kombination solcher Ansätze in einem metaseriellen System (Dan Constantinescu, Klavierkonzert, 1963). An dieser Stelle muss man jedoch anmerken, dass diese Gruppierung nicht eine gesamte Generation vertritt: Andere Komponisten im selben Alter ziehen eine Ästhetik vor, die an eher konventionelle Stilelemente Enescus anknüpft und ein Gleichgewicht zwischen der französisch geprägten Sinfonik und den Prinzipien der rumänischen Volksmusik findet. Komponisten wie Theodor Grigoriu, Pascal Bentoiu (*1927), Nicolae Beloiu (1927–2003), Wilhelm Georg Berger (1929–92), Dumitru Capoianu (1929–2012) vertreten damit konsequent eine gemäßigte Moderne. Eine solche Unterscheidung zwischen »radikaler« und »gemäßigter« Moderne in der neuen rumänischen Musik ist allerdings unzulänglich: Die mathematische Generierung der Modi, eine Technik, die sich sowohl der »radikale« Vieru als auch der »gemäßigte« Berger zu eigen machen, lässt die beiden Komponisten in eine gewisse Nähe Osteuropa zueinander rücken. Insgesamt aber suchen die Gemäßigten im stärkeren Maße eine »Zugänglichkeit« ihrer Musik. Zu diesem Ziel wird etwa ein »modales Ethos« (Grigoriu) definiert (Sandu-Dediu 2006, 116) und eine breite Palette von Kompositionstechniken findet Verwendung, die von Zwölftontechnik zu sinfonischem Ä Jazz bis hin zu ironischen Zitaten aus Werken vergangener Epochen reichen (Bentoiu, Capoianu). Eine weitere Präzisierung wird an dieser Stelle notwendig: Die Gruppierung der »radikalen Moderne« scheint eher Nachfolger hervorzubringen als die »gemäßigte Moderne«; der Grund dafür ist einerseits die selbstverständlich gewordene Hinwendung der jüngeren Generationen zum Neuen und Experimentellen und andererseits die Tatsache, dass die Komponisten der »radikalen Moderne« in stärkerem Maß als Pädagogen wirkten: Niculescu, Stroe, Olah, Vieru, Constantinescu und Marbe waren alle über längere Zeiträume Dozenten am Lehrstuhl für Komposition des Bukarester Konservatoriums, Ţăranu am Klausenburger Konservatorium. Die nach 1935 geborenen Komponisten widmen sich seit den 1970er und 1980er Jahren vorwiegend der Spektralmusik; dabei richten sie ihr Hauptaugenmerk auf einen sog. »Ursprungston«, auf Meditations- oder »Inkantationsmusik«. Sie leiten dabei Kompositionsprinzipien aus der morphologischen Struktur der rumänischen Volksmusik ab und definieren auf dieser Grundlage morphologische Archetypen. Daneben erforschen sie eine (mehr oder weniger kontrollierte) Aleatorik, minimalistische Techniken, Instrumentales Theater, elektronische Musik, sie experimentieren  – beeinflusst durch die neue Musik in Polen  – mit Texturmusik, Polystilistik oder Neoromantik. Eine keineswegs erschöpfende Liste der Komponisten dieser Generation umfasst Namen wie Nicolae Brânduş (*1935), Corneliu Cezar (1937–97), Mihai Moldovan (1937–81), Liviu Glodeanu (1938–78), Octavian Nemescu (*1940), Sabin Păutza (*1943), Viorel Munteanu (*1944), Iancu Dumitrescu (*1944), Ulpiu Vlad (*1945), Liana Alexandra (1947–2011), Călin Ioachimescu (*1949), Doina Rotaru (*1951), Adrian Iorgulescu (*1951), Adrian Pop (*1951), Sorin Lerescu (*1953), Liviu Dănceanu (*1954) und Şerban Nichifor (*1954). Einige von ihnen wanderten aus  – so etwa Corneliu Dan Georgescu (*1938, seit 1987 in Deutschland lebend), Horaţiu Rădulescu (1942–2008, französischer Staatsbürger ab 1974), Costin Miereanu (*1943, französischer Staatsbürger seit 1977) oder Violeta Dinescu (*1953, seit 1982 in Deutschland). Der bekannteste unter den zuletzt genannten Komponisten, Rădulescu, siedelte 1969 nach Paris über, schuf die Grundlagen seiner spektralen Kompositionstechnik und wurde in der Folge im Westen relativ breit rezipiert. 494 Die politische Haltung rumänischer Musiker vor 1989 kann nicht über einen Kamm geschoren werden, eine Feststellung, die übrigens für alle exkommunistischen Länder gilt. Wenn man von politischer Anpassung oder künstlerischen Kompromissen spricht, kann man dies nicht tun, ohne graduelle Differenzierungen und Nuancen zu berücksichtigen, wollte man keinem Musiker Unrecht antun. Im breiten Bereich zwischen der Produktion von Werken für die kommunistischen Auftraggeber und einer Treue zur Ästhetik der westlichen Avantgarde gab es jedenfalls für viele Möglichkeiten eigenständige kompositorische Ideen und Systeme zu entwerfen. Nach 1990 passen sich die rumänischen Komponisten den Bedingungen der neuen Gesellschaftsordnung an; sie setzen ihre bisherige Auseinandersetzung mit verschiedenen Kompositionstechniken fort oder diversifizieren sie; die Werke einiger Komponisten werden immer öfter im Ausland aufgeführt. Ştefan Niculescu gründet 1991 in Bukarest ein von ihm und seinen Kollegen lange geplantes Festival: Săptămâna Internaţională a Muzicii Noi (Internationale Woche der neuen Musik). Dieser Initiative folgen ähnliche Festivals in Städten wie Cluj (Klausenburg), Iaşi (Jassy), Timişoara (Temeswar). Von der Öffnung gegenüber dem Westen profitieren vielleicht im größten Maße (in Form von Stipendien und internationalen Auszeichnungen) die jungen Komponisten, die in den 1980er Jahren debütiert hatten, darunter Livia Teodorescu (*1959), George Balint (*1961), Mihaela Vosganian (*1961) und Dan Dediu (*1967). Sie suchen kontinuierlich nach eigenen ästhetischen Wegen: Eine Auseinandersetzung mit lokalen und globalen Formen traditioneller Musik, Heterophonie, elektronische und spektrale Techniken sowie ein kreativer Dialog mit der Tradition europäischer Kunstmusik spielen dabei eine wesentliche Rolle. 7. Die Balkanländer und das ehemalige Jugoslawien Auch in Bulgarien bewirkte die Koexistenz des Sozialistischen Realismus mit der Hinwendung zu westeuropäischen Neuerungen eine ähnliche Entwicklung. Das Modell eines nationalistisch getönten Folklorismus in Kantanten, Oratorien und Chormusik wich allmählich den neuen Ideen der westlichen Avantgarde. Sichtbar wird dies in der Musik der nach 1920 geborenen Komponisten wie Aleksandar Rajtschew (1922–2003), Lasar Nikolow (1922–2005), Konstantin Ilijew (1924–88), Simeon Pironkow (1927–2000), Dimitar Christow (*1933), Wassil Kasandschiew (*1934), Iwan Spassow (1934–96) und Krassimir Kjurktschijski (*1936). Nach der Tauwetterperiode kennzeichnen analytisches und antiromantisches Denken die Musik der 1970er und 1980er Jahre. Für Boschidar Spassow (*1949, seit 1990 in Deutschland lebend) sind die 495 Ausbildung in Moskau (bei Denissow und Sidelnikow) sowie die Beeinflussung durch Berio und Stockhausen ausschlaggebend. Nicht wenige Komponisten ergänzen ihr Kompositionsstudium in Bulgarien mit Fortbildungen in der Sowjetunion oder Deutschland (Stefan Dragostinow, *1948), in Wien (Plamen Dschurow, *1949), in Moskau, Prag und Zürich (Newa Krastewa, *1946), in Florenz (Georgi Arnaudow, *1957) oder wohnten prägenden Workshops von Anatol Vieru (Ljubomir Denew, *1951, Petar Petrow, *1961) bei. Dies zeugt vom lebendigen Ideenaustausch in Europa über die Ost-West-Grenzen hinweg. Ein ehemaliger Student Vierus in Bukarest, Sokol Shupo (*1954), ist heute die Schlüsselfigur des Musikbetriebs in Albanien (Samson 2013, 459). Shupo und seine Komponistenkollegen Thoma Gaqi (*1948), Hajg Zaharjan (*1951), Aleksandër Peçi (*1951) sondieren in unterschiedlicher Weise Stilrichtungen der Moderne und der experimentellen Musik und befassen sich auch mit elektronischer Musik und Minimalismus. Ältere albanische Komponisten wie Feim Ibrahimi (1935–1997) schlossen sich ebenfalls der neuen Musik an, wobei man die Umstände in Albanien berücksichtigen muss, die dieses Land von anderen exkommunistischen Ländern differenzieren: Die Synchronisierung des Musiklebens mit westeuropäischen Vorbildern hat in Albanien später (in der zweiten Hälfte des 20. Jh.) begonnen und diese hat daher auch einen beschleunigten Rhythmus erfahren. Gleichzeitig herrschte das sowjetische Vorbild in der musikalischen Ausbildung hier nahezu uneingeschränkt. In der Zeit 1955–65 studierten die meisten albanischen Komponisten in Moskau oder anderen Metropolen kommunistischer Länder und ihre Werke spiegelten die kommunistische Ideologie in traditionell gefassten Werken (Opern, Kantaten) wider. Die nächste Dekade (1965–75) brachte  – trotz Isolation des Landes, die das Herauskristallisieren einer unabhängigen Avantgarde hemmte  – bescheidene Versuche, sich einer neueren Musiksprache zu bedienen. Die Folgejahre (1975– 90) bedeuteten jedoch einen Schritt zurück in der albanischen Kultur, die in dieser Zeit einem verstärkten ideologischen Druck ausgesetzt war. Erst nach 1990 wird – wie überall im postkommunistischen Raum – die ideologische Bevormundung durch wirtschaftliche Schwierigkeiten in der Finanzierung von Kunst und Kultur ersetzt. Trotzdem gab es ab 1991 auch in Tirana Festivals und Vereine zur Förderung der neuen Musik. Im Gegensatz zu den anderen Ländern des »Ostblocks« stand das ehemalige Jugoslawien Josip Broz Titos über einen beträchtlichen Zeitraum unter einem liberaleren und dem Westen gegenüber offeneren Regime. Die Künstler dieses Landes genossen Reisefreiheit, durften Pässe haben, wohnten den Vorträgen der Internationalen Osteuropa Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt bei, beteiligten sich an Meisterkursen in europäischen Hauptstädten und an amerikanischen Universitäten. Nach einer kurzen, unvermeidlichen Vormachtstellung des Sozialistischen Realismus kühlte das Verhältnis Jugoslawiens zur Sowjetunion 1948 ab. Komponisten, die in den 1950er Jahren hauptsächlich in Belgrad studiert hatten, trugen zur Professionalisierung der neuen Musik bei und wurden bei internationalen Festivals wie der Biennale in Zagreb (ab 1961) oder The Review of Yugoslav Music in Opatija (ab 1964) aufgeführt. Andererseits hatten der Zerfall Jugoslawiens und die regionalen Konflikte, die im dramatischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre gipfelten, unweigerlich negative Folgen für Kultur und Künste. Die ersten Komponisten in Serbien, die sich offenkundig der neuen Musik zuwandten, hatten vor ihrer in Belgrad begonnenen Karriere in Prag studiert (u. a. bei Alois Hába, Rudolf Karel, Josef Suk) und bewunderten Schönberg, Hindemith und Hába: Ljubica Marić (1909– 2003), Stanojlo Rajičić (1910–2000) und Milan Ristić (1908–82). Die Orientierung an der Moderne verbindet sich bei diesen Komponisten mit einer Vorliebe für die mittelalterliche serbische Welt byzantinischen Ursprungs. Ihr jüngerer Kollege Dušan Radić (*1929) war gleichfalls an einer Übersetzung der archaischen serbischen Klangwelt in moderne Musiksprache interessiert, aber auch an neoklassischen und neoexpressionistischen Tendenzen, die in den 1950er Jahren auftraten. Solche Tendenzen sind auch bei Vasilije Mokranjac (1923–84), Aleksandar Obradović (1927–2001), Dejan Despić (*1930) und Vladan Radovanović (*1932) sowie bei Rudolf Bruči (1917–2002) und Petar Ozgijan (1932–79) bemerkbar. In den 1960er Jahren begannen serbische Komponisten unterschiedlicher Generationen sich entschiedener mit Techniken der europäischen Avantgarde auseinanderzusetzen; im Vordergrund standen dabei postdodekaphone Techniken, konkrete und elektronische Musik sowie der Sonorismus polnischer Prägung (vgl. 10.). Die Gründung des Elektronischen Studios bei Radio Belgrad 1972 gab der serbischen Avantgarde neue Impulse. Prägend waren in diesem Zusammenhang Vladan Radovanović, Leiter des Studios, und Srdjan Hofman (*1944), der serielle und aleatorische Methoden einsetzte. In den 1980er Jahren orientieren sich Komponisten wie Vuk Kulenović (*1946) oder Vlastimir Trajković (*1947) an Schönberg und der französischen Musik (insbesondere Messiaen), während mehrere um das Jahr 1950 geborene Komponisten unter dem Bann von Cage und der amerikanischen Minimal Music stehen und gegen die traditionelle Kompositionspädagogik an der Belgrader Musikakademie protestieren (Milin 2009): Miodrag Lazarov-Pashu (*1949), 496 Osteuropa Vladimir Tošić (*1949), Milimir Drašković (1952–2014), Miloš Petrović (1952–2010) und Miroslav Savić (*1954). In den 1980er Jahren folgen einige Komponistinnen dem Beispiel der prominenten Ljubica Marić und werden in der Folge in der Szene der neuen Musik bekannt, u. a. Ivana Stefanović (*1948) und Katarina Miljković (*1959). Milan Mihajlović (*1945) ist im selben Zeitraum der erste serbische Komponist, der Zitate in seine Musik einfügt. Gegen Ende der 1980er Jahre macht eine Gruppe von begabten jungen Komponisten von sich hören: Vladimir Jovanović (*1956), Srdjan Jaćimović (1960–2006), Ognjen Bogdanović (*1965), Nataša Bogojević (*1966), Igor Gostuški (*1966), Isidora Žebeljan (*1967) und Ana Mihajlović (*1968). Sowohl sie als auch ihre älteren Komponistenkollegen erleben in den turbulenten 1990er Jahre Proteste von Musikern gegen den Krieg, aber auch eine Hinwendung zum Geist der Postmoderne und einer »Neuen Einfachheit«. Zitate, Fragmentierung der Formen, Zurückgreifen auf Volksmusikgenres, repetitive Techniken prägen einen guten Teil der serbischen Musik, in vielen Fällen bestimmt vom Versuch, ein neues Publikum zu gewinnen. Wenn man über die Musik im ehemaligen Jugoslawien spricht, sind nationale Abgrenzungen – ähnlich wie im Fall der ehemaligen Sowjetunion – unvermeidlich. Die ehemals jugoslawischen Musiker aus allen sechs Teilrepubliken des föderalen Staates standen vor 1990 in einem viel engeren institutionellen Kontakt untereinander. Der Kroate Milko Kelemen (*1924, heute in Deutschland lebend) initiierte und leitete die Biennale in Zagreb seit ihrer Gründung 1961, ein internationales Festival, das für Kroaten und Serben, für Slowenen, Mazedonier und Bosnier etc. gleichermaßen wichtig war. Die Biennale in Zagreb blieb bis heute ein wichtiges Festival in der Region; gegenwärtig wird sie von Berislav Šipuš (*1958) koordiniert, der 2015 zum Kulturminister seines Landes ernannt wurde. Als Vorbild der Biennale hatte der Warschauer Herbst fungiert mit seiner Ausrichtung an einer Kommunikation zwischen Ost und West und der Orientierung an avantgardistischen Ideen der Gegenwart. Kelemen blieb lange Zeit das »Enfant terrible« der jugoslawischen Musik und wird heute als Gründer der neuen Musik in Kroatien angesehen. Er hat ein weites Spektrum avantgardistischer Techniken durchlaufen, beginnend mit seriellen Methoden bis hin zur elektronischen Musik. Ein weiteres Beispiel für nationale Abgrenzung in Jugoslawien ist die Autonomie der neuen Musik in Slowenien. Die Moderne begann hier mit der 1961 gegründeten Komponistengruppierung Pro musica viva. Die Komponisten dieser Gruppe sahen sich als Fortführer slowenischer Avantgardisten der Zwischenkriegszeit, was eine ablehnende Einstellung gegenüber den sozialistischen Modellen der slowenischen Nachkriegsgesellschaft implizierte. Die Gruppierung förderte die Auseinandersetzung mit serieller Musik, die mathematische bzw. geometrische Organisation musikalischer Strukturen, elektroakustische Musik, Aleatorik etc. Ein Mitglied dieser Gruppierung, Ivo Petrić (*1931), koordinierte lange Zeit das 1962 gegründete Kammerensemble Slavko Osterc, das europaweit zahlreiche Werke in Auftrag gab und uraufführte. Erwähnenswert ist auch, dass nach dem Auseinandergehen der Gruppierung (Ende der 1960er Jahre) einige Komponisten der Pro musica viva Schlüsselpositionen im Musikleben Sloweniens einnahmen. Als Leiter wichtiger Institutionen (Oper, Philharmoniker, Slowenischer Rundfunk) übten sie einen bedeutenden Einfluss aus. Selbst wenn die politische Sonderstellung Jugoslawiens im sozialistischen Lager den Künstlern Reisefreiheit und auch eine gewisse ästhetische Unabhängigkeit ermöglicht hat, ist die neue Musik Exjugoslawiens – mit Ausnahme der zeitweise im Westen lebenden Milko Kelemen, Vinko Globokar (*1934) und Uroš Rojko (*1954) – bis heute nicht ausreichend im Westen bekannt. 8. Tschechien und Slowakei Im Prag der Zwischenkriegszeit ziehen die Vorlesungen Alois Hábas (1893–1973; ab 1924 lehrt er Komposition am Prager Konservatorium, 1946–64 ist er Professor für Komposition an der Akademie der musischen Künste) insbesondere Komponisten aus Jugoslawien aber auch aus Dänemark, Bulgarien und der Türkei sowie aus Polen und der Ukraine in die damalige Tschechoslowakei (Bek 1983). Hábas Experimente mit mikrotonaler und athematischer Komposition, sein fundiertes Verständnis der Mechanismen der tschechischen und mährischen Volksmusik und seine Auseinandersetzung mit Schönbergs Zwölftontechnik inspirieren bis heute nachfolgende Generationen tschechischer Komponisten. Doch aufgrund des 1948 an die Macht gekommenen kommunistischen Regimes ist die Nachkriegszeit in der Tschechoslowakei von ideologischen Eingriffen, Zensur sowie von widersprüchlichen Haltungen der Komponisten gekennzeichnet, wie sie zu jener Zeit in allen Ostblockstaaten in vergleichbarer Weise vorzufinden sind. Hába selbst unterschreibt  – neben 379 anderen Künstlern  – die prokommunistische Erklärung von 1946, in der die Rolle der Kommunistischen Partei bei der Befreiung des Landes vom Nationalsozialismus begrüßt wurde (Jùzl 1996, 31 f.). Anfang der 1950er Jahre wurden Hábas Vorlesungen über Vierteltonmusik verboten, ebenso wie Kirchenmusik, atonale und athematische Musik (ebd., 46). Schdanows repressive kulturpolitische Doktrin wurde erst nach 1956 etwas gelockert; erkennbar etwa an der öffentlichen Aufführung religiöser Werke von 497 Komponisten wie Vladimir Sommer (1921–97), Jan Svatopluk Havelka (1925–2009) oder Petr Eben (1929–2007). Tschechische und slowakische Komponisten interessierten sich nun zunehmend für neue Strömungen in der westeuropäischen Musik; mit der Gründung von elektronischen Studios Anfang der 1960er Jahre (in Prag, Bratislava, Pilsen und Brünn) erlebte insbesondere die Auseinandersetzung mit elektronischer Musik einen großen Aufschwung. Den Studios war es auch zu verdanken, dass die elektronische Musik in den kommenden Dekaden weiterhin sehr präsent blieb (Zajicek 1995); Beispiele hierfür sind u. a. Werke von Miloslav Kabeláč (1908–79), Jan Hanus (1915–2004), Jan Rychlik (1916–64), Zbyněk Vostřák (1920–85), Alois Piňos (1925–2008), Václav Kučera (*1929), Josef Berg (1927–71), Karel Odstrčil (1930–1997) und Rudolf Rùžička (*1941). Nach der gewaltsamen Niederschlagung des »Prager Frühlings« am 21. August 1968 durch einmarschierende Truppen des Warschauer Paktes kommt es zu einer entschiedenen Gegenreaktion in der Kunst-Szene: Komponisten beziehen sich bewusst auf Texte verbotener Schriftsteller oder auf biblische Themen, die durch enigmatische Werkbezeichnungen getarnt werden. Marek Kopelent (*1932), ein führender Komponist der tschechischen Avantgarde der im Westen dank der Festivals in Darmstadt, Donaueschingen und des Warschauer Herbstes bekannt war, wird nach dem »Prager Frühling« marginalisiert und das von ihm 1969 gegründete Ensemble für neue Musik Musica viva Pragensis wird 1973 verboten. In Folge der »Samtenen Revolution« von 1989 wurde Kopelent dann Berater für Musikangelegenheiten des neu gewählten Präsidenten Václav Havel. Nach den politischen Ereignissen des Jahres 1968 wanderten einige Komponisten aus (Rudolf Komorous [*1931] nach Kanada und Petr Kotik [*1942] in die USA), andere versuchten dem politischen Druck Widerstand zu leisten, u. a. Jaroslav Krček (*1939), Ivana Loudová (*1941), Milan Slavický (1947–2009) und Ivan Kurz (*1947). Die der jüngeren Generation angehörenden Petr Kofroň (*1955), Martin Smolka (*1959) und Miroslav Pudlák (*1961) gründeten 1983 eine Plattform für neue Musik namens Agon, deren Anhänger sich überwiegend minimalistischer Musik verschrieben (Dohnalová 2011, 26). Die Mehrheit dieser Komponisten blieb auch nach 1990 aktiv; zu den international am häufigsten aufgeführten Komponisten zählen neben Martin Smolka, der ein ironisch gebrochenes, aber auch von Spiritualität geprägtes Œuvre hervorbringt (Hiekel 2009), Sylvie Bodorová (*1954) und Pavel Zemek (*1957). Die Ausdrucksweisen der jungen Generation werden differenzierter und gehen in Richtung eines stilistischen Crossovers – Neoromantik, Jazz, Rock, Multimedia etc. Zu den herausragenden Begabungen der jüngeren Osteuropa Generation zählt Ondřej Adámek (*1979), der u. a. mit selbst gebauten Instrumenten und intermedialen Werkkonzeptionen mit Video, Elektronik und Instrumenten große Erfolge feierte und bei allen wichtigen europäischen Festivals vertreten ist. In der Slowakei unterrichtete ab 1951 Ján Cikker (1911–89) Komposition an der Hochschule für musische Künste in Bratislava, bei dem zahlreiche slowakische Komponisten, unter ihnen der bedeutende Opernkomponist Juraj Beneš (1940–2004), ausgebildet wurden. Viele slowakische Komponisten neuer Musik leben heute im Ausland, u. a. Ladislav Kupkovič (*1936), der Teil der slowakischen Avantgarde der 1960er Jahre war, 1969 nach Deutschland emigrierte und sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend der tonalen Musik zuwandte, sowie Viera Janárčeková (*1951), seit 1972 ebenfalls in Deutschland lebend, und Iris Szeghy (*1956), die nach 1990 zahlreiche europäische und amerikanische Stipendien erhielt und derzeit in Zürich lebt. 9. Ungarn Der Diskurs der ungarischen Musikwelt der Nachkriegsjahre war gekennzeichnet von nationalistischem Gedankengut und vom Mythos der »Reinheit« heimischer Folklore. Die zu jener Zeit eingeforderte Idee einer national ausgerichteten Kompositionsschule ging auf Komponisten wie Béla Bartók (1881–1945) und Zoltán Kodály (1882– 1967) zurück. 1949 wurde der ungarische Musikerverband (Magyar Zenemüvészek Szövétsége) gegründet, dessen Rolle es nach sowjetischem Vorbild war, das Musikleben zentralistisch zu planen und zu kontrollieren. Ganz im Geiste des Sozialistischen Realismus wurde in der stalinistischen Periode ein Kult für Volksmelodien und Vokalmusik mit ideologischen Texten bewusst gefördert, während moderne Kompositionstechniken, wie z. B. in der Musik Bartóks, kritisiert wurden. Gerade die modernen Züge der Musik Bartóks werden jedoch Ende der 1950er Jahre – neben der Zwölftonmusik, insbesondere jener im Geiste Weberns – zum Vorbild für viele ungarische Komponisten. Nachdem 1956 der Ungarische Volksaufstand von der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen worden war, emigrierten 200 000 Ungarn in den Westen, unter ihnen György Ligeti (1923–2006), der nach kurzem Aufenthalt in Wien von Köln aus seine internationale Karriere begann. György Kurtág (*1926) mit dem in Paris entstandenen, von einer individuellen Bartók- und Webern-Rezeption geprägten Ersten Streichquartett (1959; Hohmaier 1997) und Endre Szervánszky (1911–77) mit den dodekaphonen Sechs Stücken für Orchester (1959) setzen Ende der 1950er Jahre erste Zeichen einer eigenständigen ungarischen neuen Musik, für die eine Orientierung an Bartók zentral 498 Osteuropa war (Beckles Willson 2007; Fosler-Lussier 2007). In den 1960er Jahren unternahmen Komponisten verschiedener Generationen Experimente im Bereich der Zwölftontechnik – z. B. Pál Kadosa (1903–83), Endre Székely (1912–88), András Szöllösy (1921–2007), Emil Petrovics (1930–2011), Sándor Szokolay (1931–2013) – oder im polnischen Sonorismus und mit mikrotonalen Elementen  – z. B. Rudolf Maros (1917–82); andere Komponisten wie Zsolt Durkó (1934–97) blieben erklärtermaßen einem traditionelleren Kompositionsstil verschrieben. Nach 1968 bewirkte die Öffnung gegenüber dem Westen eine verstärkte Präsenz ungarischer Komponisten bei den Festivals in Darmstadt und Warschau; zugleich gab es eine Rückbesinnung auf nationalistische Ausdrucksweisen in der ungarischen Musik (Beckles Willson 2007, 129). Andras Mihály (1917–93) gründete das Budapester Kammerensemble (Budapest Kamaraegyüttest, 1968), das Festival Megújhodott Muzsika (Reformierte Musik) wird ab 1974 ein wichtiges Jahresereignis in der Szene. Die signifikanteste Plattform für neue Musik bleibt in dieser Zeit jedoch das 1970 gegründete The Budapest New Music Studio, bei dem u. a. Komponisten wie Zoltán Jeney (*1943), László Sáry (*1940), László Vidovsky (*1944) und Péter Eötvös (*1944) mitwirken; sie erforschen dort u. a. die Klangwelt chinesischer Musikinstrumente, die Ideen von John Cage und Christian Wolff sowie den Minimalismus und wagen provokative Experimente mit kollektiver Ä Improvisation und elektronischen Klängen. Obwohl Eötvös ab Ende der 1960er Jahre eher im Ausland als Dirigent aktiv war, blieb die Bedeutung der ungarischen Sprache in seinen Kompositionen stets ein wesentlicher Bestandteil und beeinflusste auch jüngere Komponisten wie László Tihanyi (*1956). Besonders breite Anerkennug fand das Schaffen György Kurtágs, der selbst von Kritikern neuer Tendenzen in Ungarn als einer der wichtigsten ungarischen Komponisten angesehen wird (Beckles Willson 2007, 149). Seine Originalität zeigt sich in der maximalen Verdichtung musikalischer Information in Stücken äußerster Kürze, was etwa in dramaturgisch angelegten Miniaturzyklen für Klavier (Játékok, seit 1973) oder für Singstimme (u. a. KafkaFragmente für Sopran und Violine op.  24, 1985–87) zum Ausdruck kommt. 1993 verlässt Kurtág aus beruflichen Gründen Ungarn, womit seine internationale Karriere einen wichtigen Impuls erhält. Ligeti, seit 1967 österreichischer Staatsbürger, war wesentlich an der Entwicklung der westeuropäischen Avantgarde beteiligt, u. a. durch die von ihm entwickelte Kompositionsmethode der Mikropolyphonie, durch komplexe polyrhythmische Techniken, durch neue diatonische Verfahren etc. In Ligetis Schaffen sind aber auch stets Spuren traditioneller ungarischer Musik zu finden, von aus Aksak-Rhythmen abgeleiteten rhythmischen Zellen und Ostinati bis hin zu Einflüssen aus der südosteuropäischen Folklore. Die drei zu Weltruhm gelangten ungarischen Komponisten  – Ligeti, Kurtág, Eötvös  – ließen sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und unter verschiedenen Bedingungen im Ausland nieder, alle hielten jedoch auch nach der Emigration enge Kontakte zur ungarischen Musik aufrecht. Die ungarische Musikwissenschaft räumt indes drei weiteren Komponisten – András Szöllösy, Sándor Balassa (*1935) und Zoltán Jeney – denselben Stellenwert ein und begründet deren geringeren Bekanntheitsgrad mit deren Verbleib in Ungarn (Agócs 2006, 12 f.) Nach 1990 standen die in den 1970er Jahren gegründeten Komponistengruppierungen – darunter die Gruppe junger Komponisten (Fiatal zeneszerzők csoportja, 1976), die Werkstatt für neue Musik in Miskolc (Miskolci új Zenei Mühely, 1976), die 1979 von László Melis (*1953) und Tibor Szemző (*1955) gegründete Gruppe 180 – auch weiterhin dem Minimalismus nahe und integrierten daneben Elemente der Pop- und Rockmusik in ihre Kompositionen. György Orbán (*1947), János Vajda (*1949), Miklós Csemiczky (*1954) und György Selmeczi (*1952), die einige Jahrzehnte zuvor ihr Interesse für Avantgarde und Zwölftontechnik bekundet hatten, verschreiben sich nun der Ä Polystilistik. Von den zuletzt Genannten sind Orbán und Selmeczi in Rumänien geboren, sie entstammen der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen, ebenso wie Ligeti, Kurtág und Szöllossy. Ähnlich wie in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten zeichnet sich die Szene der neuen Musik in Ungarn ab 1990 durch einen Eklektizismus und wandelbaren Stilpluralismus aus. Junge Komponisten wie Peter Durkó (*1972) oder Balázs Horváth (*1975) berufen sich auf ihre Freiheit, Inspirationsquellen beliebig wählen zu können, verweisen aber auch auf die Schwierigkeiten der neuen postkommunistischen Gesellschaft; viele wenden sich wieder einer konservativen Stilistik zu (Agócs 2006, 16 f.) 10. Polen Im Vergleich zu den anderen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang genoss die neue Musik im Polen der Nachkriegszeit einen Sonderstatus. Hier gab es schon in der Zwischenkriegszeit Anhänger Schönbergs  – Karol Rathaus (1895–1954), Józef Koffler (1896–1944), Konstanty Regamey (1907–82) –, während sich Komponisten in den Nachbarländern im Allgemeinen erst in den 1950er bis 1960er Jahren mit Zwölftonmusik auseinandersetzten. Darüber hinaus hat das 1956 gegründete Festival Warschauer Herbst die Kommunikation zwischen Osten und Westen entschieden gefördert und polnischen Kom- 499 ponisten die Möglichkeit geboten, über die Neuerungen der westlichen Avantgarde auf dem Laufenden zu bleiben. Die polnischen Komponisten eroberten sich so eine ästhetische Unabhängigkeit, die mit der Situation in anderen Ostblockländern nicht vergleichbar war; dabei erhielten sie Rückendeckung von der römisch-katholischen Kirche (Bylander 2012, 470) und profitierten von den starken kulturellen Verbindungen zur Bundesrepublik Deutschland (Seehaber 2009, 25–31). Die Reisefreiheit, die polnische Künstler unter der Bedingung genossen, die Beziehungen zur UdSSR nicht zu gefährden, ermöglichte ihnen bereits 1957 die Teilnahme an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Im selben Jahr wurde auch die (zehn Jahre zuvor aufgelöste) polnische Sektion der IGNM neugegründet. Die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt gewordenen polnischen Komponisten – darunter Bolesław Szabelski (1896–79), Roman Palester (1907–89), Grażyna Bacewicz (1909–69), Witold Lutosławski (1913–94) und Andrzej Panufnik (1914–91)  – machten unterschiedliche Erfahrungen mit dem Sozialistischen Realismus. Palester siedelte 1947 nach Paris über und 1952 nach München; 1951 war er wegen kritischer Äußerungen in Radio Free Europe gegenüber dem kommunistischen Regime aus dem polnischen Komponistenverband (ZKP, Zwiazek Kompozytorów Polskich) ausgeschlossen worden; erst 1977 wurde er in seiner Heimat Polen rehabilitiert. Panufnik versucht einige Jahre, sich dem Sozialistischen Realismus anzupassen, emigrierte jedoch 1954 nach England und führte dort seine Karriere als Komponist und Dirigent fort. Der in Polen verbliebene Lutosławski wird als Leitfigur der polnischen Avantgarde wahrgenommen (Seehaber 2009, 52). Seine für die neue Musik bahnbrechenden Werke zeichnen sich durch eine persönliche Herangehensweise im Umgang mit der Zwölftontechnik und durch kontrollierte Aleatorik (»aleatorischer Kontrapunkt«; Homma 1996) aus; z. B. Musique funèbre »À la mémoire de Béla Bartók« für Streichorchester (1954–58), Trois Poèmes d’Henri Michaux für zwanzigstimmigen Chor und Orchester (ohne Streicher) (1961–63), Streichquartett (1964), Livre pour orchestre (1968) u. a. Bacewicz hatte als Violinistin debütiert; ihre Werke der Nachkriegszeit spiegeln – wie auch das Schaffen Szabelskis – die Hinwendung zum Neuen und gleichzeitig den Versuch, einen akademischen Zwölftonstil abzustreifen (Thomas 2005, 113–115). Bei den ersten Veranstaltungen des Warschauer Herbstes wurden Komponisten lanciert, welche die innovativsten Tendenzen der westlichen Avantgarde übernahmen: serielle Technik, Aleatorik, elektronische Musik, musikalische Graphik, Instrumentales Theater, Minimalismus. Über die Verinnerlichung dieser Tendenzen hi- Osteuropa naus zeichnen sich diese Komponisten jedoch auch durch einen überaus differenzierten Personalstil aus. So entsteht in dieser Zeit jener charakteristische Stil, der bald als »Sonorismus« bezeichnet wurde (Chomiński 1961), eine Variante der Klangkomposition (Seehaber 2009, 161–166; Ä Themen-Beitrag 3, 2.2). Das Festival wurde von der 1954 eingesetzten neuen Leitung des ZKP organisiert, die eine grundlegende Erneuerung der polnischen Musik förderte: Kazimierz Sikorski (1895–1986, Vorsitzender), Andrzej Dobrowolski (1921–90, stellvertretender Vorsitzender), Kazimierz Serocki (1922–81), Włodzimierz Kotoński (1925– 2014) und Tadeusz Baird (1928–81). Die Zugänge der unterschiedlichen Komponistengenerationen sind vielfältig: Baird und Serocki hatten beide bei Sikorksi studiert; Baird beschritt den von Alban Berg eröffneten Weg, während Serocki zu einem postwebernschen seriellen Idiom tendierte. Manche der vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Komponisten scheuten nicht davor zurück, ihren Stil in den 1950er Jahren nochmals im Sinne einer Orientierung an den neuen Tendenzen radikal zu ändern; noch offener für das Neue waren die in den 1920er Jahren geborenen Komponisten  – zu den bereits erwähnten können noch Krystyna Moszumańska-Nazar (*1924), Witold Szalonek (1927–2001) und Bogusław Schaeffer (*1929) gezählt werden. Der Höhepunkt des Interesses für Zwölftonmusik ist Mitte der 1950er Jahre bei Krzysztof Penderecki (*1933) und Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010) zu lokalisieren, die beide in den 1960er Jahren serielle Techniken in eigenständiger Weise mit aleatorischen Elementen und pointillistischen Klangstrukturen kombinierten und die Auseinandersetzung mit Klangtexturen in den Vordergrund rückten. Der so entstehende Sonorismus wird begründet in Werken wie dem in Donaueschingen 1960 mit großem Erfolg uraufgeführten Anaklasis für Streicher und Schlagzeuggruppen (1959–60) sowie Tren ofiarom Hiroszimy (Threnos für die Opfer von Hiroshima) für 52 Solostreicher (1960) von Penderecki, Scontri für Orchester (1960) von Górecki, aber auch in Riff 62 für Orchester (1962) von Wojchiech Kilar (1932–2013); der zuletzt Genannte wird in den folgenden Jahrzehnten berühmt für seine gefeierten und vielfach preisgekrönten Filmmusiken (u. a. für Dracula, 1992, von Francis Ford Coppola, The Portrait of a Lady, 1996, von Jane Campion, und The Pianist, 2002, von Roman Polański). In den 1960er Jahren machten jüngere Komponisten auf sich aufmerksam, die ebenfalls schnell internationale Anerkennung erlangten: Zbigniew Rudzinski (*1935), Zygmunt Krauze (*1938), Tomasz Sikorski (1939–88) und Krzysztof Meyer (*1943). Während Dobrowolski, Schaeffer und Kotoński (Pioniere der elektronischen Musik in Polen) der Moderne treu blieben, ist bei anderen Kom- 500 Osteuropa ponisten dieser Zeit eine immer stärkere Abwendung von der Avantgarde festzustellen, die in einer Wiederbesinnung auf eine traditionellere Musiksprache und in einer Vorliebe für Sakralmusik, Vokalmusik und Sinfonik zum Ausdruck kommt. Beginnend mit seiner Lukas-Passion (1963–66) kultivierte Penderecki zunehmend ein enges Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und ihren Würdenträgern und widmet sich in den folgenden Jahrzehnten nicht zuletzt monumentalen Sakralwerken (Polnisches Requiem für vier Solisten, gemischten Chor und Orchester, 1980–84; Siebte Sinfonie Seven Gates of Jerusalem für fünf Solisten, Sprecher, drei gemischte Chöre und Orchester, 1996). In den Genres Konzert und Sinfonie ist die Rückwendung Pendereckis zu einer neoromantischen Stilistik auffällig, insbesondere in den nach 1970 entstandenen Werken. Nach seinen postwebernschen und sonoristischen Werken sowie einer abstrakt-geometrischen Periode beschreitet auch Górecki Ende der 1960er Jahre den Weg hin zu einer traditionsnahen Ästhetik in Vokal- und Orchesterwerken; Mitte der 1970er Jahre entwickelt sich seine Musik in Richtung eines »sakralen Minimalismus«, der in der Nähe von Arvo Pärt, John Tavener oder Gija Kantscheli anzusiedeln ist (Thomas 2005, 265). Berühmtheit erlangte er durch seine Dritte Sinfonie op.  36 Symfonia pieśni żałosnych (Sinfonie der Klagelieder) für Sopran und Orchester (1976) dank einer CDEinspielung aus dem Jahr 1992 beim CD-Label Nonesuch Records, die mehr als eine Millionen Mal verkauft wurde. Das polnische Musikleben blieb in den 1970er bis 1980er Jahren keineswegs auf Warschau oder die vom Komponistenverband organisierten Ereignisse beschränkt. In dieser Zeit wurden mehrere halboffizielle Konzerte und Festivals veranstaltet, die von privaten Initiativen, der Kirche oder den Kommunalbehörden unterstützt wurden. Jüngere Komponistinnen und Komponisten, die bei diesen Festivals aufgeführt wurden, waren u. a. Krzysztof Knittel (*1947), Elżbieta Sikora (*1943), Wojciech Michniewski (*1947) im Rahmen einer Improvisationsgruppe namens KEW (Thomas 2005, 311) oder die sog. »Stalowa-Wola-Generation« (nach dem Festival in der gleichnamigen Stadt) und die »Jungen Musiker der jungen Stadt« (Młodzi Muzycy Młodemu Miastu): Grażyna Pstrokońska-Nawratil (*1947), Eugeniusz Knapik (*1951), Aleksander Lasoń (*1951), Andrzej Krzanowski (1951–90), Rafal Augustyn (*1951), Stanislaw Krupowicz (*1952), Lidia Zielińska (*1953), Pawel Szymański (*1954), Tadeusz Wielecki (*1954). Das internationale Ansehen des Warschauer Herbstes blieb unangetastet, was den polnischen Komponisten auch dabei half, die Repressionen der Regierung infolge der Proteste der Gewerkschaft Solidarność und die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 zu überstehen. Andere Künstler und besonders Schriftsteller hatten es hier schwieriger: Mit dem Kriegsrecht wurden die Fachverbände kurzzeitig verboten und danach unter strikte Kontrolle der staatlichen Behörden gestellt (Bylander 2012, 476). Die meisten jüngeren Komponisten – darunter auch Jerzy Kornowicz (*1959), der derzeitige Leiter des Polnischen Komponistenverbands  – bevorzugen eine polystilistische Ausdrucksweise und setzen sich intensiv mit Konzepte neuer Tonalität und Neoromantik auseinander; stärker geräuschhaft orientierte Klangstrukturen bleiben meist auf den Bereich elektronische Musik und Multimedia beschränkt. Das Ableben Lutosławskis markierte 1994 das Ende einer Epoche; das Musikleben folgte danach den Umwälzungen der postkommunistischen Gesellschaft und jüngere Komponistengenerationen wandten sich entweder antimoderner Sakralmusik oder der elektronischen Musik zu, wie z. B. Mateusz Bień (*1968), Pawel Łukaszewski (*1968), Michał Talma-Sutt (*1969) und Pawel Mykietyn (*1971) (Thomas 2005, 316–319). 11. Fazit Die Neue-Musik-Szene der Nachkriegszeit weist in den Ländern Osteuropas mehrere Gemeinsamkeiten auf. Unverkennbar hinterließ der Sozialistische Realismus, der insbesondere in den 1950er Jahren seine volle Wirkung entfaltete, überall seine ideologische Spur. Einige in den 1950er bis 1960er Jahren wirkenden Komponisten widersetzten sich dieser verordneten Ästhetik – viele knüpften an die Moderne oder an die Avantgarde der Zwischenkriegszeit an, verinnerlichten die Techniken von Komponisten wie Bartók, Strawinsky, Schostakowitsch, Szymanowski, Enescu und Hába oder versuchten, Ideen aus der mündlich überlieferten Tradition mit mathematisch-abstrakten Verfahren zu fusionieren; sie behielten die Strömungen der westeuropäischen Avantgarde stets im Auge: Zwölftontechnik, serielle Musik, Aleatorik, Instrumentales Theater, musique concrète und elektronischen Musik, Spektralmusik, Minimal Music, Neoromantik und Polystilistik wurden intensiv und auf breiter Basis in Osteuropa rezipiert und eigenständig weiterentwickelt. Worin sich diese Länder oft wesentlich unterscheiden, ist die Einbindung der jeweiligen Komponistenszene in die Strukturen der westlichen Musikwelt. Das Festival Warschauer Herbst, ein Glücksfall in der Nachkriegsgeschichte der osteuropäischen Musik, ermöglichte vielen polnischen Komponisten früh internationale Bekanntheit. Die westliche Musikwelt hat auch sowjetische Komponisten (trotz des Reiseverbots) nicht ignoriert. Die prominentesten Botschafter der Musik aus Ländern wie Russland, der Ukraine, Estland, Ungarn oder Kroatien waren 501 aber stets die in den Westen (meist nach Deutschland) emigrierten Komponisten. Rumänische Komponisten schließlich wurden durch die Härte und Abschottung des Ceauşescu-Regimes weitgehend daran gehindert internationale Bekanntheit zu erlangen. Weitere Parallelen finden sich in den Entwicklungen nach 1990: Während die älteren Komponisten versuchten, sich den neuen Tendenzen, den sozialen und kulturellen Erfordernissen der Zeit anzupassen, profitierten die jüngeren oft unmittelbar von der Ä Globalisierung. Osteuropäische Komponisten profilieren sich heute sowohl im Rahmen elitärer Avantgarde-Nischen als auch (manchmal vorrangig) im Bereich der Filmmusik, im Multimedia-Sektor oder durch Aufträge von kirchlichen und weltlichen Institutionen. Umstritten und an Bedeutung zu verlieren scheinen zur Gegenwart hin zunehmend die Fragen »nationaler« Identität und der Bezug auf lokale oder regionale Musiktraditionen in der komponierten Musik. Wie andernorts auch stellt der gesellschaftliche Wandel außerdem den Anspruch neuer Kunstmusik insgesamt in Frage und drängt manche Komponisten in Konservativismus oder Populismus. Ungeachtet solcher Probleme scheint die neue Musik Osteuropas aber keineswegs eine Krise durchzumachen – sie ist proteisch, verfügt über kraftvolle Ressourcen und hat eine unverkennbare Stimme. Ä Themen-Beitrag 4; Globalisierung; Minimalismus / Minimal Music; Postmoderne Agócs, Kati: The Mechanics of Culture. 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Dank seiner naturwissenschaftlichen Konnotation etablierte sich aber der Gebrauch des Begriffs »Parameter« vor allem in den ersten Abhandlungen über Ä Elektronische Musik (z. B. Meyer-Eppler 1953, 8) und wurde zumindest seit dem ersten Heft der Zeitschrift die Reihe (Elektronische Musik, 1955) zur Selbstverständlichkeit (Blumröder 1982, 2 f.). Die Idee einer Zerlegung des Klangphänomens in seine verschiedenen Aspekte und deren separate Behandlung im kompositorischen Prozess war bereits in den 1940er Jahren ein Thema – z. B. in John Cages Werken für präpariertes Klavier sowie in den Diskussionen innerhalb der Klasse Olivier Messiaens am Pariser Conservatoire (Boivin 1995, 109)  – findet aber eine Zuspitzung in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren sowohl in Europa als auch in den USA im Rahmen von kompositorischen Überlegungen über die Ausweitung des Schönbergschen Reihenprinzips. Stellten Milton Babbitts Three Compositions for Piano (1947) das erste bekannte Beispiel eines auf serieller Kontrolle einzelner Klang-»Dimensionen« basierenden Stückes dar (Babbitt bevorzugt in seinen eigenen Texten ausdrücklich die Bezeichnung »Dimension«, vgl. Babbitt 1955, 55), so wurde unabhängig davon das Axiom einer isomorphen Behandlung der musikalischen Parameter für die Geburt des europäischen seriellen Denkens zur zentralen Instanz. In Karlheinz Stockhausens Vorstellung einer kompositorischen Organisation der Töne sollte man stimmige Prinzipien für alle vier Parameter ableiten, »wobei jedes Ordnungsprinzip als einzelnes auf die anderen drei nach einem für alle vier gültigen übergeordneten Prinzip bezogen ist« (Stockhausen 1952/63, 22). Bereits in den ersten Entwicklungen des seriellen Denkens Mitte der 1950er Jahre wurden diese Ideale einer Gleichberechtigung der musikalischen Parameter jedoch in Frage gestellt, was auch zu einer Erweiterung des Begriffes führte. Begünstigt durch die Erfahrungen mehrerer serieller Komponisten in den Studien Ä elektronischer Musik, entfaltete sich eine Auffassung von Ä Klangfarbe als eine Art übergeordneter Parameter, da in ihr Tonhöhe, Dauer und Lautstärke (der Teiltonkomponenten bzw. Partialtöne, vgl. Stockhausen 1953/63, 49; Boulez 1955/72, 88) zusammenwirken. Im Rahmen der Entwicklung serieller Kompositionstechnik in Richtung einer Gestaltung von komplexen Klangobjekten rückten als weitere zu gestaltende Parameter bei der Prädisposition des Materials andere Aspekte ins Zentrum des Interesses wie vor allem die horizontale bzw. vertikale Dichte und die interne Morphologie der Klangobjekte (Ä Themen-Beitrag 4). Dabei sind Pierre Boulez ’ »Klangblöcke« (Boulez 1952/72, 40, vgl. Mosch 2004, 50) bzw. Stockhausens »Gruppen«-Begriff (Stockhausen 1955/63, vgl. Misch 1999) in der damaligen seriellen Theoriebildung zwar die prominentesten Beispiele, eine vergleichbare Entwicklung ist jedoch auch bei anderen Komponisten wie Bruno Maderna, Luigi Nono oder Henri Pousseur zu beobachten (Decroupet 1997, 326–354). Abgesehen von musikalischen Bereichen wie der elektronischen Musik und der Computermusik, bei denen eine separate Behandlung der Parameter bis in die Gegenwart oft konstitutiv für die kompositorische Arbeit mit den jeweiligen Medien bleibt, übte das parametrische Denken der seriellen Musik auch einen entscheidenden Einfluss auf andere spätere kompositorische Tendenzen aus: In seiner integrativen Funktion als Gestaltungsverfahren komplexer Klänge kann man die Auswirkung parametrischen Komponierens von den Texturen informeller Werke der 1960er Jahre – bei denen laut György Ligeti ein »Primat der Klangfarbe als kompositorisches Mittel« zu beobachten ist (1979/2007, 169; Ä Informelle Musik) – bis zur musique spectrale (Ä Spektralmusik) verfolgen. Auf einer getrennten Strukturierung der Parameter basiert darüber hinaus die Mehrdimensionalität der Figuren Brian Ferneyhoughs (Cavallotti 2006, 128–162) und weiterer Vertreter der »New Complexity« (Ä Komplexität / Einfachheit). Ä Themen-Beiträge 1, 3; Serielle Musik Babbitt, Milton: Some Aspects of Twelve-Tone Composition, in: The Score and IMA Magazine 12 (1955), 53– 61 „ Blumröder, Christoph von: Parameter, in: HmT (1982) „ Boivin, Jean: La classe de Messiaen, Paris 1995 „ Boulez, Pierre: Möglichkeiten [1952], in: Werkstatt-Texte, Frankfurt a. M. 1972, 22–52 „ ders.: An der Grenzen des Fruchtlandes [1955], ebd., 76–91 „ Cavallotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, SchlienLiteratur 503 Performance gen 2006 „ Decroupet, Pascal: Konzepte serieller Musik, in: Im Zenit der Moderne, Bd. 1, hrsg. v. Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg 1997, 285–425 „ Ligeti, György: Komposition mit Klangfarben [1979], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, 157–169 „ Meyer-Eppler, Werner: Elektronische Kompositionstechnik, in: Melos 20 (1953), 5–9 „ Misch, Imke: Zur Kompositionstechnik Karlheinz Stockhausens. GRUPPEN für 3 Orchester (1955– 1957), Saarbrücken 1999 „ Mosch, Ulrich: Musikalisches Hören serieller Musik. Untersuchungen am Beispiel von Pierre Boulez ’ Le Marteau sans maître, Saarbrücken 2004 „ Stockhausen, Karlheinz: Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik) [1952], in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. v. Dieter Schnebel, Köln 1963, 17–23 „ ders.: Zur Situation des Metiers (Klangkomposition) [1953], in: ebd., 45– 61 „ ders.: Gruppenkomposition: »Klavierstück I« (Anleitung zum Hören) [1955], in: ebd., 63–74 Pietro Cavallotti Performance Inhalt: 1. Performance / Performativität / Performanz  2. Musikperformance „ 3. Performance Art „ alität bzw. Wirkmacht eines Materials, eines Textes, eines Instruments oder Mediums, das zur Aufführung gebracht oder in einer Aufführung benutzt wird (Maassen 2001). Ein Notentext besitzt demnach eine andere Performanz als eine verbale Spielanweisung, die Performanz eines Klaviers unterscheidet sich von der Performanz eines Synthesizers, weil mit den Instrumenten eine andere Art der Performance erzielt werden kann. Performance im Sinne der Aufführung eines Textes oder eines Werks bezieht sich demnach auf die aktive Tätigkeit des Musikmachens, die vor allem eine Aktivierung von Kompetenzen und von praktischem Wissen in unterschiedlichen Zusammenhängen und Kontexten impliziert (Abbate 2004). Diese Aspekte einer Aufführung sind insofern auch mit dem Gesichtspunkt von Leistung verbunden, wobei auch »Fehler« oder Unregelmäßigkeiten auftauchen und vorgegebene Regeln unterlaufen oder verletzt werden können. Bei einer Reduzierung der Textinformation wird die Gestaltung der Aufführung an die Aufführenden delegiert, und die Abläufe in einer Aufführungssituation erhalten eine vom Text losgelöste eigene Qualität. 1. Performance / Performativität / Performanz 2. Musikperformance Im Bereich der Musik ist performance die englische Bezeichnung für Aufführung oder Ausführung: »The action of performing a ceremony, play, part in a play, piece of music, etc.; formal or set of execution« (Simpson / Weiner, Bd. 11, 544). Dabei sind unterschiedliche kulturelle Grundlagen der musikalischen Praxis zu berücksichtigen. Während im europäischen Verständnis die Realisation bzw. Interpretation eines vorgängigen Textes überwiegt, bezieht sich Aufführung oder Performance in nicht-schriftlich fixierten Musikkulturen auf den Vollzug des Musikmachens, auf das gemeinsame Musizieren oder auf die Umsetzung eines Theaterspiels oder Rituals mit Musik. Für Jonathan Dunsby ist daher Performance »music-making«, »a virtually universal human activity« und »a form of private biological necessity« (Dunsby 2001, 346). Das Verständnis der Performance unterliegt der Planung und Inszenierung des Tuns auf der Seite der Ausführenden und der Ä Wahrnehmung und Interpretation auf der Seite der Rezipienten. Auf die besondere Qualität einer einmaligen Live-Aufführung oder eines Vorgangs mit Live-Aufführungscharakter bezieht sich der Begriff Performativität (Brüstle 2006). Dabei ist zwischen performativity als Iteration (Butler 1990) und Performativität als besondere Erlebnisqualität einer einmaligen Aufführung zu unterscheiden (Jost 2013, 295). Der Begriff »Performanz« wiederum findet sich einerseits als deutsche Übersetzung von performance. Andererseits bezieht er sich auf die Potenzi- Eine Herausforderung solcher Dimensionen in der Musik entstand in den 1960er Jahren etwa mit der Entstehung von Happenings von Allan Kaprow, Jim Dine oder Claes Oldenburg, die als »nonmatrixed performing« bezeichnet wurden (Kirby 1965, 16). Ihre textlichen Grundlagen wurden auf Handlungsanweisungen oder Beschreibungen von akustischen oder visuellen Ereignissen reduziert (Kaprow 1965, 53–65). John Cage gilt mit seinem am Black Mountain College realisierten Untitled Event (1952) und seiner experimentellen Musik als ein zentraler Impulsgeber der Entwicklungen von Musikperformances (Straebel 1995; Fetterman 1996, 97–104), zu denen auch weite Bereiche von Fluxus, Environments und Events zu zählen sind. Die Fluxusbewegung wurde von George Maciunas (1931–78) geprägt und begann mit Künstlern und Künstlerinnen wie Richard Maxfield, La Monte Young, Yoko Ono, Takehisa Kosugi, Dick Higgins, George Brecht und Nam June Paik (Becker / Vostell 1965; Sohm / Szeemann 1970; Peters 1981; Friedman 1998). Ihre »word pieces« waren Konzeptstücke, deren Aufführungen unvorhersehbar, also in freier Form individuell auslegbar waren. Sie umfassten als »anti-art art movement« (Gann 1997, 172) auch destruktive Aktionen an bzw. mit Musikinstrumenten oder die reine Imagination von Klängen (Ä Konzeptuelle Musik). An diese Tendenzen hat sich auch Joseph Beuys angeschlossen, so in seinen Aktionen und plastischen Arbeiten mit einem Tasteninstrument wie Erdklavier (1962) oder Infiltration Performance homogen für Konzertflügel (1966) für einen mit Filz überzogenen Flügel (Kramer 1995). Freie Optionen bei der Musikaufführung boten in dieser Zeit auch Werke mit offenen oder mobilen Formen wie etwa Earle Browns November 1952 (Synergy) und December 1952 (Ä Notation) oder aleatorische Werke wie Pierre Boulez ’ Dritte Klaviersonate (1955–57) oder Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (1956) (Ä Zufall). Weitreichende mitschöpferische Aufgaben erhielten die Aufführenden auch in John Cages Concert for Piano and Orchestra (1957–58), ein zentrales Werk seiner indeterminierten Musik, die sich in der Serie der Variations (ab 1958) fortsetzte. Der Pianist David Tudor galt in diesem Zusammenhang bald als Experte dafür, Konzepte vollkommen selbständig auszuarbeiten und aus wenigen Anweisungen komplexe Aufführungsversionen herzustellen, die den kompositorischen Konzepten gleichwertig zur Seite zu stellen sind (Holzaepfel 1994). Ähnliche Strukturen wie in Tudors Aufführungsversionen werden in Ausarbeitungen von experimentellen Musiktheaterprojekten seit den 1960er Jahren erkennbar, z. B. in Dieter Schnebels Maulwerke (1968–74) oder Körper-Sprache (1979–80). Parallel dazu wurden im Ä Instrumentalen Theater wie bspw. in Sur scène (1959–60) und Sonant (1960 / …) von Mauricio Kagel oder in Stücken von Georges Aperghis und Jani Christou die Musiker und Musikerinnen auch zu Darstellern ihrer Profession, mit Auswirkungen auf Theaterproduktionen wie bspw. Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (1993) von Christoph Marthaler, in denen Musik und Musiker (als Schauspieler) in den Vordergrund gestellt werden (Roesner 2003; Rebstock / Roesner 2012). 3. Performance Art Die Bedeutung des Begriffs Performance hat in den 1970er Jahren im Kontext der Entstehung von Performance Art eine Spezifizierung erfahren (Sayre 1989; Goldberg 2001). In der Performance Art etwa von Carolee Schneemann, Vito Acconci, Chris Burden, Marina Abramović oder Valie Export ging es um »the expressive qualities of the body, especially in opposition to logical and discursive thought and speech, and in seeking the celebration of form and process over content and product« (Carlson 1996, 100). Zudem wurden die Ä Medien von Kunst bewusst (her) ausgestellt, die bislang als Instrumente oder Apparate reibungslos funktionieren sollten und allenfalls bei Störungen bemerkbar wurden. Der Ä Körper, die Ä Stimme, Musikinstrumente oder akustische Phänomene wie bspw. Feedback traten nun als selbständige Akteure bzw. Phänomene in den Vordergrund. Vokalartisten und -artis- 504 tinnen wie Meredith Monk, David Moss, Phil Minton, Sainkho Namtchylak, Shelley Hirsch oder Alex Nowitz gingen und gehen von der Stimme aus, um, meist ohne Worte, neue expressive Bereiche zu erschließen und Bedeutungsdimensionen von stimmlichen Artikulationen aus zu erreichen (Weber-Lucks 2005). Sie agieren zugleich als Ä Composer-Performer, denn ihre Performances sind Kompositionen, die oft erst im Nachhinein dokumentiert und notiert werden. Die Schnittstellen der Vokalperformance zur Lautpoesie sind fließend, in der vom Klang der Sprache mit Worten und Texten ausgegangen wird, etwa bei Franz Mon, Valeri Scherstjanoi, Gerhard Rühm, Bob Cobbing, Fátima Miranda, Amanda Stewart, Isabeella Beumer oder Jaap Blonk (Scholz 1989; Lentz 2000). In vielen Performances wurde der Körper in seiner Materialität (Fleisch, Haut etc.) ausgestellt und als verletzbares und manipulierbares Objekt behandelt, nicht nur bei Künstlern des Wiener Aktionismus wie Rudolf Schwartzkogler oder Günter Brus, sondern auch bei Stelarc, bei dem die Klänge des geschundenen Körpers integriert wurden (Evert 1999). Musik spielt auch bei den Performances im Orgien Mysterien Theater von Hermann Nitsch eine Rolle, bei denen der Körper ebenfalls in seiner »Rohfassung« benutzt und präsentiert wird, wobei er gleichzeitig einer ritualhaften Beschwörung unterliegt (Bartz 1998; Barthelmes 2000). Performance Art mit Instrumenten oder elektroakustischen Apparaten zeigte etwa Charlotte Moorman (1933– 91) in ihren Performances als »topless cellist« und in ihren Auftritten mit dem TV Cello (1971) in Kooperation mit Nam June Paik (Rothfuss 2014). Der Schlagzeuger und Komponist Fast Forward verbindet das perkussive Spiel auf quasi allen Objekten, die er unter seine Hände bekommt, mit musiktheatralen Konzertinszenierungen, unter ihnen 1989 Trommelfeuer mit Schrott und Maschinen sowie eine ganze Reihe von Küchen- und Kochperformances (Fast Forward 2015). Ein Composer-Performer auf dem Schlagzeug ist auch SvenÅke Johansson. Der experimentelle Violinvirtuose Jon Rose begreift im Prinzip alles, was mit einem Bogen zum Klingen gebracht werden kann, als Streichinstrument. Seit 1983 beschäftigen ihn gemeinsam mit Hollis Taylor kilometerlange Zäune im Australischen Outback. Bereits früher hat er das Projekt The Relative Violins begonnen, eine rasch anwachsende Sammlung von selbstgebauten Geigeninstrumenten. Jon Rose befasst sich auch mit der computergestützten Erweiterung der Geige und des Bogens (Gertich 1994; Rose 2010). Keith Rowe und Fred Frith sind für ihre Performances auf der Gitarre bekannt geworden, die sich stark mit dem Bereich der Ä Improvisation überschneiden 505 (Gottstein 2005). Selbst das Alphorn ist als Instrument in Performances eingesetzt worden, etwa bei Ma-Lou Bangerter, die vor allem ungewöhnliche Räume und Orte bespielt. Charlemagne Palestine ist mit Strumming Music (1970–75) als minimalistischer Performancekünstler am Klavier bekannt geworden, bei seinen Auftritten in Phantasiekostümen brachte er Kuscheltiere als Begleiter mit. Er setzte seine Performances am Carillon und an der Orgel sowie in elektronischen Stücken fort. In vielen Performances werden auch visuelle Medien einbezogen, so bei Joan Jonas in ihren Arbeiten mit Kameras, Monitoren und Klängen wie Delay Delay (1972) oder Lines in the Sand (2002) oder bei Laurie Anderson, die in ihren abendfüllenden Performances wie United States I–IV (1980) oder Home of the Brave (1986) Reflexionen über moderne Mythen Amerikas präsentiert, verbunden mit live-elektronischer Musik, Aktionskunst sowie Filmen und Projektionen (Goldberg 2000). Jerry Hunt (1943–93) verband in seinen ritualhaften Performances wie etwa Birome (zone): plane (1986) elektronische Klänge mit bewegten Objekten und Videosequenzen (Brüstle 2012). Inzwischen wird Performance Art erweitert durch Aktionen, die das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine thematisieren oder Präsenz im Zeitalter der globalen Vernetzung verhandeln (Meyer 2006). Dabei kommen seit den 1980er Jahren neu entwickelte musikalische Interfaces wie z. B. Tod Machovers »hyperinstruments« zum Einsatz, bei denen Bewegungen oder Gesten zur Klangsynthese im Computer benutzt werden. In den Arbeiten von Stelarc oder Atau Tanaka wird der Körper als »Biofeedback Musical Interface« benutzt. Daneben entwickelte Michel Waisvisz mit The Hands (1983–84) körper- und bewegungssensitive elektronische Instrumente oder Laetitia Sonami seit 1991 ihren Lady ’ s Glove, »a glove modified with sensors, which allowes her to use subtle movements of each finger to control sounds, mechanical devices, and lights in real time« (Rodgers 2010, 226; Kim 2004; La Motte-Haber u. a. 2006; Drees 2011). In diesen Performances steht die Wahrnehmung der computergestützten Generierung und Veränderung von Klang durch Bewegungen oder durch die Abnahme von Körperzuständen in Echtzeit im Vordergrund. Ä Themen-Beitrag 6; Musiktheater Abbate, Carolyn: Music  – Drastic or Gnostic? in: Critical Inquiry 30/3 (2004), 505–536 „ Barthelmes, Barbara: Hermann Nitsch: »Bruckner des Happening«, in: Positionen 44 (2000), 22–25 „ Bartz, Edek: Über Hermann Nitsch, Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus, in: Make it Funky. Crossover zwischen Musik, Pop, Avantgarde und Kunst, hrsg. v. Ulrike Groos und Markus Müller, Köln 1998, 53–66 „ Becker, Literatur Performance Jürgen / Vostell, Wolf (Hrsg.): Happenings. Fluxus. Pop-Art. Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Reinbek 1965 „ Brüstle, Christa: »Performance Studies« – Impulse für die Musikwissenschaft, in: Musik mit Methode. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. v. Corinna Herr und Monika Woitas, Köln 2006, 253–268 „ dies.: Performance Art und Musik – Bewegung in Grenzbereichen. Yoko Ono und Jerry Hunt, in: Bewegungen zwischen Hören und Sehen. Denkbewegungen über Bewegungskünste, hrsg. v. Stephanie Schroedter, Würzburg 2012, 293–307 „ Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre, hrsg. v. Sue-Ellen Case, Baltimore 1990, 270– 282 „ Carlson, Marvin: Performance. A Critical Introduction, London 1996 „ Dunsby, Jonathan, Performance, in: NGroveD, Bd. 19 (2001), 346–349 „ Drees, Stefan: Körper, Medien, Musik. Körperdiskurse in der Musik nach 1950, Hofheim 2011 „ Evert, Kerstin: BodySounds. Zur akustischen Ebene in den Performances von Stelarc, in: Positionen 40 (1999), 13–16 „ Fast Forward, Biography [2015], http://www.mrfastforward.com/site/About. html (19. 5. 2015) „ Fetterman, William: John Cage ’ s Theatre Pieces. Notations and Performances, Amsterdam 1996 „ Friedman, Ken (Hrsg.): The Fluxus Reader, Chichester 1998 „ Gann, Kyle: American Music in the Twentieth Century, New York 1997 „ Gertich, Frank: Jon Rose auf den Spuren von Chaos und Entdeckung, in: Positionen 21 (1994), 16–19 „ Goldberg, RoseLee: Laurie Anderson, London 2000 „ dies.: Performance Art. From Futurism to the Present, London 2001 „ Gottstein, Björn: Musiker, Mentor, Pate. Keith Rowe  – ein Pionier frei improvisierter Musik, in: Positionen 62 (2005), 17–19 „ Holzaepfel, John: David Tudor and the Performance of American Experimental Music, 1950–1959, Dissertation, City University of New York 1994 „ Jost, Christofer: Der performative turn in der Musikforschung. Zwischen Desiderat und (teil)disziplinärem Paradigma, in: Musiktheorie 28/4 (2013), 291–309 „ Kaprow, Allan: 18 Happenings in 6 Parts – the script, in: Michael Kirby, Happenings. An Illustrated Anthology, New York 1965, 53–65 „ Kim, Jin Hyun: Transkriptive Interaktion, in: Klang und Bewegung, hrsg. v. Christa Brüstle und Albrecht Riethmüller, Aachen 2004, 223–240 „ Kirby, Michael: Happenings. An Illustrated Anthology, New York 1965 „ Kramer, Mario: Klang & Skulptur. Der musikalische Aspekt im Werk von Joseph Beuys, Darmstadt 1995 „ La Motte-Haber, Helga de / Osterwold, Matthias / Weckwerth, Georg (Hrsg.): Sonambiente 2006. Berlin Klang Kunst Sound Art, Heidelberg 2006 „ Lentz, Michael: Lautpoesie / -musik nach 1945, 2 Bde., Wien 2000 „ Maassen, Irmgard: Text und / als / in der Performanz in der frühen Neuzeit: Thesen und Überlegungen, in: Paragrana 10/1 (2001), 285–302 „ Meyer, Petra Maria (Hrsg.): Performance im medialen Wandel, München 2006 „ Peters, Ursula (Hrsg.): Fluxus. Aspekte eines Phänomens, Ausstellungskatalog des Kunst- und Museumsvereins Wuppertal, Wuppertal 1981 „ Rebstock, Matthias / Roesner, David (Hrsg.): Composed Theatre. 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Gegenseitige Einflüsse von Europa und Nordamerika in der Geschichte der Musikperformance, in: Musik, Labyrinth, Kontext (Sonderton Musikperformance), hrsg. v. Thomas Dézsy und Christian Utz, Linz 1995, 80–94 „ Weber-Lucks, Theda: Körperstimmen. Vokale Performancekunst als neue musikalische Gattung, Dissertation, TU Berlin 2005 Christa Brüstle Politische Musik Ä Themen-Beitrag 4 Polystilistik Als Polystilistik bezeichnete Alfred Schnittke 1971 die Verwendung gegensätzlicher musikalischer Stile in einer Komposition (Schnittke 1971/90; Schnittke 1989). Hintergrund war die Häufung von Zitatcollagen, Allusionen und sonstigen Stilbrüchen in der neuen Musik seit den frühen 1960er Jahren, eine Entwicklung, die zum Teil eine Reaktion auf die fortwirkende Dominanz der Ä seriellen Musik darstellte (Ä Collage / Montage; Ä Postmoderne). Verband sich mit serieller Musik die Vorstellung größtmöglicher Einheit, die zunehmend als Purismus kritisiert wurde, so ließ sich mit betont »unreinen«, anspielungsreichen Kompositionen dieser »Sterilität« entgegenwirken. Wenngleich also das Aufeinanderprallen disparater Stile in Werken der neuen Musik seit 1960 weite Verbreitung fand, hat sich der Terminus Polystilistik nicht als Sammelbegriff für all diese Phänomene durchsetzen können. Meist wird er in einem spezielleren Sinne, nämlich im Hinblick auf Schnittkes Ästhetik, gebraucht. Schnittke vermied in seinem grundlegenden Vortrag Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik (1971 auf dem 7. Kongress des Internationalen Musikrats in Moskau; vollständig erst 1990 veröffentlicht; vgl. Schnittke 1971/90) allerdings jede Bezugnahme auf sein eigenes Schaffen. Stattdessen versuchte er, Polystilistik mit Beispielen aus der sowjetischen und westlichen Musikliteratur historisch zu legitimieren. Die von ihm genannten Komponisten reichen von Igor Strawinsky, Anton Webern und Dmitri Schostakowitsch bis hin zu Pierre Boulez und György Ligeti, in deren Œuvres Schnittke »feinste Ausstrahlungen« von Polystilistik diagnostiziert (ebd., 328 f.; Übersetzung d. Verf.). Schnittke unterscheidet allerdings zwischen Polystilistik als einem allgemeinen Wesenszug europäischen Komponierens und Polystilistik als einem zielgerichtet eingesetzten kompositorischen Verfahren, das »eine weiter gefaßte musikalische Welt und eine allgemeine Demokratisierung des Stils« ermögliche (ebd., 330; Übersetzung Redepenning 2008, 687). Hier finden auch populäre Genres Platz. Es ist diese letztere, radikalisierte Variante der Polystilistik, die er 1971 als bezeichnend für die Musik des vorangegangenen Jahrzehnts beschreibt und mit drei Werkbeispielen aus den 1960er Jahren belegt. Für Luciano Berios Sinfonia (1968–69), Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten (1957–65) und Sergei Slonimskis Kantate Eine Stimme aus dem Chor (1963) ist nicht allein die collagenhafte Vielfalt von Zitaten charakteristisch, sondern auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit geschichtlichen Kontinuitäten und Brüchen. Entsprechend hebt Schnittke das »dokumentarische« Vermögen der Polystilistik hervor und ihre Fähigkeit, eine »Verbindung zwischen den Zeiten« künstlerisch auszudrücken (ebd., 330 f.; Übersetzung d. Verf.). Übersetzungen dieses Vortrags ins Deutsche und Englische erschienen erst am Ende der 1980er Jahre. In der Zwischenzeit hatte Schnittke den Begriff jedoch kontinuierlich gebraucht, um sein eigenes Schaffen zu charakterisieren, so bereits 1971 im Programmheft der Wittener Tage für Neue Kammermusik (Gerlach 1984, 364). Folglich war Polystilistik bald auch im Westen ein Synonym für seinen kompositorischen Ansatz. Als Schlüsselwerk der Polystilistik gilt Schnittkes Erste Sinfonie (1969–72; Tremblay 2013), die mit ihrer Collage von Zitaten (Gregorianik, Haydn, Beethoven, Johann Strauss, Grieg, Tschaikowsky, Schnittke) und Stilen (Ragtime, Free-Jazz-Improvisation, Trauermarsch) bei ihrer Uraufführung 1974 im sowjetischen Gorki mit einer »tragischen und schönen Chronik unserer Zeit« assoziiert wurde (Obsuždaem 1974, 13, 20, 24; Übersetzung d. Verf.). Für die Rezeption der Polystilistik im Westen, wo die Erste Sinfonie keine weite Verbreitung erlangte, war Schnittkes Concerto grosso Nr. 1 (1977) entscheidender, das vor allem mit Allusionen arbeitet, angefangen von der barocken Fortspinnungsmelodik bis hin zur zeitgenössischen Popularmusik (Redepenning 2008, 694–696). Eine über den Einzelfall Schnittke hinausreichende Anwendung hat der Begriff der Polystilistik vor allem in der Sowjetunion gefunden; dort stellte man ihm sogar in den 1980er Jahren sein terminologisches Komplement »Monostilistik« an die Seite (Grigorjewa 1990), um eine neu gewonnene stilistische Einheit als die nächste Entwicklungsstufe nach dem Zenit der Polystilistik zu kennzeichnen. Außerhalb des russischen Sprachraums aber ist 507 ein verallgemeinernder Gebrauch selten geblieben. Stattdessen werden vergleichbare Tendenzen häufig pauschal unter dem Begriff Ä »Postmoderne« subsumiert, der weiter gespannt scheint als »Polystilistik«, aber gleichwohl mit diesem Terminus in einigen wesentlichen Punkten konvergiert: Absage an Vereinheitlichungskonzepte der Ä Moderne, Mehrsprachigkeit, radikale Pluralität. Gerade darin unterscheiden sich sowohl polystilistische als auch manche postmoderne Ansätze vom älteren Neoklassizismus, mit dem sie den Rückgriff auf Vergangenes teilen mögen. Mit »Polystilistik« konkurrieren zudem weitere individuelle, an bestimmte Komponisten gebundene Konzeptionen. Die Collagekunst Bernd Alois Zimmermanns etwa wird eher mit dem von ihrem Autor selbst eingeführten Begriff des »pluralistischen Komponierens« belegt (Hiekel 2007, 1500). Allerdings erwies eine im Jahr 2009 unter deutschsprachigen Komponisten durchgeführte Umfrage zu Schnittke, dass durchaus eine Bereitschaft besteht, den Geltungsbereich des Begriffs Polystilistik zu erweitern – zum Teil auch in kritischer Absicht, etwa um der Polystilistik Schnittkes »die polystilistische Denk- und Komponierweise Bernd Alois Zimmermanns« als positives Gegenbild gegenüberzustellen (Gerald Resch in Böhmer 2013, 262). Vereinzelt wird der Begriff Polystilistik auch auf weitere Komponisten angewandt, so etwa auf Kalevi Aho (Ä Nordeuropa), Lera Auerbach, Hans-Jürgen von Bose, Reiner Bredemeyer (hier im Kontext der Mozart-Rezeption und im Zusammenhang mit dem Begriff »Polystrukturalität«, Noeske 2007, 178), Unsuk Chin (Musiktheater Alice in Wonderland, 2004–2007), Friedrich Goldmann, Olga Neuwirth (Gruber 2001, 253) oder Jörg Widmann (Musiktheater Babylon; Bruhn 2013, 189), und bezeichnet bisweilen auch entsprechende Tendenzen in Ä Pop / Rock und Ä Jazz. Ä Collage / Montage; Osteuropa; Postmoderne Belge, Boris: Eruption in der Erosion. Alfred Schnittkes Erste Symphonie und der sowjetische Komponistenverband, in: Alfred Schnittke. Analyse  – Interpretation  – Rezeption (Schnittke-Studien 1), hrsg. v. Amrei Flechsig und Christian Storch, Hildesheim 2010, 29–49 „ Böhmer, Ulrike: Beeinflusst durch Schnittke? Eine Umfrage unter Komponisten des deutschsprachigen Raums, in: Postmoderne hinter dem Eisernen Vorhang. Werk und Rezeption Alfred Schnittkes im Kontext ost- und mitteleuropäischer Musikdiskurse (Ligaturen 6), hrsg. v. Amrei Flechsig und Stefan Weiss, Hildesheim 2013, 257–274 „ Bruhn, Siglind: Die Musik von Jörg Widmann, Waldkirch 2013 „ Gerlach, Hannelore: Fünfzig sowjetische Komponisten der Gegenwart. Fakten und Reflexionen, Leipzig 1984 „ Grigorjewa, Galina: Polystilistik und Monostilistik in der sowjetischen Musik der achtziger Jahre, in: Sowjetische Musik im Licht der Perestroika, hrsg. v. Hermann Danuser, Hannelore Literatur Pop / Rock Gerlach und Jürgen Köchel, Laaber 1990, 91–99 „ Gruber, Gerold W.: Wort und Ton bei Olga Neuwirth, in: Stimme und Wort in der Musik des 20. Jh.s., hrsg. v. Hartmut Krones, Wien 2001, 249–258 „ Hiekel, Jörn Peter: Zimmermann, Bernd Alois, in: MGG2P, Bd. 17 (2007), 1495–1505 „ Noeske, Nina: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln 2007 „ Obsuždaem Simfoniju A. Šnitke [Wir besprechen die Sinfonie von A. Schnittke], in: Sovetskaja muzyka H. 10 (1974), 12–26 „ Redepenning, Dorothea: Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2, Laaber 2008 „ Schnittke, Alfred: Polistilističeskie tendencii v sovremennoj muzyke [Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik, 1971], in: Valentina Cholopova / Evgenija Čigarëva, Al ’ fred Šnitke, Očerk žizni i tvorčestva [Alfred Schnittke, Überblick über Leben und Werk], Moskau 1990, 327–331 „ ders.: Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik, in: MusikTexte 30 (1989), 29 f. „ Tremblay, Jean-Benoît: Alfred Schnittke and Musical Postmodernism. The First Symphony as Case Study, in: Postmoderne hinter dem Eisernen Vorhang. Werk und Rezeption Alfred Schnittkes im Kontext ost- und mitteleuropäischer Musikdiskurse (Ligaturen 6), hrsg. v. Amrei Flechsig und Stefan Weiss, Hildesheim 2013, 93–106 Stefan Weiss Pop / Rock Inhalt: 1. Abgrenzungen  „ 2. Gegenseitige Bezugnahmen  „ 3. Verflechtungen 1. Abgrenzungen Eine Definition von Popmusik ist aufgrund ihrer Vielseitigkeit ebenso schwierig, wie es für die durch Diversität gekennzeichnete neue Musik »keine einzige befriedigende Definition […] geben kann« (Danuser 1997, 113): Popmusik – als Begriff in den 1950er Jahren abkürzend für popular music entstanden – ist ein historisch veränderlicher Terminus, der »disparate soziale, kulturelle und ästhetische Praktiken in wechselnder Zusammensetzung entlang sich permanent verändernder Grenzen« umfasst (Wicke 1997, 1694). Dabei wurde der Begriff Popmusik seit den 1960er Jahren häufig in Abgrenzung zur Rockmusik gebraucht (Wicke 1997, 1998), die ebenso wenig auf »eine in sich kohärente musikalische Gattungsdefinition« festgelegt werden kann (Wicke 1998, 351). Neben den Vorläufern Rock ’ n’Roll und Beatmusik umfasst sie teils widersprüchliche Stile und reicht von Folk und Country Rock zu Electronic Rock und Heavy Metal  – mit zunehmender Differenzierung seit den 1960er Jahren. Gemeinsam ist all diesen Ausprägungen eine Beziehung zur afroamerikanischen Musik, die Dominanz von sound gegenüber strukturell-formalen Kategorien und die grundlegende Bedeutung des beats. In der musikwissenschaftlichen Bestimmung des Verhältnisses von Pop- / Rockmusik zur neuen Musik ist bis Pop / Rock in die jüngste Zeit Polemik vorherrschend: Auf der einen Seite steht die neue Musik mit »planvoll disponierte[n] Tonhöhenstrukturen und Formabläufe[n] als Garanten kultureller Signifikanz« (Wilson 1997, 11), auf der anderen Pop als »Genrebezeichnung für primär auf kommerzielle Verwertbarkeit ausgerichtete Populäre Musik«, die sich stilistisch »am aktuellen Mainstream« orientiert und damit »zumeist wenig innovativ oder experimentierfreudig« ist (Riemann Musiklexikon 2012, 186). Die letztlich auf Theodor W. Adorno zurückgehende Betonung der Gegensätze (Paddison 1982) wurde bisweilen sogar zum »Klassenkampf« stilisiert (Gottstein 2007, 2). Historische Vorläufer der Bezugnahme neuer Musik auf Popmusik sind im 20. Jh. in der Volksmusikrezeption u. a. Béla Bartóks und der Rezeption des Ä Jazz z. B. bei Igor Strawinsky oder Bernd Alois Zimmermann zu suchen. Umgekehrt finden sich im Jazz bereits früh KlassikAdaptionen (z. B. die Interpretation von Bachs Doppelkonzert in d-Moll BWV 1043 durch Stephane Grappelli, Django Reinhardt und Eddie South, 1937) und im Bereich des Progressive Rock seit den 1960er Jahren Bearbeitungen klassischer Vorlagen von Bach bis Bartók. 2. Gegenseitige Bezugnahmen Die Modi der gegenseitigen Bezugnahme von neuer Musik und Pop- / Rockmusik sind so vielfältig wie die musikalischen Phänomene selbst. Am weitesten verbreitet sind verschiedene Formen der Ä Bearbeitung: Zahlreiche Popmusiker schufen Coverversionen (Neufassungen) und Remixe (Neuabmischungen bereits bestehender Tonspuren) von Werken neuer Musik. So erschien 1993 Caged / Uncaged, ein Album von Popmusikerinnen und -musikern wie David Byrne, Debbie Harry oder Joey Ramone mit Coverversionen von Kompositionen John Cages, und 1999 nahm die Noise-Rock Band Sonic Youth ein Album auf mit klanglich durch das Rockinstrumentarium zugespitzten Interpretationen u. a. von Werken Cages, Christian Wolffs und Cornelius Cardews. Jimi Tenors Album ReComposed (2006) mit Remixen u. a. von Werken Edgard Varèses und Pierre Boulez ’ repräsentiert paradigmatisch eine vorherrschende Tendenz der Aneignung neuer Musik durch Popmusik: Den komplexen Vorlagen unterlegte einfachere Beats und starke Kürzungen dienen dazu, die Stücke in ein gängiges Distributionsformat zu bringen und tanzbar zu machen. Umgekehrt haben auch Akteure der neuen Musik Popmusik bearbeitet. Das Spektrum reicht von Olga Neuwirths Hommage à Klaus Nomi. Songs für Countertenor und kleines Ensemble (1998/2008), die Klaus Nomis Songs vor allem harmonisch neu interpretierte, bis zu Moritz Eggerts durch Montagetechnik, Cluster und bluesfrem- 508 de Ä Harmonik verfremdete gleichnamige Coverversion von Fred MacDowells Blues-Klassiker Highway 61 aus dem Zyklus Hämmerklavier (XII, 2001). Zwei paradigmatische Remixe von Popvorlagen durch Komponisten neuer Musik sind James Tenneys Remix von Elvis Presleys Blue Suede Shoes (1961) und Karlheinz Essls Father Earth (2004/05), ein Remix von Mother Sky (1970) der deutschen »Krautrock«-Band Can. Tenney dekontextualisiert die Tonspuren der Vorlage durch Montage (Ä Collage / Montage) und Schnitttechniken so sehr, dass aus der Rock ’ n’Roll-Vorlage eine beatfreie elektronische Komposition wird; Essl reduziert das Material der Vorlage radikal, legt über die Bassrepetitionen neue Klangteppiche und verkürzt die in der Vorlage freien und weitläufigen Gitarrenimprovisationen auf wenige Floskeln. Weit verbreitet ist auch das Verfahren des Samplings, bei dem nur ein Teil aus einer fertigen Tonaufnahme in einen neuen musikalischen Kontext gestellt wird (Ä Elektronische Musik). Beispiele sind Samples aus Kompositionen Karlheinz Stockhausens bei Holger Hiller und der Band Laibach und die Werke des XXCentury Contemporary Composers Re:Composed Project mit Samples von u. a. Iannis Xenakis, György Ligeti oder Varèse. John Oswalds Plunderphonics-Konzept ist eine Extremform des Samplings: Hierbei wird fast ausschließlich gesampeltes Material benutzt, zuweilen mit urheberrechtlich bedenklichen Verfahren. Neben Coverversionen und Remixen spielen Zitate, Allusionen und die Übernahme spezifischer Sounds eine wichtige Rolle in der gegenseitigen Rezeption von neuer Musik und Popmusik. So greifen etwa Eggert in Riff (2002) und Carlo Domeniconi in seiner Hommage à Jimi Hendrix (1994) den charakteristischen Gitarrensound von Jimi Hendrix auf. Sounds von Pop- und Rockmusik dienen auch Komponisten wie Heiner Goebbels, Steve Martland und Helmut Oehring als Materialquelle, ohne dass stets konkrete Vorlagen nachweisbar wären. Gelegentlich sind auch ironische Ausflüge in Pop-Rock-Gefilde bei Komponisten zu beobachten, die dem Bereich eher fernstehen, so etwa in György Ligetis Hungarian Rock (1978). Am häufigsten werden von Popmusikern Stockhausen, Varèse und Cage als Vorbilder benannt; vermutlich geht es dabei vor allem um die anti-traditionalistische Haltung dieser Komponisten (Gottstein 2007, 5). Nicht immer aber schlagen sich derartige Erklärungen wie bei Frank Zappas Verehrung für Varèse (Kassel 2006) auch deutlich hörbar in der Musik nieder. Auch wenn Mitglieder von Bands wie The Grateful Dead oder Can bei Stockhausen studierten oder Seminare besuchten und Bands wie Jefferson Airplane, Musikerinnen und Musiker wie Björk, Karl Bartos (Kraftwerk) und Pete Townshend (The 509 Who) Stockhausen als Vorbild nannten (Appen 2003), ist dies ihrer Musik kaum anzumerken. Das Interesse der Beatles an Stockhausen ging allerdings über eine Abbildung seines Konterfeis auf dem Cover von Sgt. Pepper ’ s Lonely Hearts Club Band (1967) hinaus, indem sie in mehreren Alben Techniken der elektronischen Musik verwendeten (u. a. Revolver, 1966, White Album, 1968, vgl. Ross 2009, 521). Eine Fokussierung auf wenige Referenzpunkte lässt sich auch auf Seiten der neuen Musik erkennen. Eggert, Péter Eötvös u. a. beziehen sich auf Frank Zappa (vgl. Eötvös’ Psalm 151 in memoriam Frank Zappa, 1993). Am häufigsten wird allerdings auf die Beatles Bezug genommen: Zahlreiche Widmungskompositionen und Bearbeitungen u. a. von Louis Andriessen, Luciano Berio, Cage, Per Nørgård und Steve Martland sowie die von Aki Takahashi initiierte Sammlung von Transkriptionen Hyper Beatles (1990) belegen diese Dominanz. Die Wahl der Vorbilder ist sowohl in der neuen Musik als auch in der Popmusik häufig biographisch bedingt, sei es durch Schüler-Lehrer-Verhältnisse oder die Zugehörigkeit zu künstlerischen Gruppierungen: John Cale studierte bei Iannis Xenakis und wirkte in La Monte Youngs Ensemble Dream Syndicate mit, Mitglieder von Henry Cow in Cornelius Cardews Scratch Orchestra. Die enge Beziehung von Velvet Underground zur New Yorker Avantgarde um John Cage trug musikalische Früchte noch in den späteren Einzelaktivitäten der Bandmitglieder (u. a. in Lou Reeds Album Metal Music Machine, 1975). 3. Verflechtungen Besonders eng sind die personellen und künstlerischen Verflechtungen zwischen Popmusik und Ä Minimalismus, letzterer markiert gewissermaßen einen Grenzbereich (Ullmaier 1989). Während sich der Song Baba O’Riley (1971) von The Who auf ein quasi-minimalistisches Intro und Ostinato beschränkt, lieferte z. B. Mike Oldfield 1979 eine Coverversion von Philip Glass ’ North Star (1977). Eine intensive Rezeption in umgekehrter Richtung liegt in Glass ’ Sinfonien Nr. 1 (Low, 1992) und Nr. 4 (Heroes, 1996) vor, in denen Songs David Bowies (aus den Alben Low, 1977, und Heroes, 1977) einer minimalistischen Kompositionstechnik anverwandelt werden. Eine Verschmelzung von Minimal und Pop- / Rockmusik liegt u. a. auch in Terry Rileys / John Cales gemeinsamem Album Church of Anthrax (1971) vor und nicht zuletzt besteht ein enger Zusammenhang zwischen den minimalistischen Sound Drones eines La Monte Young oder Phill Niblock mit ähnlichen Phänomenen bei Radiohead, Robert Fripp oder Brian Eno. Spätestens seit den 1980er Jahren kann durch in beiden Bereichen tätige Akteure und gemeinsame Aufführungskontexte eine stärkere Verschmelzung der Elektro- Pop / Rock nik-Szenen von neuer Musik und Popmusik beobachtet werden. Ihre historischen Wurzeln sehen Musiker der elektronischen Popszene wie Matthew Herbert oder die Band Matmos in der musique concrète von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Letzterer wandte sich mit Psyche Rock aus der Messe pour le temps présent (1967) selbst der Rockmusik zu, kooperierte mit der Bluesrock-Band Spooky Tooth (auf Ceremony, 1970) und wird als Urvater des Techno gefeiert, eine Ehre, die auch Stockhausen für sich reklamierte (Stockhausen 1998/2000). Das ästhetische Erbe von musique concrète und der Fluxus-Bewegung führen – verbunden mit originär popmusikalischen Techniken wie dem scratching oder beatjuggling – verschiedene Spielarten des turntablism fort, bei dem Schallplatten als Instrument zur Klangerzeugung benutzt werden. Seit Anfang der 1990er Jahre werden die Grenzen zwischen Pop- / Rockmusik und neuer Musik insgesamt durchlässiger – Komponisten der neuen Musik wie Bernhard Lang (Sanio 2007), Nicolas Collins oder Dror Feiler haben ebenso wie die Grenzgänger John Zorn oder Fred Frith Anteil daran. Neue-Musik-Festivals öffnen sich programmatisch der Popmusik, Interpreten wie das Ensemble Modern führen Musik von Zappa oder Anthony Braxton auf und zahlreiche Kooperationen von Musikern aus beiden Bereichen zeugen von verstärkter Annährung: gemeinsame Projekte von Lutz Glandien und Chris Cutler (1992, 1996) oder von Krzysztof Penderecki und Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood (2012) sind nur zwei Beispiele unter vielen. Angesichts dieser zunehmenden Verflechtung sind jedoch auch die Lücken der gegenseitigen Rezeption signifikant: Einige Bereiche wie z. B. Country-Musik und Schlager werden von Komponisten neuer Musik ignoriert, umgekehrt gibt es mit wenigen Ausnahmen (Obert 2013) keine nennenswerte Rezeption der Musik der Wiener Schule durch Popmusiker, dodekaphone Experimente finden sich ebenfalls nur sehr vereinzelt (so bei Christian Naujocks). Ä Themen-Beitrag 4; Konzeptuelle Musik; Minimalismus / Minimal Music; Popularität Appen, Ralf von: Konkrete Pop-Musik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Matthew Herbert und Matmos, in: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung 2 (2003), http://aspm.ni.lo-net2.de/ samples-archiv/Samples2/vappenp.pdf (28. 5. 2015) „ Berio, Luciano: Commenti al rock, in: Nuova rivistia musicale italiana 1 (1967), 125–135 „ Bernard, Jonathan W.: The »Modernization« of Rock & Roll, 1965–75, in: The Pleasure of Modernist Music. Listening, Meaning, Intention, Ideology, hrsg. v. Arved Ashby, Rochester 2004, 277–324 „ Brech, Martha: Gegenwärtige Tendenzen der Avantgarde im Zwischenbereich von E- und U-Musik, in: Alternativen (Veröffentlichungen des Instituts Literatur 510 Popularität für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 38), hrsg. v. Johannes Fritsch, Mainz 1998, 24–39 „ Castanet, Pierre Albert: Le Médium mythologique du Rock ’ n’roll et la musique contemporaine, in: Intersections 32/1–2 (2012), 83–116 „ Custodis, Michael: Progressing Music. 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Genese Während der Aufklärung wird die Orientierung am Volkstümlichen, Einfachen, Anrührenden und allgemein Fasslichen zum Bestandteil eines Paradigmenwechsels, der die Kategorien der Wahrnehmung, des Empfindens und des Geschmacks gesellschaftlich neu verortet. Im Streit um die normative Geltung und Klassizität von Kunstformen reflektiert der aufkommende Gebrauch des Begriffs Popularität (popularité) in Frankreich etwa um 1725 (Robert / Rey 2001, Bd. 5, 953) Möglichkeiten des kulturellen Räsonnements, verbunden mit ideengeschichtlichen Varianten der Frage, was vernunft-, was naturgemäßer sei: Melodie oder Harmonie (Querelle des Bouffons, 1752–54). Popularität ist eng mit der Entstehung eines Raums von Öffentlichkeit verbunden (Bourdieu 2014, 96–99), in dem Normen, Ereignisse, Standpunkte und Ä Institutionen verhandelt werden. Komplementär zur Idee des Popularen in der Musik öffnet sich der Raum für literarisch formulierte ästhetische Spekulation in der romantischen Kunst- und Musikkritik und Musiknovellistik. Impulse der französischen Streitkultur aufnehmend, findet das Adjektiv »popular«, abgeleitet von populaire, in der ersten Hälfte des 18. Jh.s Eingang in die deutsche Sprache, gefolgt von dem Substantiv »Popularität«, abgeleitet von popularité (Sanders 1863, Bd. 2, 573; Guilbert u. a. 1976, Bd. 5, 4465 f.; Robert / Rey 2001, Bd. 5, 952 f.). Unterdessen richten sich Komponisten an der Auffassungsbereitschaft und den Befähigungen eines breiteren Zielpublikums aus und nutzen ihre Erfahrungen als höfische, kirchliche oder städtische Dienstleister, um breitere Publikumsschichten zu erreichen (Georg Philipp Telemann, Joseph Haydn). Umgekehrt begründen Kunstfertigkeit und Zugänglichkeit kein sich gegenseitig einschränkendes Wechselverhältnis (Bach- Kontroverse Johann Adolf Scheibe vs. Johann Abraham Birnbaum, 1737/38). Leopold Mozarts Rat an den Sohn, »vergiß also das so genannte populare nicht, 511 das auch die langen Ohren Kitzelt« (Brief vom 11. 12. 1780, Bauer / Deutsch 2005, Bd. 3, 53), verweist explizit auf die Bedeutung der nicht musikalisch gebildeten Laien (»das ohnmusikalische Publikum«, ebd.), die meist die Mehrheit stellen dürften: Zwischen populärer Wirkung hier und musikalischem Wissen dort herrschen Asymmetrien. Zufriedenheit bei Kennern und Einvernehmen bei »nichtkennern« zu erreichen, bei diesen jedoch »ohne zu wissen warum« (Brief Wolfgang Amadé an Leopold Mozart vom 28. 12. 1782, ebd., 246), benennt einen pragmatischen Spagat, für den Die Zauberflöte exemplarisch geworden ist. 2. Sozialgeschichte Popularität wird seit der Aufklärung zum widersprüchlichen sozialen Dispositiv: durch (1) Lockerung der alltagskulturellen Äquivokation von Popularität und Volkstümlichkeit (Liedgut, Brauchtum), durch den (2) popularphilosophisch vermittelten ideengeschichtlichen Rückhalt, durch (3) allmählich entprivilegierte Zugangsmöglichkeiten zu musikalischer Bildung und gesteigerte Nachfrage nach musikalischer Unterhaltungskunst für den alltäglichen Bedarf sowie (4) durch die Trivialisierung erfolgreicher Werke. Der (5) Begriff des »Popularisierens« drückt Kritik an der Absenkung von Ansprüchen bezüglich Kunst aus, vergleichbar dem »Zuschneiden des Rocks der Wissenschaft auf den Leib des ›gemischten Publikums‹« (Nietzsche 1874/1980, 257). Politische Ereignisse und Tourismus fördern (6) wechselnde Tanzmoden (Walzer, Mazurka, Polonaise). Popularität genießen (7) Virtuosen wegen nicht für möglich gehaltener, sensationeller Leistungen (Sennett 1983, 227–235). In Abgrenzung von popularisierenden Tendenzen bildet sich (8) der Habitus eines nur dem Kunstanspruch verpflichteten, normativ bewahrenden oder fortschrittlich investigativen Produktionsverständnisses heraus. Trotz aller Parteilichkeiten wird die Idee der Autonomisierung gemeinsam verfolgt. Popularität seits werden zwischen unterschiedlichen Präferenzen und Bildungsniveaus Schnittmengen gebildet. Popularkultur verhält sich (5) nichttraditional zum Begriff des Volkstümlichen, da letzteres ursprünglich in einer vorindustriellen Welt beheimatet ist. Auf andere Weise muss Popularität auch von Popkultur strikt unterschieden werden. Die popularkulturelle Gemengelage ist mit Kunstphänomenen und Lebensstilen verbunden, die der Alltagskultur entstammen und mitunter eine gegenkulturelle Geschichte bzw. Vorgeschichte aufweisen. Das (6) sozialräumlich stark ausdifferenzierte Wertegerüst der Popularitäten bildet Korrelationen mit dem Marktwert, dem szenegerechte oder breitenwirksame Angebote lebensstilistischer Anschlussfähigkeit entsprechen, darunter Authentizität und Glaubwürdigkeit. Zwischen den Akteuren popularkultureller Stile finden Auseinandersetzungen um Popularität statt, bei denen es um Verortungen im Lowbrow- und Middlebrow-Segment geht, wobei einige aber die Anerkennung im Highbrow-, dem Hochkultursegment anstreben (Geuen / Rappe 2001; Bru u. a. 2012). Schließlich sorgt Popularität (7) für Orientierung, Legitimierung und Sicherheit (z. B. durch Traditionen, Institutionen, Autorität, Routinen) und wirkt wie eine unsichtbar bleibende Plausibilitätsstruktur. Selbst auf höchstem Reflexionsniveau tragen vorreflexive Formen des Erlebens und Handelns durch implizites Wissen (Renn 2006, 120–127) dazu bei, dass ganz unvorhersehbar Musik erfolgreich wird, weil implizit bleibende Wirkungsketten eine sinnlich-atmosphärische Vermittlungsarbeit geleistet haben, so etwa im Falle von Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1991–96). Popularität benennt (8) im diskurstheoretischen Sinne endlich das, was für populär gehalten wird. Als messbarer Beweis für Popularität gelten Popularitätswerte, Publikumszahlen, Wirtschaftsdaten, Einschaltquoten oder Clicks, die dazu beitragen können und sollen, interessegeleitete Wirklichkeiten herzustellen. 3. Soziologie Als (1) diffuse Form großer Bekanntheit und Beliebtheit von Menschen und sozialen Gütern birgt Popularität (2) das Potenzial eines bedeutenden strategischen, symbolischen und ökonomischen Nutzens. Öffentlichkeiten fügen sich zu einer komplexen sozialräumlichen Struktur. Popularität bezeichnet einen (3) Konsens zwischen sozialen Einheiten unterschiedlichster Größe und Perspektive: die  – kleine  – soziale Gruppe, das Milieu, die Szenen, sozial verinselte Gruppen, die soziale Schicht usw. bis zur Mehrheit der Gesellschaft. Populär sind (4) in der Avantgarde und im Pop Entkonventionalisierungs- und Subversionsdiskurse (Borsche 2013). Sie (re-)produzieren einerseits Zustimmung und Szenenkonformität, anderer- 4. Neue Musik im Diskurs der Popularität Die Thematisierbarkeit des Verhältnisses von neuer Musik und Popularität geht zurück auf Absetzbewegungen von akademischen Normen, Distanzierung vom Massengeschmack, Positionierungen gegen eine konservative Kunstkritik und Skandale. Zum Wesen der Ä Moderne gehört, dass zwischen einem ästhetischen Beharrungsprinzip und dem Modischen / Populären / Innovativen eine gesellschaftliche Dynamik entfesselt wird (Baudelaire 1868/1990, 467 f.). Historisch überwunden werden sollten damit totalitäre Ideologien von Popularität und »Volksnähe« und ihre destruktiven Folgen für die Produktivität (Sozialistischer Realismus), die bis zur Selbstzertrümme- Popularität rung des kulturellen Anspruchs reichten (Ä Nationalsozialismus). Das Verhältnis von neuer Musik und Popularität wird heute geprägt von einem ästhetischen Pluralismus und Relativismus, Veränderungen musikalischer Sozialisationsprozesse, »Querfeldein«-Rezeptionen und Hybridbildungen zwischen Stilen jeder Art und Provenienz insbesondere mit Ä Pop- und Rock-Musik (Sanio 2008; vgl. bereits Lachenmann 1979/96, 1982/96). Dies fördert die Popularität einer allgemeineren, aber entdifferenzierten Redeweise von zeitgenössischer Musik. Im Zuge der Ä Globalisierung hat sich gleichzeitig eine neue Musik mit Bezügen zu nicht-europäischen Traditionen herausgebildet, die sich von eurozentrischen Hintergrundinterpretationen des Neuen absetzt. Die emphatischen Gleichung neue Musik = Ä Avantgarde = Ä Moderne = Fortschritt beschreibt eine historische Kernkompetenz und stellt das orthodoxe und zugleich populäre Meinungsbild bzw. Selbstverständnis von Gruppierungen der Neuen-Musik-Szene dar. Die Beziehung neuer Musik als avantgardistische Praxis zur Popularität gestaltet sich als Innen- und Außenverhältnis. Im Innenverhältnis entsteht Popularität durch Zustimmung zu dem, was hochspezialisierte Akteure und Gruppen als neue Musik definieren oder legitimieren. Je nach Position wird die Unterscheidung neue Musik – moderne Musik – zeitgenössische Musik – populäre Musik zwar anders getroffen, Ansehen wird aber jedenfalls durch Anerkennung hoher Übereinstimmung eines kompositorischen Stils mit investigativen Vorstellungen gewonnen, die auf dem Feld der neuen Musik herrschen und deren Selbstverständnis ausmachen. Popularität – verstanden als Ausdruck hohen Ansehens  – basiert auf Werten, die in Wertekonflikten streitkulturell verteidigt, kontrolliert und abgearbeitet werden. Sie gewinnen besondere Schärfe, wenn Akteure gemeinsame Werte teilen, doch z. B. über das sinnliche Wie der Brechung des musikalischen Materials uneins sind. Der Streit zwischen Hans Werner Henze und Helmut Lachenmann ist ein beredtes Beispiel dafür (Henze / Lachenmann 1982/96; Lachenmann 1983/96; Ä ThemenBeitrag 4, 6.). Im Wesen des Feldes liegt eine starke reflexionsorientierte und popularitätskritische Haltung. Erkenntnisgewinn wird in der kritischen Reflexion und Transformation und / oder in der Dekonstruktion überkommener Kategorien gesucht. Provokationsästhetisch »den Nerv getroffen zu haben« kann umgekehrt zum Glauben an eine »wahre«, subversive Popularität verleiten. Einschlägige Postulate (kritisches Produzieren, Befreien der Wahrnehmung, Vermeiden von Hörgewohnheiten) stärken die interne Konformität zwischen Klientel und dem Ethos der Produzierenden. Als ein »selbstbezügliches 512 Spiel« (Nonnenmann 2005, 58) mit Kunstautonomie wird das Selbstverständnis mit den Folgen der Folgenlosigkeit konfrontiert, vergleichbar mit risikogesellschaftlichen Entwicklungen in den Wissenschaften (Beck 1986, 254–299). Damit korreliert das Selbstwahrnehmungsparadox der verinselten Lage (Foucault / Boulez 1983/2005) der neuen Musik trotz ihres Institutionalisierungsgrads samt Schnittmengen mit dem akademischen, medialen, wissenschaftlichen und intellektuellen Feld. Im Außenverhältnis nimmt neue Musik als risikoorientierte Praxis der Avantgarde den Konflikt mit traditionellen und massenkulturellen Popularitätsschemata in Kauf. Skandale als Verursacher einer paradoxen, negativ besetzten Popularität öffnen den Blick für die soziale Verteilung von konkurrierenden Wahrnehmungsmustern, auch innerhalb gesellschaftlicher Gruppen. Bruchlinien im gesellschaftlichen Wahrnehmungsgefüge deuten auf symbolische Revolutionen hin. Das Verhältnis von neuer Musik und Popularität ergibt sich aus dem gesellschaftlichen Stellenwert von Unpopularität. Die Thematisierung des Fasslichkeitsproblems knüpft an die latente Virulenz der Eigenschaften Nonverbalität und Nichtbildlichkeit von Musik an, verselbstständigt sich und prägt Erfahrungen. Wechselwirkungen bestehen mit dem Öffentlichkeitsbild, das von Spezialdiskursen (Selbstbeschreibung, Verwissenschaftlichung, Symmetrieverhältnis Musikforschung / Komponist) beherrscht wird. Auch Bezüge neuer Musik zu den Ästhetiken der Alltagskultur, Geräusch-, Sound-, Spannungsästhetiken bis hin zu popkulturellen Ästhetiken können so nur selten in Öffentlichkeitsdiskursen Fuß fassen. Während von vielen Hörergruppen die Entnormalisierung des Musikerlebens als krisenhaft erfahren wird, wirken gesellschaftliche Lernprozesse unterschwellig an der Bildung von Anschlussfähigkeit mit. Unpopularität kann sich also wider Erwarten in Popularität wandeln, wenn sich aus umstrittenen Entwicklungen Modernisierungs- und Innovationsvorteile durch Wertewandel und Renormalisierung ergeben (»Krisenexperiment«; Garfinkel 1967). Kunst reflektiert Ä Wahrnehmung, um kritisch auf darin enthaltene sinnliche, symbolische, ökonomische Machtverhältnisse hinzuweisen, die Popularität als Mehrheitsverhältnis (re-)konstituieren,. Kunst erneuert dadurch ihre Kompetenz und Autonomie. So besitzen in der neuen Musik anspruchsvolle, nicht konziliante Stile langfristig größere Chancen, Popularität zu gewinnen, weil sie Maßstäbe setzen. Erfolg als Konsenseffekt mit einem risikoarmen Publikumsgeschmack stellt sich über traditionalistische Semantiken ein, gestützt durch »Authentizität« als ideologisiertem Wert massenkultureller Popularität (Diederichsen 2014, xxiv). Dadurch werden Entfremdungs- 513 zusammenhänge begründet und kulturelle Deformationsprozesse begünstigt (Zehentreiter 2013, 70–73). Das populäre Idealziel, Musik aus sich selbst zu verstehen, setzt stets einen Bildungsprozess voraus, in dem Entschlüsselungsmethoden (»Wahrnehmungskunst«) als implizites oder explizites Wissen angeeignet wurden. Alltagskulturelle Rezeptionsschemata mobilisieren Vermittlungsressourcen, die durch situative Anknüpfungspunkte das Interesse an einem »kognitiven und affektiven Blickpunkt in der neuen Plausibilitätsstruktur« (Berger / Luckmann 2000, 168) anregen können. Das Ä Musiktheater der Moderne ist der Ort, wo eine relative Popularität gedeiht. Musik und Geschichten werden atmosphärisch in ein Feld von Synergien der Empfindungen und Ä Synästhesien eingebettet. Der szenische Performanzgrad instrumentaler Musik profitiert von Situationen und plausibilitätsstiftenden Bebilderungen (Spielweisen, Gesten, Aufbau, Raum). Anstatt den ästhetischen Präferenzwechsel im Feld der neuen Musik nachzuvollziehen kommt es  – asymmetrisch – darauf an, lebensstiltaugliche, alltagstranszendierende Erfahrungen in die Ä Rezeption neuer Musik integrieren zu können. Die integrativen Leistungen der Popularkultur für das Hochkulturschema nutzbar zu machen, ist Kern eines sich in seinen Konturen abzeichnenden Diskurses, in dem die Beziehung von neuer und traditioneller Kunstmusik zur Popularmusik, ihren Ästhetiken und ihrer gesellschaftstheoretischen Bewertung auf eine neue Grundlage gestellt werden soll (Polaschegg 2005; Fuhr 2007; Custodis 2009; Hiekel 2013). Wechselwirkungen zwischen den kulturellen Schemata hat es seit dem 19. Jh. bereits unter verschiedenen Vorzeichen gegeben. Erst in dem Maße, wie die Popularmusik zur dominierenden ästhetischen, digitalen und ökonomischen Kraft, also Macht auf dem musikalischen Feld geworden ist; in dem Maße, wie sich die Wege musikalischer Sozialisation verändert haben und populäre Musik durch Aufnahme in die akademische Lehre die letzte Hürde ihrer kulturellen Legitimation genommen hat – in dem Maße ist zu beobachten, wie musikästhetische Fragestellungen von neuen künstlerischen Koalitionen und Hybridbildungen herausgefordert werden. Schon seit längerem empfängt die Praxis der neuen Musik daraus Impulse, um dem eigenen Mainstream auszuweichen. Ob damit Potenziale mobilisiert werden für eine neue Popularität zukünftiger künstlerischer Ausdrucksformen, ist unmöglich zu prognostizieren. Sicher ist nur, dass sich die Bildung neuer Funktionseliten im Kunst- und Kulturbereich fortsetzt, die mit überkommenen Schemata brechen und die Ambivalenzen des Popularitätsdispositivs dabei umstrukturieren. Zu diesen Ambivalenzen gehört, die Musikgeschichte auf Persönlichkeiten hin abzutasten, Popularität die für heutige Popularitätsvorstellungen vereinnahmbar erscheinen (Ä Kanonisierung), aber in der Demontage historischer Fakten den pseudoliberalen Konsens der Bildungspolitik mit der (Musik-)Wirtschaft bekräftigen. Popularität und Elitenbildung hängen eng miteinander zusammen; es handelt sich um einen Scheingegensatz, der von der Ambivalenz der Begrifflichkeit befeuert wird. Ä Institutionen / Organisationen; Konzert; Kulturpolitik; Moderne; Musiksoziologie; Postmoderne; Vermittlung Baudelaire, Charles: Curiosités esthétiques, l ’ art romantique et autres œuvres critiques [1868], Paris 1990 „ Bauer, Wilhelm A. / Deutsch, Otto Erich (Hrsg.): Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. 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Wiederholung als Prinzip  „ 7. Umgang mit Traditionsbezügen  „ 8. Pluralismus und Polystilistik  „ 9. Zweite Moderne oder fortgesetzte Postmoderne? Der Begriff Postmoderne (bzw. postmodern) wird in Darstellungen musikalischer kultureller Phänomene der letzten Jahrzehnte des 20. Jh.s und des beginnenden 21. Jh.s in zweifacher, zuweilen miteinander verschränkter Weise verwendet: (1) im Sinne einer Epochenbezeichnung für die kulturgeschichtliche Periode nach der Ä Moderne (wobei eine exakte Datierung eines möglichen Übergangs zwischen Moderne und Postmoderne kaum möglich und wohl auch nicht zwingend erforderlich ist); (2) für eine sich in unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen manifestierende künstlerische Haltung, die auf vielfältige, zuweilen spielerisch-ironische Weise auf unterschiedliche Traditionen zurückgreift (diese Haltung kann, muss aber nicht Ausdruck einer neuen Epoche sein). Das Neue dieses zunächst eher im Bereich der Architekturtheorie (Jencks 1977/78; Klotz 1994) und Literaturtheorie und später in fast allen anderen Kultursegmenten diskutierten Begriffes wird oft auf die im Kontext der Philosophie geprägte Formel »anything goes« (Feyerabend 1976/95) gebracht. Mit dieser Formel, die zunächst ohne ideologische Attitüde auf einen philosophischen Relativismus deutet, aber im öffentlichen Gebrauch zeitweise ein mehr oder weniger oberflächliches (und manchmal polemisch verwendetes) Schlagwort war, wird vor allem eine Distanz der Postmoderne gegenüber der Moderne bezeichnet. Konkret geht es dabei um verschiedene mit der Moderne  – bzw. genauer gesagt: mit einer rigiden Auslegung oder eindimensionalen Handhabung von ihr – verbundene kritische Einschränkungen und Festlegungen. 1. Postmoderne als Fortsetzung der Moderne Weitgehend unumstritten ist es, die künstlerischen, politischen und medialen Umbrüche der 1960er Jahre als einen der wesentlichen Ausgangspunkte für die Postmoderne zu sehen – und zudem auch die revolutionären Ereignisse von 1989/90 in Europa als wichtige äußere Faktoren für die Veränderung von Leitgedanken, Selbstbeschreibungen und Rezeption der Künste (einschließlich der Ä Neuen Musik). Gegenstand unterschiedlicher Beurteilungen war jedoch zunächst die Frage des Verhältnisses zwischen Postmoderne und Moderne bzw. Ä Avantgarde: Je nach Standpunkt wurde sowohl eine entschiedene Gegensätzlichkeit (im Sinne eines Epochenbruchs) als auch eine Wechselwirkung zwischen beiden diagnostiziert – wobei sich die zuletzt genannte Beurteilung wohl heute weitgehend durchgesetzt hat und oft auch von einer »postmodernen Avantgarde« die Rede ist. Folgt man dieser Einschätzung, dann ist die Postmoderne eher die Erweiterung verschiedener in der Moderne ohnehin angelegter Tendenzen, wogegen deren strikte Negation eher als Ausdruck einer Antimoderne zu sehen ist. Einflussreich für Reflexionen zur Neuen Musik ist die zunächst besonders von Jean-François Lyotard formulierte Vorstellung eines Redigierens, d. h. einer selbstkritisch befragenden Weiterführung der Moderne (Lyotard 1979). Gerade unter diesem Blickwinkel kann die Postmoderne als Impuls verstanden werden, welcher der Moderne von Anfang an eingeschrieben war (Zender 1989/2004). Dies konvergiert mit der Tendenz zur kritischen Selbstbefragung auch bereits in der Moderne, namentlich etwa in der Auseinandersetzung zwischen Adorno und HeinzKlaus Metzger zum »Altern der Neuen Musik« (Metzger 1957/80; Konold 1987). Im Sinne dieser Tendenz, die in der Postmoderne aufgegriffen bzw. zugespitzt wird, die jedoch im Reden über Neue Musik nicht selten übersehen wird (vgl. etwa Hentschel 2010), ist der Begriff »postmodern« punktuell sogar bereits in der ersten Hälfte des 20. Jh.s als Hinweis auf die notwendige Selbstkritik der Moderne lesbar. Dies gilt namentlich für die vermutlich erste kulturwissenschaftliche Studie, in der er ausdrücklich Verwendung findet (Pannwitz 1917; in dieser Schrift geht es um »europäische Integration«, die Überwindung von Nationalismen und eine adäquate Auseinandersetzung mit anderen Kulturen). Entsprechend einer solchen Sichtweise, die auch mit der Tendenz zur weitgehenden Auflösung von »Lagerbildungen« im Feld der Neuen Musik des 21. Jh.s im Einklang steht, ist es schon seit längerem 515 üblich, eine postmoderne Haltung nicht unbedingt als Gegensatz zur Avantgarde zu sehen. So hat Albrecht Wellmer, obschon zunächst kritisch gegenüber postmodernen Positionen, bereits Mitte der 1980er Jahre von einer »postmodernen Avantgarde als eine[r] Fortsetzung der ästhetischen Moderne und nicht als Bruch mit ihr« (Wellmer 1985, 56) gesprochen. In Lyotards einschlägigen Schriften ist aber noch etwas anderes zu erfahren, was für den Musikdiskurs hilfreich ist, wenn es auch zuweilen übersehen wird: ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher Perspektiven und Akzentuierungen innerhalb von Epochen (Kogler 2009). Wie die Moderne – und gewiss sogar mehr noch als diese – ist auch die Postmoderne plural, d. h. nicht von einer einheitlichen Sichtweise durchdrungen. 2. Wachsende Gelassenheit Der Musikbereich wurde von Debatten zur Postmoderne vergleichsweise spät tangiert, und es dominierte im Schrifttum zunächst eine deutlich ablehnende Haltung. Dabei wurde die Postmoderne auf der einen Seite als »Gegenaufklärung« (La Motte-Haber 1987) bezeichnet oder als Wende zum Konservativen und diffus Kriterienlosen abgelehnt (vgl. Dibelius 1998, 551, wo distanzierend von der »postmodernen Lizenz, eigentlich alles zu dürfen«, die Rede ist). Zum Gesamtbild in den 1980er Jahren gehört, dass manche Komponisten, die sich von bestimmten postmodernen Ideen angesprochen fühlten, eine negative Gesamtsicht beklagten. So diagnostizierte Mauricio Kagel, dass die Postmoderne vielerorts als ein Synonym für eine »offen getragene Abrechnung mit dem Geist der Moderne« (Kagel 1989/91) empfunden würde. Schon seit etwa dem Ende des letzten Jahrhunderts ist im Schrifttum eine wachsende Gelassenheit und »Entdramatisierung« (Bohrer / Scheel 1998, 755) sowie zugleich eine weitere Ausdifferenzierung festzustellen (Lehmann 2006; Danuser 2011; Hiekel 2013a). Obschon bis heute bei manchen Musikologen und Komponisten eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff Postmoderne besteht, scheint sich gegenwärtig die Einsicht durchzusetzen, dass er mehr ist als eine bloße Modevokabel oder ein Kampfbegriff des Zeitgeistes. Auch darf man gerade heute davon ausgehen, dass Suchbegriffe wie dieser zumindest dann, wenn sie sorgfältig genug differenziert werden und nicht als Anlass zur Eliminierung von Reflexion missverstanden werden, zur Selbstvergewisserung von Künstlern sowie zur Qualifizierung ästhetischer Diskurse beitragen können (Ruzicka 2004; Lehmann 2006, 2009; Mahnkopf 2008). Pointiert gesagt, können sorgfältige Diskussionen zu Begriffen wie diesem dazu beitragen, gerade jenen Relativismus, der mit diesem Be- Postmoderne griff zuweilen assoziiert wird, zu überwinden und Orientierungshilfen zu formulieren (Zender 1989/2004; Hiekel 2007). Überdies gehört es zur Natur eines solchen Begriffes, dass sich manches von dem, wofür er steht, auch bei Künstlern bzw. Denkern manifestiert, die im Allgemeinen nicht mit ihm verbunden werden (bzw. werden wollen). Dies gilt auch für verschiedene andere Formeln, die im Zusammenhang insbesondere mit Musik der Postmoderne Verwendung finden, namentlich etwa für den des Ä Minimalismus, in gewissem Maße vielleicht auch für den heute zumeist als fragwürdig empfundenen Begriff »Neue Einfachheit« (vgl. 7.) Wichtig erscheint angesichts der Erscheinungsvielfalt der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte die Feststellung, dass das oft diagnostizierte »Ermatten« oder die »Erschöpfung« der Avantgarde (Eichel 1993) weder einen Verlust von künstlerischer Produktivität noch grundsätzlich die »Ablösung« der modernen Komponisten durch andere bedeuten müssen. Eher kann man von einem Nebeneinander verschiedener ästhetischer Grundeinsichten ausgehen – einschließlich der fortgesetzten Präsenz moderner Konzepte. Allerdings kann man – und das dürfte wesentlich zur Entfaltung der Postmoderne beigetragen haben – auch bei einigen wesentlichen Protagonisten des musikalischen Aufbruchs nach 1945 und mithin der Moderne  – wie sogar bei Pierre Boulez  – eine Tendenz zur »Abkehr […] von einem ›Avantgarde‹-Ideal« (Danuser 2011, 205) diagnostizieren, also die Neigung zur Revision oder zumindest Abschwächung eigener kämpferischer Haltungen (was vielfach überaus kritisch gesehen wurde, vgl. etwa Mahnkopf 1995). Von gewisser Wirkung für manche kritische musikwissenschaftliche oder musikjournalistische Verwendungen des Begriffs »Postmoderne« war zumindest im deutschsprachigen Raum die Kritik der Postmoderne durch Jürgen Habermas (1981). Darin – und in vergleichbarer Weise auch in einem von Komponisten (etwa Manos Tsangaris) und Musikologen (etwa Heinz-Klaus Metzger) getragenen künstlerischen Projekt mit dem ironischen Titel »Praemoderne« 1991 in Köln (vgl. Roscheck u. a. 1992) – wurde die Notwendigkeit einer Postmoderne grundsätzlich bestritten, mit der Begründung, dass wesentliche Ideen der Moderne einstweilen noch auf ihre Umsetzung warteten. Zur Beschreibung der kulturellen Gesamtsituation diente in den letzten Jahrzehnten allerdings oft auch die ebenfalls von Habermas in die Diskussionen gebrachte Formel »Neue Unübersichtlichkeit« (Habermas 1985), die ihrerseits als punktuelle Revision der vorangehenden Postmoderne-Kritik gelten kann. Die schlagwortartige Verwendung der »Unübersichtlichkeits«-Vokabel geht zuweilen mit der Annahme einher, eine unterscheidende Postmoderne Wahrnehmung substanzieller Phänomene und Tendenzen sei in der Postmoderne kaum mehr möglich (Danuser 1984, 392–409). Dies konvergiert mit einer oft ebenfalls als postmodern geltenden wenig theoriefreudigen Haltung mancher Künstler (gegen die sich allerdings nicht wenige Komponisten, die mit dem Begriff der Postmoderne manchmal assoziiert werden, bewusst gewehrt haben; vgl. Rihm 1977/97, 355). Im schon angedeuteten Sinne hat es sich als plausibel erwiesen, manche kompositorische Ansätze, die man früher meist als postmodern bezeichnete, die aber eher für eine radikale Negation der Moderne stehen, als »antimodern« zu bezeichnen (Danuser 2011, 207). Durch solche Präzisierungen – die in sinnfälliger Analogie zu allmählichen Begriffsschärfungen und -justierungen anderer Epochenbegriffe stehen  – kann man die Gefahr reduzieren, dass die Rede vom Postmodernen in der Musik diffus, vage und unspezifisch wird (was nicht dasselbe wäre wie jene stilistische und konzeptionelle Offenheit, für die dieser Begriff wohl vor allem zu stehen scheint). Begibt man sich auf die Suche nach typisch postmodernen Darstellungsweisen in der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte, rückt die Problematik der durch jedes Selektionsverfahren sich ergebenden Hierarchisierungen ins Blickfeld: Würde man eine Auswahl von Beispielen zu einem fest umrissenen Kanon postmoderner Kunstmusik stilisieren, stünde dies im Widerspruch zu jenem wichtigen Teilaspekt postmodernen Denkens, der von einer generellen Skepsis gegenüber dem Prozess der Ä Kanonisierung bestimmt ist – Adornos oft (und manchmal missverständlich) zitierte Rede vom »Kanon des Verbotenen« (Adorno 1949/75, 40) ist dabei zuweilen das negative Vorbild. Dennoch lassen sich, wie die nachfolgende Skizze zu zeigen sucht, einige signifikante Tendenzen und Beispiele nennen. 3. Kriterien Ein wesentlicher inhaltlicher Aspekt postmoderner Haltungen in der Kunst ist das, was Lyotard mit einer wirkungsmächtigen Metapher als Ende der »großen Erzählungen« beschrieb, die den Fortschritt der Geschichte oder die universale Geltung von Werten fundieren (Lyotard 1979, 54–68). Auf die Diskussion zur Neuen Musik übertragen (was natürlich nicht immer ohne gewisse Bedeutungsverschiebungen möglich ist) benennt dies (1) die Abkehr vom materialorientierten Fortschrittsdenken und einer hierdurch fundierten Avantgardehaltung (Ä Avantgarde; Ä Material), (2) den Verzicht auf große Systementwürfe insbesondere weltanschaulicher Art, oft auch den Verzicht auf politische Grundierungen von Weltbezügen (Ä Themen-Beitrag 4; Ä Musikhistoriographie), (3) den 516 Verzicht auf eine Ästhetik der Wahrheit und schließlich (4) einen durch die Akzeptanz einer Gleichrangigkeit unterschiedlichster Darstellungsweisen begründeten Verzicht auf Negationen (oder gar Tabuisierungen) – wie vor allem auf Negationen von Tonalität, Melodik oder klarer Rhythmik oder die Ausgrenzung »populärer« Stilelemente (Meyer 2011; Hiekel 2013b). Zum wesentlichen Referenzpunkt kritischer und zum Teil sogar polemischer Distanzbildung seitens postmoderner Konzepte wurde dabei erstens das Denken Theodor W. Adornos (es war eine Zeitlang zumindest in konservativen musikwissenschaftlichen Kreisen fast selbstverständlich, Adornos Ansätze grundsätzlich kritisch zu sehen oder ganz zu ignorieren, ohne manche Revisionen und Öffnungen in Adornos Beiträgen über Musik zur Kenntnis zu nehmen), und zweitens jener Teil der musikalischen Nachkriegsavantgarde, der mit Begriff und Idee der Ä seriellen Musik in Verbindung steht und die Vermeidung von Tonalität besonders nachdrücklich propagierte. Da man dabei zumeist die plurale Seite der Neuen Musik übersah, konzentrierte sich die aus postmoderner oder antimoderner Sicht formulierte Kritik an der Moderne in der Musik gerade auf diesen publizistisch besonders präsenten Teilbereich. Ihr wurde  – und wird zum Teil bis heute  – eine unhinterfragte Einseitigkeit und damit eine Verabsolutierung der Kriterien der Moderne (insbesondere jenem der unbedingten Suche nach Neuem) vorgeworfen, was allerdings zuweilen hieß, dass man manche Wandlungen, Weitungen und Tendenzen zur Selbstkritik innerhalb der seriellen oder postseriellen Musik geflissentlich übersah (Ä Themen-Beitrag 1). Der strukturellen Strenge und konzeptionellen Konsequenz mancher Musikwerke der 1950er Jahre antworteten postmoderne Konzepte mit Ansätzen, aus denen die lustvolle und nicht selten ironische Attitüde spricht, unbekümmert oder spielerisch über Traditionen sowie über etwas einstmals »Verbotenes« zu verfügen. Ein besonders wichtiger Faktor dafür ist die – oft nur punktuelle – Restituierung der Tonalität. Gehört es zum Selbstverständnis der Moderne, dass »eine bedeutende Leistung der musikalischen Avantgarde der zweiten Jahrhunderthälfte […] im Abbau jener Hierarchien [bestand], die der kompositorischen Arbeit seit der Etablierung des tonalen Systems zugrunde lagen« (Borio 2011, 128), so wurde diese Sicht der Dinge von postmodernen Konzepten erkennbar verworfen oder zumindest in Frage gestellt. Freilich kann man an diesem für die Diskussionen besonders wichtigen Punkt konstatieren, dass postmoderne Musik nicht durchgängig tonale bzw. neotonale Musik ist (Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität). Primär geht es dabei wohl vorwiegend um das Zulassen der Option von 517 Hierarchiebildungen oder musiksprachlichen Fragmenten, die mit der Tonalität zusammenhängen, nicht also um deren durchgängige Restituierung. Erneut ist damit die Grenze zu dem markiert, was als antimodern einzustufen ist. Ähnliches gilt für die Möglichkeit – und keineswegs Verpflichtung  – zur Rückkehr zu den im avantgardistischen Kontext zeitweise vermiedenen Ä Gattungen (wie Sinfonie, Oper und Oratorium), für den Einsatz von Ä Melodien sowie erst recht für eine Rückbesinnung auf jene bestimmten Ausdrucksmittel (Affekte, Gesten, Pathosformeln, Wiederholungen etc.), die in weiten Teilen der Moderne zumindest zeitweise als obsolet galten. Ein Hauptvorwurf gegenüber der Postmoderne  – nicht nur in der Musik  – besteht oft in der Ansicht, sie sei der Beliebigkeit und einem konturlosen Relativismus verfallen. Das Schlagwort »anything goes« mag insofern leicht missverstanden werden, weil postmoderne Musik zwar oft die weitgehende Verfügbarkeit allen Materials zum Ausgangspunkt nimmt. Man übersieht dabei jedoch leicht, dass mit einem provokativ oder spielerisch inszenierten Bruch mit tradierten Kunstkonzepten nicht automatisch ein reflexions- und kriterienloser Eklektizismus oder eine Tendenz zum Antimodernen oder Marktgängigen einhergehen muss. Um den Begriff des Postmodernen im Sinne Lyotards oder Wellmers als Fortsetzung oder Erweiterung der Moderne zu verstehen, haben verschiedene Autoren mit Blick auf Konzepte, die eher als radikale Abschaffung der Moderne oder als Schaffung einer unspezifischen musikalischen Allerweltssprache gedeutet werden können, kritisch von einer oberflächlichen »Pseudo-Postmoderne« gesprochen (»Der Grundfehler dieser Pseudo-Postmoderne ist, dass sie den Pluralismus  – ohnehin ein Wort, das meist die falschen Assoziationen weckt – bloß als Auflösungslizenz und nicht als Reflexionsangebot akzeptiert und erfaßt«, Welsch 1987/2002, 81). Demgegenüber wird die spezifische Kraft und Intensität postmoderner Konstellationen oft im Sinne eines Dialogs des Verschiedenen aufgefasst. Doch dürfte heute feststehen, dass die Tendenz der Postmoderne gerade im Bereich der Musik beides förderte: einerseits die mit einigen postmodernen oder sogar modernen Momenten drapierte Antimoderne, aber andererseits künstlerische Gebilde, die für die Ergründung und Reflexion des Spektrums der Möglichkeiten stehen. Die für manche Diskussionen auch im Musikbereich anregende Schrift Die Sprache der postmodernen Architektur (1977) von Charles Jencks, die im zuletzt genannten Sinne stets von einer produktiven Postmoderne ausgeht, spricht von einer doppelt kodierten Kunst, innerhalb derer verschiedene nebeneinander stehende Ä Stile ein Postmoderne Spannungsverhältnis herausbilden. Diesen Aspekt hat mit Blick auf die Neue Musik u. a. Hans Zender spezifiziert, der davor warnte, »das ›anything goes‹ mit Restauration, Nostalgie oder gar mit einem großen Selbstbedienungsladen [zu] verwechseln – sei es aus Naivität oder cleverem Geschäftsgeist« (Zender 1989/2004, 165) und Strategien forderte, die sich deutlich von »einem unverbindlichen Potpourri« (ebd.) unterscheiden. Ein wichtiger Teilaspekt der Postmoderne-Debatten zeichnet sich in der Auffassung ab, dass nicht wenige der als postmodern zu charakterisierenden Werke zwischen »Hochkultur« und »Popkultur« zu vermitteln suchen. Wenn in Leslie A. Fiedlers viel beachtetem Essay Cross the Border – Close the Gap (Fiedler 1969/94) der Künstler als Doppelagent zwischen unterschiedlichen Kulturen dargestellt wird, so ist dies Ausdruck einer Distanz zu bildungsbürgerlichen Idealen, die in der Musikkultur bis in die Gegenwart präsent sind. Obschon der bei Fiedler ins Spiel gebrachte Aspekt der Unterhaltung durchaus auch an jene Implikationen denken lässt, die Adorno in seinen Diagnosen der Kulturindustrie als »Warenförmigkeit« der Kunst kritisierte (Horkheimer / Adorno 1944/69, 141–191), schließt dieser Ansatz aus postmoderner Sicht die Idee einer Öffnung und Vitalisierung der Kunst ebenso ein wie die Möglichkeit einer produktiven Irritation. Eine konsequent postmoderne Haltung kann indes auch eine spezifische Herangehensweise meinen, die sich im Musikbereich etwa dadurch auszeichnet, dass neben den Elementen der Kunstmusik (an diesem Begriff wird auch in der Postmoderne meist festgehalten) auch jene der Gebrauchsmusik, der Filmmusik oder des Sound Designs sowie der verschiedenen Genres der Popularkultur Berücksichtigung finden (Ä Film / Video, Ä Pop / Rock, Ä Popularität). Freilich kann man auch an diesem Punkt aus heutiger Sicht feststellen, dass die Antimoderne wohl gerade da beginnt, wo aus der postmodernen Option zur Erweiterung der künstlerischen Strategien eine unbedingte Forderung wird. Der Verzicht auf Bezüge zur Popularkultur bleibt weiterhin eine Option (Hiekel 2013b). 4. Interkulturelle Prägungen Die für verschiedene postmoderne Ansätze grundlegende Frage der Enthierarchisierung steht  – das wurde im Bereich der Diskussionen zur Neuen Musik in den letzten Jahren vermehrt deutlich – in Verbindung mit dem Feld postkolonialer Theorien, wie sie seit den späten 1970er Jahren entwickelt und seitdem nachhaltig ausdifferenziert wurden (Said 1981). Gemeinsames Ziel der verschiedenen Ansätze ist die Ablösung euro-amerikanisch zentrierter Betrachtungsweisen zugunsten einer mit den alten Zentren der westlichen Welt gleichrangigen Behandlung der 518 Postmoderne einstigen »Peripherien« und der sich an ihnen abzeichnenden Ästhetiken (Ä Themen-Beitrag 9, Ä Globalisierung). Blickt man auf den Musikbereich, sind Variabilität und Präsenz interkultureller oder transkultureller kompositorischer Ansätze in den letzten Jahrzehnten offenkundig gewachsen. Zugleich hat sich im Rahmen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Ansätzen inzwischen ein stärkeres Bewusstsein für die in postkolonialen Theorien wesentlichen Begriffsfelder wie Alterität, Hybridität oder Zentrum / Peripherie herausgebildet. Dabei liegt ein Kennzeichen der als postmodern empfundenen Situation der zunehmenden Globalisierung in der potenziellen Verfügbarkeit jedweder Musik überall auf der Welt – was sich in einer außerordentlich gewachsenen Zahl von Musikwerken mit Anleihen aus anderen Kulturen zeigt. In dieser Situation ist es in wachsendem Maße als problematisch erkannt worden, die Konzentration auf »westliche« Musik unreflektiert fortzuschreiben. Gewiss gibt es durchaus plausible Ansätze, auch in jener Neuen Musik der 1950er Jahre, der man diese Unreflektiertheit manchmal etwas pauschal unterstellt, einen Weg der Öffnung zu diagnostizieren – dies wurde etwa mit Blick auf Boulez ’ Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) versucht (Borio 2011, 128 f.). Von zentraler Bedeutung insbesondere für eine methodenbewusste interkulturelle Musikwissenschaft ist allerdings der Aspekt der Sichtbarmachung einer kulturellen Differenz (Utz 2014, 19–30, 77–88). Tendenziell wird man diese Dimension, die von einem simplen Dualismus zwischen dem jeweils Eigenen und Fremden ebenso abweicht wie von einer Einebnung oder Homogenisierung von Gegensätzen, schon deshalb eher als Kriterium der Postmoderne denn als eines der Moderne bezeichnen, weil ihr ein grundsätzlicher Widerspruch gegenüber der Verfestigung bestimmter Normen eingeschrieben ist. Von der in fast allen Bereichen der Gegenwartskultur vielfach erkennbaren Norm der Einschmelzung kultureller Gegensätze zugunsten leichter Konsumierbarkeit und Verkäuflichkeit ist sie allerdings wohl ebenso weit entfernt. Facetten der Postmodernediskussion liegt es nahe, hier zunächst an die von der Entwicklung langer kontinuierlicher Klangströme geprägte Minimal Music zu denken (Ä Minimalismus / Minimal Music), zumal diese tatsächlich zwischen Hochkultur und Popkultur zu vermitteln und mithin eine wichtige Option der Postmoderne zu realisieren suchte  – und ja gerade damit auch auf verschiedene künstlerische Strategien in Europa Einfluss ausübte. Indes schwankte im Falle dieser Musikrichtung die Virulenz des Traditionsbezugs: Die in den Anfangsjahren dominierende Distanz zur klassischen Konzertmusik, die mit dem Grundgedanken einer unpersönlichen Kunst eher auf eine moderne Haltung deutete, wurde mehr und mehr durch Versuche der Versöhnung mit der europäischen Tradition abgelöst. So kann man behaupten, dass dieser Musikstil erst im Laufe der Zeit »postmodern« wurde (zuweilen spricht man mit Blick auf minimalistische Musik seit ca. 1980 von »postminimalistischer«). Rigorosere Konzepte der musikalischen Reduktion (etwa bei Komponisten wie Jō Kondō, Antoine Beuger, Peter Michael Hamel, Jakob Ullmann, Albert Breier, Walter Zimmermann oder Ernstalbrecht Stiebler), teilweise inspiriert durch Komponisten wie etwa Luigi Nono und vor allem Morton Feldman (Wilson 2003), könnte man als das »moderne« Gegenmodell hierzu bezeichnen. Halten diese doch, wie auch manche Konzepte der Improvisation, in ihren Wegen der Verringerung der Ereignisdichte und zugleich des expliziten Traditionsbezugs bewusst Abstand zu jenem breiten Strom postmodernen Komponierens, der in verschiedensten Ländern der Welt aus der Minimal Music hervorgegangen – wenn auch keineswegs mit dieser gleichzusetzen  – ist. Doch akzeptiert man, dass zur Postmoderne nicht die Abschaffung der Moderne gehört, dann wird man solche Tendenzen auch nicht vorschnell als unzeitgemäß bezeichnen – was freilich im schon angedeuteten Sinne für Strategien der Steigerung von Komplexität, etwa im viel diskutierten Schaffen von Brian Ferneyhough, ebenso gilt. 6. Wiederholung als Prinzip 5. Reduktionen Ein wesentlicher Kristallisationspunkt der Diskussionen zur Postmoderne im Rahmen der Neuen Musik ist die Frage nach bestimmten Ausprägungen von Einfachheit. Konzepte, die sich ihr in grundlegender Weise widmen, sind zunächst summarisch als Strategien der Verringerung jener musikalischen Komplexität beschreibbar, die man vor allem in den 1960er Jahren unter dem direkten Eindruck der seriellen Musik gern als entscheidendes Signum der Moderne deutete (Ä Komplexität / Einfachheit). Angesichts der US-amerikanischen Provenienz mancher Ein weiterer wesentlicher Faktor für einen erheblichen Teil der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte ist das – zuweilen effektvolle, oft aber mit Elementen der Dekonstruktion aufwartende – Arbeiten mit Wiederholungen. Gerade an diesem Punkte wird eine Verwandtschaft mit bestimmten Prozeduren einschlägiger popmusikalischer Konzepte offenbar, sodass der prägnante Postmoderne-Slogan »Cross the Border  – Close the Gap« auch in diesem Felde tatsächlich oft als Leitspruch taugt. Dies gilt erst recht deshalb, da viele der Konzepte – die von so unterschiedlichen Komponisten wie z. B. John Adams, Louis Andriessen, 519 Bernhard Lang, Heiner Goebbels, Benedict Mason oder Michael Nyman stammen  – das in bestimmten Kontexten der musikalischen Moderne bewusst ausgeklammerte Wiederholungsprinzip produktiv zu machen verstehen. Oft geht dies erstens mit einer pointierten Mischung von Stilen und zweitens mit einer (zum Teil bewusst überforcierten) Leichtigkeit im Gestus einher. Würde man den Gegensatz der hier angedeuteten Ansätze zur Moderne zu stark betonen, liefe dies allerdings auf eine eindimensionale Moderne-Sicht hinaus. Ist doch ein stark mit Wiederholungen operierender Ansatz wie der von Igor Strawinsky (der für die genannten Komponisten wohl ähnlich wichtig ist wie für die Minimal Music) nach heutigem Verständnis keineswegs als antimodern, sondern eher als eine Form der Moderne zu rubrizieren (entsprechend dem, was auch in anderen kulturwissenschaftlichen Fächern längst als »andere Moderne« diskutiert wird). Dennoch erscheint es plausibel, bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Postmoderne und Moderne gerade an diesem Punkt von »Nachholeffekten« (Lehmann 2012, 86) zu sprechen, davon ausgehend, dass es eine Zeitlang »eine institutionell zementierte Barriere zwischen U und E in der Neuen Musik« (ebd.) gegeben hat  – die erstens natürlich jener entspricht, die auch in der klassischen Musikkultur existierte, die sich aber zweitens im Zuge der digitalen Revolution aufzulösen scheint (zumindest für den Bereich der Neuen Musik gilt dies). Ein schlüssiges Beispiel dafür bietet Bernhard Langs Umgang mit Loop-Generatoren in seinem Zyklus Differenz/ Wiederholung (seit 1998): »Die ganze Musikkultur als großes Sample-Archiv zu sehen und sich frei zu bedienen und das aber in einem postmodernen Kontext neu zu strukturieren, eine neue Grammatik dafür zu entwickeln, das sind Dinge, die ich direkt aus der Popmusik entnehme […]« (zit. nach ebd.) 7. Umgang mit Traditionsbezügen Der Umgang mit Traditionsbezügen  – und hier vornehmlich Bezügen zur abendländischen Musikgeschichte  – markierte seit etwa Ende der 1970er Jahre einen bevorzugten Aspekt der musikwissenschaftlichen Postmoderne-Diskussionen. Reflektiert (und meist kritisch behandelt) wurde dabei auch das Phänomen der sog. »Neuen Einfachheit«, das für die Suche nach einem neuen Verhältnis von Fortschritt und Tradition zu stehen schien (Kolleritsch 1981). Gegenüber der Komplexität und Antisubjektivität der vorangegangenen Avantgardekonzepte artikulierten einige der damals jungen deutschen Komponisten – wie etwa Hans-Jürgen von Bose, Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn  – eine deutliche Distanz, dies vor allem mit Blick auf die in serieller und postserieller Mu- Postmoderne sik geübte Praxis des weitgehenden Verzichts auf Tonalität und auf herkömmliche Expressivität. Der Terminus »Neue Einfachheit« (Ä Komplexität / Einfachheit) wurde allerdings von Anfang an eher von journalistischer und (nur punktuell) von musikwissenschaftlicher Seite verwendet (1978 veranstaltete der WDR in Köln eine Konzertreihe unter diesem Titel), von den genannten Komponisten dagegen abgelehnt. Das geschah aus zumindest zwei Gründen: zunächst deshalb, da sie im Epitheton »Neu« eine Kontinuität zum Neuheitsanspruch der Nachkriegsavantgarde sahen, dem manche von ihnen sich nicht unhinterfragt fügen wollten, vor allem aber deswegen, weil der Begriff Einfachheit nur unzureichend die eigentlichen Intentionen repräsentiert. Rihm etwa ging es – und geht es bis heute – ausdrücklich nicht um eine schlichte (etwa strukturelle) Einfachheit, sondern um komponierte Vielfalt. Rihms Komponieren, das im besonderen Maße Momente des subjektiv-emphatischen Ausdrucks enthält, basiert auf weit gestaffelten Bezügen zu sehr unterschiedlichen Traditionen, vorzugsweise solchen des 19. Jh.s. Dahinter steht jedoch unüberhörbar das Ziel einer wesentlichen Erweiterung der gestalterischen Möglichkeiten jenseits bestimmter Tabus (etwa dem Konsonanzverbot) oder struktureller Einschränkungen, freilich um einer kreativen Form der Wiederaneignung willen, die auch erhebliche Momente der Neubestimmung (Kolleritsch 1993; Hiekel 2007) einschließt oder sogar vor allem auf diese zielt. »Der regressive Habitus ist uns zutiefst verhaßt«, lautet daher auch ein Kernsatz von Rihms entschiedenem Widerspruch gegen den Begriff »Neue Einfachheit« und die mit ihm manchmal assoziierte konservative Haltung (Rihm 1977/97, 356). Unzweifelhaft hat der internationale Erfolg eines Komponisten wie Rihm auch Komponisten der nachfolgenden Generationen  – in Deutschland etwa Matthias Pintscher oder Jörg Widmann  – dazu ermutigt, Ausdrucksmomente in ihre Musik zu integrieren, die zumindest auf den ersten Blick weit eher an die Romantik als an die Moderne der 1950er Jahre erinnern. Dabei können sie gerade bei Widmann (wie schon bei Rihm) vielfach als bewusste Überpointierungen und kreative Reflexion von »experimentellen« Momenten der romantischen Musik – etwa jener Robert Schumanns – angesehen werden (Hiekel 2010, 2013c), die lange Zeit übersehen wurden. Dies geschieht in einer Weise, die zwar im Kontext serieller Musik (und auch vieler anderer Strömungen der Neuen Musik) undenkbar wäre, sich jedoch deutlich von antimodernem Traditionalismus unterscheidet. Die Traditionsbezüge im Schaffen von Rihm oder Widmann sind überdies nur in Einzelfällen ironisch grundiert und zeichnen sich weithin durch eine deutliche, zuweilen be- 520 Postmoderne wusst überforcierte Expressivität aus, die zudem auch von Adornos Idee einer »musique informelle« beeinflusst ist (Adorno 1962/78). Ein wesentlicher Aspekt einiger Werke vor allem jüngerer Komponisten, der das Schlagwort von der »Neuen Einfachheit« problematisch erscheinen lässt und doch auf ein Merkmal der Postmoderne deutet, besteht dabei im virtuosen Verfügen über nahezu alle denkbaren Strategien modernen Komponierens und in einer hieraus resultierenden Vielschichtigkeit – im Falle Widmanns oder Pintschers reicht das Spektrum der verwendeten Elemente bis hin zu Bezügen zu Helmut Lachenmanns Konzept einer Ä musique concrète instrumentale. Vielschichtigkeit ist ein Erkennungsmerkmal auch zahlreicher anderer postmoderner Reflexionen der Tradition, die ebenfalls das Denken der Moderne nicht verleugnen. Zu denken ist hierbei etwa – um nur wenige einschlägige Beispiele aus der europäischen Neuen Musik zu nennen  – an Luciano Berios Sinfonia (1968–69), die gar als »postmodernes Meisterwerk par excellence« bezeichnet wurde (Mahnkopf 2008, 27), Peter Maxwell Davies ’ Musiktheaterstück Eight Songs for a Mad King (1969), Rihms Musik für drei Streicher (1977; Kawohl 2000, 145–148), Sofia Gubaidulinas Violinkonzert Offertorium (1980–86), György Ligetis Trio für Violine, Horn und Klavier (1982), Zenders Dialog mit Haydn für zwei Klaviere und drei Orchestergruppen (1982–83), Dieter Schnebels Sinfonie X für Orchester (1987–92) oder Henri Pousseurs Dichterliebesreigentraum für zwei Klaviere, Sopran, Bariton, Kammerchor und Kammerorchester (1992–93; Hiekel 2010). Typisch für einige dieser Werke ist, dass sie (in freilich wechselndem Maße) emphatische Momente mit ironischen verbinden. Sie entsprechen damit jener bewusst ambivalenten Grundhaltung, wie sie von einigen Theoretikern als Kennzeichen der Postmoderne beschrieben wurde (Eco 1984). Im Gegensatz zu auftrumpfend antimodern-pathetischen Konzepten mancher anderer Komponisten (wie etwa manche Werke von Krzysztof Penderecki, vgl. Danuser 2011) bringen die genannten Komponisten immer wieder auch bewusst irritierende Momente der Dekonstruktion zur Geltung. Doppelbödige Verknüpfungen unterschiedlicher musikgeschichtlicher Ebenen hat es gewiss auch in früheren Zeiten immer wieder gegeben. Aber solche Momente treten in der Postmoderne besonders hervor, werden zu einem ihrer Erkennungsmerkmale. Dies gilt nicht zuletzt auch für einige kreative Adaptionen älterer Werke (etwa von Zender, Schnebel, Berio, Isabel Mundry, Georg Kröll, Johannes Schöllhorn, Sarah Nemtsov oder Georg Friedrich Haas), die mit dem Untertitel von Zenders häufig aufgeführter Bearbeitung von Schuberts Winterreise (1993) als »Komponierte Interpretationen« bezeichnet werden können und dabei in manchen Fällen (besonders deutlich etwa im Werk von Rolf Riehm) an die Idee des bewussten »misreading« (Straus 1990; Riehm 2010) denken lassen. 8. Pluralismus und Polystilistik Zu den oft verwendeten Schlagwörtern, die auf Möglichkeiten der Integration traditioneller Elemente deuten, gehören die sich teilweise überschneidenden Begriffe Pluralismus, Zitatkomposition und Ä Polystilistik. Wenngleich sie durch unscharfe Verwendung zuweilen eher zur Verschleierung als zur Erhellung beitragen, lassen sich an ihnen wesentliche Perspektiven postmodernen Komponierens andeuten. Ins Blickfeld rückt dabei einerseits der in der Architekturtheorie von Charles Jencks als Signum der Postmoderne klassifizierte Aspekt der Mehrfachkodierung. Besonders der Begriff Pluralismus, im politischen Bereich auf die legitime Vielfalt miteinander konkurrierender Wertsysteme und gerade damit auf eine wesentliche (vor allem für die Zeit nach 1989 reklamierte) Dimension der Postmoderne deutend, hat sich in manchen Beschreibungen im Musikbereich seit etwa 1965 als Formel für die Verfügbarkeit einer charakteristischen Vielfalt von Stilen etabliert. Welsch hat darüber hinaus versucht, das typisch Postmoderne auch innerhalb eines Werkes mit dem Begriff des Pluralistischen zu fassen: als »ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen […] in ein und demselben Werk« (Welsch 1987/2002, 17). Die oft als Zitatkomposition bezeichnete Idee, in deutlich hervorstechender Weise Zitate in einem Musikwerk zu verankern, kann als Sonderfall pluralistischen Komponierens bezeichnet werden, für den Bernd Alois Zimmermanns Zitatstück Musique pour les soupers du Roi Ubu (1966) als Referenzwerk herangezogen werden kann. Als Musterfall postmodernen Denkens erweist sich das Prinzip von Ä Collage und Montage wohl vor allem dann, wenn sich tatsächlich Anzeichen einer Vermittlung zwischen Hochkultur und Unterhaltungskultur diagnostizieren lassen. Paradigmatisch hierfür stehen Montage-Werke wie Luc Ferraris elektronische Komposition Strathoven (1985), die einerseits eine substanzielle musikgeschichtliche Reflexion über das Zusammentreffen der Komponisten Beethoven und Strawinsky bietet, dies aber mit einem spielerisch-gefälligen Umgang mit heterogenem (Zitat-)Material verbindet. Die Konvergenz vor allem von elektroakustischer Musik, in jüngerer Zeit aber auch von zahlreichen Werken mit Videoelementen (Ä Film / Video) mit diversen Praktiken der populären Kultur – namentlich etwa der Grundausrichtung der DJKultur – liegt auf der Hand. Und gerade sie ist in den letz- 521 ten Jahrzehnten immer weiter ausgespielt und verstärkt worden. Diese als Indiz der digitalen Revolution deutbare Tendenz der Neuen Musik führte sogar zu der Diagnose, dass hier die musikalische Postmoderne, die »bislang […] halbherzig ausgefallen« sei (Lehmann 2012, 86) erst wirklich eingelöst werde. Im Zusammenhang mit der Integration heterogener Materialien liegt es überdies aber nahe, gewisse Einflüsse postmodernen Denkens sogar auch bei Werken zu diagnostizieren, die eher mit der Tradition der Moderne assoziiert werden. Dies gilt zum einen etwa für die mit auskomponierten Widersprüchen und einer existenziellen Grundhaltung operierenden Schichtenkompositionen Bernd Alois Zimmermanns (die ähnlich wie manche Werke im Schaffen von Charles Ives viele postmoderne Konzepte anderer Komponisten inspirierten), zum anderen aber wohl sogar für die trotz ihrer kritischen Grundhaltung spielerischen Momente des Umgangs mit Tradition bei Komponisten wie Lachenmann oder Nicolaus A. Huber. Beschreibt man indes das Postmoderne eher im Sinne einer Versöhnung unterschiedlicher kultureller Sphären, wird man eher andere Werke als typisch postmodern ansehen, namentlich etwa die polystilistischen Werke von Alfred Schnittke (Flechsig / Weiss 2013) und einiger von diesem beeinflusster Komponisten. Gerade in diesem Kontext bestätigt sich – noch mehr wohl als bei den meisten anderen bislang aufgezeigten Strategien  – die geläufige Beobachtung, dass postmoderne Gestaltungen oft stark von Ironie geprägt sind (Ä Humor, 3.). Vergleichbares gilt allerdings  – und auch dies spricht gegen einen allzu eindimensionalen Begriff postmoderner Ironie  – für die signifikanten postmodernen Konstellationen im Schaffen von Mauricio Kagel sowie in der von diesem ausgehenden Tradition des Ä Instrumentalen Theaters. Kagel ist dabei seinerseits von John Cage inspiriert worden, dessen Ansatz zwar meist eher als US-amerikanische Moderne bzw. »experimentelle Musik« rubriziert wird, aber doch auch mit einigen Aspekten postmodernen Denkens konvergiert (Danuser 1993). Zu erwähnen ist hier einerseits die ironische Distanz gegenüber den tradierten Hierarchisierungen innerhalb des europäischen Musikdenkens, einschließlich den Usancen der Präsentation im Ä Konzert, andererseits ein eklektischer Umgang mit musikalischen (und philosophischen) Traditionen (Ä Themen-Beitrag 3). 9. Zweite Moderne oder fortgesetzte Postmoderne? Mit Blick auf manche der im vorliegenden Beitrag als Facetten postmodernen Musikdenkens angedeuteten Revisionen der Moderne wird in einigen Darstellungen der Ausdruck »Zweite Moderne« dem der Postmoderne bewusst vorgezogen (Bohrer / Scheel 1998; Ruzicka 2004; Postmoderne Lehmann 2006, 2009; Mahnkopf 2007). Dieser ebenfalls in architekturtheoretischen Diskussionen geprägte Begriff (Klotz 1994), der wohl eine gewisse Plausibilität besitzt, sich in den Diskussionen zur Gegenwartsmusik aber bislang nicht durchgesetzt hat, nimmt seinen Ausgang bei der Überlegung, dass auch die Postmoderne, obschon manchmal im Sinne Lyotards mit dem »Ende der Geschichte« gleichgesetzt, von einer nachfolgenden Epoche abgelöst werden wird – oder bereits abgelöst wurde. Akzeptiert man freilich, dass die Postmoderne kein Bruch mit der Moderne, sondern deren kritisch redigierende Fortsetzung ist, die an ihre inhärenten pluralen Momente anknüpft und wie diese auf die Veränderung von Rezeptionsgewohnheiten reagiert, dann erscheint die oft gestellte Frage nach dem Ende der Geschichte nicht von größter Dringlichkeit. Gewiss ist bei vielen Komponisten oder Theoretikern längst nicht mehr jener emphatische Nachdruck vorhanden, mit dem sich etwa Carl Dahlhaus in seinem 1970 erschienenen Buch Analyse und Werturteil auf das berief«, was »geschichtsphilosophisch ›an der Zeit ist‹« (Dahlhaus 1970/2001, 27). Und doch kann ein Interesse für die eigene Gegenwart auch heute noch als integraler Bestandteil eines erheblichen Teilbereichs der Neuen Musik vorausgesetzt werden. Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie; Konzeptuelle Musik; Moderne; Neue Musik Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ ders.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, 492–540 „ Bohrer, Karl-Heinz / Scheel, Kurt (Hrsg.): Postmoderne. Eine Bilanz, Merkur 52/9–10 (1998) „ Borio, Gianmario: Vom Ende des Exotismus, oder: Der Einbruch des Anderen in die westliche Musik des 20. Jh.s, in: Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik, hrsg. v. Andreas Meyer, Mainz 2011, 114– 134 „ Dahlhaus, Carl: Analyse und Werturteil [1970], in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Laaber 2001, 11–76 „ Danuser, Herrmann: Die Musik des 20. Jh.s (NHbMw 7), Laaber 1984 „ ders.: Die Postmodernität des John Cage, in: Wiederaneignung und Neubestimmung – der Fall »Postmoderne« in der Musik (StWf 26), hrsg. v. 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Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, 157–165 Jörn Peter Hiekel Posttonalität Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität Psychoakustik Ä Akustik / Psychoakustik Punktuelle Musik Ä Serielle Musik 523 Rezeption R Raum Ä Themen-Beitrag 6 Reihenkomposition Ä Serielle Musik; Zwölftontechnik Rezeption Inhalt: 1. Unhörbarkeit „ 2. Rezeptionsmuster 1. Unhörbarkeit Neue Musik ist mitunter bei Musikliebhabern, die Klassik, Jazz oder Pop bevorzugen, mit eher negativen Vorzeichen versehen. Selbst für diejenigen, die sich moderner Kunst annähern möchten, besitzt sie meist nicht dieselbe unmittelbare Evidenz wie etwa zahlreiche Produktionen der bildenden Kunst, und das Mäzenatentum ist im Bereich der neuen Musik ebenfalls weniger verbreitet. Wenn Komponisten in jüngerer Literatur als Romanfiguren verwendet werden, wie in Kingsley Amis ’ Girl, 20 (1971, von Leonard Bernstein inspiriert), Ian McEwans Amsterdam (1999), Hans-Ulrich Treichels Tristanakkord (2001, von Hans Werner Henze inspiriert), sind sie zumeist AntiHelden. Will man Walter Benjamin folgend den Begriff der neuen Musik und ihrer Rezeption »vom Extremen her« definieren (Benjamin, 1925/91, 215), so kann man von der Ä seriellen Musik ausgehen, der in dieser Hinsicht eine paradigmatische Bedeutung zukommt. Sehr früh wurde der Vorwurf erhoben, ihre extreme Systematisierung führe dazu, dass sie unhörbar und unverständlich werde, und dies nicht nur von Laien oder Musikkritikern, sondern auch von Experten. Theodor W. Adorno konstatiert in einer »alle Parameter vereinheitlichende[n] Komposition« (von Karel Goeyvaerts) einen »Mangel an musiksprachlicher Bestimmtheit« und sucht vergeblich nach »so generelle[n] Kategorien wie Vorder- und Nachsatz« (1961/78, 504). Paul Hindemith spricht 1955 von einem Verschwinden der Referenz auf Vokalität in der Musik, was zu der »falschen Freiheit« von Ä Zwölftontechnik, serieller Musik und Ä elektronischer Musik geführt hätte, die in Monotonie, Grau in Grau und Leere einmündete; diese neue »musica reservata« werde künstlich vom Rundfunk unterstützt; ein Gegenmodell bleibt Béla Bartók (Hindemith 1955/94). Iannis Xenakis kritisiert im gleichen Jahr die Komplexität serieller Musik, die es dem Hörer nicht ermögliche, den verschlungenen Linien zu folgen; sie zeitige »als makroskopischen Effekt eine irrationale, zufällige Streuung der Töne im gesamten Tonspektrum« (Xenakis 1955/96, 600). Kohärenz könne dagegen durch Errechnung von statistischen Mittelwerten und die Verwendung von »Botschafts-Signalen« erreicht werden: »Ausgangsort und Zielpunkt ist […] stets der Mensch« (ebd.). Modelle sind für ihn Edgard Varèse und der Ä Jazz. Der Linguist Nicolas Ruwet analysiert 1959 die »Widersprüche der seriellen Sprache«: Uniformisierung, Wahrnehmung von Objekten, die zufällig wirken, weil die Musik keine allgemeingültigen Phoneme und Morpheme kennt (Ruwet 1959/60). György Ligeti legt 1960 eine subtile Kritik der gleichen Widersprüche vor: Abschleifung der Physiognomie der Intervalle, Auswechselbarkeit der Formteile, Nivellierung, Angleichung der Ä Zeit an den Raum führten dazu, dass die Form einem »Teppich« ähneln könne (1960/2007, 101). Unter den psychologischen Ansätzen bilden Arnold Ehrenzweigs positive Bewertung der Anstrengung, die das Hören neuer Musik erfordert (1967), und die relativ positive Einschätzung bei Theodor Warner (1969) eher Ausnahmen. Ernest Ansermet sucht sie mit phänomenologischen und gestaltpsychologischen Argumenten vom Tisch zu fegen (1961). Differenzierte Zugangsweisen sind erst später zu finden (Mosch 1997, 2004; Bigand / Delbé 2010, 44 f.: Musikalische Hörer bemerken sehr wohl den Unterschied zwischen streng und nicht streng komponierten Ausschnitten serieller Musik). Das Extrem der »unverständlichen« seriellen Musik wird in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in zahlreichen konservativ orientierten Manifesten und Polemiken als pars pro toto jeglicher innovativen, experimentellen, avantgardistischen oder atonalen Musik benützt. Jacques Chailley sieht in der Gleichgültigkeit von Bestrebungen, »die immer nur Spezialisten begeistern«, eine »Quelle von Bedrohungen der Kunst« (zit. nach Dibelius 1998, 286). Peter Jona Korn spricht 1981 von einer »musikalischen Umweltverschmutzung« (1981), der französische Musikjournalist Benoît Duteurtre polemisiert in seinem Requiem pour une avant-garde (1995) gegen Boulez, der amerikanische Komponist Michael Alec Rose hält Adornos Diktum von der Unmöglichkeit des Schreibens von Gedichten nach Auschwitz die Notwendigkeit des Singens gegenüber: »Modernism reaches its peak of negative capability  – and its absurd limits  – with this moral outrage against song of any kind. The lyrical impoverishment of music is a willful act of ascetism, whereby the postwar saints of modern music take upon themselves the role of 524 Rezeption the scourge, whipping music history into a shape that justifies their own austere machinations against sound. Boulez enjoyed a specially privileged position to do this. […] Concert music of these cold, Cold-War decades subsists below the minimum wage of musical coherence, beneath the level of what is actually listenable […], determinedly homeless and inevitably deranged in its own hermitage« (Rose 2010, 77 f.). Diese Sätze sind ein Konglomerat der anti-modernen Doxa, mit den Topoi der Negativität, der Melodie- oder Formlosigkeit, des »Ghettos« der neuen Musik, der Fortschrittsgläubigkeit und Umschreibung der Geschichte seitens ihrer Protagonisten. Gern wird in diesem Zusammenhang, auch noch Jahrzehnte später, Boulez ’ Bemerkung von 1952 zitiert, jeder Komponist, der nicht die Notwendigkeit der Zwölftonmusik verspüre sei »UNNÜTZ« (Boulez 1952/72, 24, vgl. Parsons 2003). Zunehmend haben Komponisten seit den 1960er Jahren auf den Vorwurf der Unhörbarkeit nicht mehr ausschließlich mit dem Verweis auf die Kohärenz und »Organizität« ihrer Werke reagiert  – »organization as such becomes […] a goal and a value«, so Roger Sessions (1956/79, 59) – sondern mit Hörtheorien. Milton Babbitt 1958 kontert in seinem Essay Who Cares if You Listen? mit der Vorstellung eines Laboratoriums, in dem eine spezialisierte Musik entsteht, die nur jene Hörer verstehen können, die entsprechend geübt sind, ebenso wie sich niemand ohne Vorbildung zu Theorien zur Quantenphysik äußern kann (Babbitt 1958/2012). Karlheinz Stockhausen verlangt von dem Hörer seines Klavierstücks I dagegen nur die Wahrnehmung von globalen Bewegungen, Gegensätzen oder Dichtegraden (Stockhausen 1955/63), jedoch eine neue Hörhaltung bei »Momentformen«, so in dem Werk Kontakte (1958–60), das »keine durchlaufende Geschichte erzählt, nicht an einem ›roten Faden‹ entlang komponiert ist […], sondern wo jeder Moment ein mit allen anderen verbundenes Zentrum ist, das für sich bestehen kann. […] Das jedem Kriminalreißer zu entnehmende Schema, den Täter möglichst vor dem Ende des Buches zu entlarven«, wird hier durchbrochen (Stockhausen 1960/63, 190). Der Kommentar zu In Freundschaft (1977) kehrt dann wieder zum Ideal eines analytischen Hörers zurück, der genau nachvollzieht, was in der Partitur steht (Stockhausen 1980/89), ebenso wie die meisten Texte zu diesem Thema von Helmut Lachenmann (Kaltenecker 2012) von Theodor W. Adornos Ideal eines »strukturellen« Hörens ausgehen. Boulez spricht in Bezug auf seine eigenen Stücke von abwechselnd klaren und komplexen Strukturen, also von einer »totalen« oder nur »globalen« Wahrnehmung (Boulez 1976/77, 73 f.). Er konzipiert während der Komposition von Répons für sechs Solisten, Ensemble und LiveElektronik (1981–84/85) ein die Rezeption erleichterndes System von »Signalen« und »Hüllen«, die den Formverlauf klar markieren sollen (Goldman 2003). 2. Rezeptionsmuster Die Rezeptionsforschung im Bereich der Literatur kennt den Begriff des »Erwartungshorizonts« (für eine Anwendung in der Musikwissenschaft vgl. Everist 1999; Utz 2013), den man auch als ein Rezeptionsmuster beschreiben kann, das wie ein Filter aus gattungsbedingten, ästhetischen oder politischen Kategorien funktioniert. Eins der wichtigsten Muster ist das der suspekten Schönheit. Dass Musik nicht zu schön sein darf, ist zugleich eine typisch deutsche Denkfigur. Ein Werk wird nur dann als glaubwürdig und gelungen betrachtet, wenn es seiner eigenen Perfektion entgegenwirkt. Diese idée fixe der deutschen Ästhetik ließe sich bei ganz verschiedenen Denkern nachweisen. Ernst Jünger schreibt: »In einem Werk unserer Zeit muß […] zu spüren sein, daß die Welt nicht in Ordnung ist. Ein Opfer oder eine Entschuldigung an Apoll. Die romantische Trauer genügt nicht mehr; der Schatten muß existenziell werden. In solchen Zeiten kann der Anschein oder die Vorspiegelung des Perfekten sogar verletzen – da wird etwas verschwiegen, fehlt etwas. Die Perfektion nähert sich der Technik – das heißt: die Verletzung an sich« (1981, 482 f.). Adorno schreibt: »Kunstwerke obersten Ranges unterscheiden sich von den anderen nicht durchs Gelingen […], sondern durch die Weise ihres Misslingens« (1993, 149) und er vermischt im Begriff des »Scheins« Hegel und Hollywood: Die Synthese ist Komplizenschaft, das Abgerundete und Gelungene eo ipso Ideologie oder Kitsch. Die Vorstellung eines immanent oder intrinsisch politischen Werts oder Unwerts der Musik will Adorno von einer Definition des Ä »Materials« als »eingewanderte Geschichte« herleiten (ebd., 187), was eben durch Risse und Brüche im Werk erkennbar gemacht werden soll. Adornos Kategorien und sein Jargon bestimmen in Westdeutschland weitgehend die Rezeption (vgl. Metzger 1980) und Produktion der neuen Musik bis in die 1980er Jahre hinein; Peter Ruzicka z. B. bemerkt später, dass er ganz in Adornos Kategorien befangen gewesen sei (Vogt 1984, 21). Zwar kommt Kritik aus verschiedenen Lagern: In den 1960er Jahren wird dem Autor der »Gegängelten Musik« oft die direkte Verwendung von politischen Liedern à la Hanns Eisler entgegenhalten (so etwa in der Zeitschrift Kunst und Gesellschaft), während Ligeti das System der Musik mit dem der Mathematik vergleicht: Werke könnten nur durch vertonte Texte oder Einsatz in gewissen Kontexten politisch werden (Ligeti 1973/2007, 232–236). Das Rezeptionsmuster der suspekten (weil depolitisierenden) Schönheit bleibt jedoch beherrschend. 525 Es gerinnt bei Nicolaus A. Huber und anderen zu Beginn der 1970er Jahre zur Vorstellung eines »kritischen Komponierens« (Huber 1972/2000; Nonnenmann 2005), die eine raue Oberfläche und einen gewissen Grad von »Unhörbarkeit« voraussetzen. Dieser Erwartungshorizont erklärt sowohl die positive Rezeption pathetischer Musik (Expressivität als Betroffenheit eines implizit politischen Subjekts) als auch die oft negative Rezeption von Musik aus anderen Ländern in den Kreisen der westdeutschen neuen Musik, etwa des amerikanischen Ä Minimalismus (Kutschke 2007, 260–287). Was Virgil Thomson 1946 den »internationalen atonalen Stil« nannte (1940–54/2014, 516) konnte dieses herrschende Rezeptionsmuster nicht ins Schwanken bringen, wie man anhand der deutschen Rezeption von Boulez zeigen könnte, die weitgehend von Herablassung und Häme gekennzeichnet war (Metzger 1980; Boehmer 1998; anders dagegen Huber 1997, 84) oder zu Parodien verleitete (Henze, Elegie für junge Liebende, 1961: Imitation von Boulez ’ Pli selon pli, 1957–62 in der Musik der überspannten Hilda; Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, 1991–96: Imitation elektronischer Musik, so wie sie im IRCAM produziert wird, sobald es um Juwelierläden, Glanz und Verkaufen geht; vgl. zum »Juweliersdenken« und der Kritik an dessen »affirmativer Ideologie« bei Lachenmann Nonnenmann 2000, 240). Die Verurteilung französischer Werke als zu schön, als ornamental, oberflächlich oder gar hedonistisch bestimmt noch in den 1990er Jahren weitgehend die deutsche Rezeption der musique spectrale (Ä Spektralmusik). Diesem Paradigma stehen andere Rezeptionsmuster gegenüber, wie etwa die pragmatische Definition des Schönen als des »Interessanten« bei Xenakis (1994), das Bestreben einer Synthese des Alten und Neuen oder das Erzielen einer Kontinuität der ästhetischen Erfahrung mit den Erfahrungen der Lebenswelt (Dewey 1934), die weitgehende Eliminierung sämtlicher »outré qualities« in der englischen Musik (so Brian Ferneyhough, in Griffiths 1985, 70) oder das spezifische Avantgarde-Verständnis in den USA. Dieses erhellt etwa die Webern-Rezeption in Amerika: »The Americans […] were not so much interested in how Webern ’ s music was written and constructed, as in how it sounded. They found that his music was made up of a unique dialectic between sound and silence, that the sounds were heard in silence, that silence was an integral part of the musical fabric« (Nyman 1981, 33). In diesen Zusammenhang gehört auch Morton Feldmans Aversion gegen Boulez und Stockhausen und Tom Johnsons ironische Abwertung des »structural rigmarole« [StrukturGeschwätz] europäischer Provenienz (1989, 137). Für Richard Taruskin stehen im 19. Jh. Beethoven und Wagner für eine Kultur des »Erhabenen«, Bizet, Verdi und Rezeption Tschaikowsky dagegen für eine Kultur des »Schönen« (1997, 256 f.). Letztere werde von den historischen Avantgarden abgewertet, was im 20. Jh. zu einer Spaltung der Kunstmusik in ein modernistisches (utopistisches, antihumanistisches, experimentelles) und ein postmodernes Lager geführt hätte, personifiziert von Schönberg, Elliott Carter oder Milton Babbitt einerseits und von Dmitri Schostakowitsch, Benjamin Britten und des Ä Minimalismus andererseits. Taruskin versteht dies als »master narrative« (2005, XI). Dies ließe sich auch anhand der komplexen Rezeption von Henze in Westdeutschland belegen, an dessen eigenen Äußerungen zur Schönheit (1996, 85), seiner Berufung auf Mozart (ebd., 73), und seinem Disput mit Lachenmann (Lachenmann 1982/96). Die weitgespannte Perspektive von Taruskin lässt erkennen, dass Rezeptionsmuster nicht nur die Ä Wahrnehmung durch Hörer und Kritiker und die Selbstwahrnehmung der Komponisten steuern, sondern mit der kompositorischen Praxis eng verflochten sind, da diese sich auf bestimmte Hörhaltungen hin orientiert und sie ihrerseits hervorrufen will. Rezeptionsmuster greifen also sowohl in die Rezeption als auch in die Produktion ein. Bei Lachenmann etwa untermauert Adornos Idee der »Brechung« des Materials (hier des schönen, »philharmonischen« Klangs) die Erfindung der Ä musique concrète instrumentale und den Wunsch nach einer spezifischen Rezeptionsweise, die er Wahrnehmung nennt: Der Hörer soll die Behandlung des Materials durch Brechung und / oder Reaktivierung von vorgegebenen, konventionellen Kategorien nachvollziehen, er »muß sich befreien durch Eindringen in die Struktur des zu Hörenden als bewusst ins Werk gesetzte, freigelegte, provozierte Wahrnehmung« (Lachenmann 1990/96, 91). Diskurse werden in diesem Sinne im Werk selbst aktiv. Ä Themen-Beitrag 1, 3; Musikjournalismus; Popularität; Wahrnehmung Adorno, Theodor W.: Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 1993 „ ders.: Vers une musique informelle [1961], in: Quasi una fantasia – Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. 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Allerdings kann Musik »ohne« Rhythmus und / oder »ohne« Metrum und / oder »ohne« Tempo gedacht und wohl auch entsprechend rezipiert werden, etwa in gänzlich unrhythmisierten Klangflächen, in punktuellen, durch Stille isolierten Klangereignissen, die jegliches Gefühl für zeitliche Zusammenhangsbildung unterlaufen (Ä Zeit, 2.4), oder in hochkomplexen Strukturen, die weder deutliche Rhythmusgestalten noch metrische Periodizität oder ein Gefühl von Tempo entstehen lassen (wollen). In den Poetiken einer »Überwindung der Zeit«, wie sie von zahlreichen Komponisten des 20. und 21. Jh.s mittels unterschiedlicher Strategien verfolgt wurden, ging es häufig (auch) um eine Dekonstruktion musikalischer Temporalität, d. h. um die Suche nach Al- 527 ternativen zu rhythmischer Gestalthaftigkeit, metrischer Ordnung und Tempoempfinden (Saxer 2005). Explizit verfolgt wurden solche Ziele, ausgehend von der »Emanzipation des Rhythmus« seit dem frühen 20. Jh. (vgl. 2.), in serieller und postserieller Musik (vgl. 3.). Zu den wesentlichen Grundlagen serieller Zeitgestaltung gehört daneben die Vorstellung eines Kontinuums zwischen Tonhöhe und Dauer, das z. B. bei Karlheinz Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann – beeinflusst durch die Arbeit im elektronischen Studio bzw. zeitphilosophische Überlegungen – auch die Übertragungen von Strukturformen (z. B. chromatische Dauernskala, Tempooktave etc.) aus dem Tonhöhen- in den Dauernbereich legitimiert (Frobenius 1979, 5 f.). Zu neu entdeckten Dimensionen der Zeitorganisation zählt außerdem die ebenfalls seit dem frühen 20. Jh. zu beobachtende Tendenz zu Polymetrik und Polytempik, bei der auch die Rezeption außereuropäischer Rhythmuskonzepte eine zentrale Rolle spielte, oft in Zusammenhang mit der Konzeption von Musik in Schichten, deren Separierung durch differierende Zeitorganisation bewerkstelligt wurde (vgl. 4.). Dies führte auch zur Komposition von »Zeitfeldern«, bei denen nur die globale Dauer, aber nicht die Ordnung oder genaue Struktur der Detailereignisse festgelegt sind bzw. die – im Falle von Stockhausens »Gruppenkomposition« – als formal wirksame »übergeordnete Erlebnisqualitäten« wahrgenommen werden (Stockhausen 1955a / 63, 63) (Ä Form, 2.). Während Rhythmus und Metrum schon im 19. Jh. und dann verstärkt in der frühen Ä Moderne zu erheblicher Komplexität gesteigert wurden, woran die Ä Avantgarden nach 1945 anknüpfen konnten, trat mit der Einführung von sukzessiven Tempoveränderungen über längere Strecken und ggf. ganze Kompositionen ein originärer Gestaltungsaspekt auf, der zu erheblichen neuen Herausforderungen für die Ausführenden führte (vgl. 5.). Schließlich erlebte der Aspekt der (metrischen oder ametrischen) Pulsation  – durch die »rhythmische Prosa« der seriellen Musik weitgehend ausgeklammert  – spätestens seit den 1960er Jahren eine beträchtliche Renaissance quer durch divergierende Stile und Tendenzen (vgl. 6.). Die musikalischen Zeitdimensionen hatten in der musica mensurabilis, der Proportionslehre und der Modal- sowie Mensuralnotation des Mittelalters und der Renaissance zu einem ausgreifenden Theoriekorpus geführt, der auch auf die Praxis zurückwirkte und seit dem 14. Jh. zu hochkomplexen Formen wie Isometrie, Prolations- und Mensurkanon oder anderen polymensuralen Strategien führte. Die offenkundige Vernachlässigung der Zeitdimension in einem Großteil des neuzeitlichen Theoriekorpus hingegen motivierte spätestens seit Moritz Hauptmann und Hugo Riemann zahlreiche Musiktheore- Rhythmus / Metrum / Tempo tiker zu – meist universalistisch konzipierten – Theorien des musikalischen Rhythmus, die nach 1945 vor allem in kognitivistisch und phänomenologisch inspirierten Systementwürfen kulminierten (Cooper / Meyer 1960; Berry 1976, 301–424; Lerdahl / Jackendoff 1983/94; Kramer 1988; Hasty 1997; London 2004; Petersen 2010). Zugleich wurden Rhythmus-, Metrum- und Tempoempfindung von musikpsychologischer Seite auch empirisch untersucht (Parncutt 1994; Epstein 1997; London 2001; Drake / Parncutt 2001). Übergreifende Darstellungen für die jüngere Musikgeschichte stehen zwar noch aus, mehrere Spezialstudien haben aber umfangreiches Material aufgearbeitet, u. a. zur seriellen Zeitorganisation (Decroupet 1997, 2009; Delaere 2009; London 2009; Delaere u. a. 2012). Grundlegend für die Definition des Rhythmus ist die Vorstellung von Dauer als Bezeichnung für die Erstreckung eines Klangereignisses in der Zeit (Frobenius 1979). Rhythmus entsteht bei Folgen von mindestens zwei oder mehr Klangereignissen von gleicher oder unterschiedlicher Dauer in der Zeit. Dabei ist die Dauer eines (klingenden) Ereignisses (Klangdauer) vom Einsatzabstand (Zeitintervall) zwischen zwei Ereignissen zu unterscheiden, die auch durch Stille getrennt sein können (die Folge Achtelklang-Achtelpause-Viertelklang-Viertelpause-Viertelklang ergibt die Dauern Achtel-Achtel-Viertel-ViertelViertel, aber die Einsatzabstände Viertel-Halbe). In der musikpsychologischen Forschung wird der Einsatzabstand als IOI (Inter-Onset Interval) bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen Dauer und Einsatzabstand wurde ausgehend von Olivier Messiaens Theorieentwurf besonders in der seriellen Musik wichtig und markierte eine Tendenz zu wahrnehmungsorientiertem Komponieren (Messiaen 2012, 25; Stockhausen 1953/63, 1955b / 63; Ä Zeit, 1.). Eine Folge regelmäßiger Einsatzabstände kann als Puls wahrgenommen werden, der sich indes auch einem Rhythmus aus unterschiedlichen Dauern kognitiv »unterschieben« lässt. Ein Grundpuls oder Grundschlag ist die als Tempo empfundene Einheit, die durch Gruppierung von Ereignissen der klanglichen Oberfläche, z. B. durch saliente (dynamisch oder sonst hervortretende) Ereignisse entsteht. Der Grundschlag wiederum wird unter Umständen in (gewichtete) Periodizitäten gruppiert, sodass der Eindruck von Metrik entsteht, vor allem wenn einzelne Pulse durch Akzentuierung oder andere Mittel (z. B. Instrumentation, Harmonik) hervorgehoben werden. Da Metrik in komplexer Kunstmusik selten stabil ist, lässt sich aus phänomenologischer Sicht allerdings ein fortgesetztes Übergehen und »Projizieren« von Rhythmik in (empfundene) Metrik feststellen (Hasty 1997). Metrik kann auf übergeordneter Ebene zu hypermetrischen Bildungen führen, wobei eine relative Gewichtung von Takten oder anderen metrischen 528 Rhythmus / Metrum / Tempo Einheiten innerhalb von Taktgruppen vorgenommen wird, was als formales Gestaltungsmittel bereits im klassischen Stil ausführlich genutzt wurde (Mirka 2009). Häufig etwa finden sich, besonders in Menuetten und Scherzi, metrische Ambivalenzen zwischen 3/4- und 6/8-Takt oder auch 3/4- und 3/2-Takt durch hemiolische Umgruppierungen der drei Viertel zu 2+2+2 Viertel (3/2) oder 3+3 Achtel (6/8). Das Phänomen der Hemiole lässt sich bis in die antike Rhythmustheorie zurückverfolgen und entfaltete im 19. und 20. Jh. eine beträchtliche Wirkung und Komplexität (Petersen 2010, 121–130; Utz 2014, 300–316). Für metrische Neugewichtungen innerhalb einer bestehenden Akzentmetrik sorgen zudem Synkopierungen (Betonungen »schwacher« Taktteile) und über Taktwechsel hinweg auf den folgenden »schweren« Taktteil übergebundene Notenwerte. Zudem kann eine etablierte (Takt-)Metrik gestört oder unterbrochen werden durch anti-metrische Figuren (z. B. Vierteltriolen im 4/4-Takt). In der neueren Musiktheorie wurden in diesen Zusammenhängen auch die Begriffe »metrische Konsonanz« und »metrische Dissonanz« sowie »metrische Verschiebungsdissonanz« und »metrische Gruppierungsdissonanz« eingeführt (Yeston 1976; Krebs 1999; Utz 2014, 299 f.). In den in der Regel auch metrisch vorwiegend »dissonanten« Partituren der neuen Musik, vor allem in jenen der (new) complexity (Ä Komplexität / Einfachheit), wird schließlich auch mit »irrationalen Metren« gearbeitet, deren Nenner nicht ein Vielfaches von 2 ist (z. B. 2/3, 4/10, 6/7) und die als »metrisierte« anti-metrische Figuren aufgefasst werden können. Bezugswert ist dabei immer der Wert einer Ganzen Note. Das Metrum 4/5 hätte demnach die Dauer von vier Viertelquintolenwerten, das Metrum 1/10 die Dauer von einem Achtelquintolenwert (Paetzold 2010, 21–25). Generell empfiehlt es sich  – vor allem bei der Betrachtung neuer Musik –, Rhythmus, Metrum und Tempo als kompositionstechnische Dimension einerseits und als kognitive Dimension andererseits zu unterscheiden, auch wenn es aufgrund von Überlegungen zur Gestalt-, Informations- und Wahrnehmungspsychologie seitens der Komponisten vermehrt zu Versuchen kam, durch die Art der Zeitorganisation auch ganz bestimmte Wahrnehmungsreaktionen provozieren zu wollen. Dennoch ist offensichtlich, dass sich etwa die Metren und Tempi in einem Werk wie Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) oder die irrationalen Metren Brian Ferneyhoughs primär seriellen bzw. postseriellen Konstruktionsprinzipen verdanken, die zwar eine neue Zeitund Rhythmuswahrnehmung provozieren wollen, jedoch nicht im Sinn einer zur komponierten Zeitstruktur analogen Wahrnehmungsform (Ä Wahrnehmung, 3.). 2. Emanzipation des Rhythmus Spätestens seit Robert Schumanns Plädoyer gegen die »Tyrannei des Taktes« (1835/87, 40) ist der »Emanzipationsprozeß des Rhythmus vom Metrum« ein »essentielles Moment der Kompositionsgeschichte des 19. Jh.s« (Seidel 1998, 304), der in Igor Strawinskys Le sacre du printemps (1911–13) kulminiert. Ein sowohl rhythmisch als auch melodisch additives Verfahren erlaubt es hier, ganze Figuren auf jeden beliebigen Taktteil zu versetzen oder in andere Figuren einzuschieben, sodass von »Schablonen«- und »Montagetechnik« gesprochen wurde (Scherliess 1982). Der Rhythmus emanzipiert sich dabei von einem metrischen Bezugssystem und wird zu einer nach eigenen Gesetzmäßigkeiten selbständig und variabel handhabbaren kompositorischen Dimension. Dabei dient die Metrik nicht mehr vorrangig der Gliederung in regelmäßige Periodizitäten, sondern einer fortgesetzten »Unterbrechung« oder Diskontinuität der rhythmischen Struktur (Dahlhaus 1965/2005, 411–418). Die gelegentlich geäußerte These, selbst der extremen metrisch-rhythmischen Unregelmäßigkeit des Danse sacrale im Sacre du printemps oder den Strukturen in Strawinskys Les noces (1913–23) würden beim Hören regelmäßige metrische Gruppierungen im Sinn einer »background periodicity« unterlegt (Van den Toorn 1987, 57–96, 1988), sind spekulativ und können weitgehend als widerlegt gelten (vgl. u. a. Horlacher 1995), selbst wenn die Mehrdeutigkeiten der Wahrnehmung von Strawinskys Metrik evident und Strawinskys Ringen um eine adäquate metrische Notation anhand der Skizzen gut dokumentiert ist (Van den Toorn 1988; Meyer 2013). Die Einsatzabstände zwischen den sechs Akzenten während der ersten acht Takte der Augures printaniers – Danses des adolescentes des Sacre betragen 9–2–6–3– 4–5–3 Achtel und wurden als eine Kombination zweier gegenläufig angelegter Reihen gedeutet. Die größeren Abstände zwischen den Akzenten nehmen dabei in progressivem Maße kontinuierlich ab [9–6–4–3] und die kleineren Abstände in progressiver Kontinuität zu [2–3–5] (Scherliess 1983, 180). Pierre Boulez deutete in einem ähnlichen Sinn additive bzw. subtraktive Verfahren Strawinskys in seiner Analyse des Sacre als ein protoserielles Konstruktionsprinzip (Boulez 1953/86, 181–188). Er versuchte vor allem durch die Systematisierung von rhythmischen und diastematischen Zellen Strategien für den Zusammenhang von mikro- und makroformaler Gestaltung zu gewinnen, wie er sie parallel kompositorisch spätestens seit seiner Zweiten Klaviersonate (1946–48) entwickelt hatte, in der wenige Basiszellen durch rigorose Verwandlungsprozesse im Sinne einer »entwickelnden Variation« auf Mikroebene ins Stadium der »Pulverisierung« geführt 529 werden (Boulez 1948/72; Bösche 1999; Borio 2000). Eine vergleichbare Zellentechnik verfolgte Boulez auch in seiner Polyphonie X für 18 Instrumente (1950–51) (Boulez 1951/86, 131–133; Strinz 1999). In Olivier Messiaens SacreAnalyse stand dagegen der auf Vincent d’Indy zurückgehende Gedanke von »personnages rhythmiques« im Vordergrund (1995, Kap. 3, 2012, 127–157; Delaere 2009, 21–23; Thissen 2015, 184), der zur Grundlage einer von jeglicher Metrik befreiten »absoluten« Rhythmik wurde (vgl. 3.1), aber auch Boulez ’ Analyse als grundlegende Anregung diente (Ä Analyse, 2.). Messiaens Deutung konzentriert sich auf das Zusammenspiel von drei »rhythmischen Personen«: »Drei Rhythmen wiederholen sich abwechselnd. Mit jeder Wiederholung gewinnt der erste Rhythmus mehr und mehr Werte und eine immer längere Dauer […]. Mit jeder Wiederholung hat der zweite Rhythmus immer weniger Werte und eine immer kürzere Dauer […]. Bei jeder Wiederholung bleibt der dritte Rhythmus sich gleich: Er verändert sich nie« (ebd., 144; vgl. auch bereits Messiaen 1939). Dieses von Messiaen auch auf Beethovens Durchführungstechnik bezogene Modell setzt der Komponist in zahlreichen Werken, etwa der TurangalîlaSymphonie für Solo-Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester (1946–48) um, paradigmatisch etwa im dritten Satz (Turangalîla 1): Die Dauer von zwei Maracasschlägen nimmt kontinuierlich von zwei mal acht bis zwei mal ein Sechzehntel ab, während sich die Dauer von zwei Schlägen der Großen Trommel umgekehrt von zwei mal ein bis zwei mal acht Schläge erhöht und der ostinate symmetrische Rhythmus des Holzblocks konstant bei sieben Sechzehnteln Dauer bleibt (Abb. 1, vgl. Schweizer 1982, 26). Wie bei Strawinsky gibt es auch in Béla Bartóks Werken zusammengesetzte und unregelmäßige Metrik, die sich nicht zuletzt Vorbildern der Volksmusik Ost- und Südosteuropas verdanken, deren »Mannigfaltigkeit des Rhythmus« und »höchst überraschende rhythmische Freiheit« Bartók schätzte (1928/72, 162). Auf die Auseinandersetzung mit Strawinskys Sacre im Jahr 1917 hin verstärkt sich besonders in Bartóks Drei Etüden für Klavier (1918) die Arbeit mit wechselnden Metren (die dritte Etüde beginnt nach der Einleitung mit den Taktarten 6/8, 7/8, 10/16, 9/16, 11/16, 7/8). Vor allem die wechselnde Zusammensetzung von sieben- und neunwertigen Metren bzw. das Grundprinzip additiver statt divisiver Metrik zieht sich durch Bartóks Schaffen (Kárpáti 2006): Die ersten beiden der Sechs Tänze in bulgarischen Rhythmen für Klavier aus Band 6 der Sammlung Mikrokosmos (1926–1937) bestehen aus den zusammengesetzten Metren 4+2+3/8 und 2+2+3/8. In der Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (1937) wird der ständige Wechsel des neunteiligen Metrums zum wesentlichen Grundprinzip in Rhythmus / Metrum / Tempo Abb. 1: Messiaen, Turangalîla-Symphonie, 3. Satz (Turangalîla 1): »rhythmische Personen« (nach Schweizer 1982, 26) der Durchführung des ersten Satzes (2+2+2+3; 2+3+2+2; 3+3+3 etc.), wobei Bartók auch den raschen Puls aus dem Vorbild südosteuropäischer und türkischer Musikformen übernimmt (Petersen 1994, 40 f.; Delaere 2009, 23–25). Karlheinz Stockhausen, der 1950 im Alter von 22 Jahren eine Abschlussarbeit zu Bartóks Sonate schrieb, konstatierte unter den ersten Einflüssen früher serieller Methoden die »starren Formprimitivismen« in Bartóks Rhythmik und Metrik, die eine Tendenz zur »Verarmung« erkennen ließen (zit. nach Petersen 1994, 45). Dabei missverstand Stockhausen Bartóks wechselnde Metrik im Sinn des Akzentstufentakts und ortete Synkopierungen. Idiosynkratisch und zugleich vorausweisend auf die serielle Zeitorgansation ist dabei Stockhausens Beschränkung des Metrumbegriffs auf »gleiche Dauernwerte«, während dynamisch markierte Gruppierungen als »Akzentgruppen« und melodisch bzw. harmonisch markierte Gruppierungen als »Phrasen« bezeichnet werden (zit. nach ebd., 46). Das verdeutlicht, wie das Denken in Parametern zu einer grundlegend neuen Sichtweise auf die Dimensionen der musikalischen Zeitorganisation führte. 3. Dekonstruktion musikalischer Temporalität: Serielle und postserielle Strategien 3.1 Serielle Ansätze Boulez folgerte aus seiner Strawinsky-Analyse, die Aufgabe des Komponierens sei es fortan, den »Rhythmus […] nicht länger als Ausdruck der Polyphonie zu sehen, sondern ihn zum Rang eines Hauptfaktors zu erheben« (Boulez 1953/86, 238). Boulez steht damit in einer langen, bis zu Berlioz nahezu lückenlos rekonstruierbaren französischen Tradition, in der die »Befreiung des Rhythmus« gefordert wurde (Thissen 2015) und in deren Rahmen auch Messiaens Definition des Komponisten als rythmicien zu verstehen ist: »Ein Musiker ist zwangsläufig Rhythmiker, sonst verdient er nicht, Musiker genannt zu werden« (2012, 10). Die von Messiaen seit den 1930er Jahren entwickelte systematische Aufwertung des Rhythmus war eklektisch orien- Rhythmus / Metrum / Tempo tiert und bezog sich u. a. auf die nordindische Tradition der 120 deśītāla im Traktat Samgītaratnākara von Śārngadeva (1210–47), wie sie Messiaen im Artikel Inde von Joanny Grosset der Encyclopedie de la Musique et Dictionnaire du Conservatoire fand (Grosset 1913, 301–304; Messiaen 2012, 89–96, 536–540; vgl. Zeller 1982). Messiaen führt im zweiten Kapitel seiner Technique de mon langage musical zunächst einen Rhythmus aus Strawinskys Sacre auf das deśītāla simhavikrīdita zurück, ehe er aus dem deśītāla rāgavardhana die drei Hauptprinzipien seiner Rhythmustheorie ableitet: (1) Prinzip der »hinzugefügten Werte« (valeurs ajoutées); (2) komplexe rhythmische Diminution und Augmentation; (3) nicht-umkehrbare (d. h. spiegelsymmetrische) Rhythmen (rythmes non-retrogrades) (Messiaen 1944/66, 11 f.). Bezüge auf die deśītāla finden sich in Messiaens Œuvre häufig, so auf den turangalîla in der Turangalîla-Symphonie (1946–48) oder auf den cantéyodjayâ im Klavierstück Cantéyodjayâ (1949). Bereits im ersten Satz (Liturgie de cristal) des Quatuor pour la fin du temps (1941) hatte Messiaen ein als Talea wiederholtes rhythmisches Ostinato aus drei deśītāla gebildet, die symmetrische Strukturen enthalten: rāgavardhana (4–4–4–2–3–2 Sechzehntel), candrakalā (2–2–2–3–3– 3–2 Sechzehntel) und lackskmiça (2–3–4–8 Sechzehntel) (Pople 1999). Messiaen gelangt so zu einem vom Metrum unabhängigen »absoluten Rhythmus« (Delaere 2009, 25– 28), wobei die verräumlichenden Symmetrien der rythmes non-retrogrades weniger wahrnehmungspsychologische als »musiktheologische« Bedeutung haben, im Sinne eines Verweises auf göttliche oder kosmische Zeitdimensionen (Ä Zeit, 2.2). Die Klanglichkeit der indischen Musik und der originale Kontext der deśītāla wurden dabei freilich in Messiaens Verfahren weitgehend ignoriert, was ihnen mitunter scharfe postkolonial orientierte Kritik eingetragen hat (Boehmer 1998, 11). Zudem führte Messiaen seine Idee einer »multiparametrischen« Organisation unter besonderer Berücksichtigung des Rhythmus in seinen Pariser Analysekursen spätestens seit 1944 auch auf Analysen von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire und Alban Bergs Lyrischer Suite zurück (Decroupet 2005, 85; vgl. Delaere 1998). Den Anstoß zur integralen seriellen Durchbildung mehrerer Parameter gab Messiaen – obgleich unwillentlich – dann mit der Nr. 2 Mode de valeurs et d ’ intensités (1949) seiner zu Teilen während seines Aufenthalts bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt 1949 entstandenen Quatre études de rythme für Klavier (1949–50). Für dieses Stück definierte er im Vorfeld drei verschiedene »Divisionen« aus »chromatisch«, d. h. linear abgestuften Dauernreihen: Die erste Division basiert auf dem Minimalwert von einer Zweiunddreißigstel und dessen Vielfachen bis 530 zu zwölf (1/32, 2/32, 3/32, 4/32 etc. bis 12/32 = drei Achtel); die zweite Division basiert auf dem Elementarwert einer Sechzehntel mit bis zu zwölf Sechzehnteln; und die dritte auf einer Skala von einem Achtel bis zu zwölf Achtel. Alle drei Dauerndivisionen brachte Messiaen – abzüglich der Doppelungen identischer Werte – in eine Reihe von insgesamt 24 verschiedenen Dauern, vom kleinsten Wert 1/32 bis zum größten Wert 12/8 = eine punktierte Ganze Note. Messiaen kombinierte die drei rhythmischen Modi dann mit drei verschiedenen Zwölftonreihen (insgesamt 36 verschiedene Tonhöhen in drei verschiedenen Klavierregistern: hoch, mittel, tief ) sowie zwölf Anschlagsarten und sieben dynamischen Stufen. Damit bildete er letztlich einen Gesamtmodus, der im Laufe des Stücks alle Tonhöhen mit jeweils einer bestimmten Dauer, Anschlagsart und Dynamik erscheinen lässt. Die von Messiaen als Dokumentation des Kompositionsprozesses vorgelegten tabellarischen Aufstellungen sind charakteristisch für die Frühphase seriellen Komponierens und finden sich in vergleichbarer Form auch bei Karel Goeyvaerts ’ Sonate für zwei Klaviere (1950–51), Boulez ’ Structures Ia für zwei Klaviere (1951) und Stockhausens Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger (1951) (Decroupet 2005, 89; Ä Themen-Beitrag 1, 1.; Ä Serielle Musik, 2.). Die Entwicklung von Techniken der Zeitorganisation in den 1950er Jahren verlief ausgesprochen rasant. Dabei wurden nicht zuletzt serielle Ordnungen auch auf Metrik und Tempo übertragen. In Bernd Alois Zimmermanns Perspektiven für zwei Klaviere (1955–56) finden komplexe, zum Teil polymetrisch überlagerte Metrenreihen Verwendung (Imhoff 1976, 101–141), wobei die zellenartige Behandlung des Rhythmus zeittypisch ist. Zimmermann arbeitet dabei gezielt mit Asynchronizitäten zwischen (meist symmetrischen) rhythmischen Phrasen und notiertem Metrum (Utz 2005, 122–125). Eine Dramatisierung erfährt diese verräumlichende Behandlung der Zeitorganisation durch die Semantisierung von Metrenreihen in Zimmermanns Oper Die Soldaten (1957–65): Am Ende der zweiten Szene des zweiten Aktes fällt das Symmetriezentrum der »Sechzehntel-Metrenreihe« zusammen mit einer entscheidenden inhaltlichen Wendung, dem Entschluss Stolzius’, Desportes zu töten (Michaely 1988, 161). Die »gequantelte« Rhythmik der frühen seriellen Phase, wie sie auch in den gleichsam »statistischen« Verfahren sichtbar wird, die Luigi Nono und Bruno Maderna seit 1951 entwickelten und die auf der Multiplikation duolischer, triolischer, quintolischer und septolischer Grundwerte basierte (Decroupet 1997, 210 f.), resultierte in einer weitgehenden »Neutralisierung« der rhythmischen Strukturen, die weniger im Sinne von Metrik oder Tem- 531 po wahrgenommen wurden als in Form unterschiedlicher Dichtegrade oder – wie im Fall von Nonos Ensemblewerk Varianti (1957) – als versetzte Einsatzpunkte zum Zweck der Perpetuierung von Einschwingvorgängen. Daneben wies Stockhausen in seinem Aufsatz …wie die Zeit vergeht… (1957/63) nach, dass multiplikative Dauernreihen wie sie auch von Boulez aus Messiaens Etüde in die Structures Ia übernommen worden waren, keine angemessene Entsprechung zur chromatischen Tonhöhenskalierung darstellen. In Analogie zur logarithmischen Temperierung der Oktav entwarf Stockhausen daher eine »Dauernoktave« (2:1) aus elf gleich groß empfundenen Dauernabständen analog zur gleichstufig temperierten Stimmung im Tonhöhenbereich. Da eine rhythmische Notation hierfür zu komplex wäre, sind die Stufen in metronomischen Tempowerten wiedergegeben (zwischen MM=60 und __ MM=120 wird jeder Wert mit 12ʽ2 multipliziert), womit der Schritt von der Rhythmus- zur Tempoorganisation gemacht wird und sich damit zugleich die Konzentration von der mikro- auf die makroformale Ebene verschiebt (ebd., 100–118). Für die Gruppen für drei Orchester (1955– 57) entwickelt Stockhausen dann eine Fülle strukturalistischer, aber auch intuitiver Methoden, um »Zeitfelder« (ebd., 128) zu komponieren (Misch 1999; Beyer 2000). Die Überlagerung der drei Orchestergruppen in echter Polytempik  – realisiert durch drei Dirigenten, unter denen es minutiöser Abstimmung bedarf (vgl. Rattle 2005, 26:03–27:35)  – führt zur Vorstellung von »Feldgrößen«, die als Resultat eines »statistischen Charakter[s] der Massenstruktur« erscheinen (Stockhausen 1957/63, 129). Daneben setzte Stockhausen den in seinen Reflexionen zur musikalischen Zeit entwickelten Gedanken der »Eigenzeit« der Klänge (ebd., 134 f.) in Zeitmaße für fünf Holzbläser (1955–56) spieltechnisch um, indem er die Gestaltung relativer und absoluter Dynamik-, Dauern- und Tempoangaben von den individuell verschiedenen physiologischen Möglichkeiten der Musiker abhängig machte, und bspw. zu manchen Klängen notierte: »so laut wie möglich«, »so lange wie möglich«, »so schnell wie möglich«, oder »so langsam wie möglich«, wobei sich das Zeitmaß dann aus der natürlichen Atemlänge des Bläsersolisten ergibt, der eine bestimmte Gruppenfolge mit einem Atem zu spielen hat. 3.2 Postserielle Ansätze Im Rahmen des postseriellen Klangkomponierens der 1960er Jahre setzte sich die Tendenz zum Feldhaften mit anderen Zielsetzungen fort. Tonhöhe und -dauer werden etwa in György Ligetis Atmosphères für großes Orchester (1960–61) unter dem Leitgedanken einer »statischen Musik« marginalisiert zugunsten einer neuen Prädominanz des Rhythmus / Metrum / Tempo Klangs und dessen wechselnder Farbe, Artikulation, Dichte, Dynamik, Energetik und Wandelbarkeit (Ä ThemenBeitrag 3, 2.2). Dasselbe geschieht etwa zeitgleich in den Werken Giacinto Scelsis, bspw. in den Quattro pezzi (su una sola nota) für Orchester (1959), in denen um je eine zentrale Tonqualität vagierende Linien Tonhöhenbänder unterschiedlicher Breite entfalten, wobei jeder Eindruck von Rhythmik, Metrik oder Tempo zugunsten einer energetisch-kontemplativen Zeiterfahrung zurücktritt. Eine tendenzielle Auflösung des Rhythmischen findet sich auch in manchen Formen des Ä Minimalismus, etwa in La Monte Youngs kontemplativ entfalteten »atemporalen« Klangflächen. Wie Ligeti ging es zeitgleich – wenngleich mit anderen Mitteln und Zielen – auch Helmut Lachenmann um unmittelbar wahrnehmbare Klangstrukturen. Wichtig wurde für ihn dabei die von Stockhausen übernommene Idee der »Eigenzeit« der Klänge. Lachenmann – der an Stockhausens ersten beiden »Kölner Kursen für Neue Musik« 1963 und 1964 teilgenommen hatte  – definierte »Eigenzeit« als diejenige Dauer, die erforderlich ist, damit ein Hörer die charakteristischen Eigenschaften eines Klangs möglichst vollständig erfassen kann (Nonnenmann 2000, 40). Unter Berücksichtigung dieses wahrnehmungspsychologischen Kriteriums kategorisierte Lachenmann im seit 1963 entworfenen Aufsatz Klangtypen der Neuen Musik (1966/93/96) Klänge gemäß ihres Zeitgefüges: Ist die Eigenzeit »zuständlicher« Klänge unabhängig von ihrer tatsächlichen Dauer und verbunden mit statischen oder statistischen Hörerfahrungen, so sind im Gegensatz dazu »prozesshafte« Klänge  – paradigmatisch verkörpert im »Strukturklang«  – aufgrund ihrer inneren Mehrschichtigkeit so reich, dass ihre Eigenzeit mit der Dauer ihres Erklingens identisch ist; sie gewinnen so auch formale Bedeutung und werden beim Hören als »mehrschichtige[r] und mehrdeutige[r] Abtast-Prozess« erfahren (ebd., 17 f.). Bereits in frühen Werken Lachenmanns wie den Klavierstücken Echo Andante (1961–62) oder Wiegenmusik (1963) resultiert die klein- und großformale Zeitorganisation zumindest teilweise aus den konkret physikalischen Bedingungen des nach dem Anschlag diminuierenden Klavierklangs, der durch verschiedene Pedal-, Flageolett-, Dämpf- und Grifftechniken modifiziert und so zu einer »Klangstruktur« erweitert wird (Nonnenmann 2000, 34 f.). In Kontrakadenz für großes Orchester (1970–71) konkretisiert Lachenmann die Idee der »Eigenzeit« schließlich in Ereignissen und Materialien, die einmal angestoßen werden, um fortan einem nicht mehr umkehr- und beeinflussbaren Ablauf mit je eigenem Tempo, Rhythmus und eigener Dauer zu folgen, wie z. B. herabfallende Tischtennisbälle oder angedrehte Metallscheiben. Dieselbe Idee 532 Rhythmus / Metrum / Tempo Abb. 2: Nicolaus A. Huber, Darabukka, Beginn (© 1978 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden) legte später auch Mathias Spahlinger einigen der Verbalpartituren seiner Sammlung vorschläge  – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten (1993) zugrunde – vor allem der Nummer eigenzeit. Während in der (frühen) seriellen Musik Metrik und Rhythmik vorwiegend quantitativ aufgefasst wurden, ging es Nicolaus A. Huber mit seinem Ansatz der »konzeptionellen Rhythmuskomposition« darum, auf dem Boden strikter Atonalität zugleich  – ohne in tonale Zeit- und Formvorstellungen zurückzufallen  – wieder unmittelbar körperlich wirkende Pulsationen und gestisch sprechende Rhythmen zu ermöglichen (Huber 1983/87/2000). Als Fortsetzung seiner seit den 1960er Jahren verfolgten Auseinandersetzung mit archetypisch-tonalen Spannungen zielte Huber dabei auch auf kollektive, nationale, ethnische, idiomatische Körper- und Spracherfahrungen, wie sie der sowjetische Musikwissenschaftler Boris Assafjew unter dem Begriff »Intonationen« beschrieben hatte (Nonnenmann 2015, 20). Weitere Impulse erhielt Huber durch Bertolt Brechts Gedanken zu einer »gestischen« Musik und Sprachrhythmustheorie sowie durch Analysen von Vokalwerken Hanns Eislers, die gezielt gegen den natürlichen Sprachakzent komponiert sind. Schließlich kam Huber mit linksintellektuellen Kreisen und der Arbeiterbewegung in Berührung und machte bei Protestdemonstrationen sowie als Liedbegleiter am Klavier die Erfahrung, dass Pulsationen, Rhythmen und Sprechchöre je nach Tempo unterschiedlich körperlich wirken: animierend, aufregend, einpeitschend, retardierend oder beruhigend. Insofern Huber beabsichtigte, kollektive rhythmische »Intonationen« von Klassik, Marsch, Folklore, Jazz, Arbeiterkultur und Sprechchören in atonale Musik zu integrieren, um auch politische Botschaften zu vermitteln, verstand er sei- nen Ansatz vor allem auch als »Kommunikationstechnik« (1983/2000, 214). Huber übertrug in seiner konzeptionellen Rhythmuskomposition das harmonische Prinzip der Modulation auf die Zeitebene  – ein Gedanke, der sich bis ins Frankreich der 1830er Jahre zurückverfolgen lässt (Fétis 1834; Arlin 2000): Bei Huber dienen Tonhöhen nur noch sekundär als Träger von Rhythmen, Impulsen, Pausenund Dauerproportionen, die sämtliche übrigen Parameter sowie mikro- und makrostrukturelle Prozesse der Komposition bestimmen. Aus rhythmischen Modellen oder bloßen 1:1-Repetitionen werden dann durch allmähliche quantitative Veränderungen – Additionen, Subtraktionen, logarithmische Prozesse oder Fibonacci-Progressionen – qualitativ andere Zielmodelle (Huber 1983/2000, 222). Erstmalig in Darabukka für Klavier (1976) behandelte Huber das traditionelle Melodie- und Harmonieinstrument Klavier exemplarisch als Rhythmusinstrument, namentlich wie die gleichnamige arabische Vasentrommel. Der Pianist wiederholt auf der cis1-Taste fortwährend gleich lange und gleich laute Anschläge, um nach und nach durch wechselnde Finger- und Handkombinationen verschiedene Klangfarben, Akzente, Phrasen und Rhythmen zu erzeugen, die sich stellenweise zu Märschen und Zitaten politischer Folklore verdichten (Abb. 2). Das genaue Abzählen von Anschlägen, Einsätzen und Zeitverhältnissen wurde seitdem zu einem bestimmenden Verfahren von Hubers Komponieren, etwa in den Sechs Bagatellen für Kammerensemble und Tonband (1981) oder Demijour für Oboe, Violoncello und Klavier (1985–86). Eine konsequent atonale Rhythmik verfolgte dagegen Mathias Spahlinger. In furioso für Ensemble (1991–92) wird jeder Einsatz vom darauffolgenden als dessen Ge- 533 (1) Rhythmus / Metrum / Tempo (2) (3) genteil »bestimmt negiert«, indem sich bei identischen Sechzehnteldauern Instrumentation, Lage, Spieltechnik, Artikulation oder Dynamik verändern. Da auf diese Weise eine punktuelle Folie ohne erkennbare größere Struktureinheiten entsteht, lassen sich vor diesem Hintergrund übergeordnete Ordnungs- und Klangvorstellungen wie regelmäßige Pulsationen, Symmetrie- und Parallelbildungen, obligate Metren, Wiederholungen, Motivkerne, Unisoni und tonale Allusionen als charakteristische Abweichungen profilieren und als Elemente des historisch überkommenen tonalen Sprachsystems kenntlich machen (Nonnenmann 2002, 63). Auch später (T. 241–252) sind äquidistante Sechzehntelimpulse so über den gesamten Ensembleapparat verteilt, dass ein radikaler Hoquetus entsteht, der sich im erhöhten Tempo Achtel = 120 kaum ohne aufführungspraktische Abweichungen realisieren lässt; damit wird der an sich starren Pulsation eine »irrationale«, teils regelrecht »swingende« Impulsfolge aufmoduliert. Unmittelbar an frühserielle Zellenverfahren knüpfen rhythmisch-metrische Verfahren Brian Ferneyhoughs an, wobei die hochkomplexen »Ordnungs«-Systeme in gezielt chaotische und anarchische Situationen getrieben werden (Cavallotti 2006, 179–183): »it amuses me to follow systematically rules which are only followed correctly when being used to destroy themselves« (Ferneyhough 1977/98, 214 f.). Der Metrik wird dabei von Ferneyhough eine neue Relevanz zugewiesen und zwar als »Hülle der Figur« (Cavallotti 2006, 136), d. h. als grundlegendes Gliederungselement von (in der Regel vielfach überlagerten) Gestalten in der Zeit. In Ferneyhoughs Werken der 1970er und 80er Jahre steht entsprechend der Entwurf eines metrischen Rasters relativ am Anfang des Kompositionsprozesses, das dann zunächst mit rhythmischen Figuren und zum Schluss erst mit Tonhöhen gefüllt wird (ebd., 131–140; Paetzold 2010). Im Aufsatz Il Tempo della Figura (1984/93) gibt Ferneyhough ein anschauliches Beispiel dafür, nach welchen Prinzipien er strukturelle Transformationen rhythmischer Zellen vornimmt (wobei enge Parallelen (4) Abb. 3: Brian Ferneyhough: Transformation rhythmischer Zellen (nach Ferneyhough 1985/93, 17) zu Boulez ’ früher Zellentechnik ins Auge fallen) (Abb. 3): Das in der ersten Zeile (a) erkennbare Prinzip, eine Dauernfolge lang-kurz durch metrisch-rhythmische Transformation in eine Folge zweier gleichlanger Dauern zu transformieren, wird in der zweiten Zeile (b) durch äquidistante Impulse figuriert, wobei – erinnernd an Messiaens personnages rythmiques  – die Unterteilungen des ersten Wertes sukzessive abnehmen (5–4–3–2–1), die des zweiten sukzessive zunehmen (1–2–3–4–5), wobei zugleich die metrische Struktur »manipuliert« wird, sodass jeder Takt genau zwei Achtel enthält (der zweite Takt enthält damit nur noch vier statt fünf Sechzehntel, der dritte nur noch zwei statt drei Achtel, der fünfte dagegen zwei statt drei Achtel). In der dritten Zeile (c) werden die Dauernpaare durch ein dreigliedriges Impulsmodell überlagert, das die Impulsgruppen 3–2–5 in je unterschiedlicher Weise auf die beiden Dauernwerte verteilt, sodass die in (1) noch deutlich erkennbar gerichtete Tendenz vollkommen unkenntlich wird (ebd., 16 f.). Mit solchen »fuzzy parameters« soll eine »deconstruction and subsequent openingup of the self-enclosed organism in an indefinite number of possible directions« erreicht werden (ebd., 16). 4. Schichtenbildung: Polymetrik und Polytempik Die serielle Musik brachte die Vorstellung »Zeitschichten« überlagern zu können zu besonderer Entfaltung und Komplexität. Dabei entstanden, wie dargestellt, komplexe Formen der Polymetrik und auch, wie in Stockhausens Gruppen, einer aufführungspraktisch meist sehr anspruchsvollen Polytempik. Zwar bestehen in der Musikpsychologie Zweifel an den Möglichkeiten, echte Polymetrik wahrnehmen zu können (Drake / Parncutt 2001), doch aus kompositionspoetischer Sicht ist die Relevanz dieses Verfahrens kaum bestreitbar. Früh wurden etwa in Henry Cowells Schrift New Musical Resources (1930/96) Zahlenproportionen der Teiltonreihe auf Überlagerungen von Metren und Tempi übertragen. Gleichwohl kann in komplexeren Klangsituationen eine trennscharfe Unterscheidung zwischen »Polyrhythmik«, Polymetrik und Rhythmus / Metrum / Tempo Polytempik für die Wahrnehmung häufig kaum, in vielen Fällen gewiss nicht getroffen werden. So bestritt etwa Ligeti unter dem Einfluss der strukturalistischen Ethnomusikologie Simha Aroms die Existenz von Polymetrik selbst in Beispielen wie Mozarts »Imbroglio« (in der Überlagerung dreier Tänze mit unterschiedlichem Metrum im Don Giovanni), Charles Ives ’ The Fourth of July für Orchester (1914–18) oder Stockhausens Gruppen und sprach diesen Beispielen stattdessen eine Art der »Polyrhythmik« zu, in der »verschiedene rhythmische Patterns […] im selben Grundpuls« überlagert werden (Ligeti / Bouliane 1989, 52 f.; vgl. Arom 1991). Diese Sichtweise verweist auf Ligetis Auseinandersetzung mit subsaharischer afrikanischer Musik, namentlich mit Ensembles aus Ongo-Hörnern bei den zentralafrikanischen Banda Linda, Gesängen der Aka-Pygmäen, Kiganda-Musik der Amadinda-Holmxylophone in Uganda sowie der Mbira-Lamellophonmusik der Shona in Simbabwe (Ä Afrika, 5.). Nachvollziehen lässt sich dies anhand von Ligetis Klavierkonzert (1984–88) (Utz 2014, 283–294): Die zu Beginn des dritten Satzes auf Grundlage eines durchlaufenden Sechzehntelpulses nacheinander einsetzenden, nach »additivem« Prinzip entwickelten Periodizitäten 1:4:5:6:7:9:11 werden vor allem als Überlagerung von Temposchichten und weniger als Überlagerung unterschiedlicher »Rhythmen« oder Metren empfunden. Die Orientierung des Hörers wird vom Grundgerüst des Pulses weggelenkt, unterschiedliche, anfangs noch deutlich unterscheidbare, später immer stärker zur Textur verschwimmende Pulsgeschwindigkeiten erzeugen eine »Destabilisierung« der kognitiven Interpretation (vgl. Taylor 2012). Bereits zu Anfang des 20. Jh.s hatte Charles Ives den Gedanken der polymetrischen Schichtung gewissermaßen zu Ende gedacht und damit die wohl prominentesten Beispiele für deutlich akzentuierte konfliktmetrische Bildungen in der musikalischen Moderne vorgelegt. Im zweiten Satz seiner Vierten Sinfonie (1912–25) werden bis zu sechs Zitatschichten gleichzeitig hörbar, die oft durch unterschiedliche metrische Grundwerte voneinander abgehoben werden, z. B. ab Takt 123 das patriotische Lied O Columbia im 4/4-Takt in Blechbläsern und Klavier, während drei weitere Zitatschichten im 3/16-Metrum, im 3/8-Metrum und in einem Metrum zu sieben Triolenachteln auftreten (Utz 2005, 136–138, 2014, 313 f.; Gail 2009). Die Koordination der Schichtungen erfordert den Einsatz von zwei Dirigenten: Dirigent I schlägt im 6/8-Metrum das Tempo punktierte Viertel = 50, Dirigent II im 7/4-Metrum für die Kontrabässe das Tempo Viertel = 80 und für die Fagotte Viertel = 70. Hier wird deutlich, wie Polymetrik in eine virtuelle »Polytempik« umschlagen kann. Ligeti hat also den Begriff der »Polytempik« nicht umsonst am 534 Beispiel von Charles Ives ’ Musik entwickelt (1974/2007, 289). Entscheidend ist am Ende tatsächlich weniger der metrische Konflikt, sondern vielmehr die räumliche Wirkung mehrerer »Marching Bands«, die gleichzeitig verschiedene Melodien in verschiedenen Tempi (und verschiedenen Tonarten) spielen  – ein Eindruck, den Ives selbst mehrfach detailliert beschrieben hat. Auch im vierten Satz der Sinfonie finden sich polymetrische und polytemporale Schichtungen von teils sukzessive, teils simultan einsetzenden Ensembles, Marching Bands, Ragtime-Klavieren und zweigeteiltem Sinfonieorchester, was enorme aufführungspraktische Schwierigkeiten bereitet, die dazu führten, dass die Sinfonie erst 1965 ihre posthume Gesamturaufführung erlebte. Einen Schritt weiter geht das Prelude No. 1 von Ives ’ unvollendeter Universe Symphony (1911–28): Hier wird die »basic unit«, eine metrische Makroperiode  – den »Puls des Universums« symbolisierend –, in zyklischer Weise von immer neuen metrischen Schichten überlagert, bis ein Feld aus insgesamt zwanzig zugleich hörbaren metrischen Gruppierungen erreicht ist (Abb. 4). Die Realisation für Schlagzeugorchester mit dem Titel Life Pulse Prelude von Larry Austin (1984) bedient sich aus praktischen Gründen verschiedener Temposchichten, um diese Polymetrik zu realisieren (Austin 1997). Die Pulse werden den Spielern über Click-Track zugespielt. In seinen Memos hat sich Ives intensiv mit Fragen der Ausführbarkeit und Wahrnehmbarkeit solcher Schichtungen befasst: »The listener, if he tries enough, will get the composite effect that ’ s wanted, while each player concentrates on his particular meter, hearing the others as secondary sounds, at least while practising them. […] if the different meters are each played by groups of different sounding units, the effect is valuable, and I believe will be gradually found an important element in deepening and enriching all of the depths of music, including the emotional and spiritual« (Ives 1973, 125). Unter dem Einfluss von Ives, aber vor allem auch ausgehend von Strawinsky und Schönberg, entwarf Elliott Carter im Zweiten Streichquartett (1959) eine starke Individualisierung der vier Parts im Sinn von »simultaneously interacting heterogeneous character-continuities« (Carter 1965/77, 247), die auch eine echte Polytempik einschließt (Bernard 1988, 183–187; Schmidt 1999; Koivisto 2009). Besonders ist auch auf Carters Technik der »metrischen Modulation« (Goldman 1957) bzw. präziser »speed modulation« (Bernard 1988, 201) hingewiesen worden: Der fortgesetzte Wandel des Referenztempos bzw. metrischen Grundwerts wird im Sinne einer »large-scale [metrictemporal] dissonance« als entscheidender formbildender Faktor aufgefasst, wobei zum Schluss als »metrisch- 535 Rhythmus / Metrum / Tempo Abb. 4: Charles Ives (Bearbeitung: Larry Austin), Life Pulse Prelude (© 1984 by Peer International Corporation, New York) Rhythmus / Metrum / Tempo 536 Abb. 5: Elliott Carter, Zweites Streichquartett, T. 254–258 (© 1961 by Associated Music Publishers, New York) temporale Konsonanz« das Anfangstempo wiederkehrt. Im Verhältnis von metronomischer Tempoangabe und metrischer Grundeinheit entwickelte Carter drei Grundstrategien (Schmidt 1999, 128): (1) die Änderung des Metronommaßes bei gleicher Zähleinheit, (2) die Änderung des Metronommaßes und der Zähleinheit bei gleichbleibendem absoluten Tempo (»metrische Verwechslung«), und (3) die Änderung der Zähleinheit bei gleichem Metronommaß (»metrische Umwertung«). Die Polytempik wird hier meist durch ein übergeordnetes Referenztempo koordiniert. In der Cello-Kadenz (Abb. 5) ist dies durch die erste Violine (MM = 93,3 = Viertel) vorgegeben, während die zweite Violine im Verhältnis 2:3 (MM = 140 = Triolenviertel) und die Viola (anfangs) im Verhältnis 3:4 (MM = 124,6 = punktiertes Achtel) zu diesem Grundpuls stehen. Dazu entfaltet das Cello mit fortgesetzten auskomponierten accelerandi und ritardandi eine rhythmische Prosa. Der hier im Anschluss an Ives ’ Zweites Streichquartett (1907–13) auskomponierte Gedanke von vier gleichzeitig hörbar werdenden unterschiedlichen »Charakteren« wird radikalisiert in Carters Drittem Streichquartett (1971) (Godfrey 1987; Epstein 2015), in dem zwei Duos gänzlich eigenständige, nur über Click-Track koordinierte Sätze spielen, wobei Duo 1 (1. Violine, Violoncello) im tempo rubato zu spielen hat, während Duo 2 (2. Violine, Viola) angewiesen ist durchgehend streng im Tempo zu bleiben. Echte Polytempik schließlich realisierte Conlon Nancarrow mittels millimetergenau gestanzter Lochstreifen für pneumatisch betriebene Selbstspielklaviere, die bereits Henry Cowell als mögliches Medium einer Realisierung rhythmisch komplexer Passagen in Erwägung gezogen (Cowell 1930/96, 65) und dabei zugleich systematische Überlegungen zur simultanen Kombination verschiedener Tempi angestellt hatte (ebd., 92–98). Nancarrows Studies for Player Piano (ca. 1948–77) arbeiten u. a. mit kanonischen Überlagerungen verschiedener Stimmen in irrationalen Tempoverhältnissen sowie mit kontinuierlichen Beschleunigungen und Verlangsamungen (Gann 1995; Herzfeld 2007). Die Study No. 21 (Canon X) (1961) ist ein streng zweistimmiger Kanon, bei dem die Bassstimme zu Anfang ca. im Tempo Halbe = 120 mit etwa zwei Anschlägen pro Sekunde einsetzt, während die Diskantstimme etwas später mit  – für einen Pianisten unspielbaren – mehr als zwanzig Anschlägen pro Sekunde folgt. Parallel zum sukzessiven Aufsteigen der Bass- und Absteigen der Diskantstimme zieht nun das Tempo des Basses kontinuierlich an und wird das des Diskants zugleich langsamer; es kommt zu permanenten polytemporalen Umschichtungen zwischen den Stimmen, bis sie in der Mitte des Stücks für einen Augenblick mit derselben Anschlagsdichte »in Phase« sind, ehe sie – gemäß dem »X« des Titels – wieder auseinanderlaufen. Bemerkenswert ist, 537 dass hier an die Stelle von Rhythmus und Metrum ausschließlich Pulsation und Tempo als zentrale kompositorische Dimension treten. Zu einer feldhaften Polymetrik bzw. -tempik schließlich tendieren eine ganze Reihe von Werken, die parallel zu oder in der Folge von Stockhausens Gruppen, Ligetis Atmosphères und anderen Raum-Klang-Kompositionen der 1950er und 60er Jahre entstanden. So entwickelte etwa Witold Lutosławskis »begrenzte« bzw. »kontrollierte« Aleatorik, erstmals in Jeux vénitiens für Orchester (1961), mikrorhythmische Texturen von hoher Komplexität in »Mobiles« oder »Fakturfeldern«, bei denen innerhalb von festgelegten Zeitspannen das Zusammenspiel der Instrumente nicht exakt festgelegt ist. Den Umschlag von Polytempik in statistische Massenstrukturen demonstriert exemplarisch das als Resultat von Ligetis Begegnung mit den amerikanischen Fluxus-Protagonisten (Drott 2004) entstandene Poème symphonique für einhundert Metronome (1962). Die mechanischen Metronome werden auf unterschiedliche Tempi eingestellt und gleichzeitig gestartet, sodass sich ihre unterschiedlichen Impulsfolgen zu einer Gesamttextur überlagern, in welcher sich die einzelnen Tempi wie in einer Naturerscheinung – vergleichbar prasselndem Regen – verlieren. Indem nach und nach einzelne Metronome auslaufen und die Gesamttextur sukzessive ausdünnt, entstehen immer mehr Wechsel von Dichtegraden und Interferenzen, bis nur noch wenige Metronome und endlich nur noch ein letztes, allein zu Ende tickendes Taktell übrig bleibt. 5. Tempoveränderungen Sukzessive Tempoveränderungen  – in Nancarrows Study No. 21 mit einem mechanischen »Interpreten« realisiert  – zählen zu den komplexesten und für Interpreten anspruchsvollsten Methoden der neuen Musik, »Zeit« zu gestalten. Im Rahmen seiner parametrischen Zufallskomposition unterwarf John Cage in Music of Changes für Klavier (1951) auch den Parameter des Tempos systematischen Zufallsoperationen. Auf der Basis des altchinesischen Orakelbuches Yijing wurden Strukturelemente per Würfelwurf aus insgesamt 26 Tabellen ausgewählt, darunter eine Tempotabelle mit 32 Metronomangaben und 32 leeren Feldern (Utz 2002, 88–96). Gemäß dem Yijing wurde zwischen mobilen und immobilen Elementen unterschieden: Bei der Wahl eines leeren Feldes bleibt das Tempo gleich (immobil), bei der Wahl eines mit Metronomangabe versehenen (mobilen) Feldes acceleriert oder ritardiert das Tempo zum betreffenden Wert. Auch angesichts der zum Teil äußert hohen Dichte und dem rhythmisch-metrischen »Prosacharakter« der Zufallsstrukturen wird diese Tendenz zu permanenten Tempowechseln Rhythmus / Metrum / Tempo über größere Abschnitte zu einer beträchtlichen Herausforderung für den Interpreten. Dasselbe gilt in anderer Weise für die Interpretation von Steve Reichs bekannten »Phasen«-Stücken wie Piano Phase für zwei Klaviere oder zwei Marimbas (1967), Violin Phase für vier Violinen oder Violine und drei Tonbänder (1967) oder Clapping Music für zwei Ausführende (1972): Ein rhythmisch klar profiliertes Muster in hohem Tempo wird von zwei Ausführenden simultan exponiert, wobei einer der Ausführenden in der Folge das Tempo solange leicht beschleunigt bis er das Muster um einen Grundwert »nach rechts« verschoben hat, um dann wieder das Grundtempo aufzunehmen, das der andere Spieler die ganze Zeit über streng beibehält. In Violin Phase wird dieses Verfahren durch die Vierstimmigkeit in verschiedenste Varianten ausgeweitet. Durch die intensive Auseinandersetzung mit westafrikanischen Trommeltechniken im Rahmen eines Aufenthalts an der University of Ghana in Accra im Jahr 1970 nahm Reichs Phasentechnik dann deutlich an Komplexität zu. Sie mündete in Drumming (1970–71) für Schlagzeug, zwei Frauenstimmen, Pfeifen und Piccoloflöte, das wie Clapping music auf Gankogui [Glocken]-Patterns westafrikanischer Trommelensembles basiert (Colannino u. a. 2009; Klein 2014, 139 f.). Dabei war es für Reich eine grundlegende Erkenntnis, dass es in den polyrhythmischen bzw. -metrischen Strukturen der afrikanischen Musik kein Zusammentreffen der Phrasenschwerpunkte gibt, wie es seine eigene Art der Transkription hervorhebt (Abb. 6, Reich 1971a / 2002, 62; vgl. Klein 2014, 126). Eine wesentliche Rolle für Reich spielte das Prinzip des von ihm als »resulting patterns« beschriebenen Phänomens: Aufgrund von »Streaming«-Effekten werden aus dem dichten Gewebe immer neue Impulse zu übergeordneten Rhythmusgestalten zusammengefasst (Ä Afrika, 5.; Ä Akustik / Psychoakustik, 3.). Durch die neu eingeführte Technik eines systematischen Ersetzens von Pausen durch Impulse (und umgekehrt) sowie durch die als »timbral modulation« (Schwarz 1982, 237) bezeichnete Überblendung von Klangfarben (z. B. von Bongos in Marimbas im Übergang von Teil 1 zu Teil 2) werden in Drumming zudem breit angelegte makroformale Prozesse möglich (Reich 1971b / 2002; Klein 2014, 137–147) (Ä Form). Unter ganz anderen Voraussetzungen realisierte Mathias Spahlinger im Orchesterwerk passage / paysage (1989–90) durch permanente Tempoveränderungen die Idee der Desintegration (Spahlinger 1991, 28). Der Mittelteil (T. 338–747) des insgesamt 920 Takte umfassenden Werks wird bestimmt von einem einzigen unablässigen Accelerando. Extrem langsam mit Viertel = 38 beginnend, wird in Takt 484 Achtel = 108 erreicht; Spahlinger notiert ab hier Takt für Takt ein anderes Tempo: 110, 113, 115, 118 Rhythmus / Metrum / Tempo 538 Abb. 6: Transkription des westafrikanischen Tanzes Gahu durch Steve Reich (1971a / 2002, 62). etc., bis es in Takt 508 zu einem Umschlag des Bezugswerts Achtel = 180 zu punktierte Viertel = 60 kommt und diese Drittelung ihrerseits durch Schlag Viertel = 60 ersetzt wird. Dieses neue Tempo wird fortan ebenfalls Takt für Takt um eine weitere Tempostufe gesteigert (Viertel = 61, 63, 64, 65, 67 etc.), bis in Takt 530 ein erneuter Wechsel des Bezugswerts erfolgt. Mehrere solcher Spiralbewegungen treiben das teils von Tremoloflächen verdeckte oder von wechselnden rhythmischen Schichten überlagerte Accelerando kontinuierlich weiter, bis das Tempo endlich so sehr beschleunigt, dass es sich von Schlag zu Schlag verdoppelt und in Stillstand umkippt (ebd., 32). Im Sinne einer »Passage« entfaltet sich ein fortwährender Durchgang, der als Weg ohne Ziele dem Hörer den paradoxen Eindruck vermittelt, alles werde immer schneller und dennoch komme nichts voran. Nach Vorbildern von Elliott Carter, Conlon Nancarrow und afrikanischer Musik komponierte Reinhard Febel seit Sculpture / Motion Picture für 19 Streicher (1998) mehrere Werke, die das Tempo über die gesamte Dauer eines Satzes oder Stücks flexibilisieren. Zuweilen in Verbindung mit ebenso kontinuierlichen Tonhöhen- und Dynamikverläufen unterzieht Febel das Tempo übergeordneten sowie sich teils überlagernden oder durchkreuzenden Accelerando- oder Ritardando-Prozessen. Dabei lässt er auch bis zur Unkenntlichkeit rhythmisch augmentierte Stellen aus der romantischen Klaviermusik durch allmähliche Beschleunigungen hörbar werden, etwa im zweiten Teil seiner Fantasie über ein Thema von Franz Schubert für Orchester (1997) (Nonnenmann 2012, 28–32). 6. Pulsation Regelmäßige Pulsation wie sie nicht zuletzt in den meisten Stilen des Ä Jazz, Ä Pop und Rock gängig ist, galt vielen Komponisten des 20. Jh.s als Gegenbild der eigenen Zeit- und Rhythmuskonzeptionen. Besonders Messiaen führte regelmäßige Pulsation als Negativfolie seines Ideals der im Vogelgesang manifesten irregulären Rhythmen an (Thissen 2015, vgl. Messiaen 1999/2000). Stockhausen lehnte regelmäßige Beats in Pop oder Jazz aufgrund der Assoziation mit militärischem Drill und Märschen aus der NS-Zeit ebenso ab (Blumröder 1993, 53 f.) wie Cage: »It ’ s very hard for me to listen to music nowadays with a regular beat; so that I have a hard time to begin with, with most popular music« (Kostelanetz 2003, 229) (Ä Jazz). Auf der anderen Seite war die Erfahrung von Motorik und Puls eine Grundfigur der frühen musikalischen Moderne, wie sie vor allem vom Futurismus vor dem Hintergrund der einsetzenden Beschleunigung und Motorisierung des Alltagslebens propagiert wurde, und Gestalt wurde in paradigmatischen Werken wie Bartóks frühem Klavierstück Allegro barbaro (1911), Arthur Honeggers »Mouvement symphonique« Pacific 231 (1923) oder George Antheils Ballet mécanique (1924–25) – wobei in diesen Fällen die Tendenz zur »rasenden« Geschwindigkeit zugleich auch implizit modernekritische Akzente einbringt. Vor dem Hintergrund der Dissoziation des Pulses in einem Großteil der Nachkriegsmusik lag einiges provokatives Potenzial in der Hinwendung des frühen Ä Minimalismus zum Puls, ausgehend von Terry Rileys In C (1964), bei dessen Uraufführung Steve Reich den Part des Wurlitzer electric piano übernahm. Die Erstfassung von In C zeichnet sich durch die vor allem zu Beginn markante ununterbrochene Achtelpulsation eines c4 im Klavier aus – eine Idee, die auf Reich zurückging (Carl 2009, 44). Im New York der mittleren 1960er Jahre war nach Reichs Aussage »everybody […] under the influence of music that was not ›pulsitile‹, [not with a regular beat]. You can ’ t tap your foot to either Boulez or John Cage« (Reich 1998) – was die Gegenposition von Reichs »pulse music« fast unausweichlich erscheinen ließ. Parallel zu diesen amerikanischen Entwicklungen, bei denen auch die Sozialisation vieler beteiligter Musiker in Jazz und populärer Musik eine Rolle spielte, legte Ligeti mit Continuum für Cembalo (1968) ein auf dem Grundprinzip eines rasenden Pulses aufbauendes Schlüsselwerk 539 vor, bei dem wie bei Reich das Phänomen resultierender Muster eine entscheidende Rolle spielte (Kinzler 1987; Petersen 2008). Die Möglichkeit durch das Spiel auf zwei Manualen die Repetitionsgeschwindigkeit beträchtlich zu erhöhen und der Verzicht auf Daumenuntersätze erlauben es, das Stück in einem Tempo von Achtel = ca. 816 auszuführen (Petersen 2008, 3). Ligeti hob dabei besonders das »Übergehen des Rhythmus in Nicht-Rhythmus, in eine Art Statik« (1968/71) hervor, wobei sich durch die Interaktion der meist unterschiedlichen Muster in beiden Händen komplexe Gestaltüberlagerungen und Interferenzen ergeben, in denen die Konturspitzen und -tiefen die hörende Orientierung leiten (Petersen 2008, 8–12). Pulsation spielt schließlich in zahlreichen Formen auch bereits in und seit den 1950er Jahren eine Rolle, besonders prominent etwa in Kontexten, die auf eine quasi-rituelle Musikerfahrung zielen und / oder archaische Topoi oder Themen aufgreifen; dazu zählen etwa Stockhausens Kreuzspiel (1951), Scelsis Yamaon für Bariton und Ensemble (1954–58) oder Xenakis Werke für Schlaginstrumente (u. a. Persephassa, 1969, und Pléïades, 1978, für sechs Schlagzeuger). Die vor allem seit den 1980er Jahren außerordentlich reiche Entfaltung des Repertoires für Schlagzeug solo und Schlagzeugensembles greift naheliegenderweise besonders häufig auf pulsorientierte Kompositionsmethoden zurück (Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen, 7.). Wichtig blieb Pulsation seit Strawinskys Balletten weiterhin in Grenzbereichen zum Ä Tanz, häufig in gebrochener Form und mit der Tendenz zur Irregularität, etwa in Cages Werken für präpariertes Klavier (vgl. den zweiten Satz von The Perilious Night, 1943). Stark zum Zerfall und zur Erosion neigen auch die gleichwohl deutlich vernehmbaren Pulse in Lachenmanns Musik, etwa in Salut für Caudwell für zwei Gitarren (1977), Mouvement (– vor der Erstarrung) für Ensemble (1982–84) oder »… zwei Gefühle  …«, Musik mit Leonardo für einen oder zwei Sprecher und Ensemble (1991–92). Ausdruck äußerster kompositorischer wie interpretatorischer Virtuosität sind die komplex verschachtelten Pulse in Musik von Beat Furrer, so in Spur für Klavierquintett (1998). Schließlich zeichnen sich zahlreiche Werke im Grenzbereich zu populären und elektronischen Formen durch mehr oder weniger destabilisierte Beats aus. Besondere Komplexität entfaltet dabei etwa Bernhard Langs Differenz / Wiederholung 2 für verstärktes Kammerensemble und drei Stimmen (1999), für dessen (minutiös ausnotierte) »hinkende« Pulsationen Transkriptionen improvisierter Strukturen eine entscheidende Rolle spielten (Sanio 2010). Zusammen mit einer produktiven Rezeption diverser Genres aus Ä Pop und Rock bei Komponisten wie Heiner Goebbels, Helmut Oehring oder Fausto Romitelli Rhythmus / Metrum / Tempo wirkten Langs Verfahren vorbildhaft für das Komponieren mit Pulsation- und Tempodimensionen in der jüngeren Generation (Polaschegg 2013). 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Wie beim Großen Musikvereinssaal in Wien (1879), dem Leipziger Neuen Concerthaus (1884) oder dem Concertgebouw in Amsterdam (1888) handelt es sich überwiegend um rechteckige Kastensäle mit verhältnismäßig großer Höhe und großem Raumvolumen bei relativ geringer Grundfläche und wenig seitlichen Absorptionsflächen, sodass in der Regel lange Nachhallzeiten von 1,5 bis 2 Sekunden resultieren. Ebenso wurden und werden Säle anderer Formen bespielt: mit Balkonen (Carnegie Hall New York 1891), Zentralbühne (neue Berliner Philharmonie 1963), fächerförmigem Grundriss (Finlandia Halle Helsinki 1971) oder konzentrisch wie im Amphitheater steil aufsteigendem Auditorium (Kölner Philharmonie 1986). Während sich in diesen Sälen neue Musik in der Regel ohne aufführungspraktische Schwierigkeiten realisieren lässt, erweisen sich die fixierten Bestuhlungen sowie die für dirigierte Orchester- und Opernmusik dimensionierten Bühnen und akustischen Gegebenheiten dann als problematisch, wenn Musiker verschiedene Positionen im Raum um das Publikum herum einzunehmen oder sich zwischen den Hörern zu bewegen haben. Die für viele neue Musik charakteristische Verräumlichung und Mobilisierung des Klangs (Ä Themen-Beitrag 6) kollidiert oft mit der in diesen Sälen vorherrschenden Zentralperspektive, die das Hören sowohl optisch als auch akustisch von hinten nach vorne auf das Podium lenkt (Nonnenmann 2011). Karlheinz Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) – ein Schlüsselwerk neuer Raummusik – wurden folglich nicht im konventionell zugeschnittenen Großen Sendesaal (1953) des WDR Köln uraufgeführt, sondern im flexibel bestuhlbaren Rheinsaal der Kölner Messe. Neuartige Anforderungen stellt vor allem die spatiale Wiedergabe Ä Elektronischer Musik. Als Utopist und Pionier dreidimensionaler Klanglichkeit wirkte Stockhausen mit seiner seit 1953 immer wieder geäußerten Idee eines »Kugelauditoriums« (Stockhausen 1958/63, 153), bis diese 542 schließlich durch den Architekten Fritz Bornemann als deutscher Pavillon bei der Weltausstellung in Osaka 1970 realisiert wurde. Mittels Lautsprecherringen auf sechs Höhenstufen ließen sich elektronische und mikrophonierte instrumentale Klänge um das leicht unterhalb der Mitte auf einer schalldurchlässigen Plattform sitzende Publikum projizieren. Die Raumbewegungen der Klänge ließen sich folglich nicht nur horizontal in konventioneller Quadrophonie von vorne, hinten, links und rechts wahrnehmen, sondern dank vertikaler Abstufung vollständig dreidimensional. Wie dieses Kugelauditorium war auch der für die Weltausstellung in Brüssel 1958 von Le Corbusier mit seinem damaligen Assistenten Iannis Xenakis entworfene Philips-Pavillon, wo mittels 350 Lautsprechern u. a. Edgard Varèses Poème électronique (1957–58) uraufgeführt wurde, nur von temporärem Bestand (Ä Neue Musik und Architektur). Zirkuläre Lautsprecherwiedergaben gestatteten später auch der Espace de Projection (Espro) des Pariser IRCAM (1978), der Kubus des ZKM Karlsruhe (1997) und der Curt-Sachs-Saal des Berliner Staatlichen Instituts für Musikforschung, dessen 16-Kanal-Beschallungsanlage mit 93 Lautsprechern die spezifische Akustik des Raums auch bei wechselnden Besetzungsgrößen und Publikumszahlen aufrechterhält, indem sich durch die von der Firma Philips entwickelte »Multiple-Channel Reverberation« entweder das diffuse Nachhallfeld oder mittels »Assisted Resonance« die natürlichen Eigenfrequenzen des Saals in Echtzeit verstärken lassen (Koning 1983/84). Weltweit einzigartige Projektionsmöglichkeiten bietet der 650 Sitzplätze umfassende Wellenfeldsynthese-Hörsaal 104 der TU Berlin (2007), dessen 2700 Lautsprecher über 832 unabhängige Kanäle gesteuert werden können. Andere Säle arbeiten je nach Anforderungen mit rein mechanisch veränderbarem Raumvolumen. Der Espro am IRCAM kann seine Deckenhöhe zwischen 1,50 und 10,5 Metern variieren und seine Nachhallzeit mithilfe von 171 dreiteiligen mobilen Absorptionsplatten zwischen 0,4 bis maximal 4,0 Sekunden variieren (IRCAM 2015). Den jeweiligen Anforderungen angepasste raumakustische Möglichkeiten bieten auch das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (1998) und der Grote Zaal des Muziekgebouw aan ’t IJ Amsterdam (2005). Neben groß besetzter romantischer Sinfonik lässt sich hier auch Kammermusik und neue Musik in angemessener Größe, Akustik und variabler Bestuhlung aufführen. Wie fast sämtliche Elektronische Musik sind auch Luigi Nonos live-elektronische Werke der 1980er Jahre genuine Raummusik. Die Uraufführung seines Prometeo (1981–85) fand 1984 in der hallenartigen SpätrenaissanceKirche San Lorenzo in Venedig statt, für die Renzo Piano einen 14 Meter hohen schiffsrumpfartigen Klang- und 543 Hörraum aus Holz entworfen hatte, in dem die Musiker auf verschiedenen Plateaus über und um das Publikum herum gruppiert wurden. Nonos Bezeichnung mehrerer Abschnitte seines Werks als isola und seine Disposition der Instrumental- und Vokalstimmen im Raum beschworen dabei sowohl die Insellage seiner Heimatstadt als auch das Vorbild der frühen venezianischen Mehrchörigkeit in San Marco. Mit einer Aufführung von Nonos »tragedia dell ’ ascolto« eröffnet wurde 1998 die von Arata Isozaki entworfene Akiyoshidai International Art Village Hall, Japan, deren Boden sich um das Zentrum herum mittels Plattformen stufenweise anheben lässt, sodass flexible Positionierungen von Musikern und Hörern möglich sind. Wichtige Spielstätten neuer Musik sind neben Rundfunkanstalten, Forschungseinrichtungen, Theater-, Festspiel-, Konzert- und Opernhäusern seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auch Orte mit ursprünglich ganz anderen Funktionen. Die Nachkriegsavantgarde stellte alle Traditionen, so auch den Konzertsaal als prädestinierten Hörort mit seinen architektonischen, aufführungspraktischen und akustischen sowie sozialen und habituellen Konventionen in Frage. Statt vom Publikum ein möglichst »reines Hören« zu fordern, bespielte man bewusst auch nicht primär für Musikaufführungen konzipierte Orte, auch um Hörer jenseits des kunstinteressierten Bürgertums anzusprechen. Unter dem Aspekt der Ä Vermittlung neuer Musik an ein damit nicht vertrautes Publikum gehen daher immer mehr Veranstalter an ungewöhnliche Orte. Den Boden hierfür bereitete u. a. die Fluxus- und HappeningBewegung der 1960er Jahre. Nono brachte La fabbrica illuminata (1964) auch in einem Stahlwerk vor den dortigen Arbeitern zur Aufführung (Nono 1967); Stockhausen konzipierte seine »Parkmusik« Sternklang (1971) für Aufführungen mit fünf Musikergruppen im Freien unter nächtlichem Sternenhimmel (Stockhausen 1971/78) und brachte sein Vokalsextett Stimmung (1968) auch in den Höhlen von Jeita (Libanon) zur Aufführung; R. Murray Schafer schrieb Music for Wilderness Lake (1979) für die Ufer und Wasserfläche eines kanadischen Sees; Steve Reich gastierte mit seinem Ensemble zunächst vor allem in Kunstmuseen und Galerien; und Nicolaus A. Hubers Aion für vierkanaliges Tonband und Gerüche (1968–72) wurde im Rohbau des Römisch-Germanischen Museums Köln uraufgeführt, weil sich dort mittels Gebläsen zum Stück gehörende Düfte am besten ein- und ausblasen ließen. Eine besondere Rolle spielen Aura und Akustik von Orten und Räumen bei religiös und rituell motivierten Werken. José Macedas Pagsamba für großes Bambus-Ensemble, Gongs, fünf Männerstimmen und 100 gemischte Stimmen (1967–68) wurde im kuppelförmig überwölbten Rundbau der katholischen Kirche »Parish of the Holy Sac- Säle und Gebäude rifice« in Quezon City, Philippinen, uraufgeführt. Und Messías Maiguashca kreierte sein La Canción de la tierra (2011–12) eigens für die ehemalige Markthalle »Palacio de Cristal« auf dem zu präkolumbianischer Zeit kultisch genutzten Hügel Itchimbia der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, und zwar für Aufführungen zur Wintersonnenwende der südlichen Erdhalbkugel am 21. und 22. Juni, dem alten Sonnenfest »Inti Raymi« der Inkas (Maiguashca 2013). Viele raumspezifische, situative und für die Umgebung und den Alltag offene Konzepte verlangen entsprechend andere Präsentationsformen und -orte. Neue Musik erklingt daher längst auch an vielen ursprünglich anderweitig genutzten Sälen, Gebäuden und sogar inmitten von Natur und Landschaften (Ä Klangkunst). Bei den Festivals in Rümlingen und Schwaz gibt es immer wieder in Naturlandschaften stattfindende Musikprojekte. Das Festival Ruhrtriennale bespielt seit 2002 Denkmäler der Industriekultur im Ruhrgebiet. Kontinuierlich oder punktuell als »Spielstätten« genutzt werden ferner – nicht zuletzt auch infolge ästhetischer Ausgrenzung seitens etablierter Veranstalter und aufgrund ökonomischer Zwänge – Kirchen sowie alte Bunker, Feuerwachen, Remisen, Wasserspeicher, Garagen, Dächer, Keller, Depots, Werften, Höhlen, Wälder, Berge, Täler, Küsten etc. Ä Themen-Beitrag 6; Institutionen / Organisationen; Klangkunst; Musiktheater; Neue Musik; Neue Musik und Architektur; Zentren neuer Musik Forsyth, Michael: Bauwerke für Musik: Konzertsäle und Opernhäuser, Musik und Zuhörer vom 17. Jh. bis zur Gegenwart [1958], München 1992 „ Glogau, Hans-Ulrich: Der Konzertsaal. 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Dieter Schnebel, Köln 1963, 152–175 „ ders.: Sternklang [1971], in: Texte zur Musik, Bd. 4: 1970–1977, hrsg. v. Christoph von Blumröder, Köln 1978, 170–180 Literatur Rainer Nonnenmann 544 Schaffensprozess Satztechniken / Satztypen / Strukturtypen Ä Harmonik / Polyphonie Schaffensprozess Inhalt: 1. Ausdifferenzierung von Schaffenskonzeptionen im 20. Jh. „ 2. Kooperative Schaffensprozesse  „ 3. Kritik etablierter Autorkonzepte  „ 4. Erweiterung musikalischer Notation „ 5. Technologien und Performance „ 6. Traditionelle Schaffenskonzeptionen „ 7. Ausblick Nach wie vor ist zu Beginn des 21. Jh.s der Schaffensprozess in der Musik teilweise durch Ideen und Konzepte des 19. Jh.s geprägt. Musikalische Kunstwerke werden typischerweise von Einzelpersonen komponiert und als autographe Partituren in Musiknotation festgehalten (Ä Notation). Das schriftliche Artefakt wird als direkte Repräsentation des Werkes eingestuft und als ästhetisches Objekt verstanden. Seit Mitte des 19. Jh.s wurde diese Vorstellung direkt durch neue Technologien und indirekt durch den Zerfall des bürgerlichen Liberalismus und den Übergang in Gesellschaften des Massenkonsums sowie auf andere Weise in autoritären Regimen teilweise untergraben. Diese elementaren Veränderungen trugen zu einer Destabilisierung etablierter ästhetischer Vorstellungen bei, insbesondere des traditionellen Werkbegriffs (Ä Musikästhetik). 1. Ausdifferenzierung von Schaffenskonzeptionen im 20. Jh. Kreative Prozesse der Musik wurden erstmalig im 19. Jh. untersucht. Diese Untersuchungen bezogen sich zunächst hauptsächlich auf das Werk Ludwig van Beethovens, entwickelten sich aber im 20. Jh. zu einem eigenen Forschungsgebiet (Sallis 2015, 15–26). Die Aufgabe der Tonalität und das Auftreten einer Vielzahl neuer Ä Kompositionstechniken von Arnold Schönbergs Ä Zwölftontechnik bis zu den individualisierten Methoden von Komponisten wie Claude Debussy, Béla Bartók, Igor Strawinsky, Edgard Varèse oder Olivier Messiaen bestärkten Musikwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s darin, kreative Prozesse jedes Komponisten sorgfältiger zu berücksichtigen, um die daraus resultierenden Kompositionen besser zu verstehen (Kinderman 2012, vgl. auch Borio 1999). Die Tendenz zur Differenzierung setzte sich weiter durch und beschleunigte sich sogar noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Beispielsweise verwendeten John Cage und Pierre Boulez Klangtabellen in radikal anderer Art und Weise (z. B. in Music of Changes für Klavier, 1951 und Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente, 1952–55; vgl. Boulez / Cage 1990/97, 102–122; Bernstein 2001, 29–40; Mosch 2004, 223–314). Von der hochkomplexen Musik Helmut Lachenmanns und Brian Ferneyhoughs (Cavallotti 2006) bis zum relativ einfachen Verfahren von Terry Rileys In C (1964) (Potter 2002) erkundeten Komponisten neue Mittel und Wege, um Klang zu organisieren. Die Einführung elektronischer Geräte, aleatorische Kompositionstechniken und neue Möglichkeiten digitaler Werkzeuge sowie Interfaces aller Arten führten zu Schaffensprozessen und musikalischen Ergebnissen, die noch vor 100 Jahren undenkbar gewesen wären (Ä Elektronische Musik, Ä Medien, Ä Zufall). Diese Umstände schürten das Interesse an kreativen Prozessen. Bis zum Ende des 20. Jh.s mutierten Studien über musikalische Skizzen und Entwürfe zur »critique génétique«, eine geisteswissenschaftliche Untersuchungsmethode, die nicht nur von dem Komponisten selbst erstellte Dokumente, sondern auch künstlerisch-intellektuelle Hintergründe von Kompositionen sowie neue soziologische und anthropologische Perspektiven berücksichtigt (Appel 2005; Donin / Theureau 2008; Kinderman 2009; Czolbe 2014; Donin 2015). 2. Kooperative Schaffensprozesse Rückblickend vom Ende des 20. Jh.s aus stellte Eric Hobsbawm fest, dass in der Moderne der »Schaffensprozeß […] eher kooperativ als individuell und eher technologisch als manuell geworden war« (1994/2014, 641). Während sich Hobsbawm damit eigentlich auf neue Kunstformen des 20. Jh.s wie z. B. den Ä Film bezog, charakterisieren seine Ausführungen auch wichtige Tendenzen in der Komposition neuer Musik nach 1950. Die Musik von Giacinto Scelsi etwa bietet ein außerordentlich gutes Beispiel für einen kooperativen kompositorischen Ansatz. Ein wesentlicher Teil seines kreativen Prozesses ist auf Schallplatten und ca. 700 Tonbändern konserviert, auf denen er oder eingeladene Musiker (z. B. die Sängerin Michiko Hirayama oder die Cellistin Frances-Marie Uitti) Improvisationen aufzeichneten, die Scelsi dann als »Zeichenblöcke« verwendete (Bernardini / Pellegrini i.V.). Diese Aufnahmen wurden dann in Partiturform übertragen (Jaecker 2014). Ein Großteil dieses Schreibvorgangs wurde von Kopisten durchgeführt, was in eine kontroverse Diskussion bezüglich der Urheberschaft von Scelsis Musik mündete (Jaecker 2005, 27–40). Während der letzten zehn Jahre seiner Karriere arbeitete auch Luigi Nono mit Musikern, Technikern und Assistenten an der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks in Freiburg zusammen. Dort produzierte er mit seinem Team eine eindrucksvolle Serie neuer Werke, welche die Möglichkeiten neuer analoger und digitaler Technologien erprobten. Dasselbe Team arbeitete u. a. auch 545 mit Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel und Boulez zusammen (Haller 1995). Bis heute setzen sich ähnliche kollektive Arbeitsformen in Institutionen wie dem CCRMA (Stanford University) und dem IRCAM fort. Im letzteren Fall haben Assistenten eine offizielle Anerkennung als »Réalisateurs en Informatique Musical (RIM)« erhalten (Zattra 2013). 3. Kritik etablierter Autorkonzepte Für die genannten Fälle gilt als Voraussetzung, dass der Komponist die Autorenkontrolle seiner kreativen Werke weiterhin beibehält. Dagegen stellen neue kollektive Kompositionsmethoden, beginnend mit den Dadaisten und Futuristen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s, die Urheberschaft eines alleinigen Autors in Frage (Lussac 2013, 541 f.). In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden kollektive Kompositionen und Improvisationen zum neuen Schwerpunkt der musikalischen Ä Avantgarde (Ä Improvisation). Beispielhaft ist die kurzlebige Gruppe Ongaku, die 1958 aus einem Improvisationsduo entstand. Obwohl Ongaku nur für kurze Zeit aktiv war, hatte die Gruppe eine nachhaltige Wirkung auf die Szene der neuen Musik auch außerhalb Japans und beeinflusste Komponisten wie z. B. Cage (Marotti 2014). Ähnliche Gruppen, von Fluxus (1961) und der von Franco Evangelisti in Rom gegründeten Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (1964) bis zur Londoner AMM (1965) experimentierten mit Möglichkeiten kollektiver Musikproduktionen (Piekut 2014, 769–776). Viele dieser Gruppen richteten ihre Aufmerksamkeit auf neue Technologien: Gentle Fire (1968) in England, Musica Elettronica Viva (1966) in Rom, die Sonic Arts Union (1966) in den USA sowie das von Tristan Murail, Michaël Levinas und Roger Tessier gegründete Ensemble d’Instruments Électronique de l’Itinéraire (EIEI, 1973), das wesentlich zur Begründung der Ä Spektralmusik in Frankreich beitrug. 4. Erweiterung musikalischer Notation In der westlichen Musikgeschichte fungierte die Notenschrift sowohl als visuelle Repräsentation zugrunde liegender theoretischer Konzepte, die allgemein die Produktion westlicher Musik gewährleistete, als auch als ein effizientes Medium zur Konservierung und Überlieferung spezifischer Musikstücke. Bis zur Mitte des 20. Jh.s wurde diese Doppelrolle kaum hinterfragt. Danach verzichteten viele Komponisten auf die Notenschrift zugunsten von verbalen oder nicht-konventionellen graphischen Instruktionen. In einigen Werken von Cage, so etwa im Concert for Piano and Orchestra (1957–58), werden die Zeichen der traditionellen Notenschrift, sofern überhaupt eingesetzt, als isolierte Symbole benutzt, die vorwiegend als Schaffensprozess Denkanstöße oder Improvisationsvorschläge dienen, und, durch vielfältige graphische Zeichen und Gestaltungsweisen ergänzt, Einflüsse aus der bildenden Kunst verarbeiten (Radnitzky 2003). Während einige Komponisten, wie Ferneyhough, das Potenzial traditioneller Notenschrift ausreizten, um neue Formen instrumentaler Virtuosität zu entwickeln (Feller 2004/12), begriffen andere diese als ein die musikalische Vorstellung einengendes Medium (Murail 1984, 157 f.). Auch wenn herkömmliche Notation verwendet wird, ist deren Funktion oft eher präskriptiv als deskriptiv (Seeger 1958, 185–187). Sie versorgt die Musiker mit erforderlichen Angaben für eine Aufführung, aber sie gibt dem Analysten keinen zuverlässigen Aufschluss über das klangliche Resultat. Viele Aufführungspartituren von Nonos spätem Werk für Instrumente und Live-Elektronik fallen in diese Kategorie, z. B. À Pierre. Dell ’ azzurro silenzio, inquietum (1985–86; Zattra u. a. 2011, 412–415). In der Tat wies Nono darauf hin, dass er zwar eine graphische Repräsentation seiner Musik anstrebe, sich aber andererseits nicht mehr für das musikalische Konzept der »écriture« (Albèra 1987, 19) interessiere. 5. Technologien und Performance Die Einführung elektronischer Technologie in die Komposition, Aufführung, Verbreitung und Erhaltung von Musik ermöglichte Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s eine Abkehr von einer partiturzentrierten Konzeption von Musik. Das formalisierte Verfahren, das Iannis Xenakis in seinen frühen Werken entwickelt hatte, führte zu wechselseitigen Einflüssen zwischen seinen Werken für Instrumente (seit Metastaseis für Orchester, 1953–54) und seinen elektronischen Komposition (seit Concret PH, 1958). Das Resultat waren Werke wie ST / 10–1, 080262 für Kammerensemble (1956–62), das an einem IBM 7090 in der Programmiersprache Fortran komponiert wurde (Manning 2013, 203). Durch die weitere Entwicklung von Software-Tools für die computergestützte Komposition, wie z. B. die am IRCAM entwickelten Programme PatchWork oder OpenMusic (Assayag u. a. 1999), ist der Einfluss der Digitalisierung auf den kreativen Prozess exponentiell gewachsen. Bis zum Ende des 20. Jh.s trugen diese Technologien auch zu einer stärkeren Berücksichtigung von Fragen der Aufführungen im Rahmen des Kompositionsprozesses bei (Manning 2013). Anstatt ästhetisch idealisierte Objekte zu erschaffen und diese auf Papier festzuhalten, sahen viele Komponisten ihre Rolle nun darin, lockere, aber dennoch schlüssige Richtlinien für eine Aufführung zu erstellen. Agostino Di Scipio (2011, 106) bestreitet kategorisch, dass er überhaupt idealisierte Klangobjekte erschaffe. Solche Prinzipien konvergieren mit 546 Schaffensprozess jüngeren Forschungen, die verstärkt Aspekte der Ä Performance bzw. Aufführung von Musik ins Zentrum stellen (Auslander 2006, 100; Cook 2013; Durkin 2014; Ä Interpretation). Dies hat wiederum zu Musik geführt, in der die Figur des Komponisten durch Formen der Echtzeitkomposition wie »live coding« und sogar »live patching« völlig zu verschwinden scheint (Ä Medien). 6. Traditionelle Schaffenskonzeptionen Auch wenn Innovation und Experiment dominante Eigenschaften der Avantgarde des 20. Jh.s waren, so blieben die Kompositionstechniken vieler Komponisten stark von Methoden beeinflusst, die während der letzten beiden Jahrhunderte entwickelt worden waren. In der Hinterlassenschaft Erik Saties und György Kurtág befinden sich zahlreiche Skizzenbücher, die in ähnlicher Weise verwendet wurden wie die Beethovens. Alle drei benutzten während großer Abschnitte ihrer jeweiligen Laufbahnen zahlreiche Skizzenbücher. Die Bücher lassen sich inhaltlich in zwei Kategorien unterteilen: Einerseits eröffnen jene Skizzenbücher, die in erster Linie für ein Werk oder Projekt benutzt wurden, dem Forscher die Gelegenheit, einen künstlerischen Entfaltungsprozess zu verfolgen. Andererseits können Skizzenbücher mit unterschiedlichen Inhalten als kompositorische Tagebücher gelesen werden (Sallis 2015, 107–114). Auch Komponisten wie Luciano Berio oder Elliott Carter entschieden sich für solche traditionellen Schaffenskonzeptionen. Für diese Komponisten waren das Paradigma der alleinigen Autorenschaft, die handschriftliche Partitur und der Werkbegriff weit mehr als ein ästhetisches Erbstück des fernen 19. Jh.s. Die kurze Beschreibung der Kompositionsmethode György Ligetis kennzeichnet diese Tendenz ebenfalls: »Ich schreibe meine Skizzen mit Bleistift, zuerst ungefähr, als Wörter, die nur Adressen für mich sind und für bestimmte musikalische Gedanken stehen. […] Dann mache ich Zeichnungen und dann Notenschrift, immer mit Bleistift. Ich kann radieren. Ich könnte mit der heutigen Technologie gleich per Computer schreiben. Das ist perfekter, und man kann es gleich ausdrucken, aber: Ich liebe den Duft eines gespitzten Faber-Castell-Bleistifts von guter Qualität. […] Die Reinschrift könnte jemand anders nach meinen Skizzen machen. Aber ich muß das Ganze noch einmal hören, während ich es in Reinschrift kopiere« (Wilson / Ligeti 1998, 45). Mit dieser Aussage unterstrich Ligeti einen Punkt, den Klaus Huber ein Jahrzehnt zuvor in einem Vortrag in Darmstadt geltend gemacht hatte: Das Erschaffen einer Komposition findet in einem zeitlichen Rahmen statt und in diesem kreativen Prozess übernehmen Komponisten Verantwortung für die noch nicht existente Musik (Huber 1988/93; vgl. auch Schmidt 2015, 168 f.). 7. Ausblick Spätestens seit dem 14. Jh. wurden Veränderungen bezüglich des Status, der Funktion und dem Konzept der westlichen Musik generell vom Wandel des kreativen Prozesses begleitet. Die zahlreichen, wenn auch bis jetzt weitgehend erfolglosen Versuche des 20. Jh.s, die Art und Weise musikalischer Notation als Konsequenz gewandelter Vorstellungen von Komposition zu verändern (Busoni 1910; Schönberg 1925/76; Karkoschka 1965), bestätigen sowohl die Widerstandsfähigkeit als auch die Einschränkungen unseres derzeitigen Notationssystems. Diese Einschränkungen betreffen ganz besonders eine angemessene analytische Annäherung an die Klangstrukturen der neuen Musik, die sich kaum mehr allein auf die in einer Partitur festgehaltenen Klangbeziehungen beschränken kann (Utz / Kleinrath 2011; Decroupet 2012; Ä Analyse, Ä Themen-Beitrag 3). Diese Umstände bezeugen einen tiefgreifenden Wandel in der Art, wie wir Musik produzieren, bewahren, hören und begreifen. 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In den frühen 1950er Jahren finden sich hierfür auch andere Begriffe wie etwa »durchgeordnete Musik« (Stockhausen 1952/63, 17) oder »universelle Reihenkomposition« (Stockhausen 1954/63, 75; zur Begriffsgeschichte vgl. Blumröder 1985). Heute könnte man serielle Musik auch als »multiparametrisch« (Frisius 2002, 214) oder »multidimensional« (Boulez 1955/72, 87) bezeichnen. In den letzten 25 Jahren, insbesondere seitdem die Manuskripte der Protagonisten dieser Poetik (u. a. Pierre Boulez, Jean Barraqué, Karel Goeyvaerts, Luigi Nono, Bruno Maderna, Luciano Berio, Henri Pousseur, Michel Fano und Gottfried Michael Koenig) in der Paul Sacher Stiftung Basel sowie in anderen öffentlichen oder privaten Archiven der Forschung zugänglich gemacht worden sind, hat die Musikwissenschaft das Bild der seriellen Musik einem tiefgreifenden Revisionsprozess unterworfen, der Serielle Musik heute noch längst nicht abgeschlossen ist. Die durch die Skizzenforschung erlangte bessere Kenntnis der in den seriellen Werken angewandten komplexen technischen Verfahren, die sich anhand der Partitur meistens nicht rekonstruieren lassen, sowie die Berücksichtigung weiterer wichtiger Quellen wie Briefwechsel, unveröffentlichte Texte usw. ermöglichen eine Überprüfung seriellen Komponierens weitgehend unabhängig von polemischen Kontroversen, die in der Vergangenheit häufig die Auseinandersetzung bestimmt haben. Auch historiographische Darstellungen haben auf Grundlage von Quellenstudien neue Akzente gesetzt. Ein lange überliefertes historisches Narrativ der seriellen Musik lautete etwa so: Eine sich um 1951–53 im Zuge der Webern-Rezeption und auf dem Modell von Olivier Messiaens Mode de valeurs et d ’ intensités für Klavier (1949) herausgebildete, durchorganisierte und vorwiegend auf automatischen Prozessen basierende musikalische Poetik geriet spätestens ab 1957 in eine tiefen Krise, sodass 1958 John Cages Auftritt bei den Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, also in der Hochburg der seriellen Avantgarde, besonders großes Aufsehen erregte. Dieses Narrativ kann heute kaum mehr Gültigkeit beanspruchen. Relativiert wurden die Rollen Messiaens und insbesondere jene Cages; vor allem aber verschob sich das Interesse der Forscher vom Beginn auf die Mitte der 1950er Jahre, auf jenen Zeitraum, in dem die seriellen Komponisten ihre eigenen Ziele vielleicht am überzeugendsten realisieren konnten. 1. Serielles Denken Für eine umfassende Darstellung der multidimensionalen seriellen Musik sollte man verschiedene Sichtweisen berücksichtigen: Aus ästhetischer Sicht bezweckte serielle Musik eine radikale Erneuerung der musikalischen Sprache – und damit der Hörgewohnheiten – im Sinne einer Überwindung von harmonischen, metrischen, formalen und expressiven Konventionen, welche die europäische Kunstmusik seit der Barockzeit geprägt hatten. Im Unterschied zur nordamerikanischen experimentellen Musik jener Zeit, z. B. jener Cages, aber auch im Unterschied zum zeitgleichen seriellen Komponieren in den USA (vgl. 2.) war diese Neuerung in Europa fest an die Überzeugung gebunden, musikalische Ä Sprache sei auf der Grundlage gänzlich neuer Kriterien von Grund auf neu aufzubauen. Das Vokabular dieser neuen Sprache basierte auf dem Begriff des komplexen Klangs: Das kompositorische Interesse richtete sich nicht vorwiegend auf die Beziehungen zwischen Tonhöhen, sondern vielmehr auf die innere Ä Struktur des resultierenden Klangs. Die Ä musikalische 548 Syntax serieller Werke wird reguliert durch eine übergeordnete und rationale Strukturierung des musikalischen Ä Materials, die im Idealfall sowohl für die Gestalt der einzelnen Ereignisse  – durch separate Behandlung jedes Parameters  – als auch für deren Aufeinanderfolge, d. h. für die resultierende Ä Form, gültig ist, wobei im Laufe der 1950er Jahre diese makroformale Ebene zunehmend das Interesse der Komponisten auf sich zog. In dieser Hinsicht stellt die europäische serielle Musik eine zentrale Etappe in der Vorstellung von Musik als Klangorganisation dar, die ihre Vorgeschichte in der Musik von Edgard Varèse und der Wiener Schule hatte (Borio 2011; Ä Themen-Beitrag 3, 2.1) und danach zur Klangkomposition der 1960er Jahre und der Ä Spektralmusik führte. Gerade aufgrund ihrer nachhaltigen Auswirkungen auf Kunstmusik bis in die Gegenwart (vgl. 4.) kann serielle Musik im Sinne einer Komposition komplexer Klänge daher heute als einer der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Musik des 20. Jh.s bezeichnet werden. Entscheidend für die Entwicklung der seriellen Musik war ihr intersubjektiver Charakter, da von zahlreichen Komponisten gleichen Alters unter sehr starken Wechselwirkungen dasselbe ästhetische Ziel geteilt wurde, sodass man  – trotz der markanten Unterschiede zwischen den individuellen Poetiken – von einem Projekt sprechen kann, das von einer breiten Basis aus verfolgt wurde, auch wenn es bekanntlich bei zahlreichen Vertretern derselben Generation und älterer Generationen auf nachhaltigen Wiederstand stieß. Der Begriff »serielles Denken«, der sich in der musikwissenschaftlichen Literatur insbesondere seit den 1990er Jahre gefestigt hat, versucht dem großen Bedürfnis nach Theoriebildung, insbesondere bei Boulez, Stockhausen, Pousseur und Koenig, gerecht zu werden: Kompositorische Praxis und Theoriebildung liefen meistens parallel und befruchteten sich gegenseitig (Borio 2005), in einer Ausprägung, die zwar unter Theorie treibenden Komponisten von Jean-Philippe Rameau bis Arnold Schönberg zahlreiche Vorläufer kennt, hier aber in besonders konzentrierter Form auftrat. Dieser Umstand hat die Rezeption serieller Musik in der Frühphase zum Teil erschwert, da die Fülle an kompositionstechnischen Details in den Texten serieller Komponisten ohne genaue Kenntnis der Partituren meist nicht verifizierbar war und daher oft unkritisch akzeptiert oder aber missverstanden wurde; zudem wurden die Texte in einer äußerst anspruchsvollen, an naturwissenschaftlichen Studien orientierten Sprache verfasst (Ä Musikästhetik; Ä Neue Musik und Mathematik). Eine scheinbare Aporie der seriellen Musik liegt im Widerspruch zwischen dem Ideal der strukturellen Stimmigkeit, d. h. im Postulat einer Struktur, die Kriterien zur 549 Organisation sowohl des Materials als auch der Form bereitstellt, und der Tatsache, dass diese Kriterien praktisch für jedes Werk neu formuliert worden sind. Diese Offenheit des seriellen Denkens ist jedoch eine Hauptcharakteristik serieller Musik, die u. a. mit dem aus naturwissenschaftlichen Theorien der Zeit (David Hilbert, Louis Rougier) übernommenem Grundsatz einer »Freiheit der Axiomsetzung« in Zusammenhang steht (Borio 2005, 251–255). In der Worten von Boulez: »Das Denken des Komponisten, das sich einer bestimmten Methode bedient, schafft die Objekte, die es braucht, und die Form, um sie zu organisieren, jedes Mal, da es sich ausdrücken muß. Das klassische tonale Denken beruht auf einem durch Schwerkraft und Anziehung bestimmten Universum; das serielle Denken gründet sich auf einem Universum in unaufhörlicher Expansion« (Boulez 1961/72, 276). Auf die Kritik von Seiten der strukturalistischen Linguistik, die serielle Kompositionstechnik setze Sprachsystem (langue) und Sprechakt (parole) gleich, der Mangel an durchhörbaren Strukturbeziehungen lasse die Sprachhaftigkeit der Musik zusammenbrechen (Ruwet 1959/60), reagierte Henri Pousseur mit eine Hervorhebung der performativen, sich erst in der Aufführung konstituierenden Aspekte musikalischer Sprachlichkeit (1960) (Ä ThemenBeitrag 1). 2. Die Frühphase um 1951 Ende der 1940er Jahre gehörte die Idee einer separaten Behandlung musikalischer Parameter sowie die damit verbundene, als Rezeption der Wiener Schule deutbare, Übertragung reihenmäßiger Verfahren auf andere Dimensionen des Komponierens offenkundig zum Zeitgeist, da unabhängig voneinander vergleichbare Phänomene in Europa und den USA beobachtet werden können. In Milton Babbitts Three Compositions for Piano (1947) sind erstmals neben den Tonhöhen auch Rhythmus, Dynamik und Artikulation durch serielle Permutationen organisiert. Im Unterschied zu den späteren europäischen Entwicklungen ist Babbitts serielles Verfahren allerdings nicht primär als Überwindung der traditionellen musikalischen Sprachkonventionen zu deuten, sondern als umfassende Untersuchung der Gestaltungsoptionen, die sich bei der systematischen Ausschöpfung des chromatischen Totals ergeben – d. h. als Untersuchung der Ausbaumöglichkeiten der Schönbergschen Zwölftonmethode (Mead 2011, 9). Bereits Mitte der 1940er Jahre waren in der Analyseklasse Messiaens am Pariser Conservatoire, die u. a. von Boulez, Goeyvaerts, Barraqué und Fano besucht wurde, Diskussionen über separate Organisationsverfahren für die verschiedenen Dimensionen des Klangs ein Thema Serielle Musik (Boivin 1995, 109), also längst bevor Messiaen mit seinem während der Darmstädter Ferienkurse 1949 komponierten Klavierstück Mode de valeurs et d ’ intensités einen entscheidenden Impuls zur Entstehung der ersten europäischen seriellen Werke gab. In diesem Werk sind die Zwölftongruppierungen zwar modal (also frei permutierbar), d. h. nicht in Reihenform auskomponiert, entscheidend waren jedoch die feste Bindung jedes Tons an eine bestimmte Dauer und Oktavlage sowie die getrennte Organisation der Dynamikstufen und Anschlagsarten. Während John Cage im dritten Satz seines String Quartet in Four Parts (1949–50) eine Art Proportionsreihe für die Organisation und die rhythmische Gestaltung der Ereignisse aus einer Matrix von vorkomponierten Aggregaten verwendete (Kovács 2004, 175–183; Bernstein 2009), entwickelte sich in Venedig bei Maderna und Nono – damals ohne jeglichen Kontakt zur Pariser oder New Yorker Szene – eine eigene Synthese aus Kompositionsverfahren der Renaissance und der Wiener Schule (Rizzardi 2004). In den Variazioni canoniche sulla serie dell ’ op. 41 di Arnold Schönberg für Orchester (1949–50) verwendete Nono zum ersten Mal eine Reihe aus acht rhythmischen Werten und verknüpfte sie mit Ableitungssystemen, welche die Intervallstruktur der Grundreihe kontinuierlich umstellen, um kanonische Schichten miteinander zu verbinden (Rizzardi 2004, 10–14). In den Jahren 1950–52 entstand dann eine Reihe von Werken, die in der wissenschaftlichen Literatur üblicherweise mit den Begriffen »statische Musik« (Decroupet 1997a, 299–305) und »punktuelle Musik« (ebd., 305–312; Eggebrecht 1972) bezeichnet werden. Beide Begriffe wurden damals auch von den Komponisten selbst propagiert, bevor sich der Begriff »serielle Musik« endgültig durchsetzen konnte. Die damit jeweils hervorgehobenen Charakteristika – eine statischer, höhepunktloser Verlauf und eine Isolierung von Einzeltönen  – sind zwar deutlich in einigen dieser in allen Dimensionen durchorganisierten Werke erkennbar, erwiesen sich als Oberbegriffe jedoch letztlich ungeeignet. Ein Beispiel »statischer« sowie »punktueller« Musik ist wohl Goeyvaerts ’ Sonate für zwei Klaviere (1950–51): Dort setzte der Komponist das Prinzip der »synthetischen Zahl« ein (Sabbe 1981, 9 f.), nach dem jeder Parameter dergestalt in Skalen mit unterschiedlichen numerischen Werten gegliedert wird, dass bei jedem Klangereignis die Summe der vier parametrischen Werte immer derselben »synthetischen Zahl« entspricht. Das Verfahren garantiert einen strukturellen Zusammenhang höherer Ordnung und eine individuelle Gestaltung jedes einzelnen Tons, überlässt aber dem Komponisten eine gewisse Freiheit in der parametrischen Zusammensetzung der Struktur. 550 Serielle Musik R U 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 7 3 10 12 2 8 4 5 6 11 1 9 12 3 7 10 7 11 10 12 3 4 1 2 8 9 10 5 6 7 12 11 3 10 1 7 9 2 11 6 4 8 5 9 8 1 6 5 3 2 4 11 6 4 12 9 2 5 8 4 5 2 8 9 12 3 6 11 1 10 7 10 12 7 11 6 5 3 9 8 1 4 2 5 6 8 9 12 10 4 11 7 2 3 1 12 9 11 6 5 4 10 8 2 7 3 1 6 11 9 12 10 3 5 7 1 8 4 2 9 8 6 5 4 3 12 2 1 11 10 7 7 1 10 3 4 5 11 2 8 12 6 9 2 1 4 3 10 12 8 7 11 5 9 6 8 9 5 6 11 7 2 12 10 4 1 3 11 6 12 9 8 2 7 5 4 10 1 3 9 12 6 11 7 1 8 10 3 5 2 4 6 5 9 8 2 1 11 4 3 12 7 10 10 3 7 1 2 8 12 4 5 11 9 6 4 3 2 1 7 11 5 10 12 8 6 9 11 7 12 10 3 4 6 1 2 9 5 8 8 2 5 4 3 10 9 1 7 6 12 11 1 2 9 3 4 6 8 5 5 4 8 2 1 7 6 3 10 9 11 12 12 10 11 7 U R 7 12 9 6 7 9 2 1 8 1 3 5 8 2 c 11 8 6 11 9 8 1 2 1 3 12 2 2 3 5 a 7 b R 1 6 6 U 6 8 γ 7 d 12 6 7 7 3 12 d 2 5 9 5 2 6 11 11 c 7 2 7 1 6 9 11 9 1 2 1 7 2 8 7 11 12 9 δ 9 3 11 9 12 Abb. 1 (a und b): Pierre Boulez, Structures Ia, serielle Disposition und Partitur, T. 8–15 mit Reihenanalyse (© 1955 by Universal Edition, Wien) 1951 entstanden auch Boulez ’ berühmte Structures Ia für zwei Klaviere, das erste eines Zyklus von drei Stücken, der aufgrund der Dichte und Schnelligkeit mancher Passagen kaum als »statisch« oder »punktuell« bezeichnet werden kann. Eine Zwölftonreihe (die erste Zwölftonfolge aus Messiaens Mode de valeurs et d ’ intensités: es-d-a-asg-fis-e-cis-c-b-f-h) und ihre Transpositionen werden in zwei Quadraten (Original und Umkehrung) durch Zahlen repräsentiert (es = 1 bis h = 12), die in allen Reihenformen derselben absoluten Tonhöhe zugeordnet bleiben (Abb. 1). Die Grundreihe ist im ersten Quadrat in der ersten Zeile sowohl horizontal als auch in die ersten Spal- 1 9 γ 5 3 8 3 5 5 11 6 5 1 5 1 5 6 α δ 1 3 12 12 8 12 12 β te vertikal notiert, zudem ist in jeder Zeile die jeweilige Transposition der Grundreihe notiert (also in Zeile 2 ausgehend vom Ton d = 2, in Zeile 3 vom Ton a = 3 etc.). Das zweite Quadrat enthält die Umkehrungsformen, die nach demselben Prinzip bei gleichbleibender numerischer Tonzuordnung eingetragen werden (1–7–3–10–12–9–2– 11–6–4–8–5 ist die Umkehrung der Grundreihe vom Ton es aus, sie erscheint in der ersten Zeile und ersten Spalte des zweiten Quadrats). Zugleich werden Skalen für Dauernwerte, Dynamikstufen und Anschlagarten von 1 bis 12 geschaffen (Dauern: Zweiunddreißigstel = 1 bis punktierte Viertel = 12; Dynamik von pppp = 1 bis ffff = 12; die Anzahl der verwendeten Anschlagsarten beträgt nur 10 statt 551 Serielle Musik , 12, die Werte 4 und 10 werden dabei ausgelassen; Ligeti 1958/2007, 421). Die beiden Quadrate werden dann systematisch in unterschiedlichen Richtungen (horizontal für Tonhöhen und -dauern, diagonal für Dynamik und Anschlagsarten) gelesen, um Wertfolgen für alle vier Parameter quasi automatisch herzuleiten. Mit jeder Tonhöhe der Reihe korrespondiert eine durch eine andere Lesart der Quadrate vorbestimmte Dauer, und jeder Reihenform wird eine bestimmte Dynamik und Anschlagsart zugeordnet, wobei wichtige Aspekte wie die Registerlage der Töne und die Tempoangabe von der seriellen Prädetermination ausgeschlossen bleiben (ebd., 414–423). Es handelt sich offensichtlich um eine manifestartige Komposition, die hinsichtlich der Strenge und Einfachheit ihrer Prozeduren im Schaffen Boulez ’ sowie in der seriellen Produktion insgesamt einen Einzelfall darstellt (die folgenden Stücke des Zyklus, Structures Ib und Ic, 1951, beruhen auf weit komplizierteren und weniger automatischen Kompositionsverfahren). Dennoch galten die Structures Ia lange Zeit als Paradigma der seriellen Musik schlechthin – wohl auch aus dem banalen Grund, dass ihre kompositions- technische Anlage auch anhand der Partitur, d. h. ohne Zuhilfenahme der Skizzen, nachvollziehbar war und spätestens nach der Analyse Ligetis (ebd.) allgemein bekannt war. Deutlich zeichnen sich die hier kurz behandelten Stücke, zu denen man noch u. a. Madernas Improvvisazione N. 1 per orchestra (1951–52), Nonos Polifonica – Monodia  – Ritmica für sechs Instrumente und Schlagzeug (1950–51), Boulez ’ Polyphonie X für 18 Instrumente (1950– 51), Stockhausens Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger (1951), Barraqués Séquence für Stimme, Schlagzeug und Ensemble (1950–55) und Fanos Sonate pour deux pianos (1952) zählen muss, durch ihren experimentellen Charakter aus: Das kompositorische Interesse richtet sich auf die rationelle parametrische Gestaltung von Einzelereignissen, aus der stimmige Kriterien zur globalen Organisation des Stückes herzuleiten sind. In dieser Konzeption der Musik als Ordnung von Tönen (Stockhausen 1952/63, 19) ergibt sich die Makroform der Werke also gleichsam als Resultante der für das Material ausgewählten Organisationsprinzipien, was später formu- Serielle Musik lierte Kritiken an der Nivellierung der Form in seriellen Werken (Ligeti 1960/2007, 94 f.) oder sogar die Diagnose einer Abschaffung der Formkategorie (Dahlhaus 1966, 428) durchaus legitim erscheinen lässt, wenn man sie auf diese allererste serielle Phase begrenzt. 3. Die Entwicklung 1952–1955: Komposition des Klangs Für die nachfolgende Entfaltung des seriellen Denkens spielte die Erfahrung der jungen europäischen Komponisten mit der Ä elektronischen Musik eine herausragende Rolle. Die Pariser Komponisten (u. a. Barraqué, Boulez und Fano) hatten bereits in Herbst 1951 die Möglichkeit, einen von Pierre Schaeffer, dem Hauptvertreter der musique concrète, geleiteten Kurs über die Arbeit der Groupe de Recherche de Musique Concrète am Pariser Studio Club d’Essai zu besuchen (Decroupet 2011). Dort entstanden die zwei Études de musique concrète (1951, 1952) von Boulez sowie die Konkrete Etüde von Stockhausen (1952) und die Étude von Barraqué (1953). Ab 1953 arbeiteten Stockhausen und Goeyvaerts am Studio für elektronische Musik des NWDR Köln, wenig später kamen dort u. a. Koenig und Pousseur hinzu. Maderna konnte bereits 1952 am Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung der Universität Bonn experimentieren (wo er, unter Mitwirkung von Werner Meyer-Eppler, das Tonband seiner ersten Musica su due dimensioni für Flöte, Becken und Tonband, 1952, realisierte), bevor er 1955, zusammen mit Luciano Berio, das Studio di Fonologia in Mailand begründete. Diese frühen Experimente mit elektronischer Klangerzeugung – die aufgrund der ungleichartigen Ausstattung der Studios und der am Anfang noch beschränkten Vertrautheit mit den neuen Mitteln sehr unterschiedlich ausfielen  – boten den seriellen Komponisten zum ersten Mal die Möglichkeit, die Ä Klangfarbe direkt zu gestalten. Damit schien zunächst, insbesondere in den ersten, ausschließlich mit dem Sinustongenerator im Studio des NWDR erstellten, elektronischen Werken von Stockhausen – Studie I (1953) und Studie II (1954) –, dass eine der wesentlichen Aporien der frühen seriellen Komposition überwunden werden könnte: Während in der instrumentalen Musik die Parameter Tonhöhe, Dauer und Dynamik durchaus seriell organisierbar waren, konnte keine vergleichbare und sinnvolle parametrische Abstufung der Klangfarbe realisiert werden – die serielle Steuerung der Anschlagarten war offensichtlich nicht mehr als eine Notlösung: »Es wurde uns klar, daß dem Streben nach einer wirklichen Synthese von Klangstrukturen eine unüberwindliche Grenze gesetzt ist, solange man mit Instrumentaltönen komponiert« (Stockhausen 1953/63, 39; vgl. auch Decroupet 2002, 38–40). 552 Doch beschränkten sich die entscheidenden nächsten Schritte in der Entwicklung der seriellen Musik keineswegs auf die Arbeit im elektronischen Studio, sondern schlugen sich vor allem in der Übertragung dieser Erfahrungen auf den Bereich der Instrumentalmusik nieder. In den Jahren 1953–55 vollzog sich der Übergang von einer vielschichtigen aber linearen Konzeption der Reihenanordnung der Töne zu einer räumlichen Disposition von durchstrukturierten komplexen Klangphänomenen. Diese werden bei jedem Komponisten zwar verschieden aufgefasst und organisiert, gemeinsam bleibt aber das verstärkte Interesse für ihre interne Morphologie und ihre Verwandtschaftsgrade, wie sie sich durch die Kontrolle nicht nur ihrer parametrischen Zusammensetzung, sondern auch ihrer Registerlage, ihrer vertikalen bzw. horizontalen Dichte, ihrer agogischen Entwicklungsform usw. gestalten lassen. Auf der kompositionstechnischen Ebene entwickelten die Komponisten vor diesem Hintergrund verschiedene Ableitungssysteme, die einerseits auf die Überwindung konventioneller aus der Reihenstruktur abgeleiteten Motivik ausgerichtet sind, andererseits eine ständige Veränderung der Dichte durch die wechselnde Gruppierung von Tönen bezwecken und damit eine Überwindung des punktuellen Stils darstellen (Decroupet 1997a, 326). Maderna und Nono entwarfen gemeinsam bereits Ende 1951 – Maderna zuerst in Improvvisazione N. 1 per orchestra (1951–52), Nono in Composizione per orchestra n. 1 (1951) – ihre sog. »Verschiebungstechnik« (»tecnica degli spostamenti«, vgl. Borio 1999, 15–20; Rizzardi 2011, 57–65), die beide Komponisten bis Ende der 1950er Jahre einsetzten, so etwa Maderna in seinem Quartetto per archi in due tempi (1955, Abb. 2). Dabei handelt es sich um eine graphische Disposition der Anfangsreihe in einem Quadrat (12x12 Felder, die X-Achse stellt die Tonhöhen dar, die Y-Achse die zeitliche Folge), wobei jeder Ton in diesem und in sukzessiven Quadraten um reihenmäßig determinierte Faktoren individuell verschoben wird. Damit erreicht man eine statistische Verteilung der Reihentöne – in einigen Spalten der Quadrate treffen sich zwei, drei oder mehr Töne, andere bleiben leer und können als Pausen realisiert werden –, sodass die Intervallstruktur der Anfangsreiche gänzlich neu geordnet wird. Vergleichbare Verfahren haben im selben Zeitraum auch andere Komponisten verwendet, so Boulez im Zyklus »Bourreaux de solitude« in Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55), Stockhausen ab 1952 z. B. im Klavierstück I (1952–53) oder Pousseur im Quintette à la mémoire d’Anton Webern (1955) (Decroupet 1997a, 326–354). In dieser Phase, in der diese Komponisten sich in einem ständigen Austausch über kompositionstechnische Aspekte befanden, liegen gegenseitige Einflüsse dabei auf der Hand. 553 Serielle Musik Abb. 2: Bruno Maderna, Quartetto per archi in due tempi, erster Durchlauf, serielle Disposition (Borio 2004, 8; Abdruck mit freundlicher Genehmigung) In der Theoriebildung tauchen entsprechende neue Begriffe auf: Boulez spricht von »Klangkomplexen« oder »Klangblöcken« (»complexes de sons« oder »blocs sonore«, Boulez 1952/72, 40–48) in Verbindung mit der für den Zyklus »L ’ artisanat furieux« des Le marteau sans maître entworfenen Matrix von Klangaggregaten variabler Dichte, die in allen Sätzen des Zyklus verschiedenartig (horizontal, vertikal, kontrapunktisch usw.) verwendet wurden (Koblyakov 1990, 3–34; Mosch 2004, 50–67, 224–266). Stockhausen formulierte seine Theorie der »Gruppe« als »eine bestimmte Anzahl von Tönen […], die durch verwandte Proportionen zu einer übergeordneten Erlebnisqualität verbunden sind« (Stockhausen 1955/63, 63; vgl. dazu Blumröder 1984, 7–11); gemeint ist also eine komplexe Klangstruktur (eine Art Makroklang), deren entscheidender Faktor in der hörpsychologischen Kategorie der Erlebnisqualität liegt. Dies ermöglicht es schließlich, formale Artikulation vorzunehmen als Reihung von Gruppen unter Beibehaltung der klanglichen Individualität jeder einzelnen Gruppe im zeitlichen Verlauf. Stockhausens Gestaltung jeder Gruppe als komplexes Klangphänomen ist besonders deutlich in instrumentalen Werken wie Zeitmaße für fünf Holzbläser (1955–56) oder Gruppen für drei Orchester (1955–57) erkennbar, wo das Modell der spektralen Entfaltung eines Klangs durch das Auskomponieren von Ein- und Ausschwingvorgängen (Abb. 3) sowie durch die Überlagerung von mehreren auf unterschiedlichen zeitlichen Grundwerten basierenden Schichten nachgebildet wird (Stockhausen 1957/63, 120–124; Decroupet 1997a, 371–379; Misch 1999, 79–115). Auch in den Werken von Komponisten wie Maderna und Nono, die ihre kompositorische Aktivität nicht durch systematische Theoretisierung begleitet haben – und daher in den Abhandlungen über serielle Musik lange Zeit wenig Beachtung gefunden haben –, ist Mitte der 1950er Jahre eine ähnliche Verschiebung der Interessen zur Gestaltung komplexer Klangereignisse und zu deren Nebeneinander- bzw. Übereinanderschichtung zu beobachten. Dabei sind der achte Satz von Nonos Il canto sospeso für Sopran-, Alt- und Tenorsolo, gemischten Chor und Orchester (1955–56) sowie Nonos Varianti, Musik für Violine, Streicher und Holzbläser (1957) die bekanntesten Beispiele (Borio 2004, 94–98). Diese Wende innerhalb des seriellen Denkens kann man allgemein als Übergang von einer parametrischen Organisation der Einzelereignisse zu einem »Kontrapunkt von Strukturen« (ebd., 98) verstehen. Der wesentliche Aspekt wird nun die serielle Gestaltung auf der Makroebene, während auf der Mikroebene die generativen Prozesse des Materials mit einer gewissen Freiheit behandelt werden können (Boulez sprach rückblickend im Bezug auf Le marteau sans maître von »globale[r] Diszplin« und »lokale[r] Indisziplin«, vgl. Boulez 1975/77, 74). 4. Auswirkungen des seriellen Denkens Mit den Hauptwerken wie Le marteau sans maître, Gruppen und Il canto sospeso erreichte die serielle Musik Mitte der 1950er Jahre ihre »reife« Phase. Nun hatten die Komponisten die syntaktischen Gegebenheiten ihrer eigenen Sprache endgültig formuliert. Damit wurde aber auch ein Punkt erreicht, an dem sich die Poetiken der Komponisten noch deutlicher als zuvor verzweigten und ausdifferenzierten. Die zahllosen Formen der Erweiterungen dieser Sprache in den nächsten Jahren und Jahrzehnten können Serielle Musik 554 Abb. 3: Karlheinz Stockhausen, Gruppen, Gruppe 1, auskomponierte Ein- und Ausschwingvorgänge (© 1963 by Universal Edition, Wien) so kaum in einer allgemeinen Darstellung zusammengefasst werden und müssten allenfalls bei jedem einzelnen Komponisten individuell untersucht werden. Sehr schwer zu fassen sind darüber hinaus mögliche Übergänge zu einer oft als »postseriell« bezeichneten Phase. So führte Stockhausen noch 1954, in einer Analyse von Debussys »poème dansé« Jeux (1912), den Begriff der »statistischen Formvorstellung« in seine kompositorische Theorie ein: »Die statistische Formvorstellung arbeitet mit annährenden Bestimmungen. Es geht um Grade der Dichte von Tongruppen; Grade der Tonhöhenlage, der Bewegungsrichtung; der Geschwindigkeit, der Geschwin- digkeitsveränderung, der durchschnittlichen Lautstärke; der Lautstärkeveränderung; der Klangfarbe und der Klangfarbenmutation« (Stockhausen 1954/63, 77). Stockhausen verwendete diese statistischen Kriterien ausgiebig in seinen »Gruppenkompositionen« sowie in der elektronischen Komposition Gesang der Jünglinge (1955–56) und sie öffneten auch den Weg zur Einbeziehung aleatorischer Aspekte in seine späteren Werke (z. B. Klavierstück XI, 1956; Ä Zufall). Damit machte seine Poetik eine Entwicklung durch, die ihn schrittweise zur Aufgabe traditioneller Notationsformen bis hin zur Textkomposition der späten 1960er Jahre (Aus den sieben Tagen für variable Besetzung, 555 1968) führte. In Anbetracht von Stockhausens Rückkehr zu deutlich erkennbaren reihentechnischen Verfahren in den »Formelkompositionen« (Conen 1991) ab Mantra für zwei Pianisten und Live-Elektronik (1970) wäre es aber gewagt zu behaupten, Stockhausen hätte sich in seiner kompositorischen Entwicklung von den Hauptgrundsätzen des seriellen Denkens ganz abgewandt. Auf die Frage ob man 1974 von einer postseriellen Phase der neuen Musik sprechen könne, antwortete er: »Nur wenige verstehen, was serielle Musik ist… […]. Was einmal das hierarchische Denken in allen Bereichen der Musik gewesen ist, hat sich zum seriellen Denken erweitert und wird nun viele Jahrhunderte maßgebend sein« (Stockhausen 1974/78, 550). Die epochale Bedeutung des seriellen Denkens für die Musik der zweiten Hälfte des 20. Jh.s ist schwer zu leugnen. Man kann es heute wagen zu behaupten, dass dem seriellen Denken (1) als Vorstellung von Musik als Organisation komplexer Klangereignisse und / oder (2) als multiparametrische Materialgestaltung durch reihenmäßige, permutative und statistische Verfahren eine grundlegende Auswirkung auf zahlreiche Ansätze der komponierten Musik bis in die Gegenwart zuzuschreiben ist. Der Begriff »postseriell«, der als Verlegenheitsvokabel zur Beschreibung der Entwicklungen der seriellen Musik am Ende der 1950er Jahre bereits 1961 in Darmstädter Debatten auftaucht (Blumröder 1985, 12) und mit dem man dann pauschal die von Ä informeller Musik, Klangkomposition (Ä Themen-Beitrag 3, 2.2), Ä Instrumentalem Theater, Ä konzeptueller Musik etc. geprägten 1960er Jahre bezeichnet hat, ist allerdings zu diffus, um brauchbar zu sein (Borio 1993, 23–33; Cavallotti 2006, 13–29). Es liegt auf der Hand, dass bei Komponisten wie Ligeti, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Iannis Xenakis, Krzysztof Penderecki, Helmut Lachenmann oder Brian Ferneyhough eine bewusste und manchmal kritische Abgrenzung vom seriellen Denken und zugleich eine Übernahme einiger seiner zentralen Instanzen erfolgte. Der Terminus »postseriell« könnte also allenfalls im Sinne einer Lyotardschen »Anamnese« der seriellen Musik »für kompositorische Verfahren stehen, die sich explizit aus einer kritischen Überprüfung und Weiterentwicklung serieller Kompositionsmethoden heraus entwickeln […][,] und sollte nicht als nivellierender ›Epochenbegriff‹ missverstanden werden, der andere zeitgleiche Strömungen oder auch die inhärente Vielfalt der seriellen Musik selbst ignoriert« (Utz 2012, 70). Für viele Vertreter einer nachfolgenden neoexpressiv und zum Teil neotonal orientierten Generation europäischer Komponisten (Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn, Hans-Jürgen von Bose) sowie für einige Vertreter des amerikanischen Ä Minimalismus wie Steve Reich, John Adams oder Michael Nyman erschien die serielle Musik Serielle Musik als ein ästhetisch und machtpolitisch institutionalisierter Diskurs, den man – teilweise polemisch – ablehnte (z. B. Bose 1978/2010; Reich 1968/2002; Ä Themen-Beitrag 2). Gerne wurde immer wieder auf die Kompliziertheit der Prozeduren und auf die vermeintliche Unhörbarkeit der seriellen Strukturen hingewiesen (Ä Themen-Beitrag 1, 4., Ä Rezeption, Ä Wahrnehmung, 2.1) und serielle Musik als eine Angelegenheit für einen begrenzten Spezialistenkreis mit eingeschränkter historischer Bedeutung dargestellt. Anderen erschien serielle Musik als grundlegender Entwurf, mit dem man sich – auch kritisch – auseinanderzusetzen hatte. Zu dieser zweiten Gruppe gehören Komponisten wie Helmut Lachenmann, Gérard Grisey, Hugues Dufourt, Brian Ferneyhough, Nicolaus A. Huber, Mathias Spahlinger u. a. Bei manchen von ihnen ist die Rezeption von Aspekten serieller Musik im Kontext poststrukturalistischen Denkens als Teil breiterer ideengeschichtlicher Entwicklungen interpretierbar (Cavallotti 2006). Ä Themen-Beiträge 1, 3; Interpretation; Rezeption; Struktur; Zwölftontechnik Bernstein, David W.: A Line in Rhythmic Space. John Cage ’ s String Quartet in Four Parts (1950), in: Intimate Voices. Aspects of Construction and Character in the Twentieth-Century String Quartet, Bd. 2, hrsg. v. 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Dieter Schnebel, Köln 1963, 17–23 „ ders.: Von Webern zu Debussy (Bemerkungen zur statistischen Form) [1954], in: ebd., 75–85 „ ders.: Gruppenkomposition: Klavierstück I (Anleitung zum Hören) [1955], in: ebd., 63–74 „ ders.: … wie die Zeit vergeht… [1957], ebd., 99–139 „ ders.: Interview II: Zur Situation (Darmstädter Ferienkurse ›74) [1974], in: Texte zur Musik, Bd. 4: 1970–1977, hrsg. v. Christoph von Blumröder, Köln 1978, 550–568 „ Utz, Christian: Struktur und Wahrnehmung. Gestalt, Kontur, Figur und Geste in Analysen der Musik des 20. Jh.s, in: Musik & Ästhetik 64, 16/4 (2012), 53–80 Pietro Cavallotti Sinfonie Ä Gattung; Orchester Soziologie Ä Musiksoziologie Spektralmusik Inhalt: 1. Musique spectrale  „ 1.1 Vorgeschichte und kompositorische Poetiken „ 1.2 Bedeutung der Wahrnehmung „ 1.3 Klangforschung (recherche musicale)  „ 1.4 Wandel des spektralen Komponierens  „ 1.5 Die musique spectrale in den 1990er Jahren: Griseys späte Werke  „ 1.6 Die musique spectrale um die Jahrtausendwende „ 2. Aktuelle Entwicklungen spektraler Musik Die Reduktion kompositorischer Ansätze auf eine »spektrale« Kompositionstechnik, d. h. ein Komponieren mit Teiltonspektren, ist vielfach problematisiert worden, nicht zuletzt weil damit ein Teilaspekt komplexer kompositorischer Verfahren herausgestellt wird, der die unterschiedlichen Kontexte, Intentionen und Methoden solcher Verfahren tendenziell ausblendet und damit divergierende Entwicklungen unter einem Schlagwort subsumiert. Folgte man einer solchen einseitigen Definition von »Spektralmusik«, ließen sich etwa Harry Partch (1901–74), Alvin Lucier (*1931), Phill Niblock (*1933), James Tenney (1934– 2006) oder La Monte Young (*1935)  – sowie zahlreiche europäische Komponisten wie z. B. Giacinto Scelsi (1905– 88) als »Spektralisten« bezeichnen. Der Begriff würde hier zum bloßen Etikett. Versucht man den Begriff »Spektralmusik« dagegen auf die französische musique spectrale, die sich seit den frühen 1970er Jahren entwickelte, zu begrenzen, so bringt dies zwar ebenso Probleme mit sich: Der Terminus wurde, insbesondere von Seiten der mit diesem Begriff assoziierten Komponisten selbst, immer wieder kontrovers diskutiert (Haselböck 2009, 10), hat sich allerdings mittlerweile auch im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend durchgesetzt (Anderson 2000; Barthelmes 2000; Sedes 2004). Im Folgenden wird daher vor allem vom Klangdenken der französischen musique spectrale und dessen Konsequenzen die Rede sein (vgl. Ä Themen-Beitrag 7 für eine breitere Darstellung spektral »informierten« und mikrotonalen Komponierens). 1. Musique spectrale Die musique spectrale hat sich in den frühen 1970er Jahren in Frankreich im Umfeld der Kompositionsklasse von Olivier Messiaen (1908–92) und des Ensembles L’Itinéraire entwickelt. 1979 legte Hugues Dufourt (*1943) einen Grundsatztext mit dem Titel Musique spectrale (Dufourt 1979) vor, der Manifestcharakter besitzt. Ob die von Du- 557 fourt hier thematisierte kompositorische Richtung ein so klares Profil besitzt bzw. besaß, wie sein Manifest suggeriert, ist zwar zweifelhaft, jenseits aller Kontroversen lässt sich aber festhalten, dass der Einfluss der von der musique spectrale initiierten Neuerungen auf jüngere Komponisten unbestritten ist. Nachwirkungen des Schaffens der bedeutenden »Spektralisten« der ersten Generation Gérard Grisey (1946–98), Tristan Murail (*1947), Dufourt und Michaël Levinas (*1949) finden sich in unterschiedlichsten (nationalen, stilistischen) Zusammenhängen und in der Musik aller Generationen. Seit den 1980er Jahren wurden spektrale Ansätze bei Komponisten wie Jonathan Harvey (1939–2012), Kaija Saariaho (*1952), George Benjamin (*1960), Fabien Lévy (*1968) u. a. auf individuelle Weise weitergedacht. Nicht zu vergessen sind auch Tendenzen der Spektralmusik in Rumänien (Surianu 2000) – z. B. bei Ştefan Niculescu (1927–2008), Horațiu Rădulescu (1942–2008) und Iancu Dumitrescu (*1944) –, sowie in Polen (z. B. Marcin Stańczyk, *1977) und anderen Ländern (Ä Osteuropa). 1.1 Vorgeschichte und kompositorische Poetiken Die historischen Wurzeln der musique spectrale könnte man im späten 19. und frühen 20. Jh. verorten. Zuweilen wurde Richard Wagner als ein »Protospektralist« bezeichnet  – vor allem im Hinblick auf das Rheingold-Vorspiel oder auf »Parsifal, wo die wirkliche Vision, wie mir immer scheint, eine der Klangfarbe ist« (Harvey 2000/11, 226). Auch Debussy wurde in diesem Zusammenhang häufig genannt. Letztlich gingen die entscheidenden Impulse aber wohl vor allem von der Vorbildwirkung Messiaens, der Musik von Iannis Xenakis (1922–2001) und György Ligeti (1923–2006), die Messiaen mit seinen Schülern analysierte, sowie von Scelsi aus. Zugleich ist die spektrale Ästhetik vor dem Hintergrund des seriellen und postseriellen Parameterdenkens und – trotz der Faszination, die z. B. Karlheinz Stockhausens Musik auf Grisey ausübte – zum Teil als Gegenbewegung zu diesem Denken zu betrachten. Den wesentlichen Vertretern der musique spectrale ging es stets darum, ihre Musik nicht auf eine Auseinandersetzung mit der Teiltonreihe zu reduzieren (statt »musique spectrale« schlug Grisey den Begriff »musique liminale« vor, der sich allerdings nicht durchsetzte; vgl. Grisey 2008, 281), sondern weitere Faktoren zu nennen, die für ihr Denken charakteristisch seien. »Spektralen« Werken ist, so Murail, ein prozesshaft-dynamisches Denken, eine »›Vektorisierung‹ des musikalischen Diskurses« (»›vectorisation‹ du discours musical«, Murail 1989/2004, 56) eigen. Zumeist gibt es für Murail und Grisey keine vorweg festgelegten klanglichen oder formalen Prämissen, Spektralmusik sondern die Bezugssysteme werden erst im Rahmen der konkreten kompositorischen Arbeit definiert. Dabei lassen sich vier wichtige kompositorische Grundprinzipien nennen: (1) Um die angestrebte Prozessualität nachvollziehbar zu gestalten, ist »eine gewisse Plastizität« (ebd., 47) gefordert. Die Elemente müssen wiedererkennbar, zugleich aber auch elastisch genug sein, um Transformationen zu erlauben und dabei doch ihre Identität zu wahren. (2) Es sind Gegensätze vonnöten, zwischen denen Prozesse verlaufen können: vom Harmonischen zum Inharmonischen, vom Glatten zum Rauen, von der Ordnung zur Unordnung. Bei der Verwendung von Klängen innerhalb solcher Kontinua gibt es keine Verbote (ebd.). (3) Die Ambiguität spektraler Texturen wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Häufig ist es unmöglich eindeutig festzustellen, ob es sich um einen Akkord oder eine Klangfarbe handelt. Diese bereits bei Debussy und Messiaen in Ansätzen vorgeprägte Mehrdeutigkeit zwischen »harmonie« und »timbre« (vgl. den in der Spektralmusik gebräuchlichen Begriff »harmonie-timbre«; Grisey 1991/2000, 51) ist eine typische Eigenschaft spektraler Musik. (4) Die Bedachtnahme auf den Faktor der musikalischen Zeit ist unumgänglich: In der Musik lasse sich nichts außerhalb der Zeit konzipieren (Murail 1989/2004, 52; die Frage, inwiefern die Achtsamkeit auf mikrotonale bzw. klangfarbliche Details und der Faktor der Ä Zeit in der Ä Wahrnehmung zusammenwirken, wurde in der neuen Musik auch außerhalb der musique spectrale immer wieder kontrovers diskutiert). Für das spektrale Denken der 1970er und 80er Jahre ist ein solcher Überblick zweifellos repräsentativ. Zugleich tritt hier aber die eingangs diskutierte Problematik offen zutage, sind doch einige der erwähnten Prinzipien relativ unspezifisch und lassen sich auf zahlreiche Kompositionsrichtungen neuer Musik beziehen, sodass die Frage nach der Beschaffenheit einer »spektralen« Musik immer wieder aufs Neue zu stellen ist. 1.2 Bedeutung der Wahrnehmung Die Bedeutung des »perceptual turn« für die Spektralmusik zeigte sich bereits Anfang der 1970er Jahre. Grisey studierte Elektroakustik bei Jean-Étienne Marie (1969) sowie Akustik bei Émile Leipp (1974–75) und interessierte sich für die Forschungen von Jean-Claude Risset und John Chowning sowie für Abraham Moles ’ Informationstheorie. Leipp vermittelte neue technische Möglichkeiten: eine präzise Analyse des spektralen Aufbaus sowie eine Darstellung des zeitlichen Mikroverlaufes des Klanges durch Sonagramme. Auf der Grundlage dieser Forschungen ge- Spektralmusik langte Grisey zur Einsicht, eine den Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung adäquate kompositorische Umsetzung dieser Mikro-Zeitlichkeit sei nur in »Zeitlupe« möglich und entwickelte die im Gegensatz zum zerfurchten Klangbild Ä serieller Musik über weite Strecken durch prozessuale Kontinuität gekennzeichneten »Pionierwerke« spektralen Komponierens: Dérives für zwei Orchestergruppen (1973–74), Périodes für sieben Musiker (1974) und Partiels für 16 oder 18 Musiker (1975; Périodes und Partiels sind Teile des abendfüllenden Orchesterzyklus Les espaces acoustiques, 1974–85). Als Ausgangspunkt für diese Tendenzen diente in mancher Hinsicht die Klangkomposition (Ä Klangkunst), die mit Werken wie Ligetis Atmosphères (1960–61) oder Friedrich Cerhas Spiegel I–VII (1960–61) ihren Höhepunkt erreicht hatte. Außerdem empfingen sowohl Grisey als auch Murail Anregungen von Giacinto Scelsi, den sie während ihrer Rom-Aufenthalte (Murail 1971–73; Grisey 1972–74) kennenlernten. So sind etwa die Atemanalogien in Griseys Périodes (1974) – jenem Teil des großangelegten Orchesterzyklus Les espaces acoustiques, der noch während des Rom-Aufenthalts entstand – eng an den wellenartigen Bewegungen des Klangs orientiert, wie sie Scelsi seit dem Streichtrio (1958) und den Quattro pezzi (su una nota sola) für Orchester (1959) entwickelt hatte. Das Komponieren mit Klangflächen war zu Beginn der 1970er Jahre allerdings in ein allgemein verfügbares Repertoire von Ä Kompositionstechniken integriert worden und bedurfte daher einer inneren Erneuerung. Grisey folgte den durch Ligeti und Scelsi vermittelten Anregungen in Bezug auf den Aspekt der Kontinuität, versuchte aber gleichzeitig durch eine Erforschung des Klanginneren die Statik von Klangflächen zusehends in Prozesse zu transformieren. 1.3 Klangforschung (recherche musicale) Ein Aspekt, der Grisey und Murail stark beeinflusste, war die Revolution des Klanges und der Klangfarbe, die im 20. Jh. im Bereich des Instrumentenbaus (Innovationen wie z. B. neue Schlaginstrumente und die Ondes Martenot) sowie in der Ä elektronischen Musik und Computertechnologie stattfand (vgl. Murail 1980, 77 f.). Auch die Idee zur Gründung der Gruppe L’Itinéraire entstand vor dem Hintergrund neuer Möglichkeiten der recherche musicale und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer Kooperation von Komponisten, Interpreten und Tontechnikern. Außerdem gründeten Dufourt, Murail und Alain Bancquart (*1934) 1977 das CRISS (Collectif de Recherche Instrumentale et Synthèse Sonore), das die systematische Erforschung der Produktion von elektronischen Klängen und deren Transformation als eine der wesentlichen Ziel- 558 setzungen formulierte. In Werken wie Dufourts Saturne für Blasinstrumente, Schlagzeug und Elektronik (1979) sind die Konsequenzen dieser Forschungen bereits spürbar. Klangliche und formale Analogien zu elektroakustischen Modellen zeigen sich in der Spektralmusik der 1970er Jahre aber auch in rein instrumentalen Werken. Beispiele sind die Technik der Bandschleife (Murails Mémoire / Érosion für Horn und neun Instrumente, 1975–76) oder die auf der Ringmodulation beruhende »Transformationslogik« in Murails Treize couleurs du soleil couchant für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (Elektronik ad lib.; 1978). Angeregt durch einen Lehrgang für Informatik am IRCAM (1980) setzte sich Murail mit dem vielfältigen Potenzial der Kombination und Verflechtung instrumentaler und elektronischer Klänge auseinander. 1991–97 unterrichtete Murail selbst am IRCAM und arbeitete dort an der Entwicklung der Kompositionssoftware Patchwork (heute Open Music). Sein kompositorischer Werdegang in den 1980er und 1990er Jahren ist somit in manchen Facetten durch die Computertechnologie des IRCAM mitgeprägt. 1.4 Wandel des spektralen Komponierens Ab den 1980er Jahren ist ein allmählicher Wandel der spektralen Ästhetik zu beobachten. Während die musique spectrale der 1970er Jahre durch langsam und kontinuierlich ablaufende Prozesse gekennzeichnet gewesen war, wurde nun die Notwendigkeit erkannt, eine solchen Prozessen inhärente Tendenz zu formaler Glätte durch gestische Vielfalt, Schnelligkeit und Kontraste zu bereichern. Als Vorbilder dieser vor allem durch Talea für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier (1985–86) markierten Neuorientierung nannte Grisey den Einfluss der afrikanischen Musik und des Jazz, aber auch Conlon Nancarrow sowie Leoš Janáček (Haselböck 2009, 20 f.). Ansätze zu einem Wandel offenbarten sich bereits in Murails Désintégrations für 17 Instrumente und Tonband (1982–83)  – ohne Zweifel ein zentrales Werk für die Entwicklung spektralen Denkens. Neben Grisey zeigten sich auch zahlreiche jüngere Komponisten wie Philippe Hurel (*1955) oder Marc-André Dalbavie (*1961) vom Kontrastreichtum dieses Werks beeinflusst. Die wesentliche Neuerung von Désintégrations besteht wohl darin, dass Prozesse jetzt deutlicher als zuvor als Elemente innerhalb der Großform positioniert und nicht mehr mit dieser gleichgesetzt werden. Dadurch stehen sie zueinander in einer spannungsvollen Beziehung. Désintégrations ist aber auch deshalb von Bedeutung, weil es sich um das erste Werk Murails handelt, in dem instrumentale mit synthetischen Klängen kombiniert werden (Murail 1992/2004, 127–154). Ziel ist 559 dabei nicht die Herausarbeitung der Opposition, sondern der Ambiguität des Verhältnisses der beiden klanglichen Welten. An solchen vielfältig-schillernden Verflechtungen ist Murail prinzipiell interessiert, und in Anlehnung an Messiaen hob er immer wieder den »Charme der Mehrdeutigkeiten« hervor (»charme des ambiguïtés«, Murail 1989/2004, 54). 1.5 Die musique spectrale in den 1990er Jahren: Griseys späte Werke Auch Grisey setzte sich in seinen letzten Werken – Vortex temporum für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier (1994–96) sowie den Quatre chants pour franchir le seuil für Sopran und 15 Instrumente (1996–98)  – mit der Integration heterogener Elemente in die ursprüngliche Einheitlichkeit des spektralen Denkens auseinander. Von besonderem Interesse in Vortex temporum ist Griseys Umgang mit der musikalischen Zeit. Letztes Ziel ist dabei der Übergang zu einer »reinen« Zeit, das Zurücktreten jeglicher Zeitempfindung (Hervé 1997). Von großem Interesse ist auch die Entwicklung der Ä Harmonik in Griseys späten Werken. Anders als in den Anfängen des spektralen Komponierens setzt Grisey die Spektren in Vortex temporum nicht in ihrem originalen Teiltonaufbau ein, sondern bevorzugt die durch variable Handhabung der Oktavlagen gewährleistete Formung spektraler Modi. Da diese Lockerung der Konzeptualität weitreichende Freiheiten zulässt, wurde bereits in den 1990er Jahren vereinzelt die Vermutung geäußert, dass sich das spektrale Denken hier seinem Ende zuneige (auch von Grisey selbst; vgl. Haselböck 2009, 10). Ähnliches gilt auch für die Quatre chants pour franchir le seuil, wobei hier zusätzlich eine Neudefinition des Melodischen auffällt, die auch im Schaffen manch anderer Komponisten nachhaltige Konsequenzen zeitigte – etwa bei Harvey, der 2000 feststellte, dass sich der Spektralismus »einem melodischen Denken zuwenden« könne (Harvey 2000/11, 227). 1.6 Die musique spectrale um die Jahrtausendwende Solche Konvergenzen könnten den Schluss nahelegen, dass der Übergang zwischen dem Schaffen Griseys und einer (im weitesten Sinn) spektralen Musik des beginnenden 21. Jh.s mehr oder minder bruchlos erfolgt sei. Dies lässt sich jedoch nicht generell behaupten. Manche Komponisten führten zwar einige der erwähnten Neuerungen weiter, nahmen aber zugleich eine kritische Haltung gegenüber den Spektralisten der ersten Generation ein. Dies gilt etwa für den Grisey-Schüler Fabien Lévy, der seinem ehemaligen Lehrer eine »Erstarrung oder gar Normierung im Hinblick auf die verschiedenen Perzeptionskategorien« (Lévy 2007, 225) vorhielt. Im Gegensatz zu Spektralmusik Grisey, der noch versuchte, anthropologischen Konstanten auf die Spur zu kommen, erhebt Lévy diesen Anspruch nicht mehr: Auf die Unwägbarkeiten der menschlichen Wahrnehmung könne man, so seine Überzeugung, nur situationsbedingt reagieren. Einen anderen Kritikpunkt formuliert Hurel in seinem Aufsatz La musique spectrale… à terme! (Hurel 2000). Hintergrund ist Griseys Tendenz zur Vermeidung semantischer Assoziationen, die den Hörer dazu »verführen« soll, die Aufmerksamkeit auf die akustischen Eigenschaften des Klanges zu fokussieren. Dem hält Hurel entgegen, dass melodische Einprägsamkeit, semantische Konnotationen und die damit einhergehende »Unreinheit« für die neue Generation kein Problem, sondern eine Herausforderung darstellten. Zugleich konzediert er, dass Grisey diese Richtung in den Quatre Chants bereits anvisiert habe (ebd., 121). 2. Aktuelle Entwicklungen spektraler Musik Zur Gegenwart hin ist somit nicht zu übersehen, dass von einem spektralen Komponieren im ursprünglichen Sinn keine Rede mehr sein kann. Einerseits werden Bruchlinien zwischen den Generationen manifest (z. B. bei Lévy oder Hurel), andererseits stellen sich beim Hören der Musik von Komponisten wie z. B. Kaija Saariaho, Georg Friedrich Haas oder Enno Poppe (Ä Themen-Beitrag 7) Assoziationen zur Klanggestaltung und Instrumentation spektraler Werke ein, die den Schluss nahelegen, dass hier eine individuelle Aneignung und Umwandlung von Bruchstücken spektralen Denkens stattgefunden hat. Im Einzelnen ist es jedoch keineswegs einfach, solche Traditionslinien analytisch manifest zu machen. Zwar ist heute bei vielen Komponisten ein grundlegendes Interesse für die kompositorische Auslotung des Grenzbereichs zwischen Harmonik und Klangfarbe und die Auseinandersetzung mit psychoakustischen Schwellenphänomenen zu erkennen. Demgemäß könnte man als ein Hauptmerkmal eines im weitesten Sinne »spektralen« Erbes eine präzise Auseinandersetzung mit den Ambiguitäten klanglicher Phänomene bezeichnen, die sich bei Komponisten wie Hurel auch auf andere Aspekte (z. B. die klangliche Semantik) verlagern kann. Solche Ansätze werden aber nicht selten auch mit ganz anderen Denk- und Klangtraditionen verknüpft, so etwa bei Hans Zender (*1936): Einige seiner Werke könnten als Fusion spektraler und fraktaler Aspekte beschrieben werden (vgl. Zender 2004). Ähnliches gilt auch für Georg Friedrich Haas (*1953). In manchen seiner Werke wie etwa im Ersten Streichquartett (1997) legen die Ableitung des Materials aus der Teiltonreihe sowie Beschleunigungs- und Verlangsa- Spektralmusik mungsprozesse die Vermutung nahe, dass ein Studium der Werke der frühen Spektralisten hier Pate gestanden haben könnte. Haas hat sich jedoch wiederholt und explizit außerhalb der musique spectrale positioniert (vgl. Haas i.V.) und andere mikrotonale Bezugspunkte (z. B. Alois Hába, 1893–1973 und Ivan Wyschnegradsky, 1893–1979) als grundlegend für sein Komponieren genannt. Eine ähnliche schwer fassliche Individualität zeigt sich auch bei Enno Poppe (*1969). Er arbeitet seit den 1990er Jahren »mit harmonischen Konstellationen, denen eine arithmetische Stimmigkeit zwischen den Intervallen zugrunde liegt. Dabei werden, der Logik des Ringmodulators nachempfunden, die Frequenzen zweier Intervallpunkte addiert und subtrahiert. Das Ergebnis sind vierstimmige Akkorde, die sich weder der Naturtonreihe noch temperierten Mikrointervallen zuordnen lassen, die aber trotzdem über organische akustische Eigenschaften verfügen. Poppe selbst spricht in diesem Zusammenhang von einer ›verbeulten Natur‹« (Gottstein i.V.). All dies erinnert aus der Ferne an das bio- und technomorphe Denken Griseys. Dennoch ist auch Poppes Musik wohl kaum einseitig in eine Traditionslinie spektralen Komponierens einzuordnen. Insgesamt wäre es somit übertrieben zu behaupten dass sich im Lauf der Jahrzehnte bis heute ein spektrales »Vokabular« herausgebildet habe, das allgemein verfügbar geworden sei, ist doch die Gegenwartsmusik im beginnenden 21. Jh. vielfach bewusst auf Vielfalt, Mehrdeutigkeit, zuweilen auch Heterogenität angelegt. Manche Errungenschaften der Spektralmusik und der recherche musicale haben die Musikgeschichte des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jh.s aber doch entscheidend mitgeprägt. Ä Themen-Beiträge 3, 7; Harmonik / Polyphonie Alla, Thierry: Tristan Murail, la couleur sonore, Paris 2008 „ Anderson, Julian: A Provisional History of Spectral Music, in: CMR 19/2 (2000), 7–22 „ Baillet, Jérôme: Gérard Grisey. Fondements d ’ une écriture, Paris 2000 „ Barthelmes, Barbara: Spektrale Musik, in: Geschichte der Musik im 20. Jh.: 1975–2000 (HbM20Jh 4), hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, 207–246 „ Cavallotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen 2006 „ Deleuze, Gilles: Différence et répétition, Paris 1968; dt. Differenz und Wiederholung, München 1992 „ Dufourt, Hugues: Musique spectrale [1979], in: Wien modern 2000: Elektronik  – Raum  – musique spectrale, hrsg. v. Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken 2000, 88–90 „ Fineberg, Joshua: Spectral Music, in: CMR 19/2 (2000), 1–6 „ Gottstein, Björn: »Verbeulte Natur«. Über die Harmonik bei Enno Poppe, in: Les Espaces Sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken, hrsg. v. Michael KunLiteratur 560 kel, Saarbrücken, i.V. „ Grisey, Gérard: Structuration des timbres dans la musique instrumentale [1991], in: I Quaderni della Civica Scuola di Musica di Milano 15/27 (2000), 48–56 „ ders.: Écrits ou l ’ invention de la musique spectrale, hrsg. v. Guy Lelong, Paris 2008 „ Haas, Georg Friedrich: Ich bin kein spektraler Komponist, in: Les Espaces Sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken, hrsg. v. Michael Kunkel, Saarbrücken, i.V. „ Harvey, Jonathan: Spectralism, in: CMR 19/3 (2000), 11– 14; dt. Spektralismus, in: in: Klangperspektiven, hrsg. v. Lukas Haselböck, Hofheim 2011, 225–228 „ Haselböck, Lukas: Gérard Grisey: Unhörbares hörbar machen, Freiburg 2009 „ ders.: Michaël Lévinas, in: KdG (2010) „ Hervé, Jean-Luc: Vortex temporum von Gérard Grisey. Die Auflösung des Materials in die Zeit, in: Musik & Ästhetik 1/4 (1997), 51–66 „ Hirs, Rozalie: Tristan Murails Le Lac: Zeitgenössische Kompositionstechniken und OpenMusic, in: Klangperspektiven, hrsg. v. Lukas Haselböck, Hofheim 2011, 119–164 „ Hurel, Philippe: Die spektrale Musik – auf Dauer!, in: Wien modern 2000: Elektronik – Raum – musique spectrale, hrsg. v. Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken 2000, 119–121 „ Kaltenecker, Martin: Hugues Dufourts Antiphysis, in: Klangperspektiven, hrsg. v. Lukas Haselböck, Hofheim 2011, 193–209 „ Levinas, Michaël: Le compositeur trouvère. Écrits et entretiens (1982–2002), hrsg. v. Pierre Albert Castanet und Danielle Cohen-Levinas, Paris 2002 „ Lévy, Fabien: Form, Struktur und sinnliche Erfahrung, in: Musiktheorie 22/3 (2007), 222–231 „ Murail, Tristan: La révolution des sons complexes, in: DBNM, hrsg. v. Ernst Thomas, Mainz 1980, 77–92 „ ders.: Questions de cible [1989], in: Modèles & artifices. 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Komponieren heute, hrsg. v. Martina Homma, Sinzig 2000, 331–349 „ Surianu, Horia: Romanian Spectral Music or another Expression Freed, in: CMR 19/3 (2000), 23–32 „ Zender, Hans: Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975–2003, hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004 Lukas Haselböck 561 Sprache / Sprachkomposition Sprache / Sprachkomposition Inhalt: 1. Rhetorik und Materialverwandtschaft „ 2. Eigenklang von Sprache „ 3. Sprache als Musik „ 4. Sprechakte „ 5. Performance Der Komplex »Sprache und Musik« übt seit jeher große Faszination aus, auf Komponisten ebenso wie auf Interpreten, Performance-Künstler, Publikum, Musikwissenschaft, Phonetik und Philosophie. Das liegt zweifellos daran, dass Sprache das zentrale Medium des menschlichen Bewusstseins, Verstehens, Kommunizierens und Handelns ist und sämtliche Lebensbereiche durchdringt. Fast alle zwischenmenschliche Interaktion ist in irgendeiner Weise sprachlicher Natur. Durch Sprache erschließt und erschafft sich der Mensch seine Welt, so wie er an den Grenzen seiner Sprache die Grenzen seines Selbst und seiner Welt findet. Vorstellungen von der selbst- und weltschöpferischen Kraft der Sprache ziehen sich von der Antike über die jüdisch-christliche Tradition und den Idealismus bis zur modernen Linguistik, Komparatistik, Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Sprachphilosophie. Sofern dabei das Gehör als innigster, tiefster Sinn angesehen wird, hält man Sprache und Musik für den besten Weg zur Seele des Menschen. Und weil Musik nur als Teil sprachbasierter Kultur denkbar ist und nur sprachlich verfasste Wesen Kultur und damit auch Musik haben können (Luckner 2007, 36), berührt die musikalische Auseinandersetzung mit Sprache folglich immer auch außermusikalische Kontexte. Künstlerische Sprachkritik bietet demnach ausgezeichnete Möglichkeiten zu Ideologie- und Gesellschaftskritik. Vor allem die politisierte literarische und musikalische Ä Avantgarde der 1960er und 70er Jahre sah  – sofern sie bewusstseinsverändernd auf die Rezipienten einwirken und Kunst in Lebenspraxis überführen wollte – im anthropologischen Universalzentrum Sprache einen zentralen Ansatzpunkt ästhetischen Handelns. 1. Rhetorik und Materialverwandtschaft Insgesamt lässt sich die unübersehbare Fülle möglicher Verhältnisse von Musik und Sprache auf der Basis der beiden Hauptaspekte »Musik als Sprache« und »Sprache als Musik« klassifizieren. Als zeitliche Folge artikulierter Laute, die zugleich mehr als bloß Laut sind, ist Musik sprachähnlich, aber nicht selbst Sprache (vgl. Adorno 1956/78, 251). Das gilt vor allem für die tonale Musik der europäischen Tradition, die zwar kein begriffliches Zeichensystem ist, die aber von der Ä Musiktheorie mit sprachanalogen Begriffen wie Vorder- und Nachsatz, Periode, Interpunktion, Frage, Antwort, Parenthese beschrieben wurde und ein Vokabular »sprechender« Akkorde, Kadenzwendungen, Signale und Figuren besitzt (Ä Wahr- nehmung, 2.; Ä Musikalische Syntax). Insofern lässt sich »Musik als Sprache« rhetorisch begreifen. Gemeinsam haben gesprochene Sprache und klingende Musik auch Ä Rhythmus, Metrum, Tempo, Artikulation, Klang, Dynamik, Intonation, Tonhöhe, Lage, Ä Melodie, Gestus, Affekt und Bedeutung. Aufgrund all dieser ebenso sprachlichpoetischen wie musikalischen Kategorien lässt sich auch »Sprache als Musik« komponieren und wahrnehmen. Die Materialverwandtschaft beider Sphären kann dabei so stark ausgeprägt sein, dass sich einzelne Phänomene weder eindeutig der Musik noch der Literatur, Lyrik, Dramatik oder Epik zuordnen lassen. Theodor W. Adorno beschrieb die untrennbare Verbindung von Sprache und Musik daher im Kontext anderer Hybridformen der Künste der 1960er Jahre als »Verfransung« (Adorno 1967/77, 450). Und in Anknüpfung an Adorno konstatierte schließlich Albrecht Wellmer, dass allem Spielen, Interpretieren und Kommentieren von Musik das Moment der Reflexion angehöre, Musik also wie alle Künste immer schon »mit Begrifflichem durchdrungen« und mit »Welthaltigkeit« aufgeladen sei (Wellmer 2009, 103). Jahrhunderte lang prägend war die rhetorische Auffassung von »Musik als Sprache« bzw. als »Klangrede« und »Tonsprache«. Als einer der letzten Musikschriftsteller systematisierte Johann Nikolaus Forkel in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik (1788–1801) die musikalische Rhetorik von Renaissance und Barock bis zur Klassik, und zwar im Sinne von (1) Grammatik (»Anordnung von Gedanken«), (2) Periodisierung, (3) Satz-, Form- und Gattungsbildung sowie (4) Figurenlehre und (5) Deklamation bzw. Ä Interpretation von Musik. Die Vorstellung von Musik als »Tondichtung« schrieb das 19. Jh. fort, wie Robert Schumanns »Poetisierung« der Musik und Franz Liszts Konzept der »Sinfonischen Dichtung« belegen. Zugleich wichen die Romantiker von der klassischen Metrik durch aperiodische und asymmetrische Gliederungen ab. Die Symphonie fantastique (1830) von Hector Berlioz verstand Schumann 1835 wegen der ausladend entwickelten »idée fixe« sowie der freien Instrumentation, Harmonik und Formgestaltung sowie Unabhängigkeit von »quadratischer« Periodizität und fester Versmetrik als »ungebundene Rede« (1835, 39), wofür sich später der Begriff »musikalische Prosa« einbürgerte (Danuser 1975). Am Beispiel von Johannes Brahms bestimmte Arnold Schönberg musikalische Prosa als die Fähigkeit der Musik, einen Gedanken ohne stützende Korrespondenzen in sich selbst sinnvoll darzustellen (Schönberg 1933/47). Wie Schönberg standen auch Béla Bartók, Alban Berg und Anton Webern noch in dieser musiksprachlichen Tradition. Weniger gilt dies bereits für die Montagetechnik Igor Strawinskys und kaum oder überhaupt nicht mehr für viele neue Musik nach Sprache / Sprachkomposition 1950. Indem das rhetorische Verständnis von »Musik als Sprache« seine ästhetische Leitfunktion verlor, wurde das Komponieren von »Sprache als Musik« immer wichtiger. 2. Eigenklang von Sprache Der Eigenklang von Sprache spielte seit je in Poesie eine zentrale Rolle. Besonders die Romantik – vor allem in den Dichtungen von Novalis, Joseph von Eichendorff, August Wilhelm und Friedrich Schlegel  – unterstrich die Musikalität von Sprache. Die Lautstruktur mancher Gedichte Friedrich Hölderlins  – im 20. Jh. nicht umsonst einer der meist vertonten Dichter – zeigt, wie die Phonetik als eigenständige sensuelle, formale und bedeutungstragende Konstruktions- und Ausdrucksschicht behandelt ist, z. B. in Der Archipelagus (1800–01) (Walser 1962). Ebenso haben Komponisten immer wieder lautmalerische Wort- und Silbenfolgen umgesetzt und in die semantischsyntaktischen Sprachstrukturen eingegriffen, etwa durch vergrößerten Ambitus, Vokaldehnungen, Melismen, Pausen, Zäsuren, Beschleunigungen, Verlangsamungen, polyphone Stimmüberlagerungen und instrumentalen Kontext. Indem das Wort-Ton-Verhältnis in Motetten, Arien, Kantaten und Liedern jedoch primär darauf ausgerichtet war, den Wortinhalt mittels rhetorischer Figuren, Gesten, Symbole, Lautmalereien und Satztechniken auszudeuten, blieb bei aller kompositorischen Verarbeitung der Text dennoch weitgehend unangetastet. Erst die neuen Vokalund Sprachkompositionen des 20. Jh.s begriffen Sprache nicht mehr primär als Träger von Gesang und Textinhalt, sondern machten die spezifische Lautlichkeit und Struktur von Sprache selbst als Musik gestalt- und erlebbar. Dazu bedurfte es sowohl kompositorischer Strategien, die den selbstverständlichen Alltagsgebrauch von Sprache als Verständigungsmedium durchkreuzen, als auch erweiterter Vokal- und Sprechpraktiken jenseits traditioneller Gesangsideale. Zentrales Kennzeichen der Musik des 20. Jh.s ist generell die Einbeziehung von Klängen und Geräuschen  – bei Streichinstrumenten z. B. col legno, battuto, sul ponticello –, die bisher nicht oder nur ausnahmsweise als programmatische Theatereffekte Verwendung fanden (Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen). Im Zuge der Erschließung neuen Klangmaterials wurde auch Sprache als künstlerisch gestaltbares Medium von ganz eigener Klanglichkeit und Expressivität erkundet. Statt Texte zu vertonen, wie es seit dem Gregorianischen Choral üblich war, wurde ab 1910 und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch der Eigenklang von Sprache erkundet. Die Überwindung des motivischthematischen Phrasen-, Satz- und Formbaus korrespondierte dabei häufig mit einer Destruktion der semantisch- 562 syntaktischen Sprachstruktur zugunsten reiner Phonetik. Eine erste Etappe der Entwicklung von der Prädominanz tonhöhenfixiert gesungener Vokale zu vagierenden Tonhöhen und gleichbehandelten Konsonanten markiert der artifizielle Sprechgesang von Schönbergs Pierrot lunaire op. 21 (1912). Die Diktion dieser »dreimal sieben Gedichte« – komponiert für die Diseuse Albertine Zehme – hat ihren Hintergrund in der Tradition des Monodrams und der Deklamations- und Theatersprechpraxis der Zeit. Der Bruch mit dem Belcanto-Ideal bei gleichwertiger Artikulation der Konsonanten beförderte die Emanzipation des Ä Geräuschs in der Musik und die Komposition von Sprache als Musik. Während der Sprachklang bei Schönberg noch an Semantik und Syntax gebunden blieb, verselbstständigten Vertreter des Dadaismus, Lettrismus und Ultralettrismus die Lautlichkeit gesprochener Sprache, indem sie diese partiell oder komplett von semantischen und syntaktischen Strukturen lösten. Mit reinen Sprachklängen arbeiteten in den 1910er und 20er Jahren vor allem Hans Arp, Hugo Ball, Daniil Charms, Velimir Chlebnikow, Henri Chopin, Raoul Hausmann, Isidore Isou, James Joyce, Christian Morgenstern, Paul Scheerbart, August Stramm, Gertrude Stein und Tristan Tzara. Die erste ausschließlich auf autonomen Sprachlauten basierende Komposition ist Kurt Schwitters ’ Sonate in Urlauten (1922–32). Sie besteht fast ausnahmslos aus Buchstaben- bzw. Phonemfolgen – den »Urlauten« –, die bis auf wenige Ausnahmen keine lexikalische Übereinstimmung mit der deutschen Sprache haben, aber wie im Deutschen auszusprechen sind und zu regelrechten Themen kombiniert und mittels gängiger kompositorischer Techniken verarbeitet werden (Nonnenmann 2010, 31–33). Obwohl auf Sprachmaterial basierend, verweigert Schwitters ’ »Ursonate« jede sprachliche Verständigung. Indem sie demonstrativ kommunikationslos mit Sprache umgeht, verstößt sie gegen das Hauptprinzip dieses existenziellen Kommunikationsmediums, was mit der damaligen Sprachkrise, Sprachkritik und modernen Sprachphilosophie korrespondiert. Weil es keine naturgesetzliche Einheit von Zeichen und Bezeichnetem gibt, sondern Wörter lediglich willkürliche Kodifizierungen sind, wurde Sprache als etwas sowohl synchron als auch diachron Relatives erkannt. Alle Sprachen beruhen auf zeichenhaften Ordnungen, die sich im Laufe der Geschichte gebildet und verändert haben. Indem Schwitters seine »Ursonate« als viersätzigen Sonatenzyklus anlegte, wollte er die emanzipierten Sprachlaute als genuin musikalisches Material legitimieren und zugleich unter Berufung auf die Gattungstradition den Kunstanspruch seiner Sprachkomposition provokativ unterstreichen. Allerdings stand das neuartige Klangmaterial 563 in keinem kausalen Zusammenhang mit den von ihm angewandten motivisch-thematischen Verarbeitungstechniken und den so ausgefüllten Formmodellen Sonatensatz, Largo, Scherzo und Rondo-Presto. Nach dem Zweitem Weltkrieg trachteten Vertreter der Lautpoesie bzw. poésie sonore und sound poetry  – u. a. Ernst Jandl, Gerhard Rühm, Helmut Heißenbüttel, Ferdinand Kriwet – danach, Material, Form und Inhalt als konkretistische Einheit auseinander hervorgehen zu lassen. 3. Sprache als Musik Bereits 1947 hatte der Begründer des französischen Lettrismus Isidore Isou die Ä Stimme aus dem Korsett des gewöhnlichen Kunstgesangs und Sprechens befreit, indem er das gewöhnliche Alphabet um vorsprachliche Lautäußerungen zu einer Enzyklopädie der Artikulationsmöglichkeiten erweiterte: Ein- und Ausatmen, Zischen, Röcheln, Knurren, Schnappen, Seufzen, Schnarchen, Gurgeln, Wimmern, Husten, Rülpsen, Zungenschnalzen, Lippenfurzen, Rattern, Spucken, Küssen und Pfeifen. Da all diese sprachlichen und rein stimmlichen Artikulationsweisen normalerweise mit bestimmten Körperzuständen, Tätigkeiten und Affekten verbunden sind, bleiben sie auch im musikalischen Kontext zumeist an diese gebunden. Insgesamt eignet ihnen eine besondere Körperlichkeit, spezifische Expression, Bedeutung und mehr oder minder stark ausgeprägte Theatralität sowie eine gewisse interpretatorische Freiheit, da sich viele lautliche Hervorbringungen jenseits distinkter Tonhöhen und sprachlicher Phoneme selbst in einem durch graphische und verbale Angaben erweiterten Notationssystem kaum ausreichend fixieren lassen (Ä Notation). Der »mitkomponierende« Anteil der Interpreten nimmt daher zu und einzelne Aufführungen unterscheiden sich tendenziell mehr voneinander als bei herkömmlichen Partituren. Fast alle Vertreter der Nachkriegsavantgarde komponierten auf je individuelle Weise »Sprache als Musik«. Etliche bedienten sich dazu auch elektronischer Hilfsmittel. Pierre Schaeffer bezog in seiner musique concrète von Anfang an auch Sprech- und Singstimmen als konkretes Klangmaterial ein, etwa in der Étude pathétique (1948) und den beiden mit Pierre Henry realisierten Werken Symphonie pour un homme seul (1949–50) und Orphée 53 (1953). Darauf aufbauend entwarf der Ultralettrist François Dufrêne für genuine Sprach-Tonband-Kompositionen, die keine Verschriftlichung in Texten oder Partituren mehr benötigten, den Begriff »musique concrète vocale« (Lentz 1998, 19). Auch Karlheinz Stockhausen hatte für seine Tonbandkomposition Gesang der Jünglinge (1955–56) zunächst Sprach- und Gesangsaufnahmen eines Knaben analysiert, um sie dann nach Phonemen, Ver- Sprache / Sprachkomposition ständlichkeits- und elektronischem Transformationsgrad seriell zu ordnen und in ein Kontinuum aus sprachlichen und rein elektronischen Klängen zu bringen (Stockhausen 1964, 49–68). Auf ähnliche Weise generierte Herbert Eimert seinen Epitaph für Aikichi Kuboyama (1960–62) aus dem Lautmaterial eines zu Anfang komplett rezitierten kurzen Gedenktexts. Luigi Nono wiederum zerlegte in Il canto sospeso (1955–56) Briefe von zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern (ohne Elektronik) durch Prismatisierung des Chorsatzes in einzelne Phoneme. Dem Prioritätenstreit der Oper des 18. Jh.s (»prima le parole« versus »prima la musica«) vergleichbar, entspann sich zwischen Nono und Stockhausen bei den Darmstädter Ferienkursen 1959 eine Debatte über die Unverständlichkeit der Brieftexte, die schließlich zum Bruch Nonos mit Stockhausen und den Ferienkursen führte (Stockhausen 1957/64, 158 f.; Nono 1960/75). Eine Anamorphose von Sprache und Musik ist Luciano Berios Tema (Omaggio à Joyce) (1958). Die Phoneme des englisch, französisch und italienisch gesprochenen Anfangs des »Sirenen«-Kapitels aus James Joyces Ulysses (1922) wurden hier analysiert, geordnet und mit der Sprech- und Gesangspartie einer Interpretin zu einer Einheit aus verschiedenen Sprachen und Medien kombiniert (Berio 1959). Auch der Name des von Berio mit Bruno Maderna 1955 am Italienischen Rundfunk RAI in Mailand gegründeten Studio di Fonologia musicale unterstrich die damals intendierte Fusion von Bedeutung, Sprachklang und Musik. Ausschließlich mit elektronischen Mitteln realisierte György Ligeti in Artikulation (1958) Intonationskurven, Konsonant- und Vokalfärbungen im Zwischenbereich »nichtpuristischer Musik« und »imaginären Dialogen« einer »Pseudosprache« (Ligeti 1958/2007, 166). In Aventures (1962) und Nouvelles Aventures (1962– 65) kombinierte Ligeti 119 im internationalen phonetischen Alphabet notierte Laute mit charakteristischen Tonhöhenverläufen und fast hundert verbal bezeichneten Expressemen, sodass eine zwar begriffslose, aber umso affektgeladenere Kunstsprache mit imaginärer Handlung entstand (Klüppelholz 1995, 115–139). Besonders körperbetonte Vokalpraktiken entwickelte auch Giacinto Scelsi mit der japanischen Sängerin Michiko Hirayama für seinen zwanzigteiligen Zyklus Canti del Capricorno (1962–72). Andere Umwandlungen von Sprache in Musik verdanken sich radiophonen Techniken. Steve Reich verwandelte in seinem ersten Tonbandstück It ’ s Gonna Rain (1965) die Bandschleife des kurzen titelgebenden Satzfragments durch sukzessive Phasenverschiebung zweier Tonbandgeräte in genuin musikalische Klang- und Rhythmusfolgen. Wiederholung als Transformationsmittel nutzt auch Alvin Luciers I Am Sitting in a Room (1969), wobei Sprache / Sprachkomposition die verbale Beschreibung der Aufnahmesituation des sprechenden Komponisten sich durch vielmalige Abfolge von elektromagnetischer Aufzeichnung und Wiedergabe zu sprachlosem Klang verwandelt, weil die akustischen Bedingungen des Aufführungsraums (Nachhall, Dämpfung, Brechung, Reflexion) bestimmte Frequenzbereiche verstärken oder absorbieren (Lucier 1995, 95–97, 323 f.). 4. Sprechakte Im Zuge des »linguistic turn« der Kunst-, Literatur- und Sprachwissenschaft seit den 1960er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf Bilder und Wörter, die nicht mehr selbstverständlich als Zeichen für bestimmte Dinge fungieren, sondern den eigenen Zeichenoder Abbildcharakter aus metasprachlicher Perspektive problematisieren. Auch in vielen Kompositionen diente Sprache nicht mehr primär der Vermittlung außersprachlicher Inhalte, sondern wurde zum Medium einer Selbstreflexion des Materials oder von Mechanismen, Chancen und Schwierigkeiten sprachlicher Kommunikation. An die Stelle des »Was« verbaler Mitteilung traten das »Wer« und vor allem das »Womit« und »Wie« des Sprechakts (Searl 1969). Viele neuere Vokal- und Sprachkompositionen stellten daher die physikalischen und physiologischen Bedingungen der Hervorbringung von (Sprach-)Klang ins Zentrum. Dieter Schnebels glossolalie für Sprecher und Instrumentalisten (1959–60) besteht aus 29 Seiten Materialpräparationen, die unter thematischen Überschriften wie »oppositionen«, »bestätigungen« oder »zustände« verschiedene Aspekte von Sprache verknüpfen und von den Interpreten für eine Aufführung auszuarbeiten sind – wie es Schnebel in seiner eigenen Fassung Glossolalie 61 (1961–64) unter Verwendung sowohl originaler Schriftbilder unterschiedlichster Sprachen als auch internationaler phonetischer Schriftzeichen getan hat (Heilgendorff 2002). Statt bloßes Mitteilungsmedium ist Sprache hier selbst Material und Inhalt der Aufführung, und zwar in Gestalt von Nationalsprachen, verständlichen und unverständlichen Artikulationsarten, Dialekten, Umgangssprachen, Phraseologien, Ideologemen, Literatur, Lyrik, historischen Worten, paralingualen Lautäußerungen, sozialen und charakterlichen Sprechweisen. Ausdrücklich als »Lingual« bezeichnete Bernd Alois Zimmermann sein zahllose dokumentarische Sprach- und Musikzuspielungen enthaltendes Requiem für einen jungen Dichter (1967–69). Ein multilinguales Sprachkunstwerk ist auch der Leseund Sprechtext Fa:m ’ Ahniesgwow (1960) von Hans G Helms. Wie in James Joyces experimentellem Roman Finnegans Wake (1922–39) verbindet Helms mehrere Sprachen auf den unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Phonemen, Silben, Wörtern und Satzteilen zu einer 564 polysemantischen Übersprache im Zwischenbereich von Literatur und Musik (Klüppelholz 1995, 54–67). Im Sinne eines für mehrere Lesarten »offenen Kunstwerks« lassen sich die Buchstabenfolgen und Neologismen sowohl in unterschiedlichen Sprachen artikulieren und deuten als auch bei manchen Strukturen wie bei einem Kreuzworträtsel in horizontalen und vertikalen Textachsen lesen. In Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968–74) analysierte Schnebel  – gemäß der Idee seiner Werkreihe »Produktionsprozesse«  – die Anatomie und Aktivität der an der menschlichen Sprachund Lautproduktion beteiligten Organe und Körperfunktionen. In gymnastischen »Exerzitien« für Atemführung, Kehlkopf-, Zwerchfell-, Kiefer-, Lippen- und Zungenbewegung werden die an der Artikulation beteiligten Körperteile mittels Fernsehkameras auf Monitore projiziert sowie mittels Kehlkopf- und Kontaktmikrophonen verstärkt. Die systematische Autopsie der Artikulationswerkzeuge und -arten sprengt das »natürliche« Sprechen und Singen, um die sezierten Bestandteile der Artikulation neu zu synthetisieren. Ähnlich körperorientierte Formen der Vokalmusik entwickelte gleichzeitig – unabhängig von europäischen Tendenzen – der japanische Komponist Jōji Yuasa in Werken wie Voices Coming (1971), Toi (1971) und Utterance (1971) (Utz 2014, 92). An der Schwelle zwischen körperlicher Sprach- und Vokalkomposition angesiedelt ist auch Helmut Lachenmanns temA für Flöte, Stimme (Mezzosopran) und Violoncello (1968). Indem Sprachlaute gleichsam instrumental und Instrumentalklänge vokal behandelt werden, legen beide Schichten gemäß Lachenmanns Konzept der Ä musique concrète instrumentale die zu ihrer Entstehung nötigen mechanischen und physiologischen Voraussetzungen (u. a. temA = Atem) aneinander frei, während zugleich geflüsterte Sätze zwischen bloßen Lautfolgen und verständlichen Aussagen changieren (Nonnenmann 1997). Bemerkenswerte Kompositionen von und mit Sprache aus jüngerer Zeit, die über die bis zu den 1970er Jahren entwickelten und wegen ihres jeweils exemplarischen Verhältnisses von Sprache und Musik bis heute maßstabsetzenden Ansätze wesentlich hinausgehen, gibt es relativ wenige. Zu nennen wären etwa Alvin Currans der musique concrète verpflichtetes enzyklopädisches erat verbum (1988–94), eine »Radio-Oper in sechs Teilen über das Thema von der menschlichen bis zur virtuellen Kommunikation«, sowie die mikrologisch genau der sprachlichen Diktion abgelauschten und exakt ausnotierten Vokal- und Instrumentalstimmen bei Salvatore Sciarrino. Eine eigenwillige Übersetzung von Sprache in Musik ist auch Peter Ablingers Sammlung Voices and Piano für Klavier und CD (seit 1998), deren bisher vollendete 49 Stücke in frei- 565 er Auswahl und Folge aufgeführt werden können. Über Lautsprecher zugespielte Vorträge, Lesungen oder Interviews bekannter historischer Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Philosophie werden bei diesem »song-cycle, though nobody is singing in it« (Ablinger 2014) simultan möglichst getreu auf die Klavierstimme übertragen. Die skalierten Tonhöhen und Dauern des Tasteninstruments liefern dabei eine gleichsam fotographisch gerasterte Analyse der musikalischen Parameter des Gesprochenen, das sich zugleich je nach Fremdsprache für den Hörer klanglich ebenso verselbständigt wie die Klavierklänge zu einem eigenständigen Musikstück tendieren. 5. Performance Den Weg zu sprachbasierter Ä Improvisation und Ä Performance bereitete nach Dadaismus und Lautpoesie vor allem Luciano Berio in der für und mit seiner Frau Cathy Berberian komponierten Sequenza III für Frauenstimme (1966). Neun mobile Satzglieder eines semantisch-syntaktisch offenen Satzes des Schweizer Historikers und Publizisten Markus Kutter werden hier in einzelne Wörter, Silben und Phoneme zerlegt und nach sechs Kategorien (von herkömmlicher Gesangstechnik und Wortsprache bis zu rein körperlichen Aktionen ohne stimmliche Hervorbringung) klassifiziert und zu einer Art imaginärem Melodram kombiniert. Berberian selbst schuf in Stripsody (1966) auf der Grundlage von Sprechblasen und Zeichnungen aus populären Comics mit Mickeymousing, Tierlauten, onomatopoetischen Sprach- und Aktionslauten kurze Phantasieszenen mit Mord, Liebe, Hund, Katze, Cowboys und Indianern (Herzfeld-Schild 2011). Stimmkünstlerinnen im Zwischenbereich von Sprachkomposition und Vokalimprovisation sind auch Pauline Oliveros, Meredith Monk, Yoko Ono, Laurie Anderson, Diamanda Galás, Joan La Barbara, Amanda Stewart, Shelley Hirsch, Anna Homler, Grace Yoon, Fátima Miranda, Ge-Suk Yeo, Jennifer Walshe, Ute Wassermann, Isabeella Beumer, Paula Claire, Greetje Bijma, Bettina Wenzel, Sofia Jernberg und Sainkho Namtchylak. Männliche Stimmartisten sind u. a. Henri Chopin, Bob Cobbing, David Moss, Jaap Blonk, Phil Minton, Chris Mann und Mischa Käser. Ferner zu nennen wären das 1978 von Dieter Schnebel begründete Berliner Musik- und Theaterensemble Die Maulwerker und das 2004 eigens zum Zweck der Gesamtaufführung von Helms ’ Fa:m ’ Ahniesgwow gegründete Kölner Sprachkunsttrio sprechbohrer. Ä Instrumentales Theater; Musiktheater; Neue Musik und Literatur; Performance; Stimme / Vokalmusik Sprache / Sprachkomposition Ablinger, Peter: Voices and Piano [2014], http:// ablinger.mur.at/voices_and_piano.html (19. 5. 2015) „ Adorno, Theodor W.: Fragment über Musik und Sprache [1956], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16, 249–540), Frankfurt a. M. 1978, 251–256 „ ders.: Die Kunst und die Künste [1967], in: Ohne Leitbild  – Parva Aesthetica (Gesammelte Schriften 10), Frankfurt a. M. 1977, 432–453 „ Berio, Luciano: Musik und Dichtung  – Eine Erfahrung, in: DBNM 2, hrsg. v. Wolfgang Steinecke, Mainz 1959, 36–45 „ Danuser, Hermann: Musikalische Prosa (Studien zur Musikgeschichte des 19. 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Niklas Luhmanns Bemerkung, dass moderne Kunstwerke »Nischen« zwischen stilverwandten Kunstwerken besetzen (1997, 338), deutet auf der anderen Seite eine fortlaufend konstitutive Bedeutung des Stils auch für die Kunst des 20. und 21. Jh.s an. Denn selbst das radikal individualistische Kunstwerk ist niemals aus sich selbst heraus anschlussfähig, sondern dadurch, wie es sich in der Konfiguration mit artverwandten Werken, Denkweisen oder Konzepten positioniert. Keineswegs wird der Stilbegriff in der neuen Musik daher obsolet, vielmehr wird er zu einem Problem. Der »Jugendstil« kann als letzter kunstübergreifender Epochenstil der Ä Moderne gelten, musikgeschichtlich verliert die Kategorie nach den (bereits zur Zeit ihrer Entstehung umstrittenen) Stilbegriffen des »Expressionismus«, »Impressionismus« und »Neoklassizismus« zunehmend an Bedeutung. Der Begriff Stil steht einerseits für ein Unterscheidungskriterium (alt vs. neu, Barock vs. Rokoko), andererseits dient er der Zusammenfassung von Unterschiedlichem unter dem Dach allgemeiner Charakteristika. Dies gilt für den Epochenstil ebenso wie für die spezifischeren Begriffe des Personalstils, des Alters- bzw. Spätstils oder den noch spezielleren Fall eines Werkstils (Rosenberg u. a. 2003). Musikalischer Stil lässt sich an der Beschaffenheit musikalischer Formen und der Faktur musikalischer Ä Strukturen ablesen und ist gleichzeitig streng vom Konzept der musikalischen Ä Gattungen, der Ä Form wie auch von der Dimension der Ä Kompositionstechniken zu unterscheiden. Die Methode der Zwölftonkomposition etwa ist nicht an einen bestimmten Stil gebunden (Ä Zwölftontechnik), ebenso wenig wie das Komponieren einer Sinfonie, eines Rondos oder einer kanonischen Polyphonie. Nicht unmittelbar Teil des kompositorischen Handwerks und nicht per se der künstlerischen Intention des Komponisten zugehörig, hat Stil in der Musik viel mit persönlichen Idiosynkrasien sowie mit dem Habitus als kollektivem Verhaltensmuster zu tun. Von beidem her erklärt sich die begriffliche Affinität zwischen Stil und Mode wie auch die Distanz moderner Kunstmusik zur Kategorie des Stils. 567 Gleichwohl ist Stil kompositionsgeschichtlich mehr als nur eine unbewusste, nicht-intentionale Schicht des musikalischen Ä Materials. Ein einmal ausgeprägter Stil oder besser: die Pluralität vorliegender Stile kann künstlerisch bewusst zum Gegenstand und Mittel der kompositorischen Arbeit gemacht werden. Es entstehen Kompositionen »im Stil von x«, man arbeitet mit den Verfahren des Stilzitats, der Stilcollage oder Stilkopie. Ein ganzer Bereich neuer Musik hat sich um diverse Neo-Stile herum konfiguriert. In all diesen Fällen bis hin zur für die Ä Postmoderne charakteristischen Ä Polystilistik findet mit und durch die Bezugnahme eine ästhetische Distanzierung vom aufgerufenen Stil statt (Ä Collage / Montage). Besonders im Kontext der Ä Globalisierung entwickelten sich »Stilpolyphonien«, motiviert durch den Wunsch, verschiedene Kunst- und / oder Volksmusiktraditionen miteinander in Beziehung zu setzen. 2. Kritik der Kategorie des Stils in der neuen Musik Unabhängig von dieser metamusikalischen Referenz auf Stil und Stile spielt die Dimension des Stils aber auch in der neuen Musik im engeren Sinn eine Rolle. Unverkennbar hat etwa die frei atonale Musik der Wiener Schule (Ä Atonalität) ihren eigenen (»expressionistischen«) Stil ausgebildet, aus dem sich entwickelte, was Virgil Thomson 1946 den »international atonal style« nannte (1940– 54/2014, 516). Und trotz der von Bürger konstatierten allgemeinen modernen »Stilferne« kann man nach 1945 vom »pointillistischen Stil« der Nachkriegsavantgarde sprechen, der von Beginn an auch von den Komponisten selbst als übergreifendes internationales »Phänomen« verstanden wurde: »Daß voneinander unabhängige private Bemühungen um kompositorisches Handwerk ohne Anleitung von Lehrern in der jüngsten musikalischen Entwicklung zu einem ›Stil‹ geführt haben, erlaubt es, von einer neuen Situation des Handwerks zu sprechen« (Stockhausen 1952/63, 17); Stockhausen und Boulez sprechen rückblickend von einem »[›]punktuellen[‹] Stil« der frühen 1950er Jahre (Boulez 1954/72, 55; Stockhausen 1957/63, 105). Ebenso könnte man etwa vom »geräuschhaften Stil« der Lachenmannschen Ä musique concrète instrumentale, dem »Sinustonstil« der frühen Ä elektronischen Musik, dem »spektralen Stil« der französischen Musik der 1970er und 1980er Jahre (Ä Spektralmusik) oder dem »komplexistischen Stil« der new complexity (Ä Komplexität / Einfachheit) sprechen. Dass die Ausprägung solcher durchaus erkennbarer und historisch-regional gebundener Stile Teil der Geschichte der neuen Musik ist, mag nur deshalb weniger wahrgenommen worden sein, weil die Ä Musikhistoriographie nach dem Verblassen des stilgeschichtlichen Pa- Stil radigmas nach 1945 dem Phänomen wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Marginalisierung des Stils ist aber wohl vor allem der Tatsache geschuldet, dass die explizite Poetik von Komponisten der neuen Musik (von der der Diskurs in erheblichem Maß geprägt wurde) die Stilkategorie im Gegensatz zu einer überaus stark akzentuierten Individualität oder dem Fokus auf das »Materialdenken« kaum einmal, und wenn, dann pejorativ verwendet. Wegweisend wurde dabei Schönbergs Opposition von »Stil« und »Gedanke«, die 1950 als Titel von Schönbergs Gesammelten Schriften diente  – eine Opposition, die im erstmals 1930 gehaltenen und später häufig umgearbeiteten Vortrag nicht zuletzt als Abgrenzung von neoklassizistischen Tendenzen (Schönberg 1930/92, 52) gedacht war, im breiteren Kontext aber auch als Gegenpol zur stilgeschichtlich ausgerichteten Ä Musikwissenschaft Guido Adlers zu sehen ist. Während für Adler der Stilbegriff »das ›Objektiv‹ der Gattung neben dem ›Subjektiv‹ des Künstlers, der darin schafft« (Adler 1911, 284) zu erfassen vermag, kann Schönbergs auf den »Gedanken« zielendes Schaffenskonzept »nie von einem vorgefaßten Bild eines Stils ausgehen« (Schönberg 1930/58, 49). Stil wird so etabliert als Begriff für sich verfestigende Topoi oder »abgerufene« historisch gewordene Sprachelemente. Ganz im Sinne Schönbergs sprach Boulez in den 1960er Jahren mit Blick auf die Stilkategorie von einer »rein akademische[n] Scheidung, die von vertrockneten Bütteln für sich in Anspruch genommen wird« (Boulez 1962/72, 217): »Was ist Stil denn anderes als das Schreiben in einem Netz von Funktionen, die in ihrer historischen Wirkungskraft wie in ihren wesenseigenen Möglichkeiten begrenzt sind?«, heißt es an anderer Stelle (Boulez 1963/72, 247). Ähnlich abweisend äußert sich Helmut Lachenmann angesichts der Beobachtung, dass Werke wie Pression für einen Cellisten (1969–70) durch ihren Modellcharakter durchaus stilprägend werden konnten  – hinsichtlich der Entwicklung sowohl eines Personalstils als auch eines Gruppenstils (etwa des »kritischen« oder »dialektischen Komponierens« der 1970er und 80er Jahre, vgl. Hilberg 2000): »Pression bildete so etwas wie ein griffiges Modell, auf dessen Haltung sich alle meine weiteren Arbeiten zurückführen ließen. Dennoch konnte es nicht darum gehen, sich hier stilistisch zu verbarrikadieren. Eine unruhig gebliebene Neugier […] trieb mich sozusagen wieder heraus aus dem eigenen Bau« (Lachenmann 1992/96, 403). Lachenmanns Empfindlichkeit gegenüber den leisesten Anzeichen der Erstarrung seiner »Klangpraxis« zu einem Stil, den er dann »von anderen eher nachgeäfft als intelligent fortentwickelt« sah (ebd.), ist jedoch ambivalent, denn in ihr verbindet sich die Distanz zum Stilprinzip mit der Einsicht, dass der Ausbildung von Stilmerkmalen eben 568 Stimme / Vokalmusik nur schwer zu entkommen ist. Weitgehend frei von negativen Konnotationen verwendet Brian Ferneyhough den Stilbegriff, wobei er ihn im Sinne der systemtheoretischen Unterscheidung Medium / Form zu einem funktionalen Moment des eigenen Schaffens macht: »Die Funktion des Stils [bei Ferneyhough] ist es, einen evolutionären Zusammenhang sowohl innerhalb eines Werks als auch von Werk zu Werk zu ermöglichen. Oder umgekehrt formuliert: Die selbst- und rückbezüglichen Operationsweisen in den Kompositionen haben die Funktion, stilistisch-formale Beziehungen nicht nur innerhalb eines Einzelwerks, sondern auch zwischen den vergangenen und noch zu komponierenden Werken zu erzeugen« (Lippe 2010). 3. Musikhistoriographische Perspektiven Die überwiegend negativen Äußerungen zur Kategorie des Stils durch Komponisten der neuen Musik belegen insgesamt eine prinzipiell unbewusste, nicht-intentionale Dimension dieser Kategorie. Die Musikhistoriographie ist allerdings keineswegs an die Perspektive der Selbstbeschreibung musikalischer Systeme aus der Sicht von Komponisten gebunden. Im Gegenteil könnte die musikhistorisch interessanteste Perspektive heute die einer Historiographie sein, die die Geschichte der neuen Musik gewissermaßen gegen den Strich als Stilgeschichte erzählt. Dabei wäre nicht bei der Benennung oder Beschreibung von Stilen Halt zu machen, die leicht zum bloßen Etikett geraten könnten, sondern nach dem jeweiligen geschichtlichen Sinn einer stilistischen Richtung oder Nuance zu fragen. Anknüpfen ließe sich dabei an Ansätze wie Arnold Scherings Gedanken historisch sich wandelnder »Klangstile« (Schering 1927), der, übertragen auf die jüngere Musikgeschichte, angesichts der herausragenden Bedeutung der Kategorie Klang in der neuen Musik auch rezeptionsästhetische Dimensionen in die Stildiskussion einbeziehen könnte (Ä Themen-Beitrag 3). Arthur Schopenhauers Formulierung vom Stil als der »Physiognomie des Geistes« (Schopenhauer 1851/1988, 455) aufgreifend, ließe sich dabei der Denkrahmen der kunst- und stilgeschichtlichen Methode des frühen 20. Jh.s erweitern. Überträgt man den Gedanken auf die Musikgeschichte, wäre von musikalischen Stilen als den Physiognomien musikgeschichtlicher Perioden zu sprechen. Stil wäre in dieser Sichtweise und durchaus in Theodor W. Adornos Sinn als in musikalischen Klängen und in musikalischen Kunstwerken »sedimentierter Geist« zu begreifen (Adorno 1949/75, 39). Hinter dem Pointillismus der Nachkriegsavantgarde, dem Lachenmann-Idiom des »dialektischen Komponierens« oder, um ein kontrastierendes Beispiel zu wählen, dem seit den 1990er Jahren im Grenzbereich von Ä Pop / Rock und neuer Musik gepflegten »Remix-Stil« (Ä Bearbeitung), zeichnen sich allgemeine soziokulturelle Erfahrungswirklichkeiten ab, die als komplexer Untersuchungsgegenstand der musikwissenschaftlichen Analyse und Kommentierung bedürfen. Ä Analyse; Gattung; Musikhistoriographie; Musikwissenschaft; Musiktheorie; Postmoderne; Polystilistik Adler, Guido: Der Stil in der Musik, Leipzig 1911 „ Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ Boulez, Pierre: Einsichten, Aussichten [1954], in: Werkstatt-Texte, hrsg. v. 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Werke mit Gesangssolisten: Repertoire und Interpreten / Interpretinnen  „ 5. Vokalensembles und Chöre: Repertoire und Formationen 1. Voraussetzungen Ihre klanglichen, mythischen und magischen Dimensionen und ihre enge Verbindung zu Sprechen und Ä Sprache haben die menschliche Stimme seit frühester Zeit 569 zu einem zentralen Scharnier zwischen musikalischen, sozialen, spirituellen und religiösen Erfahrungsräumen gemacht, aber auch zu einem für den Transport von Ideologien aller Art besonders geeigneten Medium. Ein wesentlicher, in jüngeren Theoriebildungen herausgestellter Faktor ist die Eigenschaft der Stimme, auf unterschiedliche Weise Semantiken und (teils unbewusste) Emotionen zu transportieren: Noch die scheinbar »neutralsten« Erscheinungsweisen und Organisationsformen von Sprache, etwa die standardisierten Stimmen von Nachrichtensprechern, offenbaren Bedeutungen und Affekte, die strukturell-syntaktische Sprachmodelle nicht erfassen (Dolar 2006): Die Stimme zeigt, als Grenze des Diskursiven, auch das, was die Rede verschweigt (Krämer 2003, 79). Stets ist die Stimme Signal der »Gestimmtheit« eines Menschen. In Abhängigkeit von physischen Faktoren wie Geschlecht, Alter und Gesundheit hat sie Höhe, Farbe, Tempo, Rhythmus, Dynamik, Intonation und Charakter. Eine Stimme ist rau, hart, schneidend, hauchig, weich, schmal, sonor oder belegt, was nicht bloß temporär wechselnde oder physiologisch konstante Klangeigenschaften beschreibt, sondern unweigerlich damit verbundene physische und psychische Befindlichkeiten, die sich auf stimmrelevante Faktoren auswirken. Durch Einbettung der Stimme in sprachliche und musikalische Zusammenhänge wird ihre klangliche Präsenz durch eine Vielfalt von Konnotationen gebrochen und erweitert, deren Rahmungen oder Codes den Reichtum der Stimme an häufig (intentional) mehrdeutigen Emotionen und Bedeutungen zusätzlich erhöhen (Mersch 2006). Unter der Perspektive der Ä Globalisierung – verstanden als eine ständig sich verschiebende Konstellation homogenisierender und differenzierender Entwicklungen (Ä Themen-Beitrag 9) – wird deutlich, dass die Stimme sowohl kulturelle Konvergenzen oder Hybridisierungen verstärken als auch die Akzentuierung lokaler, regionaler und nationaler Identitäten artikulieren kann (Utz / Lau 2013). Studien zur Ästhetik und Kulturgeschichte der Stimme haben daneben gezeigt, dass sich kulturelle und historisch sedimentierte Stimmmodelle und -ideale u. a. durch musikalische Ausbildung in individuellen Stimmgebungen niederschlagen, sodass es unmöglich erscheint, im Endresultat individuelle von solchen kulturellen Komponenten zu isolieren (Armstrong 1985; Potter 1998). Gerade die plurale Vielfalt an Stimmcharakteren und -techniken ermöglicht es Geschichtenerzählern, Sängern traditioneller narrativer Genres, Opernsängern, Avantgardevokalisten und Schauspielern, in kürzester Zeit zwischen unterschiedlichsten Stimmungen und Charakteren zu wechseln. Solchem »Rollenspiel« stehen tiefenpsychologische Ansätze entgegen, die sich eine »Befreiung« der Stimme von for- Stimme / Vokalmusik malisierten »Masken« und Konventionen des täglichen Stimmgebrauchs zum Ziel setzen. Zu nennen sind hier etwa die Stimmpioniere Alfred Wolfsohn und Roy Hart (Peters 2008) sowie Ansätze der musikalischen Ä Avantgarde der 1960er Jahre (Ä Sprache / Sprachkomposition; vgl. 3.). Dabei haben sich in der neuen Musik vor dem Hintergrund eines historischen Wandels von Vokalstilen und Stimmgebungen (Seidner / Seedorf 1998; Fischer 1998) eine große Fülle neuer Vokaltechniken (Isherwood 2013), Perspektiven und Kontexte erschlossen. 2. Notation, Stimmgebung, Aufführungspraxis Eine besondere Eigenheit vokaler Musik bestand von jeher in der Schwierigkeit ihrer Verschriftlichung. Grund dafür ist die Spannung zwischen auralen und performativen sowie schriftlichen und denotativen Schichten der musikalischen Praxis, die aus der neuen Musik wie aus der Ethnomusikologie (Nettl 2003, 74–91) gleichermaßen bekannt ist. Die minimalen Varianten stimmlicher Tonhöhengestaltung, Färbung, Dynamik und Registerwechsel, die einen individuellen Stimmklang konstituieren, lassen sich notationell kaum je lückenlos erfassen. In der neuen Musik resultierten daraus einerseits hoch komplexe Notationsweisen, die etwa bei Brian Ferneyhough an die Aufforderung gekoppelt sind, das vokale Organ gleichsam als »Resonator« aufzufassen, der dabei hilft, die notationelle Komplexität zu filtern und zu individualisieren (Ferneyhough 1980/95, 100). Analog zur Begrenztheit musikalischer Notation wurde daneben gezeigt, dass selbst ein so universalistisch konzipiertes Werkzeug wie das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) trotz hochgradiger Differenzierung menschlicher Lautgebungen viele phonetische Bildungen nicht erfasst, da eine Stimme häufig graduell zwischen unterschiedlichen phonetischen Typen oder Kategorien changiert (Gee 2007, 265; Gee 2013). Solche Übergänge zwischen verschiedenen Stimmkategorien und -stilen wurden im 20. und 21. Jh. für die neue Vokalmusik unterschiedlichster historischer und kultureller Provenienz immer wieder zu einem Brennpunkt. Zunehmend diskutiert findet sich in diesem Zusammenhang auch Roland Barthes ’ Unterscheidung von »Phänogesang«, der kommunikative Dimensionen von Inhalt, Syntax und Semantik von Texten bezeichnet, und »Genogesang«, der das Flüchtige und Prozesshafte einer Stimme samt deren unstrukturierten erotischen Triebenergien verkörpert (vgl. Klein 2009). Das Genotypische ist »die Art und Weise, wie die Stimme im Körper sitzt – oder wie der Körper in der Stimme sitzt« (Barthes 1977/90, 284), was Barthes mit der »Rauheit« (grain) der Stimme beschreibt (Barthes 1972/90). Außerdem unterscheidet Barthes zwischen einer »Artikulation« (articu- Stimme / Vokalmusik lation), die phänotypisch um klare Verständlichkeit des Sinns und Ausdrucks bemüht ist, von der genotypischen »Aussprache« (prononciation), die z. B. bestimmte Konsonanten verschleift oder einzelnen Silben eine einmalige Signifikanz verleiht und stets singulär ist, weil unabhängig von verbindlich fixierten Kodes (Barthes 1977/90, 282–284). Die Dimensionen des »Genogesangs« machen die Wahrnehmung einer Stimme für Barthes zu einem affektiven Prozess. Dabei ist die Emanzipation eben dieser individuellen Äußerungsformen einer Stimme in der neuen Vokalmusik seit den 1960er Jahren nicht nur ein ästhetischer Protest gegen das überkommene Reinheitsideal des Belcanto. Vielmehr handelt es sich  – wie in zeitgleichen experimentellen Strömungen von Ä Tanz, Theater, Ä Performance, Happening, Ä Pop und Rock  – um einen Bestandteil der allgemeinen gesellschaftlichen Befreiung des Ä Körpers und der Sexualität von rigiden Mode- und Moralvorstellungen. Eine zentrale Rolle spielten hier insbesondere auch die vielen individuell einmaligen Stimmen aus Blues, Soul, Beat und Rock, etwa von Louis Armstrong, Aretha Franklin, James Brown, Bob Dylan, Janis Joplin, Tom Waits, Kate Bush, Barry Gibbs, Nina Hagen, Björk sowie die verschiedenen Richtungen von Hard Rock, Punk, Hip-Hop und Metal mit Vokaltechniken wie »scream« oder »growl« (Elflein 2010). Die vielfältigen Zwischenbereiche zwischen Sprechen und Gesang wurden dabei zu einem Schlüsselthema neuer Vokalmusik. Eine der bekanntesten vokalen Hybridisierungen im 20. Jh. ist die »Sprechstimme« in Arnold Schönbergs Monodramen Pierrot lunaire für eine Sprechstimme, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier op. 21 (1912). Dabei geht Schönberg über eine simple Imitation des »pathetischen Sprechens« im Fin-de-Siècle, das ihm als eines von mehreren Modellen diente (Cerha 1978/2001; Stephan 1998; Meyer-Kalkus 2001, 299–318), deutlich hinaus. Seine Angaben zur Ausführung des Vokalparts lassen zweifellos einen Interpretationsspielraum: Zwar notierte Schönberg für die Sprechstimme durchweg eindeutige chromatische Stufen, ließ aber zugleich auch Interpretationen gelten (oder bevorzugte diese unter eigener Leitung sogar), bei denen die gesungen-gesprochenen Tonhöhen von den in der Partitur festgelegten immer wieder deutlich abwichen (Byron 2006). Seit Schönbergs Pierrot gibt es zahlreiche weitere Formen der Hybridisierung von Sing- und Sprechstimme. In John Cages Hörspiel Roaratorio, an Irish Circus on Finnegans Wake (1979), in dem Cage selbst als Sprecher von Texten aus James Joyces Roman Finnegans Wake (1923–1939) auftritt, stabilisiert Cages Stimme zeitweise die (Sprech-)Tonhöhen auf gesangsähnliche Weise. Salvatore Sciarrino beschreibt seinen Vokalstil als »sillabazione 570 scivolata« (gleitende Silbenartikulation), und verweist dabei auf die »scioltezza« (Leichtigkeit) der Alltagssprache als Modell für die Interpreten (Utz 2010; Kampe 2013). Die Intonation von Figuren aus kurzen Notenwerten, die meist die Gesangsphrasen beschließen, soll nicht präzise erfolgen, sondern ausdrücklich mit einer »Nuancierung nicht temperierter Intervalle, wie dies beim Sprechen üblich ist« (Sciarrino 1998, 27). Dabei knüpft Sciarrino zugleich an die Belcantotechnik messa di voce an, lässt lang ausgehaltene Töne sehr leise beginnen und allmählich ins Piano, Mezzoforte oder Forte crescendieren, um plötzlich wieder ins Pianissimo zurückzukehren, ohne dabei die Tonhöhe, etwa durch Vibrato, zu verändern (Saxer 2008). Ein »gehobenes«, stilisiertes Sprechen ohne explizite Gesangsanteile, aber doch mit zeitweiliger Stabilisierung von Tonhöhen, ist bis zur Gegenwart in neuer Musik ein außerordentlich häufig eingesetztes Mittel geblieben. In einer einzigen Sprecherpartie zusammengeführt finden sich zwei verschiedene Textebenen in Heiner Goebbels »Konzertanter Szene« Befreiung für Sprecher und Ensemble (1989) auf einen Text von Rainald Goetz. Im Fall von Helmut Lachenmanns »… zwei Gefühle …«, Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble (1991–92) übernahm der Komponist häufig alleine die beiden in einzelne Laute und Silben zersplitterten Sprecherpartien (Hiekel 2013, 166–168). Aus Sprache entwickelt ist auch der Zyklus Récitations (1977) von Georges Aperghis, der gesprochene Sprache (teils erfundene französische Worte) in Musik transformiert (Gee 2007, 2013, 193–196), entweder durch Montage unterschiedlicher Stimmgebungen oder, wie im ersten Teil von Nummer 10, allein durch die Abwandlung von Tempo und Dynamik, indem eine von Mal zu Mal länger werdende Silbenkette in einem Atemzug immer schneller und lauter zu sprechen ist, sodass trotz äußerlicher Mechanik des Verfahrens die Expressivität der Stimme exponentiell zunimmt (Abb. 1). Eine hybride Stimmbehandlung zwischen Sprechen und Gesang zeigt schließlich auch die Rolle »Water« in Tan Duns Oper Marco Polo (1991–95), die sich auf die Yunbai-Stilistik der Peking-Oper bezieht und das von Tan in Silk Road für Sopran und Schlagzeug (1989) bereits entworfene Konzept stilistisch hybrider Stimmen erweitert. Die aus der langjährigen Kooperation des Komponisten mit Susan Botti, der Solistin der Uraufführung, hervorgegangene Vokalpartie ist gekennzeichnet  – wie andere Stimmen in Marco Polo – durch die in Tans Begriff »vocal calligraphy« zusammengefassten Inflektionstechniken sowie durch einen starken Bezug auf die traditionelle Gesangstechnik der Peking-Oper, die entsprechend den Initial-, Mittel- und Endlauten der chinesischen Silbe drei Phasen der Tonproduktion unterscheidet: Kopf (tou), 571 Stimme / Vokalmusik Abb. 1: Georges Aperghis, Récitations, Nr. 10 (© 1982 by Editions Salabert, Paris) Stimme / Vokalmusik Bauch (fu) und Schwanz (wei). Die symbolische Figur »Water« macht dies zu einer Mittlerin zwischen geographischen Gebieten (Wasser als Transportweg) sowie zwischen »Spirituellem« und »Physischem« (verschiedene Aggregatzustände des Wassers) (Utz 2014, 100–102). 3. Theatralität und Performativität Artikulationsweisen jenseits normierter Grenzen von Sprache und Gesang entstehen üblicherweise als unwillkürliche Äußerungen von bestimmten körperlichen und emotionalen Zuständen wie Lust, Schmerz, Angst, Aggression, Nervosität usw. Aufgrund ihrer Rückbindung an derlei Alltagserfahrungen werden diese Laute daher selbst bei rein musikalischer Handhabung und streng struktureller Organisation zumeist als besonders affektiv, situativ und theatralisch erlebt. György Ligeti nahm diese expressive Geladenheit erweiterter stimmlicher Laute zur Grundlage seiner Aventures / Nouvelles Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1962–65), indem er die Vokalpartien mit rund siebzig verschiedenen »Expressemen« versah, also mit jeweils anderen charakteristischen Intonationsweisen (von »abschätzig« bis »zügellos«), sodass jenseits der begrifflichen Wortsprache auf expressiv-affektiver Ebene »sprechende« Monologe, Dialoge und imaginäre Opernszenen resultierten (Klüppelholz 1995, 115–139). Luciano Berio komponierte die A-cappella-Version seines a  – ronne für acht Stimmen (1974–75) als mehrmalige Lektüre eines selbstreferenziell Mehrsprachigkeit und Formung thematisierenden kurzen Texts von Edoardo Sanguineti, indem er das achtstimmige Pariser Solistenensemble Swingle Singers den identischen Text immer wieder gemäß unterschiedlicher Situationen und sozialer Kontexte (Kirche, Schlafzimmer, Wirtshaus, Kasernenhof, Hochschule, Gesangsschule, Sprachtherapie u. a.) stimmlich anders intonieren ließ, sodass auch hier imaginäre Szenen resultierten (Nonnenmann 2009, 48 f.). Im Gegensatz zur Komposition von Expressemen und Intonationen analysierte Dieter Schnebel in Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968–74) rein sachlich die physische Anatomie und Aktivität der an der menschlichen Stimme beteiligten Organe und Körperfunktionen. Gemäß der Idee seiner Werkreihe »Produktionsprozesse« werden hier die bei verschiedenen gymnastischen »Exerzitien« beteiligten Körperteile (Kehlkopf, Zwerchfell, Zäpfchen, Zunge, Lippen, Mundraum, Kiefer und Atem / Pneumatik) für das Publikum mittels Fernsehkameras auf Monitore vergrößert projiziert sowie mittels Kontaktmikrophonen verstärkt. Ziel ist indes primär die systematische Selbsterkundung der physiologischen Beschaffenheiten und Wirkungsweisen 572 des individuellen Stimmorgans der beteiligten Sängerinnen und Sänger (Nonnenmann 2010, 37 f.). Denn schließlich besteht auch konventioneller Gesangsunterricht nicht zuletzt darin, die eigene Stimme und den eigenen Körper als Instrument zu begreifen und in seinen Einsatzmöglichkeiten möglichst flexibel beherrschen zu lernen. Schnebels Autopsie der Artikulationswerkzeuge und -arten sprengt das »natürliche« Sprechen und Singen auf, um die sezierten Bestandteile der Stimme neu zu synthetisieren. Thematisiert und mit Studien zu industrieller Fertigungsoptimierung in Verbindung gebracht werden vokale Produktionsprozesse und Leistungsgrenzen auch in Brian Ferneyhoughs Time and Motion Study III für 16 Solostimmen (1974) (Gee 2007, 2013, 187–192). Die latente Theatralität stimmlicher Möglichkeiten jenseits des sprachlichen und gesanglichen Normalmaßes kehrte Mauricio Kagel im Rahmen des von ihm seit Anfang der 1960er Jahre in zahlreichen Werken verfolgten Ansatzes des Ä Instrumentalen Theaters explizit nach außen. Schon in seinem »kammermusikalischen Theaterstück« Sur scène (1959–60) forderte er vom Sprecher eine »musikalische Artikulation des Textes«, die unabhängig vom Textinhalt als eigenständige Schicht zu gestalten ist, indem die normale Sprechstimme durch teils extreme Veränderungen von Stimmlage, Lautstärke und Geschwindigkeit in dem Maße musikalisiert wird, wie sie gleichzeitig teils bis ins Groteske verfremdet erscheint (Schnebel 1970, 52). Szenisch umgesetzt hat Kagel die konkrete Physis der menschlichen Stimme samt deren Beeinträchtigungen durch Krankheit und Alter in Phonophonie – vier Melodramen für zwei Stimmen und andere Schallquellen (1963–64). Die Hauptpartie charakterisierte der Komponist als das »Porträt eines Sängers aus dem 19. Jh. im Zustand seines stimmlichen Zerfalls« (Kagel zit. nach ebd., 120). Kagel schrieb das Stück für den USamerikanischen Bassbariton William Pearson, der hier mit seiner extrem wandelbaren Stimme gleich vier Simultanrollen auszufüllen hatte, neben der Rolle des alternden Opernbaritons auch die Rollen von Taubstummer, Bauchredner und Tierstimmen-Imitator. Für den schauspielbegabten Ausnahme-Sänger schrieben auch andere Komponisten Stücke: Sylvano Bussotti das Pearson Piece (1960), Ligeti seine Aventures (1962), Hans Werner Henze die dramatische Kammerrevue El Cimarrón (1969–70) sowie Schnebel Maulwerke (1968–74) und Atemzüge (1970– 71). Pearson übernahm mehrfach auch den – ursprünglich für die »mehrstimmige« Gesangsstimme von Roy Hart geschriebenen  – exaltierten Solopart der Eight Songs for a Mad King (1969), mit denen Peter Maxwell Davies die damalige Anti-Psychiatrie-Debatte in Großbritannien reflektierte (Williams 2000, 83 f.). Durch abrupte Wechsel 573 Stimme / Vokalmusik Abb. 2: Peter Maxwell Davies, Eight Songs for a Mad King, I. The Sentry (King Prussus ’ s Minuet), Ausschnitt (© 1971 by Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd.) von Dynamik und Artikulation sowie zwischen verschiedenen Registern, Brust- und Kopfstimme, verkörpert der Solist stimmlich eine Art Schizophonie des wahnsinnigen Königs (Abb. 2). Als Symptome von psychischen Störungen bzw. von ungehemmter Gewalt, Sexualität und Amoralität begegnen stimmliche Extreme auch in der Rolle des Mr. Punch – Uraufführungsinterpret John Cameron – in Harrison Birtwistles Operneinakter Punch and Judy (1966–67), dessen komplementäre Hauptpersonen im Libretto von Stephen Pruslin an bekannten Puppentheaterfiguren orientiert sind. Jōji Yuasa arbeitete in Japan  – wohl nicht unbeeinflusst von zeitgleichen europäischen Strömungen, aber doch eigenständig  – zeitgleich mit Dieter Schnebel an vergleichbaren körperorientierten und lautbezogenen Formen der Vokalmusik, etwa in Voices Coming (1971), Toi (1971) und Utterance (1971). Vergleichbare Tendenzen lassen sich ebenfalls früh in der neuen koreanischen Musik beobachten (Lee 2013). Vor diesem Hintergrund ist es wiederum kein Zufall, dass in der vielleicht wichtigsten Phase der asiatischen Musik des 20. Jh.s – dem Schaffen junger chinesischer Komponisten der 1980er Jahre – das theatral inszenierte vokale Element eine Schlüsselrolle im »Finden der eigenen Stimme« spielte (Utz 2002, 315 f.). Im Zwischenraum der durch Schönbergs Pierrot lunaire repräsentierten »vokalen Moderne« und den asiatischen lokalen und nationalen Vokalgenres öffnete sich eine nahezu unerschöpfliche vokale Vielstimmigkeit. Helmut Lachenmann sah sich vor dem Hintergrund seiner kritischen kompositorischen Auseinandersetzung mit dem »ästhetischen Apparat« auch zur Auseinandersetzung mit der auratisch besonders geladenen menschlichen Stimme herausgefordert. In seinen frühen Vokalwerken Consolation I für zwölf Stimmen und vier Schlagzeuger (1967/2000) und Consolation II für 16 Stimmen (1967–68) sind kurze Textpassagen in einzelne Vokale und Konsonanten zerlegt, die in Consolation I so eng mit verwandten Klängen der vier Schlagzeuger verzahnt sind, dass sie durch deren teils tonhöhenfixierte, teils geräuschhafte Klänge sowohl affektiv »neutralisiert« als auch im selben Maße neu musikalisiert werden, wie sie ihrer sprachlichen Herkunft entkleidet erschienen. Weil Vokalmusik für Lachenmann stärker als Instrumentalmusik auf etablierte Gesten angewiesen ist, da »Singen ohne […] 574 Stimme / Vokalmusik vorgelagerte Emphase unmöglich« ist (Lachenmann zit. nach Meyer-Kalkus 2009, 105), hat er in seinen wenigen Vokalwerken die Stimme in ihrer körperlichen Materialität vor allem als Klangerzeuger aufgefasst und auf der Basis einer anti-rhetorischen »Atemsyntax« (ebd.) zum Klingen gebracht. Analog zu Lachenmanns seit 1968 verfolgtem Ansatz einer Ä musique concrète instrumentale führte dies vor allem in temA für Flöte, Stimme und Violoncello (1968) zu einer veritablen »musique concrète vocale« (Nonnenmann 1997, 2013, 185–193, 233 f.; Hiekel 2013, 169–172). Ähnlich Schnebel und Kagel thematisierte Simon Steen-Andersen in Buenos Aires für fünf Stimmen und Instrumente (2014) Luft und Atem als konkret materiale Grundvoraussetzung menschlicher Stimmgebung. Während die Instrumentalisten immer stärker durch Gewichte, Seilzüge, Stricke und Plastiktüten an Händen und Instrumenten behindert werden, haben die fünf Sänger sämtliche Laute statt mit eigenen Stimmbändern und eigener Atemluft mithilfe von Prothesen zu erzeugen. Verschiedene Tonhöhen erzeugen sie ausschließlich durch Kehlkopfmikrophon, Sprachcomputer, Vocoder und aus Schläuchen dringende Druckluft, die sie sich in ihre stumm Vokale und Konsonanten formenden atemlosen Münder blasen. Steen-Andersen spielt mit den extrem verfremdeten, zischenden und röchelnden oder überhaupt durch Computerstimmen ersetzten Stimmen auf Folterpraktiken der argentinischen Militärdiktatur an. Eine zentrale Rolle nimmt die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit und Performativität der Stimme auch in szenisch oder theatral konzipierten Werken zahlreicher weiterer Komponistinnen und Komponisten ein, u. a. bei Hans-Joachim Hespos, Heinz Holliger, Adriana Hölszky, Younghi Pagh-Paan und Beat Furrer. Besonders Louis Andriessen, Helmut Oehring, Bernhard Lang und Thomas Kessler haben dabei auch intensiv Vokalstile aus populären Genres rezipiert, so etwa in Kesslers NGH WHT für Sprecher und Streichquartett (2006–07), einer Kooperation mit dem Rap-Poeten und Performer Saul Williams. Zum Genre des vokalen Kammermusiktheaters gehören auch Werke von Georges Aperghis, Luciano Berio, Carola Bauckholt, Luca Francesconi, Wolfgang Rihm, Lucia Ronchetti, José Maria Sánchez-Verdú, Annette Schmucki, Oscar Strasnoy, Claude Vivier, die gemeinsamen Produktionen des Komponisten Hannes Seidl und des Videokünstlers Daniel Kötter sowie die als Shows oder Moderationen inszenierten multimedialen Konzerte, die seit etwa 2010 Trond Reinholdtsen, Patrick Frank, Johannes Kreidler und andere entwickelten (Ä Film / Video, Ä Musiktheater). Ein Sonderfall des wahlweise theatralen oder analytischen Umgangs mit stimmlichen Expressemen, Affekten und Intonationen sind Kompositionen, die sich mit dem medialen Einsatz von Stimmen auseinandersetzen, namentlich mit Stimmen im Rundfunk oder zum Zweck politischer Agitation und Massenmobilisierung. Besonders stimmliche Suggestivkraft wurde zu einem zentralen Thema neuer Musik. Schnebel zielte in seinem Hörspiel Hörfunk – Radiophonien (1971) auf eine Selbstthematisierung des Mediums Rundfunk, indem er Mitschnitte verschiedener Radiosendungen mit  – je nach Einsatzbereich  – verschieden medial überformten Sprechstimmen und Musikstilen collagierte. Kagel unternahm in dem  – von ihm selbst gesprochenen und später auch als szenische Fassung realisierten – Hörspiel Der Tribun für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher (1979) den »Versuch, die sprachliche Haltung von politischen Rednern im allumfassenden Sinne bloßzustellen« (zit. nach Klüppelholz 1981, 193). Den Einsatz der Stimme als Agitations- und Manipulationsinstrument thematisierte auch Louis Andriessen in seiner elektronischen Komposition Il duce (1973). Als Reaktion auf den damals in Italien aufkeimenden Neofaschismus griff Andriessen eine berühmte Rede Benito Mussolinis an das italienische Volk auf, indem er die Stimme des »Duce« samt Publikumsgeräuschen sukzessiv überlagerte und verzerrte, um sie endlich unter Rauschen und Knistern völlig verschwinden zu lassen. Ähnlich verfuhr Harald Muenz in seiner Tonbandkomposition schweigenderest (2000–01) mit der berüchtigten Rede »Zehn Fragen an das deutsche Volk«, die Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast hielt, um unter dem Jubel der Anwesenden den »totalen Krieg« zu er- und verklären. Die Diktion des Redners mutiert bei Muenz zum Dröhnen von Bombergeschwadern, dem Feuer der Krematorien und dem Eiswind über den Schlacht- und Totenfeldern von Stalingrad (Nonnenmann 2004, 40). 4. Werke mit Gesangssolisten: Repertoire und Interpreten / Interpretinnen Viele zentrale Werke der neuen Vokalmusik nach 1950 verdanken sich intensiver Kooperationen von Komponistinnen und Komponisten mit durch spezifische stimmliche Fähigkeiten und Färbungen sich auszeichnenden Sängerinnen, Sängern und Vokalensembles. Beispielhaft ist die Zusammenarbeit zwischen Luciano Berio und der armenischstämmigen US-amerikanischen Sängerin Cathy Berberian (die von 1950 bis 1964 miteinander verheiratet waren). Berberian verfügte über ein außergewöhnlich breites Repertoire zwischen alter und neuer Musik, Volks- und Popmusik, Oper, Song, Chanson etc. Für Berberians vielseitige Stimme – und ihr schauspielerischkomödiantisches Talent – schrieben mehrere Komponis- 575 ten Solowerke (Paull 2007; Karantonis u. a. 2014), wobei ihre Mitwirkung in vielen Fällen im Sinne einer Ko-Autorschaft verstanden werden kann (Halfyard 2006). Von herausragender Bedeutung ist die von Berio mit ihr und für sie komponierte Sequenza III für Stimme solo (1966), die eine aus dem seriellen Denken resultierende parametrische Systematisierung der Stimmgebungen vornimmt und dabei zugleich im Sinne der allgemeinen Tendenz zu Theatralität und Performativität die Stimme fortgesetzt Grenzbereiche erkunden lässt (Anhalt 1984, 25–40). Weitere mit und für Berberian entwickelte Vokalwerke Berios umfassen u. a. die elektronische Komposition Tema (Ommagio à Joyce) (1958), Circles für Frauenstimme, Harfe und Schlagzeug (1960) und Folk Songs für Mezzosopran und sieben Spieler (1964). Für Berberians stimmliche Möglichkeiten schrieben ferner Igor Strawinsky die Elegy for J.F.K. für Bariton, Mezzosopran und drei Klarinetten (1964) sowie John Cage die Aria for voice (1958). Zudem sang Berberian Werke von Hans Werner Henze, Luigi Nono, Bruno Maderna, Henri Pousseur und Sylvano Bussotti. In ihrer eigenen Stripsody (1966) erweist sich die Sängerin als Vertreterin des Typus Ä »Composer-Performer«, der die notierte Partitur vor allem als Erinnerungsstütze dient, auf deren Grundlage jede Aufführung  – oral tradierten Vokalgenres vergleichbar  – individuell ausgestaltet wird (Herzfeld-Schild 2011). Anders verfuhren dagegen Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono, indem sie bestimmten Werken für Stimme und Elektronik Aufnahmen von – unter ihrer Anweisung entstandenen  – vokalen Improvisationen zugrunde legten. Stockhausen nutzte für sein frühes elektronisches Schlüsselwerk Gesang der Jünglinge (1955–56) Aufnahmen der singenden und sprechenden Knabenstimme des damals zwölfjährigen Josef Protschka, des späteren Lied- und Opernsängers. Stockhausen analysierte das vokale Stimmund Sprachmaterial, um es anschließend elektronisch zu verarbeiten und in ein seriell organisiertes Kontinuum zwischen reiner Stimme und rein elektronisch generierten Klängen zu bringen (Ungeheuer / Decroupet 1998). Nono verstand die Stimme als vorrangiges Medium menschlichen Ausdruck des Protestes gegen Unterdrückung und Leid (Nanni 2004) und zielte dabei auf eine »Unlösbarkeit des phonetischen Materials von der Bedeutung des Wortes und vom Ausdruck« (Nono 1960/75, 60). In La fabbrica illuminata für Sopran und Tonband (1964) arbeitete er mit der Mezzosopranistin Carla Henius zusammen, deren Stimme er bei gemeinsamen Experimenten aufzeichnete und zusammen mit weiteren Aufnahmen (vom Coro della RAI in Mailand sowie von Sprachen und Geräuschen aus einem Walzwerk des Stahlkonzerns Italsider in Genua-Cornigliano) im Studio di Fonologia elektronisch Stimme / Vokalmusik verarbeitete. Bei der Aufführung des Stücks tritt dann zur Tonbandschicht des Werks zusätzlich die Solistin wieder als live-singende Stimme hinzu (Henius 1995). Wenig später komponierte Nono A floresta é jovem e cheja de vida für drei Stimmen, Sopran, Klarinette, Kupferplatten und Tonband (1966) auf der Grundlage von gemeinsamen experimentellen Übungen mit Mitgliedern der 1947 von der Schauspielerin Judith Malina und dem Maler Julian Beck gegründeten New Yorker Künstlergruppe Living Theatre, die in Opposition zum kommerziellen Theater und in direkter Anlehnung an Erwin Piscator politische und experimentelle Theaterkonzepte vertrat (Guerrero 2010). Die teils hochgradig individuellen stimmlichen Möglichkeiten und Farben von Sängerinnen und Sängern führten zuweilen – stärker als auf dem Gebiet der Instrumentalkomposition  – zu besonders interpretenzentrierten Konzeptionen. Diese Tendenz wird verstärkt durch das wachsende Interesse an der individuellen Materialität, Leiblichkeit, Prozessualität und Ereignishaftigkeit des Lautlichen bzw. der unteilbaren Einheit von Stimme und Lautgebung, wie sie sich in dieser bestimmten Person äußert – »Person« dabei verstanden im Sinne des lateinischen »per sonare«, des Ertönens der Stimme durch das Mundstück der Maske eines Schauspielers (Mertz 1996). »Person: das ist die Rolle, die sich im Sprechen artikuliert« (Krämer 2003, 74): »Der Körper zeigt sich in der Stimme« (ebd., 67). Solche Körperlichkeit dokumentieren nicht zuletzt auch die Werke für Solostimme von Giacinto Scelsi. An der Entstehung von dessen zwanzigteiligem Zyklus Canti del Capricorno (1962–72) hatte die in Italien lebende japanische Sängerin Michiko Hirayama großen Anteil, indem sie u. a. Assoziationen an traditionelle japanische Vokalpraktiken einbrachte (Kirchert 1998; Hirayama 2005; Hiekel 2013, 161–164), obwohl sie betonte, keine fundierten Kenntnisse traditioneller japanischer Vokalmusik gehabt zu haben (Hirayama 2007, 4 f.). Auch in vielen anderen Fällen berühren Kooperationen zwischen Interpret und Komponist Fragen der Autorschaft (Halfyard 2006). Dies gilt nicht zuletzt auch für Werke wie Claus-Steffen Mahnkopfs Angela Nova 2 für Sopran solo (1999–2000) (Hellwig 2012) oder Michael Edwards Edgertons Friedrich ’ s Comma für zwei Solostimmen (1999), die in hochkomplexer Weise ausnotiert sind. Dabei befasste sich Edgerton auch systematisch mit einer Erweiterung stimmlicher Möglichkeiten im Sinne eines »extra-normal voice« (2005). Die Personalität von Stimmen bzw. die Sonorität von Personen bedingt, dass es gerade im Grenzbereich von Komposition und Ä Improvisation (Ä Performance) eine ganze Reihe von »Vocal-Composer-Performern« gibt. Neben experimentellen Vokalpraktiken beziehen viele unter 576 Stimme / Vokalmusik ihnen auch traditionelle Techniken unterschiedlicher Religionen und Kulturkreise ein: etwa arabischen, tibetanischen, indischen und indianischen Gesang sowie europäische Volksmusiktraditionen. Als Stimmartisten wahlweise mit eigenen Kompositionen oder Performances zu nennen sind beispielsweise: Laurie Anderson, Jaap Blonk, db boyko, Diamanda Galás, Erin Gee, Joane Hetu, Shelley Hirsch, Joan La Barbara, Fátima Miranda, Meredith Monk, David Hykes, Jennifer Walshe, Ute Wassermann, Bettina Wenzel sowie David Moss, der zudem zentrale Partien u. a. in Werken von Heiner Goebbels, Helmut Oehring oder Olga Neuwirth ausfüllte. Herausragende Vokalsolisten neuer Opern und Kammermusik sind gegenwärtig u. a. Claudia Barainsky, Angela Denoke, Barbara Hannigan, Linda Hirst, Nicolas Isherwood, Salome Kammer, Otto Katzameier, Donatienne Michel-Dansac, Annette Schönmüller, Almut Hellwig, Angelika Luz, Anna Maria Pammer, Bo Skovhus, Sarah Maria Sun und Kai Wessel. Zusammen mit Instrumenten begegnen einzelne Solostimmen trotz eines vielfach vollzogenen Bruchs mit den Gattungstraditionen des 19. Jh.s bevorzugt im Rahmen von Klavierliedern, in den letzten Jahrzehnten komponiert von Wilhelm Killmayer, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm und sogar von Helmut Lachenmann (GOT LOST, Musik für hohen Sopran und Klavier, 2007–08, Nonnenmann 2012). Die von Schönberg mit Herzgewächse für hohen Sopran, Celesta, Harmonium und Harfe op. 20 (1911) und Pierrot lunaire op. 21 (1912) sowie vergleichbar besetzten Werken Anton Weberns und Alban Bergs neu begründete Gattung der Kammermusik mit Sologesang griff nach 1950 zunächst Pierre Boulez mit Le marteau sans maître für Alt und sechs Instrumente (1952–55) wieder auf (Ä Kammerensemble). Später komponierte Boulez für erweiterte instrumentale und vokale Besetzungen Pli selon pli (Portrait de Mallarmé) für Sopran und Orchester (1957–1962) und Cummings ist der Dichter für 16 Solostimmen oder gemischten Chor und Instrumente (1970/86). Vor allem György Kurtág schrieb seit Die Sprüche des Péter Bornemisza für Sopran und Klavier op.  7 (1963–68) mehrere zentrale Werke der Gattung Kammermusik mit Sologesang, darunter Poslanija pokojnoj R.V. Trusovoj (Botschaften des verstorbenen Fräuleins R.V. Trussova) für Sopran und Ensemble op. 17 (1976–80), Szenen aus einem Roman für Sopran, Violine, Kontrabass und Cymbalon op.  19 (1981–82), Fragmente (nach Gedichten von Attila József ) für Sopran und Ensemble op. 20 (1981), Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24 (1985–87) und Songs to Poems by Anna Achmatova für Sopran und Ensemble op. 41 (1997–2008). Ferner zu erwähnen sind Hans Zenders Cabaret Voltaire für Sopran und Ensemble (2001–02) auf dadaistische Text von Hugo Ball und sein Zyklus Hölderlin lesen I–V (1997/87/91/2000/12) für Sprech- / Singstimme und verschiedene Besetzungen sowie das von Rolf Riehm eigens für die Stimme von Annette Schönmüller komponierte Adieu, sirènes für Mezzosopran, zwei Trompeten und zwei Violoncelli (2015). In sinfonisch dimensioniertem Zusammenhang begegnen Vokalisten in Berios Sinfonia für Orchester und acht verstärkte Stimmen (1968–69), wo die Stimmen – bei der New Yorker Uraufführung die Swingle Singers  – statt zu singen meist Fragmente aus Texten von Claude Lévi-Strauss, Samuel Beckett und anderen  – einschließlich Vortragsanweisungen aus Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie  – zu sprechen, flüstern und schreien haben. 5. Vokalensembles und Chöre: Repertoire und Formationen Das Repertoire für solistisch besetzte Vokalensembles ist in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten, vor allem bedingt durch zahlreiche neu gegründete Ensembles, stark angewachsen. Für Solistenensembles a cappella komponiert sind etwa – neben den bereits erwähnten Werken – unter vielen anderen Ligetis Lux aeterna (1966), Bussottis Ancora odono i colli (1967), Iannis Xenakis ’ Nuits (1967/68), Ferneyhoughs Missa Brevis (1969), Cages Song Books (Solos for Voice 3–92) (1970), Wolfgang Rihms Sieben Passions-Texte (2001–2006), Friedrich Cerhas Zwei Szenen (2010–11), Luca Francesconis Herzstück (2012) oder das an die nordindische Khyal-Gesangstradition anknüpfende Atish-e-Zaban (2006) von Sandeep Bhagwati (Ä ThemenBeitrag 9, 4.; Ä Indien, 3.). Zum Teil durch Vokalensembles initiiert kam es – vor allem in jüngerer Zeit – in diesem Rahmen auch zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Gattung des Madrigals. Zu nennen wären Ligetis Nonsense Madrigals (1993), Sciarrinos Le voci sottovetro (1999), 12 Madrigali (2007) und Carnaval (2010–11), Clemens Gadenstätters HEY (2007) und WEH (2010), Andreas Dohmens 13_infra (2008), Johannes Schöllhorns Madrigali a Dio nach Pier Paolo Pasolini (2011), Claus-Steffen Mahnkopfs als Epitaph auf den italienischen Regisseur Pier Paolo Pasolini konzipiertes void – un delitto italiano (2009) und Sánchez-Verdús SCRIPTVRA ANTIQVA (2010–12). In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist auch eine eigene Tradition der kompositorischen Gesualdo-Rezeption in der neuen Vokalmusik. Diese beginnt u. a. mit Aaron Coplands Four Motets (1921), Ernst Kreneks Lamentatio Jeremiae Prophetae (1941–42) und Igor Strawinskys Monumentum pro Gesualdo di Venosa (1960) und findet in jüngerer Zeit eine Fortsetzung in Klaus Hubers Lamentationes sacrae et profanae ad Responsoria Iesualdi (1993; Ä Themen-Beitrag 8, 4.) sowie in den Gesualdo-Opern von Alfred Schnittke 577 (Gesualdo, 1993), Sciarrino (Luci mie traditrici, 1996–98) und der von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart initiierten szenisch-musikalischen Collage IOSIS. Zu Gesualdo. Cross Media Oper (1997–98) mit Werken verschiedener Komponistinnen und Komponisten. Etliche zentrale Werke der neuen Musik des 20. Jh.s knüpfen  – wenngleich unterschiedlich stark  – an die Kantaten- und Oratoriumstradition des 17. bis 19. Jh.s. an, einige davon auch an kirchenmusikalische Formate, wie etwa Arvo Pärts Te Deum für drei Chöre, präpariertes Klavier, Streichorchester und Tonband (1984–85/92). Mit gegensätzlichen Mitteln auf politische Dimensionen beziehen sich Luigi Nonos Il canto sospeso für drei Soli, Chor und Orchester (1955–56) und Benjamin Brittens War Requiem für Sopran-, Tenor- und Bariton-Solisten, Knabenchor, gemischten Chor, Kammerorchester und Sinfonieorchester op.  66 (1961–62), wobei die (solistische wie kollektive) Stimme in beiden Fällen als primäres Medium des Bekenntiswerks erkennbar wird. Herausragende Werke in der oratorischen Gattungstradition sind ferner Ligetis Requiem (1963–65), Krzysztof Pendereckis Passio et mors Domini nostri Jesu Christi secundum Lucam (1963– 66), Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) und seine »Ekklesiastische Aktion« Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester (1970). Werke der Klage, Anklage und Friedensbitte sind auch Klaus Hubers Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… für Soli, Vokalensemble, Chor, 50 Instrumentalisten und Tonband (1975–82) auf Texte von Ernesto Cardenal, Florian Knobloch, Carolina Maria de Jesús, George Jackson und des Propheten Jesaja sowie Hubers Quod est pax?  – Vers la raison du cœur… für Orchester mit fünf Solostimmen, arabische Perkussion und Schlagzeug (2007) (Ä Themen-Beitrag 4, 3., 6.). Im Auftrag der Internationalen Bachakademie Stuttgart entstand 1995 anlässlich des Endes des Zweiten Weltkriegs vor fünfzig Jahren das Requiem of Reconciliation. Dabei schrieben Komponisten aus den ehemals kriegsbeteiligten Ländern jeweils einen Teil der lateinischen Liturgie: Luciano Berio, Friedrich Cerha, Paul-Heinz Dittrich, Marek Kopelent, John Harbison, Arne Nordheim, Bernard Rands, Marc-André Dalbavie, Judith Weir, Krzysztof Penderecki, Wolfgang Rihm, Alfred Schnittke, Gennadi Rozhdestvensky, Jōji Yuasa und György Kurtág. Im Rahmen des Projekts »Passion 2000« brachte die Bachakademie im Jahr 2000 vier großbesetzte Passionen mit unterschiedlicher religiöser, konfessioneller und kirchenmusikalischer Verankerung zur Uraufführung: Sofia Gubaidulinas Johannes-Passion (2000), Osvaldo Golijovs La Pasión según San Marcos (2000), Wolfgang Rihms Deus Stimme / Vokalmusik Passus, Passions-Stücke nach Lukas (1999–2000) und Tan Duns Water Passion after St. Matthew (2000). An Chören und Kammerchören, die sich kontinuierlich und auch mit herausragenden Projekten der neuen Musik gewidmet haben und weiter widmen, sind zu nennen u. a. Lux Æterna Hamburg, Netherlands Chamber Choir, Groupe Vocal de France, BBC Singers, Arnold Schönberg Chor, Wiener Singverein sowie die stilistisch eigenständige Tradition skandinavischer und baltischer Chöre. Eine bedeutende Rolle spielten nach 1945 neben anderen Klangkörpern der Rundfunkanstalten auch die Rundfunkchöre des NDR, WDR, RIAS (heute RBB) sowie das SWR Vokalensemble. Je nach Leiter, Mitgliedern und Programmwahl waren diese Chöre kontinuierlich oder zumindest phasenweise herausragende Spitzenensembles der neuen Musik. Besondere Bedeutung kommt dabei dem SWR Vokalensemble Stuttgart zu, das mehr als 200 Werke zur Uraufführung brachte und dessen schlanke, gerade Stimmgebung und große artikulatorische wie intonatorische Perfektion in der Vergangenheit maßgeblich geprägt wurden durch Dirigenten wie Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler, Rupert Huber und (seit 2003) Marcus Creed. An Solistenensembles zu nennen sind u. a. die Schola Cantorum Stuttgart (1960–90), gegründet und geleitet von Clytus Gottwald, die mehr als achtzig Werke zu Ur- und Erstaufführungen brachte und deren Leiter auch aktiv in den Diskurs neuer Musik eingriff (Gottwald 1973, 2003). In der Tradition der Schola Cantorum standen anfangs die 1984 von Manfred Schreier gegründeten und geleiteten, zunächst mit zwölf Solostimmen besetzten Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die seit 2000 als siebenköpfiges Kammerensemble ohne Dirigent agieren. Weitere Solistenensembles sind das britische Hilliard Ensemble (1974–2014), NOTUS: IU Contemporary Vocal Ensemble (1980 in Indiana gegründet, geleitet von Dominick DiOrio), The Song Company (1984 in Australien von Charles Coleman gegründet, geleitet von Roland Peelman), Les Jeunes Solistes (1988 gegründet und seither geleitet von Rachid Safir, 2012 umbenannt zu Ensemble solistes XXI), Vokalensemble Zürich (1989 gegründet und seither geleitet von Peter Siegwart), Schola Heidelberg (1992 von Walter Nußbaum gegründet und seither von ihm geleitet), Nova (1992 gegründet und seither geleitet von Colin Mason), ChorWerk Ruhr (1999 gegründet und geleitet von Frieder Bernius, dann von Rupert Huber und seit 2011 von Florian Helgath), Exaudi Vocal Ensemble (2002 gegründet von James Weeks und Juliet Fraser, geleitet von James Weeks), cantAmabile Zürich (2007 gegründet von Valentin Johannes Gloor, geleitet seit 2013 von Mona Spägele), Ensemble SoloVoices Basel (2007 gegründet), Audi- Stimme / Vokalmusik tivVokal Dresden (2007 gegründet und seither geleitet von Olaf Katzer), Kölner Vokalsolisten (2007 als sechsköpfige Formation gegründet, die ohne festen Dirigent arbeitet), Ekmeles (2010 in New York gegründet und seither geleitet von Jeffrey Gavett) sowie das Quince Contemporary Vocal Ensemble (2010 gegründet). Experimentelle Gruppen sind das 1977 gegründete und aus Vokalisten, Musikperformern, Musiktheatermacher und Komponisten zusammengesetzte Ensemble Die Maulwerker (programmatisch nach Dieter Schnebels gleichnamigem Werk benannt) sowie die 1978 um die Vokal-Composer-Performerin Meredith Monk gebildete Formation Meredith Monk & Vocal Ensemble. In Grenzbereichen zwischen Musik, Phonetik und Literatur arbeitet seit 2004 das Trio sprechbohrer, das von ehemaligen Studierenden des Phonetikers, Sprachwissenschaftlers und Komponisten Georg Heike nicht zuletzt zum Zweck der Gesamtaufführung von Hans G Helms legendärem Sprechbuch Fa:m ’ Ahniesgwow (1960) gegründet wurde. Ä Musiktheater; Neue Musik und Literatur; Performance; Sprache / Sprachkomposition Anhalt, Istvan: Alternative Voices. Essays on Contemporary Vocal and Choral Composition, Toronto 1984 „ Armstrong, Frankie: Finding Our Voices, in: Voices, hrsg. v. 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Jh. vielfach zur bloßen Besetzung für zwei Violinen, Viola und Violoncello neutralisiert, ist das Komponieren für Streichquartett auch nach 1950 kaum denkbar ohne die mit der Geschichte der Gattung verbundenen ästhetischen, technischen, formalen und klanglichen Ansprüche. Wer für Streichquartett schreibt, gerät unweigerlich in den Bann der Tradition, auch und gerade wenn er sich kritisch mit dieser auseinandersetzt oder diese gar zu negieren sucht. Nachdem Joseph Haydn um 1760 den barocken vierstimmigen Choral- und Fugensatz auf die solistische vierstimmige Streicherbesetzung übertragen und – wie gleichzeitig in der Sinfonie – die viersätzige zyklische Form etabliert hatte, entwickelte sich das Streichquartett durch Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven zu einer der anspruchsvollsten Gattungen der Instrumentalmusik. Die einheitliche Spieltechnik und Klanglichkeit von vier mal vier Saiten prädestinierten das Quartett zu struktureller Arbeit, satztechnischem und formalem Experiment. Vor allem Beethovens mittlere und späte Quartette machten die Gattung zum kompositorischen Laboratorium und zugleich dank des Schuppanzigh-Quartetts zum öffentlichen Konzertereignis. Auch in der Frühphase der neuen Musik der 1910er und 20er Jahre erwies sich die exemplarische Vierstimmigkeit des Streichquartetts im Umfeld der Wiener Schule und bei Béla Bartók als ein ausgezeichnetes Vehikel der Moderne. Ebenso wurde die Phase der 1960er und 70er Jahre als »eine neue Blütezeit des Quartetts« (Stahmer 1980, 7) beschrieben und auch für die Zeit nach 1980 ein regelrechter »Boom« des Quartettschaffens festgestellt (Brügge 2003, 485). Allerdings stellt sich bei vielen Werken die Frage, ob es Quartette im engeren Sinne der Gattungstradition sind oder lediglich Kompositionen für diese Besetzung ohne gattungsspezifische Implikationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien das Streichquartett der jungen europäischen Nachkriegsavantgarde zunächst als klassisch, bürgerlich, konservativ und damit veraltet. Vor allem den warmen Streicherton und dessen expressive Innerlichkeit empfand man als Widerspruch zu den neuen konstruktiven Ideen. Ausnahmewerke sind Pierre Boulez ’ frühserielles Livre pour quatuor (1948–49), Luciano Berios Quartetto per archi (1956), Iannis Xenakis ’ stochastisches ST/4 (1956–62) und vor allem das wegweisende String Quartet in Four Parts (1949–50) von John Cage, in dem die zeitliche Abfolge der Klangereignisse erstmals mittels automatisierter Prozesse organisiert wur- Streichquartett de, um die durch ostasiatische Philosophie und Religion beeinflusste Idee einer möglichst entsubjektivierten, ausdrucks- und Ich-losen Musik zu realisieren. Der Titelzusatz »in Four Parts« bezeichnet dabei nicht nur die äußere Form der vier Sätze, die Cage mit den vier Jahreszeiten assoziierte, sondern benennt auch den Zerfall der vier Stimmen zu einer aus vier einzelnen Partien zusammengesetzten, unbegleiteten melodischen Linie (Bernstein 2009). Die Auflösung des traditionellen Begriffs von Werk als einem willentlich fixierten, unveränderlichen Zusammenhang zeigt sich im Anschluss an Cage auch in den offenen und variablen Verläufen von Franco Evangelistis Aleatorio für Streichquartett (1959), das den Spielern Auswahlmöglichkeiten verschiedener Taktmodelle sowie frei gestaltbare Dynamik und Ä Klangfarbe einräumt, sowie in weiteren partiell indeterminierten Werken: Witold Lutosławskis String Quartet (1964), André Boucourechlievs Archipel II pour quatuor à cordes (1968), Christian Wolffs Lines for string quartet (1970) und den beiden Streichquartetten (1973, 1977) von Roman Haubenstock-Ramati. Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und Dieter Schnebel, die neben Boulez die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt während der 1950er und 60er Jahre prägten, komponierten dagegen erst viel später Streichquartette. Die singulären Quartette von Stockhausen und Nono blieben dabei radikal von tradierten Formen, Satztechniken und Aufführungspraktiken abgelöste Einzelwerke. Statt für bestimmte Gattungen zu komponieren und damit von vorneherein gesetzte Vorgaben hinsichtlich Instrumentation, Satztechnik und Verlauf zu übernehmen, hatte die Nachkriegsavantgarde den Anspruch, mit jedem Werk eine nur diesem eigene, unverwechselbare Individualität zu kreieren. Alte Gattungen und Besetzungsformen wurden folglich abgelehnt (Ä Form). Dennoch erwies sich gerade das Streichquartett für bestimmte Richtungen der neuen Musik bald wieder als ausgezeichnetes Reflexionsmedium und Experimentierfeld. Der von Haydn, Beethoven, Schönberg und Webern begründete Innovationsanspruch der Gattung motivierte Komponisten weiterhin dazu, in dieser Gattung exzeptionelle Werkkonzeptionen zu verfolgen. Die Tradition des Streichquartetts von ihren Anfängen bis heute lässt sich daher – entgegen ihrer oft konservativen Vereinnahmung im Konzertleben – als eine Tradition des fortgesetzten Überschreitens eben dieser Gattungstradition beschreiben. 2. Klang- und Gattungsreflexion Mit dem Ideal des schönen, innigen, seelenvollen Streicherklangs brach als einer der ersten Krzysztof Penderecki im Ersten Streichquartett (1960), das eine neue 580 Welt erstickter, perforierter, forcierter Press-, Schlag-, Schab- und Kratzgeräusche exponierte. Ebenso haben die Spieler in Michael von Biels Zweitem Streichquartett (1963) – dessen Uraufführung 1963 in Darmstadt für einen Skandal sorgte  – mit den Bögen auf die Saiten und den Corpus zu schlagen, diagonal und im Kreis rotierend über die Saiten zu streichen, mit übermäßigem Bogendruck zu quetschen, am, auf und hinter dem Steg sowie auf dem Saitenhalter zu streichen. Zudem ist das Violoncello stellenweise mit einem Kontrabassdämpfer zu präparieren. Geräuschhafte Klangaktionen überwiegen, während klare Tonhöhen zu Sonderfällen werden. Die überwiegend mittels graphischer Symbole notierte Partitur verzichtet weitgehend auf Metrum und Rhythmik. Einsatzabstände und Dauern sind nur annäherungsweise in space notation und time brackets notiert, wie sie Biel zuvor bei Morton Feldman in New York kennen gelernt hatte. Knapp zehn Jahre später knüpfte Helmut Lachenmann mit Gran Torso, Musik für Streichquartett (1971–72/76/88) an diese erweiterten Spieltechniken an, um diesen »eine auf sich selbst bezogene logische Funktion zu geben« (Lachenmann 1988/96, 199). Lachenmann ging es dabei nicht primär um Erweiterung des traditionellen Klangspektrums durch neuartige Spieltechniken und geräuschhafte Ereignisse, sondern gemäß seinem Ansatz einer Ä musique concrète instrumentale um die Freilegung der bei der instrumentalen Klangproduktion wirkenden mechanisch-energetischen Voraussetzungen. Ein Meilenstein der jüngeren Gattungsgeschichte ist Gran Torso nicht nur wegen der vielen verfremdeten Spieltechniken und des Paradigmenwechsels von den klingenden Resultaten zu den konkreten instrumentalen Bedingungen der Hervorbringung von Klang, sondern weil im Gegensatz zu Biels eher improvisatorischem Vorgehen das neuartige Material hier in allen Details strukturell und formal auskomponiert wurde und Lachenmann damit – ebenso wie noch expliziter das unverkennbar an Beethoven und Bartók anknüpfende fünfsätzige Zweite Streichquartett (1968) von György Ligeti – wieder bewusst an die Gattungstradition anknüpfte. Eine auskomponierte Selbstreflexion der Gattung sind Mauricio Kagels im Auftrag des LaSalle Quartetts entstandene Streichquartette I und II (1965–67), die eine Einheit bilden und auch in umgekehrter Reihenfolge aufgeführt werden können. Wie andere Arbeiten Kagels jener Zeit handelt es sich um Ä Instrumentales Theater, das die Rahmenbedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Musik reflektiert, z. B. das Auf- und Abtreten der Musiker, deren Verständigung untereinander sowie die zur Hervorbringung von Klang nötigen körperlichen Bewegungen und Anstrengungen. Ungewohnte Instrumentenhaltungen verstellen dabei den Musikern ihren 581 eingeübten Zugriff auf die Instrumente ebenso wie verfremdende Präparationen und Spielutensilien, z. B. Stricknadeln, Streichhölzer, Plektren, Reibestöcke, Holzstangen, Büroklammern, Metallstifte, Münzen, Papierstreifen, Klebestreifen und ein dicker Lederhandschuh. Ähnlich der einzigen Handlungsanweisung »shaking hands« von George Brechts String Quartet (1962) kennzeichnet auch Kagel durch Rollen- und Platzwechsel der Musiker die Gattung als soziales Phänomen. Zum Schluss wird diese förmlich zu Bruch komponiert, indem eine angesägte Geige zerbrochen und auf den unspielbar gewordenen Fragmenten nur noch geklopft wird. Ende und Verstummen prägen auch – freilich ganz anders gestaltet – Heinz Holligers Erstes Streichquartett (1973). Das Stück beginnt mit kaum zu überbietender Schroffheit und Energetik, um sich als lang gestrecktes Diminuendo in vollkommenem Stillstand zu verlieren. Verlöschen und Erstarren thematisieren auch das Zweite Streichquartett (1976–77) von Hans-Jürgen von Bose sowie mehrere der insgesamt sechs Streichquartette von Peter Ruzicka, darunter vor allem das Dritte Streichquartett …über ein Verschwinden (1992) und das Vierte Streichquartett …sich verlierend mit Sprecher (1996), die beide Themen aus Sinfonien Gustav Mahlers zitieren (Schäfer 1994). 3. Traditionen An den Ausdrucks-, Formen- und Gattungskanon der musiksprachlichen Tradition knüpft Wolfgang Rihm an, der bereits 14-jährig ein Quartett in g (1966) und mit 18 Jahren seine ersten beiden Streichquartette op.  2 und op. 10 (1970) schrieb. Bisher komponierte Rihm dreizehn sehr unterschiedliche Streichquartette sowie zehn weitere Stücke für Streichquartett, darunter den Zyklus Fetzen (ab 1999) und etliche Quartette mit Zusatzinstrumenten wie Akkordeon oder Klarinette (Brügge 2004). Eng an der Gattungstradition orientieren sich auch Elliott Carter, James Dillon, Hans Werner Henze, Jörg Widmann und – bei aller Komplexität – auch Brian Ferneyhoughs bislang sechs Quartette (1967–2010). Individuelle kritische Auseinandersetzungen mit der Autonomie der Gattung sind die Streichquartette von Mathias Spahlinger apo do (von hier) (1982; Nonnenmann 2012) sowie Nonos Fragmente – Stille, An Diotima (1979–80; Spree 1992). Nonos 1980 vom LaSalle-Quartett uraufgeführtes Werk lässt sich als durchgehendes Kontinuum aus Stille begreifen, aus dem nacheinander 53 Klanginseln mit äußerst differenzierten Spieltechniken heraustreten, um dann wieder darin zurückzusinken. Eine historische Dimension erhält Nonos Quartett durch die Verwendung der »Scala enigmatica« aus dem ersten Satz von Giuseppe Verdis Quattro Pezzi Sacri (1887–97) und des bis zur Unkenntlichkeit zerlegten Streichquartett Anfangs der Johannes Ockeghem zugeschriebenen Chanson Malor me bat sowie die mehrmals wiederkehrende, Beethovens Streichquartett a-Moll op.  132 entnommene Vortragsanweisung »mit innigster Empfindung«. Die Partitur weist zahlreiche einfache und mehrfach überlagerte runde und eckige Fermaten auf, die als Haltepunkte zu konzentriertem Nach- und Vorspüren der gewesenen und nachfolgenden Klänge gedacht sind. Zudem sind einige Klangfragmente mit kurzen Versen aus späten HölderlinOden (»An Diotima«) überschrieben, durch deren stummes Vor-sich-hin-Sprechen die Musiker den Atem für die Klang- und Zeitgestaltung gewinnen sollen. Beispielhaft für einen polystilistischen Zugriff auf die Tradition ist das Dritte Streichquartett (1983) von Alfred Schnittke (Ä Polystilistik), das die Musikgeschichte in Gestalt dreier eng miteinander verwandter Zitatschichten von Orlando di Lasso, Beethoven und Dmitri Schostakowitsch konkretisiert. Eine untypische inhaltliche Aufladung erfährt die Gattung der reinen Instrumentalmusik in Steve Reichs Different Trains (1988), wo kurze Interviewsätze per Tonband zugespielt und von der verdreifachten Streicherbesetzung im selben Rhythmus und Tonhöhenverlauf als Patterns  – ähnlich den Streichquartetten von Terry Riley und Philip Glass – repetiert werden. Ebenso erweitert Hans Zender die Gattung in vier Teilen des Zyklus Hölderlin lesen für Streichquartett mit Sprech- bzw. Frauenstimme und wahlweise Tonband (1979, 1987, 1991, 2000) durch Bezugnahme auf späte Odenfragmente von Hölderlin. Programmatisch ist auch George Crumbs auf den Vietnam-Krieg bezogenes apokalyptisches Black Angels  – Thirteen Images from the Dark Land for Electric String Quartet (1970) in seiner zahlensymbolischen Gliederung sowie durch Zitate der Dies irae-Sequenz der lateinischen Totenmesse und des Variationssatzes von Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen D 810. Während der Quartettklang hier lediglich elektronisch verstärkt wird, zielen andere Werke auf Verschmelzung von instrumentalen und elektronisch transformierten Klängen, z. B. Friedhelm Döhls Sound of Sleat (1971) und York Höllers Antiphon für Streichquartett und elektronisch transformiertes Streichquartett (1977/84) sowie Jonathan Harveys mittels IRCAM-Technologie realisiertes String Quartet No. 4 (2003). 4. Expansionen Neben weiteren klanglichen, elektronischen und textlichen Erweiterungen  – etwa durch mit Klebestreifen präparierten Bögen in Simon Steen-Andersens Quartett Nr. 2 (2012) – erfuhr das Streichquartett auch verschiedene zeitliche, räumliche und globale Expansionen. Mit bis zu sechs Stunden Dauer sprengt Morton Feldmans String 582 Streichquartett Quartet II (1983) sämtliche klassischen Proportionen von Besetzung, Gehalt und Dauer (Saxer 1999). Spektakulär vom standardisierten Quartettabend weicht auch Stockhausens Helikopter-Streichquartett (1992–93) ab, das Kammermusik zur Open-Air-Flugshow und zur dritten Szene der Oper Mittwoch (1995–97) aus dem Zyklus Licht (1978–2003) macht. Statt gemeinsam im Konzertsaal zu sitzen, kreisen die Spieler in vier Hubschraubern zwanzig Minuten lang über dem Konzertort. Durch click tracks koordiniert werden ihre tremolierten Glissandi zusammen mit Videobildern, Motor- und Rotorgeräuschen per Funk in den Saal übertragen. In den Raum expandiert auch Schnebels Erstes Streichquartett »im Raum« (2005–06). Äußerlich klassisch viersätzig, verdeutlicht dieses »szenische Streichquartett« durch wechselnde Positionen der Spieler bestimmte Charaktereigenschaften und historische Satztechniken des Quartettspiels: Privatheit, Öffentlichkeit, Introversion, Extraversion, Polyphonie, Mehrchörigkeit, Homophonie und quasi-orchestrales Tutti. Globale stilistische Erweiterungen erfuhr die Gattung durch Isang Yun, der seit seinem von ihm erstmals als gültig anerkannten Dritten Streichquartett (1959–60) in drei nachfolgenden Quartetten auf eine Synthese von internationaler Avantgarde mit asiatischen, speziell koreanischen Musiktraditionen zielte (Sparrer 1999). Dagegen verwendete Kevin Volans im Zweiten Streichquartett Hunting: Gathering (1987) Rhythmen, Strukturen, Skalen und Timbres afrikanischer Mbira- und Eintonflötenspieler, aus denen er wie im Ä Minimalismus repetierte Patterns ableitete (Walton 2002/03). Friedrich Cerha indes verwendete im Ersten Streichquartett (maqām, 1989) arabische Maqām-Skalen und im Zweiten Streichquartett (1989–90) Anregungen durch Musik der latmul in Papua-Neuguinea (Haselböck 2006). Genuine Klangfarbenkompositionen sind dagegen Nicolaus A. Hubers Informationen über die Töne e  – f (1965–66) sowie die spektralistischen Streichquartette von Horațiu Rădulescu und Giacinto Scelsi, wobei dessen Quartetto No. 3 (1963) zu Ohoi für 16 Streicher (1966) und Quartetto No. 4 (1964) zu Natura renovatur für elf Streicher (1967) erweitert wurden. Bemerkenswerte QuartettVervielfachungen sind auch Rădulescus Streichquartett Nr. 4 op.  33 für neun Streichquartette bzw. eine mittels Computerelektronik entsprechend multiplizierte Standardbesetzung sowie Enno Poppes Wald für vier Streichquartette (2010) mit der Bildung neuer Quartettbesetzungen, z. B. aus vier Violoncelli (Nonnenmann 2014). Wie in den Jahrhunderten zuvor wurde das Komponieren von Streichquartetten auch nach 1950 maßgeblich von führenden Interpreten mitbestimmt. Prägten Quartette wie Kolisch, Amar, Havemann und Pro Arte die neue Quartettliteratur der 1920er bis 40er Jahre, so waren es ab der zweiten Hälfte des 20. Jh.s die bereits 1946 gegründeten Quartette Fine Arts, Juilliard und LaSalle sowie später Melos (1965), Tokyo (1969), Alban Berg (1970), Kronos (1973), Arditti (1974), Emerson (1976), Auryn (1981), Hagen (1981), Leipziger und Minguet (1988), Kuss (1989), Diotima (1996), Kairos (1996), Asasello (2000), Stadler (2002), JACK (2004), Mivos (2008) u. a. Abgesehen von Arditti, Kairos, Diotima, JACK und Mivos, die sich (fast) ausschließlich auf Musik des 20. und 21. Jh.s konzentrieren, pflegen die meisten anderen Quartette auch das klassisch-romantische Repertoire und  – wie etwa Minguet und Asasello  – gezielte Gegenüberstellungen von alter und neuer Musik. Das Repertoire der Formationen unterscheidet sich durch die jeweilige Gewichtung neuer Musik sowie durch die Musikszenen der jeweiligen Herkunftsländer und jeweils andere, teils langjährige Zusammenarbeiten mit zeitgenössischen Komponisten sowie fallweise hinzugezogenen anderen Interpreten. Wie sehr neben den Interpreten auch Veranstalter die Entstehung neuer Streichquartette beeinflussen, zeigte eindrücklich die als Hommage an das Arditti Quartet – das seit seiner Gründung mehrere hundert Streichquartette uraufgeführt hat  – veranstaltete »QuARDITTIade« der Donaueschinger Musiktage 2010, bei der das Arditti, Diotima und JACK Quartet im Interpretationsvergleich jeweils acht neue Auftragswerke zur Uraufführung brachten. Ä Instrumente und Interpreten / Interpretinnen, 1. Bernstein, David W.: A Line in Rhythmic Space. John Cage ’ s String Quartet in Four Parts (1950), in: Intimate Voices: Aspects of Construction and Character in the Twentieth-Century String Quartet, hrsg. v. Evan Jones, Rochester 2009, 195–209 „ Brügge, Joachim: Am Ende des Jahrhunderts. Tendenzen der Entwicklung seit 1975, in: Friedhelm Krummacher, Das Streichquartett, Bd. 2 (Handbuch der musikalischen Gattungen 6,2), Laaber 2003, 485–494 „ ders.: Rihms Streichquartette. Aspekte zu Analyse, Ästhetik und Gattungstheorie des modernen Streichquartetts, Saarbrücken 2004 „ Finscher, Ludwig: Streichquartett, XIII. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in: MGG2S, Bd. 8 (1998), 1972 f. „ Gruhle, Wolfgang: Streichquartett-Lexikon. Komponisten, Werke, Interpreten, Gelnhausen 1996 „ Haselböck, Lukas: Zum Erleben von Prozessen. Cerhas 2. Streichquartett und »Phantasiestück in C ’ s Manier«, in: Friedrich Cerha. Analysen – Essays – Reflexionen, hrsg. v. Lukas Haselböck, Freiburg 2006, 95–119 „ Köhler, Armin: Aus der Höhle des Löwen. Gedanken zur Streichquartettdiskussion am Beginn des 21. Jh.s, in: Programmbuch Donaueschinger Musiktage 2010, 10–30 „ Krummacher, Friedhelm: Das Streichquartett: Von Mendelssohn bis zur Gegenwart (Handbuch der musikalischen Gattungen 6,2), Laaber 2003 „ Lachenmann, Helmut: Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger [1988], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966– 1995, hrsg. v. Josef Häusler, Wiesbaden 1996, 191–204 „ NonnenLiteratur 583 Struktur mann, Rainer: Was ist Musik? Mathias Spahlingers Konzept des Verstehens von Musik durch provoziertes Nicht-Verstehen, in: Berührungen – Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 52), hrsg. v. Jörn-Peter Hiekel, Mainz 2012, 92–110 „ ders.: Vom Kleinsten zum Größten – Generative Formung aus Keimzellen in Enno Poppes »Herz«, »Tier«, »Wald« und »Welt«, in: MusikTexte 142 (2014), 63–74 „ Saxer, Marion: Irdische Längen  – Zur Rezeption der späten Werke Morton Feldmans, in: Musik und Ritual (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 39), hrsg. v. Barbara Barthelmes und Helga de la Motte-Haber, Mainz 1999, 31–40 „ Schäfer, Thomas: »…über ein Verschwinden«  – Musik über Musik: Peter Ruzickas 3. Streichquartett im Kontext, in: Musiktheorie 9/3 (1994), 227–244 „ Schneider, Frank: Das Streichquartettschaffen in der DDR bis 1970, Leipzig 1980 „ Sparrer, Walter-Wolfgang: Isang Yun und koreanische Tradition, in: Ssi-ol. Almanach 1998/99 der Internationalen Isang Yun Gesellschaft, hrsg. v. dems., Berlin 1999, 107–145 „ Spree, Hermann: »Fragmente – Stille, An Diotima«. Ein analytischer Versuch zu Luigi Nonos Streichquartett, Saarbrücken 1992 „ Stahmer, Klaus: Anmerkungen zur Streichquartettkomposition seit 1945, in: Zur Musik des 20. Jh.s (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 4), hrsg. v. Constantin Floros, Hamburg 1980, 7–32 „ Walton, Christopher: Kevin Volans String Quartets Nos. 1, 2 & 6, in: NewMusicSA Bulletin 2 (2002/03), 22–24 Rainer Nonnenmann Struktur Inhalt: 1. Der Strukturbegriff in der neuen Musik „ 2. Aufgelockerte Strukturen  „ 3. Strukturmodelle  „ 4. Struktur und Textur 1. Der Strukturbegriff in der neuen Musik Der Begriff Struktur taucht in der Ä Musiktheorie vor der zweiten Hälfte des 20. Jh.s nur vereinzelt auf, etwa bei E.T.A. Hoffmann (»innere Struktur« der Fünften Sinfonie von Beethoven, Hoffmann 1810/1988, 22), Richard Wagner oder Guido Adler (Kropfinger 1974), und wird auch selten von den Protagonisten der Wiener Schule verwendet, zumeist in englischsprachigen Publikationen (so im Titel von Schoenberg 1954/67 oder in Schoenberg 1967/70, 101: »The term theme is here used to characterize specific types of structures, of which examples can be found in sonatas, symphonies, etc.«). Während vor 1945 der organizistische Ansatz und die Beibehaltung konventioneller Satztechniken (Thematik, motivische Entwicklung, usw.) mit Ausdrücken wie »Gestalt« (Ä Wahrnehmung, 2.), »Grundgestalt« (Ä Zwölftontechnik) oder Ä »Form« gefasst wird, zieht das Unverbindlichwerden der Formenlehre nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das Einbeziehen neuer Materialien (etwa von Ä Geräuschen) auch eine neue Termi- nologie nach sich. »Struktur« wird zu einem »zentralen Begriff, zu einem Schlüsselwort der modernen Musik« (Dibelius 1998, 371). Klaus Kropfinger zieht 1974 folgendes Fazit: »So kann man vielleicht die bis in die jüngste Zeit zunehmende Häufung des Wortes in analytischen und theoretischen Abhandlungen als einen Vorgang begreifen, der parallel zur Auflösung und Schrumpfung der Form sowie zur Erweiterung des musikalischen Materials lief. […] Signalisierte es zuvor Tendenzen, formale Erstarrung abzuschütteln, so signalisierte es nunmehr  – auch und gerade in seiner Häufung, als Mode – das Bemühen um Formung des Materials, um Form« (1974, 198). »Struktur« bezeichnet also jeweils neue Prinzipien musikalischer Kohärenz, die sich in Satztechniken oder in Formanlagen ausdrücken können: Der Begriff schwankt zwischen diesen beiden Polen. Gottfried Michael Koenig argumentiert, Struktur bezeichne im Grunde entweder »Textur« oder »Formteil« (1959/91, 104 f.). Für Pierre Boulez ’ Auffassung von Struktur ist der Einfluss von Boris de Schloezer ausschlaggebend, der in Bezug auf Johann Sebastian Bach von autonomen, organisierten (im Gegensatz zu additiven) Systemen und Strukturen spricht (Schloezer 1947; vgl. Mosch 2004, 158–166; zur Rezeption bei Boulez vgl. Donin / Keck 2006, 106–110 und Goldman 2010, 89). Der Begriff wird als Titel in Structures Ia für zwei Klaviere (1951) verwendet, wo aus Olivier Messiaens Begriff des mode der integrale Serialismus entwickelt wird (Piencikowski 2013). Bei der Verwendung des Begriffs in Boulez ’ theoretischen Schriften schwingt vor allem das Bedürfnis mit, das lokale und das globale Niveau eines Werks zu vereinheitlichen, also Diskrepanzen wie die zwischen serieller Anlage und dem Schema »Harmonisierung eines Themas« (moniert z. B. bei Anton Webern, erste Variation der Variationen für Orchester op. 30, 1940–41, vgl. Boulez 1963, 113) zu verhindern. Die Reihe – definiert als »Keim zur Stiftung einer Hierarchie«, die eine begrenzte Menge von Möglichkeiten funktionell generiert (ebd., 29) – kann die Kontinuität zwischen der »Gesamtstruktur« und »Teilstrukturen« oder »Hauptstruktur und Nebenstrukturen« leisten (ebd., 17–19), welche sich wiederum in einer »Großform« (ebd., 22 f.) artikuliert. Weberns Intuition folgend, begründet die Reihe aber zugleich ein Selektionsprinzip: Es werden nie alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sondern der Komponist arbeitet mit »Unter- und Obergruppen« (ebd., 86), sodass sich eine »Charakterologie der Strukturen« ergibt (ebd., 111). Boulez definiert die Form in einer Zeit, wo »jedes Werk seine eigene Form selbst hervorbringen« sollte (1960/85, 56 f.), somit als Spiel mit Strukturen, die jeweils wechselnden Kriterien von »Selektivität« entspringen (ebd., 57), welche er »Formanten« nennt: Auf diese Weise entspringen sowohl die 584 Struktur »morphologische Mikrostruktur« als auch die »rhetorische Makrostruktur« immer der »gleiche[n] Denkweise« (ebd., 60). Der oft diskutierte Einfluss des Strukturalismus auf die Ä serielle Musik, insbesondere die von Claude LéviStrauss formulierte Kritik (Lévi-Strauss 1964/76, 28–45; vgl. Nattiez 1973; Kovacz 2004; Decroupet 2003; Donin / Keck 2006; Goldman 2010) läuft auf die Feststellung eines verwandten Denkansatzes hinaus, der durchgehend auf binären Mustern beruht, auf »a grammar of oppositions« (Goldman 2010, 85; vgl. Decroupet 2003, 54), was sich bei Boulez nicht wesentlich ändert. Bei Karlheinz Stockhausen ist der Strukturbegriff weniger zentral und bleibt einer sich andauernd entwickelnden Formvorstellung untergeordnet. Stockhausen sagt zu Weberns op. 24: »Diese Proportionsreihe fügt Webern zu immer neuen Gestalten. An die Stelle der Identität tritt universelle Verwandtschaft. Entwicklung, Ableitung und Durchführung werden von der Vorstellung einer strukturellen Vermittlung abgelöst« (1953/63, 26). Im Arbeitsbericht 1952/53 schreibt er: »Prinzipiell geht es [bei Pierre Schaeffer] gar nicht um die Verwendung ungewohnter, unbedingt neuer Klänge […], sondern darum, daß die musikalische Ordnung in die Schwingungsstruktur der Schallvorgänge hinein getrieben wird […]: Textur des Materials und Struktur des Werkes sollen eins werden« (1958/63, 35). Das Prinzip der »Gruppenkomposition« beschreibt Stockhausen als »›strukturelles Komponieren und Hören‹: Die Art, wie die Töne zusammengefügt sind und in der Gruppe erscheinen, bleibt in Erinnerung, weniger das Einzelne daran, das einzelne Intervall, das einzelne Zeitverhältnis« (1955/63, 65). Die Gruppen ergeben eine »übergeordnete Struktur« (ebd., 68), während die Klavierstücke I–IV »in einer nochmals höheren Struktureinheit zusammengefasst« sind (ebd., 72). Struktur ist zugleich die Sonderform eines »Moments«: Dieser »kann – formal gesehen – eine Gestalt (individuell), eine Struktur (dividuell) oder eine Mischung von beiden sein« (1960/63, 201). Struktur wird somit als Wiederholung von (und / oder Gegenüberstellung zweier verschiedener) Gesten verstanden (ebd., 202). Stockhausen spricht später von dem »Formschema« (nicht dem Strukturplan) seines Werks Momente für Solosopran, vier Chorgruppen und 13 Instrumentalisten (1962–69) (1962/64, 131). Ab 1970 schließlich leistet das Konzept der »Formel« jene vereinheitlichende Funktion, die bei Boulez die »Formanten« innehaben. John Cage beschreibt retrospektiv seine Auffassung von Struktur in den 1940er Jahren eher konventionell als Unterteilung: »Mit ›Struktur‹ war die Gliederung eines Ganzen in Teile gemeint; mit Methode der Weg von Note zu Note. […] Die strenge Gliederung der Tei- le, die Struktur, war eine Funktion des Dauerelements im Klang […]. Die Struktur war demnach eine Aufteilung der meßbaren Zeit durch hergebrachte metrische Bezeichnungen, wobei Metrik als Maßstab für Zeitlänge diente« (1958/99, 137 f.). Mit der Einführung des Zufalls ist »Struktur nicht mehr Teil der Kompositionsmethode« (ebd., 141) und bekommt einen »anachronistische[n] Charakter« (ebd., 145). Die Form ist nun ein Zeitfenster, ein abgesteckter Zeitraum, innerhalb dessen der Komponist etwas arrangiert, improvisiert oder geschehen lässt. 2. Aufgelockerte Strukturen Ein großer Teil der Musik seit den 1960er Jahren besteht aus Versuchen, das Struktur-Denken der »klassischen« seriellen Periode aufzulockern, erkennbar bereits in Stockhausens Technik der »Einschübe« u. a. in Gruppen für drei Orchester (1955–57), und zu alternativen Lösungen zu gelangen, die sich oft mehr in der Behandlung der formalen Oberfläche (und nicht auf der Ebene der structures locales) niederschlagen. Gegenentwürfe zum Strukturdenken sind die »offene Ä Form«, die graphische Ä Notation (Earle Brown, Christian Wolff, Sylvano Bussotti u. a.), die Ä informelle Musik (Aldo Clementi, Informel 1–3, 1961–63), schließlich das zitathafte Einbeziehen tonaler Musik (Luciano Berio, Sinfonia, 1968–69, Ä Collage / Montage). In den 1980er Jahren beschreibt Wolfgang Rihm sein »inklusives« Komponieren als freies Improvisieren (1978/96/97, 43 f., 1988/97, 90 f.). Brian Ferneyhough arbeitet mit dem Überschuss komplexer, sich durchkreuzender serieller Strukturen, in denen der Hörer seinen eigenen Weg suchen soll (1982/95, 230). Er wirft Boulez ’ Reihen-Multiplikation (Ä Harmonik) ihren »tautologischen Charakter« vor (ebd., 228) und verwendet »›killer‹ or ›cannibal‹ series which exist only to the extent that they ›eat up‹ the material presented by the ›positive‹ pitch structures« (1977/95, 215). Helmut Lachenmann spricht 1990 von einem »dialektischen Strukturalismus« (1990/96, 83): Eine Struktur wird als »Polyphonie von Anordnungen« verstanden, also von neuartigen Zuordnungen (z. B. kann ein Arpeggio als eine andere Art von Tremolo aufgefasst werden): »Struktur nicht nur als Ordnungs- beziehungsweise Organisations-, sondern zugleich als Desorganisations-Erfahrung: ambivalentes Produkt gleichermaßen von Aufbau wie von Zerstörung, Konstruktion wie Dekonstruktion (das Holzmöbel als kaputter Baum…)« (ebd., 88). 3. Strukturmodelle Neben solchen Versuchen, das Strukturdenken aufzulockern oder neu zu definieren, sind die wichtigsten Alternativen einerseits die Übernahme von Modellen, anderer- 585 seits die Komposition mit Texturen, die jedoch durch den gemeinsamen Bezugspunkt auf die Ä Natur (»natürliche Strukturen«) eng miteinander verbunden sind. Olivier Messiaen schichtet Vogelgesänge übereinander, Cage lässt sich durch die »Struktur« bestimmter Pilzsorten inspirieren (Cage 1976/84, 43), Iannis Xenakis vom Lärm einer Massendemonstration oder von wissenschaftlichen Modellen (Brownsche Molekularbewegung, stochastische Verteilung, Mengenlehre, Spieltheorie, Markov-Ketten; Solomos 2013, 1065, 1074), François-Bernard Mâche und Jonathan Harvey von gesprochener Ä Sprache, Jean-Luc Hervé von Biotopen, Hanspeter Kyburz und Enno Poppe von der Formalisierung des Wachstums von Pflanzen (LSysteme). Solche Ansätze verbinden einen anti-konstruktivistischen, deduktiven Ansatz mit einem mimetischen Moment, sie verstehen sich eher als Übertragung und Bearbeitung von präexistenten Strukturen, die auch dem Bereich der Akustik entnommen werden können, wie im Fall der französischen Ä Spektralmusik. Struktur wird begriffen als eine komplexe, der Natur entnommene oder die Natur modellierende Textur. 4. Struktur und Textur Textur allgemein kann als ein Spiel mit wechselnden Dichtegraden (etwa im Kontrapunkt, im vierstimmigen Satz oder in der Orchestrierung) beschrieben werden, das bis zum Verlust eines narrativen Fadens in einer übersättigten Fläche reichen kann, wie etwa im Finale von Frédéric Chopins Klaviersonate b-Moll (zur Definition von Textur allgemein vgl. Berry 1976/87, Kap. 2; Dunsby 1988; Lester 1989, Kap. 3). In der neuen Musik tritt der Begriff als Gegenbegriff zu Struktur zu Beginn der 1960er Jahre hervor. Gottfried Michael Koenig versteht unter Struktur »ein komplexes, also aus Verschiedenem zusammengesetztes Gebilde […], das gleichwohl eine Erlebniseinheit darstellt« (1960/91, 181) und untersucht die fließenden Übergänge zwischen Struktur und Textur. Mit Struktur meint man »entweder die Beschaffenheit oder den Organisationsplan, oder man spricht von der Struktur innerhalb eines Stückes und meint dann einfach einen Formteil, etwa eine Gruppe oder eine Passage oder einen Komplex«. Sowohl Struktur als auch Textur assoziieren den Begriff der »Beschaffenheit«, also Textur als »Art der Zusammensetzung, die sich während des ganzen Stückes nicht ändert«, als Eigenschaften »die das Stück bestimmen«. Ähnlichkeiten oder gemeinsame Eigenschaften stellen Beziehungen zwischen Strukturen her. »Texturen können sich zusammenziehen, Strukturen groß werden«; bei punktueller Musik fallen sie zusammen.»Die Struktur besteht aus texturellen Momenten, wie die Textur gewissermaßen die Entropie der Strukturen darstellt« (1961–62/91, 252 f.). Struktur Ligeti definiert 1960: »Während unter ›Struktur‹ ein stärker differenziertes Gefüge zu verstehen ist, dessen Bestandteile unterscheidbar sind und als das Produkt der Wechselbeziehungen aller seiner Details zu betrachten ist, ist mit ›Textur‹ ein homogenerer, weniger artikulierter Komplex gemeint, in welchem die konstituierenden Elemente fast völlig aufgehen. Eine Struktur kann gemäß ihren Komponenten analysiert werden; eine Textur ist besser durch globale, statistische Merkmale zu beschreiben« (1960/2007, 98). 1966 unterscheidet Lachenmann Klangtypen nach ihrer Ausrichtung auf einen Zustand oder auf einen Prozess und gelangt zu einer Typologie, die den Kadenzklang (mit »charakteristischem Gefälle«), den Farbklang (»stationär«), den Texturklang (als »Netz« oder »Fluktuation«, die einen »Pauschal-Eindruck« vermitteln) und den Strukturklang umfasst, letzterer äußerlich eine »Fortsetzung des Texturklangs«, aber innerlich differenzierter artikuliert, als »mehrschichtige[r] und mehrdeutige[r] Abtast-Prozeß« (1966/93/96, 1–18; Ä Themen-Beitrag 3, 2.4). Diesen Definitionen entsprechen zu jener Zeit Ligetis Praxis der Mikropolyphonie (Apparitions 1958–59, Atmosphères, 1960–61, Requiem, 1963–65, Lux aeterna, 1966, Lontano, 1967) oder die Arbeit mit Klangflächen bei Krzysztof Penderecki, Henryk Górecki, Witold Lutosławski, Bogusław Schaeffer und Zygmunt Krauze (Lindstedt 2013; Ä Osteuropa). Der prozessuale, gerichtete Aspekt der Textur kommt in Werken von Xenakis (Barthel-Calvet 2001) oder Gérard Grisey (Ingolfson 2001) stärker zum Vorschein, der stationäre Aspekt, durch den die Textur dem Kontinuum verwandt ist, bei Komponisten wie Friedrich Cerha (Spiegel I–VII, 1960–61), Giacinto Scelsi oder Georg Friedrich Haas. Die Werke der beiden letztgenannten verweisen auf die Verbindung von Textur-Kompositionen mit Mikrointervallik mit meist langsamem Tempo und einer nicht-linearen bzw. »vertikalen« Zeitbehandlung (Kramer 1988, 54–57, 375–397; Ä Themen-Beitrag 7). Langsam sich verändernde Texturen sind schließlich ein wichtiger Ausgangspunkt des Ä Minimalismus, wo sie sich in Heterophonien oder sich progressiv wandelnden Patterns äußert (Terry Riley, In C, 1964, Steve Reich, Piano Phase für zwei Klaviere oder zwei Marimbaphone, 1967, Philip Glass, Strung Out für verstärkte Violine, 1967). Als Extrempunkt der Textur kann ein einziger ausgehaltener oder leicht variierter Klang, Ton oder Akkord betrachtet werden (La Monte Young, Scelsi, Quattro pezzi (su una nota sola) für Orchester, 1959, Luigi Nono, A Carlo Scarpa architetto, ai suoi infiniti possibili per orchestra a microintervalli, 1984, No hay caminos, hay que caminar… Andrej Tarkowskij für Orchester in sieben Chören, 1987). Ä Themen-Beiträge 1, 3; V Form; Material; Serielle Musik 586 Südostasien Berry, Wallace: Structural Functions in Music [1976], Mineola NY 1987 „ Barthel-Calvet, Anne-Sylvie: De la dispersion à la fusion sonore: écriture et perception des textures xenakiennes, in: Analyse musicale 38/1 (2001), 86–96 „ Boulez, Pierre: Musikdenken heute 1 (DBNM 5), Mainz 1963 „ ders.: Form [1960], in: Musikdenken heute 2 (DBNM 6), Mainz 1985, 56–62 „ Cage, John: Komposition als Prozeß. Drei Studios [1958], in: Darmstadt-Dokumente I (Musik-Konzepte Sonderband), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999, 137–174 „ ders.: Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles [1976], Berlin 1984 „ Decroupet, Pascal: Comment Boulez pense sa musique au début des années soixante, in: Pli selon Pli de Pierre Boulez. Entretien et études, hrsg. 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Indonesien Südostasien umfasst die Länder Indonesien, Philippinen, Thailand, Kambodscha, Laos, Malaysia, Brunei Darussalam, Vietnam und Singapur. So unterschiedlich wie sich die koloniale sowie die prä- und postkoloniale Geschichte der jeweiligen Länder darstellt, so vielfältig präsentiert sich auch die zeitgenössische Musik. Neben den jeweiligen indigenen Volksgruppen aller Länder findet man eine stetig wachsende Zahl von Zuwanderern aus dem chinesischen, indischen sowie aus dem europäischen und angloamerikanischen Kulturkreis. Eine Sonderstellung nimmt dabei das größte Land Indonesien ein, das selbst wiederum aus über 350 autonomen ethnischen Gruppen besteht. Einige Autoren wie Franki Raden (1994) postulieren die Entstehung einer zeitgenössischen Musik im 20. Jh. in Indonesien als Ergebnis des Kontakts mit dem Westen. Dem gegenüber stehen Autoren wie bspw. José Maceda (2004), Ramon Santos (2004) und Dieter Mack (2004), die vor allem die neueren Entwicklungen der verschiedenen lokalen Traditionen betonen, die jedoch nicht in allen anderen Ländern Südostasiens beobachtet werden können. Ein weiteres kontroverses Problem ist die Dichotomie zwischen oraler und schriftlicher Überlieferung 587 (Mack 2010). An westlichen Modellen orientierte neue Musik ist in der Regel notiert, steht aber selten in einem Zusammenhang mit den jeweiligen lokalen Kulturen. Indigene Musikstücke dagegen sind in aller Regel nicht notiert und unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten der Tradierung und Veränderung. Nur wenige Komponisten wie etwa José Maceda (Philippinen) und Iwan Goenawan (Indonesien) haben den Versuch der Verschriftlichung oraler Traditionen unternommen und auf dieser Basis neue Werke geschaffen. Einige Länder Südostasiens sind inzwischen in der 1973 gegründeten Asian Composers League (ACL) vertreten und haben daneben auch über die IGNM Anschluss an die internationale Szene. Aktuell kann man die Länder Laos, Brunei Darussalam sowie Kambodscha vernachlässigen, sieht man von dem schon länger in den USA lebenden und in San Diego lehrenden Chinary Ung (*1942) und Him Sophy (*1963) ab. 1. Thailand In Thailand hatte man seit dem späten 19. Jh. kulturpolitisch auf Westanpassung gesetzt und sich dadurch eine komplette Kolonisierung erspart. Musikalisch führte dies seit den 1930er Jahren bis heute zu zahlreichen hybriden Formen wie Dontri Thai Prayuk, einer Vermischung klassisch höfischer Thai-Musik (Piphat- und Mahori-Ensembles) mit westlicher Popularmusik (Ware 2011). Dabei ist es generell üblich, auf Grundlage der mündlichen Überlieferungstradition alte Formen neu zu bearbeiten und zu integrieren (ebd.). Eine wesentliche Rolle in dieser Entwicklung spielte dabei der amerikanische (in Thailand lebende) Musiker und Komponist Bruce Guston (*1946). Eine neue Generation junger Komponisten etablierte sich seit den frühen 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Eröffnung von Musikabteilungen an verschiedenen Universitäten (Chulalongkorn, Silpakorn, Mahidol, Rangsit; alle in Bangkok), eine Entwicklung, die auch vom Königshaus unterstützt wurde. Diese neue Generation wurde nach dem Studium in Thailand im Ausland ausgebildet und favorisierte westliche Idiome. Stilistisch bewegt sich die neuere Musik Thailands zwischen einem neomodalen pentatonischen (Nop Sotthibanddhu, *1939) und einem postseriellen Idiom (Anothai Nithibon, *1972). Eine Tendenz zur Miteinbeziehung lokaler Instrumente bzw. zur bewussten Weiterentwicklung der traditionellen Thai-Musik seitens westlich ausgebildeter Komponisten ist derzeit noch kaum erkennbar, obwohl die thailändischen Musiktraditionen vermehrt akademisch aufgearbeitet werden. Zu den aktiveren Komponisten der heutigen Zeit zählen neben Nop Sotthibanddhu und Anothai Nithibon auch Dnu Huntrakul (*1952), Na- Südostasien rongrit Dhammabutra (*1957), Chaipruk Mekara (*1971) und der in Kansas City tätige Narong Prangcharoen (*1973). 2. Malaysia »Music, in the true sense, was thought to be anything that originated in Europe. Hence there was no attempt to create anything with a local identity of its own […]. The diatonic and chromatic scales of the West were thought to be standard, and other scales derived from numerous forms of local folk music were brushed aside in favor of the newly achieved knowledge […]. Beside the indigenous race, known as the Malays […], there is an almost equal number of inhabitants whose origins lie in other countries, mainly China and India. Suffice it to say that the strong cultural heritage behind these peoples is a hindrance in any attempt to develop something with a local identity« (Hamzah 1991, 91). Dieses Zitat beschreibt idealtypisch die Situation in Malaysia (ehemals unter britischer Kolonialherrschaft), könnte aber auch für andere Länder Südostasiens mit Ausnahme Indonesiens gelten. Bis heute werden in Malaysia zahlreiche lokale Volksmusikformen gepflegt, und einige wenige Musikhochschulen haben Abteilungen für solche Musikformen eingerichtet. Eine entsprechende zeitgenössische Kompositionspraxis, die an diese Praktiken anknüpft, ist aber kaum vorhanden. Ethnomusikologische Arbeiten haben jedoch Hochkonjunktur und könnten in naher Zukunft Komponisten dazu anregen, sich tiefgehender mit den einheimischen Traditionen zu beschäftigen. Dem gegenüber steht eine relativ breite Szene neuer Musik, die sich vor allem im Malaysian Composers Collective zusammenfindet. In der Regel handelt es sich um Komponisten chinesischer Herkunft und mit westlicher Ausbildung (sowohl an lokalen als auch ausländischen Ausbildungsinstituten). Darunter hat vor allem der 1971 geborene Kee Yong Chong bereits internationale Beachtung erfahren. Chong bewegt sich in allen Genres mit einer sehr persönlichen, von der französischen musique spectrale (Ä Spektralmusik) beeinflussten Musiksprache. Besonders bemerkenswert ist sein 2013 uraufgeführtes Werk Yuan-He für chinesisches Sinfonieorchester, das wegen seiner innovativen Verfahren (neuartiger Umgang mit Mikrotonalität, Raumklangaspekten, Einsatz von Live-Elektronik) als Meilenstein der aktuellen Entwicklung betrachtet werden kann. Neben Chong zu nennen sind der in England ausgebildete Tadzul Tajuddin (*1969) und Kah Hoe Yii (*1970), die in Kuala Lumpur (Universiti Teknologi Mara bzw. Segi College of Music) lehren. Beide Komponisten bewegen sich in postseriellen Idiomen unter verstärkter Einbeziehung neuer instrumentaler Spieltechniken. Hinzuzuzählen ist auch der in Yale ausgebildete und auf Penang lebende Johan Othman 588 Südostasien (*1971). Die zur älteren Generation zählende Komponistin Saidah Rastam bevorzugt u. a. multimediale Werke, und bezieht vielleicht am stärksten ethnische Elemente mit ein. Hardesh Singh (*1976) studierte in San Francisco klassische indische Musik, aber auf der Gitarre, während Adeline Wong, die in Rochester und London studierte, einen neo-impressionistischen Stil favorisiert. Ähnliches gilt für Valerie Ross (*1958). Aus diesem Umfeld hat sich in den letzten Jahren, u. a. durch den vom Goethe-Institut unterstützten südostasiatischen Kompositionswettbewerb, eine weitere neue Generation etabliert. Hierzu zählen die derzeit in Japan studierende Huey Ching Chong (*1986), der in Kanada studierende Zihua Tan (*1986) und Ainolnaim Azizol (*1988). Diverse institutionelle Förderungen und eine gute Kooperation unter den Komponisten bewirken im Vergleich zu den meisten anderen Ländern eine relativ lebendige Szene, die sich vermehrt in den internationalen Diskurs einbringt. 3. Philippinen Die Situation in den Philippinen ist insofern anders, als ein heterogener Inselstaat mit zahlreichen autonomen Teilkulturen zu keiner gemeinsamen Entwicklung tendiert. Die Kolonialmächte Spanien und USA haben aus missionarischen und später wirtschaftlichen Interessen Spuren des Identitätsverlusts bei ethnischen Kleingruppen hinterlassen, sodass eine neuere kulturelle Entwicklung und Identitätsfindung zunächst nur in Manila und dem engeren Umfeld dieser Metropole stattfand. Die ethnographische Aufarbeitung der eigenen Teilkulturen, die Öffnung hin zum internationalen Diskurs ist dabei untrennbar mit dem Namen José Maceda (1917–2004) verbunden, dessen Rolle zur Identitätsfindung nicht nur für die Philippinen kaum überschätzt werden kann (Tenzer 2003). Maceda begann zu einer Zeit, als neoromantische Orchestermusik mit Zitaten aus der einheimischen Volksmusik die Szene prägte (Samson 1989), wie etwa in Werken von Francisco Santiago (1889–1947) oder Antonino Buenaventura (1904–1996). Macedas schmales kompositorisches Œuvre umfasst vor allem kollektive Massenkompositionen u. a. für Laien, und basiert auf lokalen philippinischen Traditionen vor dem Hintergrund einer umfangreichen ethnomusikologischen Tätigkeit (Maceda 1986). Er verstand seine Werke als Revitalisierung lokaler musikalischer Praxis. Macedas soziokultureller Ansatz hatte auf die übernächste Generation wie Jonas Baes (*1961) oder Dominic G. Quejada (*1978) wesentlichen Einfluss. In der kolonialen Zeit kannte man zahlreiche, vor allem kirchlich orientierte Musikausbildungsinstitutionen, unter denen bis heute das Asian Institute for Liturgy and Music einen führenden Platz auch bezüglich weltli- cher und vor allem zeitgenössischer Musik einnimmt. International anerkannte Komponisten und Musiker wie Josefino Toledo (*1959) und Francisco Feliciano (*1942) sind als renommierte Lehrende an dieser Institution zu erwähnen. Nicht zu unterschätzen war auch die finanzielle Förderung durch Imelda Marcos in den 1970er und 1980er Jahren, wovon, neben der gesamten Kunstszene, vor allem die im neoromantischen Stil komponierende Lucretia Kasilag (1917–2008) profitierte. Sie gründete die erste Frauenuniversität Manilas, wo neben westlicher Musik auch einheimische Musikformen gepflegt wurden. Macedas Aktivitäten fanden in Ramon Santos (*1941) ihre Nachfolge als dieser 1972 aus dem Ausland zurückkehrte und an der University of the Philippines zusammen mit Maceda und später alleine lehrte. Santos orientierte sich kompositorisch jedoch eher an postserieller Kammermusik und betätigte sich parallel dazu als profilierter Ethnomusikologe. Als Schüler von Ramon Santos sind vor allem Alan Hilario (*1967) und Jonas Baes zu nennen. Beide studierten nach ihrem Grundstudium in Manila bei Mathias Spahlinger in Freiburg. Während Hilario in Deutschland blieb und einen experimentell-kritischen Stil in der Tradition seines Lehrers verfolgt, gelang es Baes an der University of the Philippines das Manila Composers Lab zu etablieren, eine freie Organisation im Rahmen der Universität, bestehend aus seinen Studenten und regelmäßigen Gästen. Zur jüngsten Generation zählen u. a. Reis Luke Aquino (*1992), Alexander John Villanueva (*1989), Juro Kim Feliz (*1987), Feliz Anne Macahis (*1987) und Danilo E. Imson (*1983). 4. Singapur Die Szene in Singapur (Lee 2009) ist vor allem durch die beiden Institutionen Yong Sieuw Toh Conservatory of Music und das LaSalle College of Music geprägt. An beiden Hauptinstitutionen unterrichten vor allem amerikanische bzw. australische Komponisten wie Peter Edwards (*1973), Stephen M. Miller (1965–2014) und Timothy O’Dwyer (*1971). Von einer gewachsenen Szene kann man in dem jungen, sehr wirtschaftlich ausgerichteten Stadtstaat kaum sprechen. Die künstlerische Ausrichtung der Ausbildungsinstitute ist ausschließlich westlich. Junge lokale Komponisten sind in der Regel chinesischer Herkunft, wie bspw. Chung Shih Hoh (*1970), Chee Kong Ho (*1963) oder die junge Diana Soh (*1982). 5. Vietnam Die Entwicklung in Vietnam ist vor allem durch das Music Department in Hanoi geprägt, während die Aktivitäten in Ho Chi Minh City hinsichtlich neuer Musik derzeit vernachlässigbar sind. Die aktuellen Ausbildungsstrukturen sind noch im Umbruch. Reste des vorherrschenden So- 589 zialistischen Realismus und entsprechende Werke sind weiterhin gefragt. Ältere Komponisten pflegen einen Stil zwischen Sozialistischem Realismus und konventioneller Filmmusik. Vor allem zwei junge Persönlichkeiten haben sich um die Etablierung einer kleinen Szene neuer Musik in Hanoi verdient gemacht: die vornehmlich multimedial komponierende Kim Ngoc Tran (*1978, sie studierte u. a. in Köln bei Johannes Fritsch), die mit verschiedensten Aktivitäten versucht, ein experimentelles Musikleben in Bewegung zu halten, sowie Vu Nhat Tan (*1970). 6. Indonesien Die Situation in Indonesien ist komplexer. Wie in keinem anderen Land der Region hat sich eine aktive Neue-Musik-Szene etabliert, welche die eigenen lokalen Traditionen und Musiksprachen kreativ weiterentwickelt (Mack 2004). Manche dieser Komponisten, vor allem jene, die im Westen oder bei einem westlichen Komponisten entweder studiert oder einmal als Gamelanlehrer gearbeitet hatten, beziehen dabei kompositionstechnisches Wissen aus dem Westen mit ein, wie etwa die Balinesen I Madé Arnawa (*1961), Dewa Ketut Alit (*1973), Dewa Putu Berata (*1968) oder der Westjavaner Iwan Gunawan (*1971). Sie haben strukturelle Aspekte des Ä Minimalismus überzeugend in eigene Werke übertragen. Gunawan nimmt insofern eine weitere Sonderstellung ein, als sein im Jahr 1997 gegründetes Ensemble Kyai Fatahillah das derzeit wohl einzige indonesische Gamelan-Ensemble ist, das jegliche Art von westlich notierter Partitur umsetzen kann. Die neuere Entwicklung setzt mit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1945 ein und war von Beginn an von der weiterhin andauernden Dichotomie zwischen kompletter Westorientierung und Weiterentwicklungen einheimischer Traditionen geprägt. Als vermittelnde Zwischenstufen kann man die Werke des »Vaters« der neuen indonesischen Musik, Slamet Abdul Sjukur (1936–2015), betrachten. Er studierte u. a. bei Henri Dutilleux in Paris und kehrte erst 1976 nach 14 Jahren in seine Heimat zurück. Sjukur hat mit seiner konsequent antiautoritären Haltung und subtilen Art, westliche Stilistik mit lokalen Aspekten zu verbinden (Einbeziehung der Spieler in Entscheidungen, Dekonstruktion lokaler Volkslieder), mehrere Generationen junger indonesischer Komponisten geprägt, so z. B. Tony Prabowo (*1956), der sich vor allem mit Werken für Musiktheater in Kooperation mit dem Schriftsteller Gunawan Mohamad profiliert hat (musiksprachlich u. a. an Messiaen angelehnt) oder auch Otto Sidharta (*1955), der nach Studien u. a. in Holland seit den 1980er Jahren fast ausschließlich elektronisch arbeitet. Michael Asmara (*1956), der ein freies dodekaphones Idiom pflegt, arbeitet freiberuflich in Yogyakarta und leitet Südostasien dort ein jährliches Kammermusikfestival für neue Musik. Die jüngste Generation mit Komponisten wie Royke Kohipaha (*1961), Memet Chairul Slamet (*1958), Dicki P. Indrapraja (*1985), Matius Shanboone (*1985) oder Donny Karsadi (*1983), steht weiter in dieser interkulturellen Tradition, wie sie neben Sjukur auch der in Detmold als Klarinettist ausgebildete Suka Hardjana (*1936) propagiert hat. Hardjana war der Begründer der von 1979 bis 1985 jährlich stattfindenden Pekan Komponis Muda (Woche der jungen Komponisten), die regelmäßig die profiliertesten jungen Komponisten jeglicher Provenienz zusammen führte. Das engagierte Projekt musste aus finanziellen Gründen teilweise eingestellt werden und wurde nach 2000 in unregelmäßigen Abständen weitergeführt. Der seit 1995 stattfindende und staatlich finanzierte Triennale Art Summit hat in den letzten Jahren versucht, den Schulterschluss zwischen einheimischen und ausländischen Künstlern zu bewerkstelligen. Hinsichtlich der neuen Entwicklungen basierend auf lokalen Traditionen müssen neben Westjava und Bali auch Zentraljava, West-Sumatra und Nord-Sumatra berücksichtigt werden. Dabei nehmen die jeweiligen Kunstakademien, in Westjava auch die Musikabteilung der Universitas Pendidikan Indonesia (UPI) eine Schlüsselstellung ein. Der u. a. bei Spahlinger ausgebildete Dody Satyaekagustdiman (*1960) sowie die beiden von Mack in Indonesien ausgebildeten Dedy Hernawan (*1972) und Ayo Sutarma (*1969) haben unterschiedliche Ansätze der Weiterführung westjavanischer Musik zwischen Komposition und Improvisation entwickelt, wie ihre Präsentation bei den Donaueschinger Musiktagen 2004 bewies. In Zentraljava haben Rahayu Supanggah (*1949) im Bereich interkulturelles Musiktheater, Al Suwardi (*1952) im Umfeld neuer Gamelanmusik und Wayan Sadra (1952–2009) als experimenteller Komponist die wesentlichen Entwicklungen mit geprägt. West-Sumatra hat eine kleine Gruppe Komponisten hervorgebracht, die allesamt auch als Ethnomusikologen tätig sind und entsprechend mit lokalen Materialien experimentieren und dabei kompositorische Arbeiten zwischen Komposition und Improvisation geschaffen haben. Hierzu zählen Yoesbar Djaelani (*1952), Hanefi (*1955), Admiral (*1961) und Elizar Koto (*1962). In Medan (Nord-Sumatra) sind bzw. waren vor allem der in den USA ausgebildete Komponist und Ethnomusikologe Irwansyah (*1960), der in den letzten Jahren eine eigene Neo-Folklore entwickelt hat, und Ben Pasaribu (1961– 2011) mit seinen an der amerikanischen Concept Art angelehnten Werken bestimmend. Daneben gibt es eine nicht zu unterschätzende Gruppe von Komponisten, die einen neo-impressionistischen, teilweise exotistischen Stil pflegen, der besonders bei Po- 590 Synästhesie litikern und den oberen Klassen auf der Suche nach Identität und gleichzeitig Internationalität auf fruchtbaren Boden fällt. Indonesien hat somit sicher die vielfältigste und aktivste Szene der Region, der aber weiterhin kaum die gebührende internationale Beachtung entgegengebracht wird, sieht man von dem großen Projekt »Indonesia Lab« des Ensemble Modern im Jahr 2015 anlässlich der Frankfurter Buchmesse (Ehrengast Indonesien) ab. Ä China / Taiwan / Hong Kong; Globalisierung; Japan; Korea Hamzah, Daud: Malaysia, in: New Music in the Orient, hrsg. v. Harrison Ryker, Buren 1991, 91–96 „ Lee, Gavin S.K.: Scions of the Musical West, Singapore at Cultural Crossroads, Singapur 2009 „ Maceda, José: A Concept of Time in a Music of Southeast Asia (A Preliminary Account), in: Ethnomusicology 30/1 (1986), 11–53 „ ders.: Introduction. A Search in Asia for a New Theory of Music, in: A Search in Asia for a New Theory of Music, hrsg. v. José Buenconsejo, Manila 2004, IX–XXV „ Mack, Dieter: Zeitgenössische Musik in Indonesien. Zwischen lokalen Traditionen, nationalen Verpflichtungen und internationalen Einflüssen, Hildesheim 2004 „ ders.: Gedanken, Vorschläge, Verwerfungen: Zum Begriff des Transkulturellen. 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José Maceda und die Paradoxien moderner Komposition in SüdostAsien, in: MusikTexte 102 [2004], 60–74) „ Ware, Vicki-Ann: The Maintenance of Central Thai Cultural Identity Through Hybrid Music Genres, in: Tirai Panggung 11 (2011), 80–95 Literatur Dieter Mack Symmetrie Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie; Rhythmus / Metrum / Tempo Synästhesie Synästhesie (griech. / lat.: syn = gleichzeitig, aísthesis = Wahrnehmung) ist ein physiologisches Wahrnehmungsphänomen, bei dem durch die Stimulation eines Sinns (z. B. durch einen auditiven Reiz) eine Sinneswahrnehmung eines nicht stimulierten Sinns (z. B. Farbwahrnehmung) hervorgerufen wird. Darüber hinaus wird der Begriff wie auch »Farbenhören«, audition colorée oder colour-hearing in Zusammenhang mit multisensorischen Konzepten verschiedener Künstler und Kunstbewegungen gebraucht. Synästhetische Wahrnehmung wird entweder als Resultat ausgebliebener Spezialisierungsprozesse im Gehirn (Hubbard 2007, 204 f.) oder einer erhöhten Kommunikation (crosstalk) zwischen normalerweise getrennten Hirnregionen und deren Netzwerken erklärt (Cytowic / Eagleman 2009, 206). Zu den Musikern, deren Schaffensprozess durch eine individuelle Synästhesie beeinflusst war bzw. ist, zählen Franz Liszt, Nikolai Rimsky-Korsakow, Alexander Skrjabin, Jean Sibelius, Alexander László, Amy Beach, Itzhak Perlman, Stevie Wonder und Manu Kaché. Handelt es sich bei Beschreibungen von Klängen oder Ä Klangfarben als »heller« oder »dunkler« um allgemein verständliche Wahrnehmungsanalogien, liegen vergleichbar verallgemeinerbare Analogien für synästhetische TonFarb-Bezüge nicht vor: Subjektive Wahrnehmungskombinationen sind eine Haupteigenschaften der Synästhesie (Emrich u. a. 2002). Messiaen beschreibt, wie individuelle Farbwahrnehmung seinen kompositorischen Prozess beeinflusst: »Die Form des Werkes basiert vollständig auf Farben, die melodischen und rhythmischen Themen und die Kombinationen der Klänge und Klangfarben verändern sich wie Farben« (ebd.). Auch Messiaens sieben Modi mit begrenzter Transponierbarkeit beruhen auf synästhetischen Farbkombinationen. Seinen zweiter Modus etwa beschreibt Messiaen als »blau-violette Felsen, übersät von kleinen grauen Kuben, Kobaltblau, dunkles Preußischblau, mit einigen ins Violette spielenden purpurnen Reflexen, Gold, Rot, Rubin, und malvenfarbige, schwarze und weiße Sterne. Vorherrschend ist Blau-violett. Der gleiche Modus in seiner zweiten Transposition ist vollkommen anders: Goldene und silberne Spiralen auf braun und rubinrot quergestreiftem Grund. Vorherrschend ist Gold und Braun« (Schlee / Kämper 1998, 47 f.). In Messiaens Chronochromie für Orchester (1959–60) ergänzen sich accords spéciaux in mehreren Schichten zu einer in sich kreisenden »Farbe[n] der Zeit« (Michaely 1992). Messiaens »Farbenmusik« kulminiert in Couleurs de la cité céleste für Klavier, Bläser und Schlagzeug (1963) in einer Schichtung von Akkorden, Vogelstimmen und gregorianischen Melodien (Jewanski 2006a, 2006b, 199– 201). Auch dieses Werk hat für den Komponisten, laut dem Vorwort der Partitur, »weder Anfang noch Ende« (Michaely 1992). György Ligetis Synästhesie trat in beiden Richtungen auf, d. h. Farben verursachten die Vorstellung von Klängen und Klänge lösten den Eindruck von Farben aus. Diese spezifische Form der Synästhesie hatte einen direkten Einfluss auf Ligetis kompositorisches Schaffen: »Das unwillkürliche Umsetzen optischer und taktiler Empfindungen 591 in akustische kommt bei mir sehr häufig vor […]. Sogar abstrakte Begriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vorgänge erscheinen mir versinnlicht und haben ihren Platz in einem imaginären Raum« (Ligeti 1960/62/2007, 170, vgl. auch Wohler 2010, 48 f.). Den durch Mikropolyphonie und andere Techniken erzeugten Klangstrukturen in Werken Ligetis wie Apparitions für großes Orchester (1958–59), Requiem für Sopran, Mezzosopran, zwei gemischte Chöre und Orchester (1963–65), Lux aeterna für 16-stimmigen gemischten Chor a cappella (1966) oder dem Streichquartett Nr. 2 (1968) liegt also ein auf Basis der Synästhesie gewonnener taktiler und visueller Klangbegriff zugrunde (Ä Themen-Beitrag 4). Ferner beschreibt Ligeti Dur-Akkorde als rot bzw. pink, MollAkkorde hingegen als eine Mischung zwischen grün und braun. Akkorde erhalten ihre Farben nicht durch spezifische Tonhöhen, sondern durch die ihnen zugeordneten Buchstaben: c-Moll erscheint ihm in einem rostigen RotBraun, während er d-Moll mit einem reinen Braun assoziiert (Ligeti u. a. 1983, 58). Der amerikanische Komponist Michael Torke (*1961) organisierte seine weitgehend ungebrochen tonalen Werke wie Extatic Orange für Orchester (1985) oder Bright Blue Music für Orchester (1985) auf Basis seiner KlangFarb-Synästhesie (Child 2009). Torke umgeht hier Modulationen in andere Tonarten, d. h. auch für ihn verbleiben die Werke in jeweils einem monochromen Farbton. Die Einflüsse synästhetischer bzw. multisensorischer Konzepte auf zeitgenössische Kompositionen schließen verschiedene Ebenen und Sinnesanalogien ein. Yves Klein schuf mit seiner Symphonie Monotone-Silence (1949/60), die ausschließlich aus einem ausgehaltenen D-Dur-Klang und darauffolgender Stille besteht, eine Analogie zu seinen monochrom-blauen Gemälden. Die Symphonie hatte für Klein »neither beginning nor end, which creates a dizzy feeling, a sense of aspiration, of a sensibility outside and beyond time« (Klein 1974/2004, 14; Klein 1960). Morton Feldman erläuterte, dass er vor allem die »vielfältigen Abstufungen von Stillstand« (Feldman 1981/85, 137) in Mark Rothkos oder Philip Gustons Gemälden in seine Musik übernommen habe (Gutknecht 2008; Ä Neue Musik und bildende Kunst). In Werken wie Rothko Chapel für Sopran, Alt, Chor, Schlagzeug, Celesta und Viola (1970) nach Rothkos für die 1971 eröffnete Rothko Chapel in Houston konzipiertem Gemäldezyklus tritt die räumliche Inszenierung von kontemplativen, in Musik wie Bildern ebenfalls tendenziell monochromen Farbwerten deutlich als gemeinsamer Zug hervor (Kopp 2008), auch wenn gegensätzliche Verfahren in Malerei und Musik beobachtet werden können (Jewanski 2011, 179). Affektive Farbassoziationen nutzt Misato Mochizuki in ihren verschiedenen Synästhesie Farbenmusiken wie Si bleu, si calme für Kammerensemble (1997) oder L’Heure bleue für Kammerorchester (2007) (Mahn 2015). Ähnliche Analogien prägen die Werke von Martin Smolka (Blue Bells für Orchester, 2010–11), José M. Sánchez-Verdú (Jardí blau für Bariton, Klarinette, Chor und Orchester, 2010), Nicolaus A. Huber (Weiße Radierung für Orchester, 2006), Adriana Hölszky (Maske und Farbe für Bariton und Klavier, 2000) (ebd.) und Rebecca Saunders (Blue and Gray für zwei Kontrabässe, 2005, Chroma für verschiedene Kammermusikgruppen und Klangobjekte, 2004/09) (Gottstein 2009). In der Nachfolge von Skrjabins Farbenmusik stehen u. a. Wolfgang Rihm im Musiktheater Die Eroberung von Mexiko (1987–91; die Partitur enthält eine mit Das Licht bezeichnete und zum Teil mit Dynamikangaben versehene Stimme, Jewanski 2006b, 176), Jennifer Walshe in minard / nithsdale für Streichquartett (2003) (Katschthaler 2012/13) oder Georg Friedrich Haas: In Haas ’ Hyperion – Konzert für Licht und Orchester (2006) ist Licht als autonomes Instrument vorgesehen und ersetzt darüber hinaus auch den Dirigenten (Kienscherf 2009). Ä Klangfarbe, Ä Neue Musik und bildende Kunst, Ä Wahrnehmung Child, Fred: Interview mit Michael Torke, in: Performance Today [2009], http://performancetoday.publicradio.org/ features/2009/02/synesthesia (4. 3. 2015) „ Cytowic, Richard E. / Eagleman, David M.: Wednesday is Indigo Blue. Discovering the Brain of Synesthesia, Cambridge MA 2009 „ Emrich, Hinderk M. / Schneider, Udo / Zedler, Markus: Welche Farbe hat der Montag? 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Kompositionen für das Tanztheater  – generell verstanden als ein sich primär über Tanz vermittelndes Theater – auch der neuen Musik zu erschließen. Nach ersten, sehr unterschiedlich gelagerten musikalischen bzw. klanglichen Experimenten im Bereich des Tanztheaters seit 1950 (insbesondere im Umfeld von Pina Bausch) haben in zeitgenössischen Tanz-Performances, die herkömmliche handlungsbasierte Dramaturgien durch postdramatische Erzählweisen ersetzen (Ä Musiktheater), musikalische Ä Improvisation (auch durch LiveElektronik unterstützt) und computergenerierte Musik (von elektroakustischer bzw. akusmatischer Musik bis hin zu Soundcollagen / -montagen unterschiedlichster Provenienz) nachhaltig an Bedeutung gewonnen. Dagegen eignen sich Ä Klangkunst und Klanginstallationen insbesondere für partizipatorische choreographische Formate. Übersieht man das Feld der Choreographien zu neuer Musik bzw. neuer Verfahren einer Musikalisierung von Bewegung, so fällt zunächst auf, dass sich vornehmlich jene Künstler auf dieses unsichere Terrain wagen, die dezidiert nach neuen Produktions- und Rezeptionsästhetiken suchen. Neben der Evozierung atmosphärisch aufgeladener Wahrnehmungsräume werden dabei häufig Ä Kompositionstechniken und -ästhetiken auf den Tanz übertragen, ohne deshalb eine penible intermediale Übersetzungsarbeit vornehmen zu wollen  – zumal jeder Versuch, eine Komposition bzw. Improvisation durch Tanz möglichst genau und vollständig »visualisieren« zu wollen, aufgrund der unterschiedlichen Medialität der beiden Künste ohnehin zum Scheitern verurteilt ist (Ä Intermedialität). Abgesehen von dem unbestreitbaren Sachverhalt, dass eine Choreographie ohnehin nur einen geringen Anteil der zu ihr erklingenden Komposition in ihrer rhythmischen, klanglichen und dynamischen Komplexität zu verarbeiten vermag, werden, spätestens seit der epochemachenden Zusammenarbeit von John Cage und Merce Cunningham, derartigen künstlerischen Intentionen zugrunde liegende Hierarchieverhältnisse und die mit ihnen korrespondierenden Wahrnehmungsstrategien kritisch hinterfragt (Banes 1994): Der Musik soll keinesfalls die Funktion eines Leitmediums zufallen, dem der Tanz zu folgen hat (und auch nicht umgekehrt), stattdessen werden dialogische Interaktionen gleichberechtigter künstlerischer Partner angestrebt, aus denen musikchoreographische Emergenzeffekte resultieren. Musik und Tanz begegnen sich dementsprechend als (originär nonverbale) Raum-Zeit-Bewegungskünste, die sich vor allem darin unterscheiden, dass die Bewegungen der Musik vornehmlich hörbar, jene des Tanzes in erster Linie sichtbar sind. Jüngere Beispiele für choreographische Auseinandersetzungen mit neuer Musik lassen sich – aus der Perspektive des Tanzes – nach den verschiedenen Stilrichtungen bzw. ästhetischen Zugängen und choreographischen Verfahren unterscheiden. Als Beispiele für dem neoklassischen Ballett verpflichtete Choreographien verdienen die Arbeiten von Martin Schläpfer besondere Beachtung, der nach Interpretationen präexistenter Kompositionen von u. a. Luciano Berio, Sofia Gubaidulina, Gija Kantscheli, Wilhelm Killmayer, Helmut Lachenmann, György Ligeti, Witold Lutosławski, Giacinto Scelsi, Salvatore Sciarrino und Alfred Schnittke auch eine Neukomposition choreographierte: Adriana Hölszkys Deep Field (2014). Ebenso finden sich im Bereich des Modern und Postmodern Dance sowie der Ä Performance Art zahlreiche Choreographen, die für ihre Kreationen bevorzugt neue Musik heranziehen, sei es im Rahmen von Musiktheaterinszenierungen (wie bspw. Sasha Waltz ’ choreographische Interpretation von Toshio Hosokawas Oper Matsukaze, 2011), auf der Basis präexistenter Musik (wie z. B. Bill T. Jones ’ Solo zu Edgard Varèses Ionisation, 2004) oder zu kammermusikalisch angelegten Neukompositionen und Improvisationen (wie z. B. Anna Hubers zwischen jetzt zu einer Auftragskomposition von Isabel Mundry, 2013, oder ihre wiederholte Zusammenarbeit mit dem Jazz-Musiker und Komponisten Martin Schütz, in denen vor allem improvisatorische Verfahren zur Anwendung kommen, z. B. in Eine Frage der Zeit, 2008). Bemerkenswert sind zudem die konzeptuellen Auseinandersetzungen mit neuer Musik von Xavier Le Roy, mit denen er gängige Hörgewohn- 594 Türkei heiten und -erwartungen hinterfragt bzw. durchbricht, indem er bspw. Spielbewegungen von Musikern choreographiert, gleichzeitig diese Spielbewegungen aber von der Klangerzeugung trennt und die tatsächlichen Klangquellen unsichtbar macht, sodass der Zuschauer etwas anderes hört als er sieht (Mouvements für Lachenmann – Inszenierung eines Konzertabends, 2005, und More Mouvements für Lachenmann, 2008; vgl. Kaltenecker 2008). In diesem Zusammenhang ist auch Le Roys choreographiertes Dirigat zu Igor Strawinskys Le sacre du printemps (2007) auf der Basis einer Nachahmung entsprechender Dirigierbewegungen Simon Rattles sowie deren Umformung und Weiterentwicklung zu nennen. Gerade die von Le Roy durchgeführten »choreographischen Experimente« mit neuer Musik zeigen sehr eindringlich, dass aus dem Zusammenspiel auditiver und visueller Bewegungen in der Ä Wahrnehmung neue Bewegungsformen entstehen, die von einem individuellen und kulturellen Erfahrungshoriont geprägt sind. Zur Analyse dieser (schwer fassbaren) Bewegungen am Schnittpunkt intermedialer, kognitionswissenschaftlicher wie phänomenologischer Überlegungen, die in das vergleichsweise junge Forschungsfeld des »Choreomusical Research« fallen (Jordan 2000, 2007, 2011), verdient ein spezifischer, auch als kinästhetisches Hören (Schroedter 2012) umschriebener Hörmodus besonderes Interesse. In diesem Modus wird Musik als eine (unsichtbare) Bewegung von körperlich-energetischer, auch haptischer Qualität begriffen, um sie mit den sichtbaren (Körper-)Bewegungen des Tanzes in Bezug setzen zu können. Dabei kann eine Komposition auch als imaginäre Choreographie wahrgenommen werden, ohne deshalb zwangsläufig choreographisch umgesetzt werden zu müssen. Zweifellos handelt es sich hierbei um kein grundsätzlich neues Phänomen (man denke an die zahlreichen Stilisierungen von Tanzkompositionen für den Konzertsaal seit dem 17. Jh.), jedoch um eines, das in der neuen Musik wieder gänzlich neue und sehr facettenreiche Gestaltungen erfährt. Ä Intermedialität; Körper; Musiktheater; Performance Banes, Sally: Dancing [with / to / before / on / in / over / after / against / away from / without] the Music. Vicissitudes of Collaboration in American Postmodern Choreography, in: Writing Dancing in the Age of Postmodernism, Hanover 1994, 310–326 „ Jordan, Stephanie: Moving Music. Dialogues with Music in Twentieth-Century Ballet, London 2000 „ dies.: Stravinsky Dances. Re-Visions across a Century, Alton / Hampshire 2007 „ dies.: Choreomusical Conversations. Facing a Double Challenge, in: Dance Research Journal (Congress on Research in Dance), 43/1 (2011), S. 43–64 „ Kaltenecker, Martin: Subtraktion und Inkarnation. Hören und Sehen in der Klangkunst und der »musique concrète instrumentale«, in: Musik als WahrLiteratur nehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann (musik.theorien der gegenwart 2), hrsg. v. Christian Utz und Clemens Gadenstätter, Saarbrücken 2008, 101–126 „ Reininghaus, Frieder / Schneider, Katja (Hrsg.): Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber 2004 „ Rebstock, Matthias / Roesner, David (Hrsg.): Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol 2012 „ Salzman, Eric / Desi, Thomas: The New Music Theater. Seeing the Voice, Hearing the Body, Oxford 2006 „ Schroedter, Stephanie: Neue Klangräume für neue Bewegungsformen und Bewegungsformate, in: Neue Musik in Bewegung. Musik- und Tanztheater heute (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 51), hrsg. v. Jörn Peter Hiekel, Mainz 2011, 134–158 „ dies. (Hrsg.): Bewegungen zwischen Hören und Sehen. Denkbewegungen über Bewegungskünste, Würzburg 2012 Stephanie Schroedter Tempo Ä Rhythmus / Metrum / Tempo Tonalität Ä Atonalität / Posttonalität / Tonalität Tonhöhenorganisation Ä Harmonik / Polyphonie; Kompositionstechniken Tonsysteme Ä Themen-Beitrag 7; Atonalität / Posttonalität / Tonalität; Harmonik / Polyphonie Türkei Inhalt: 1. Entstehung in der Ära des Einparteienstaates  „ 2. Ankara nach 1950 „ 3. New York „ 4. Seit den 1970er Jahren 1. Entstehung in der Ära des Einparteienstaates In der türkischen Republik ging eine eigenständige Schule europäisch geprägter Musik aus den kulturellen Reformen der frühen Einparteienregierung (1923–45) hervor. In den Anfangsjahren stand das zeitgenössische Musikschaffen in enger Verbindung mit der Festigung eines Nationalstils nach dem Vorbild Russlands und Ä Osteuropas. Gemäß dem Postulat der kulturellen Synthese (sentez), das sich im Umfeld der Jungtürken seit Ende des 19. Jh.s etabliert hatte (Bartsch 2012, 40), wurde die arabisch-persische maqām-Tradition in eine mehrstimmige Musiksprache verwandelt, wobei die anatolische Folklore eine programmatische Aufwertung erfuhr. Zudem beförderte Ziya Gökalp (1875/76–1924) in seiner Kulturtheorie (1923) eine allgemeine Ablehnung der städtischen Kunstmusik, die er als veraltet und elitär betrachtete. Diese Entwicklung 595 wurde in der türkischen Musikwissenschaft als musiki inkılâbı (musikalische Revolution) bezeichnet (Oransay 1965, 32). Die ersten führenden Komponisten, bekannt als »Türkische Fünf« (Cemal Reşit Rey, 1904–85, Hasan Ferid Alnar, 1906–78, Ulvi Cemal Erkin, 1906–72, Ahmed Adnan Saygun, 1907–91, Necil Kazım Akses, 1908–99) übernahmen nach Abschluss ihrer Studien in Paris, Wien und Prag Mitte der 1930er Jahre Lehr-, Dirigier- und Verwaltungstätigkeiten in Ankara und Istanbul (Aydın 2002). Sie begründeten eine durch modale Harmonik und die unregelmäßigen Taktmaße der Aksak-Rhythmen anatolischer Folklore gekennzeichnete sinfonische Tradition, deren Einfluss bis in die Gegenwart reicht. Allem Anschein nach wirkten die »Türkischen Fünf« dabei ohne unmittelbaren Einfluss von ihren osteuropäischen Nachbarn, da lediglich Akses bei Alois Hába studierte und Saygun Béla Bartók erst 1936 auf dessen Türkeireise begegnete, also zu einer Zeit, als er bereits zwei Opern (Özsoy und Taş Bebek [Die Puppe], beide 1934) zur Aufführung gebracht und seinen eigenen Stil etabliert hatte. 2. Ankara nach 1950 Nevit Kodallı (1924–2007) studierte bis 1953 bei Arthur Honegger in Paris und setzte in Ankara, ebenso wie Ekrem Zeki Ün (1910–87), Bülent Tarcan (1914–91) und Cengiz Tanç (1933–87) in Istanbul, die nationalistisch-konservative Tradition der »Fünf« fort. Ferit Tüzün (1929–77), bekannt durch Midas ’ ın Kulakları (Die Ohren des Midas, 1969), eine der meistgespielten türkischen Opern, studierte in München bei Karl-Amadeus Hartmann und Carl Orff und wirkte ab 1959 als Generalmusikdirektor der Staatsoper in Ankara. Um 1945 erfand Kemal İlerici (1910– 86) eine eigene Quartenharmonik, deren Erbe sich bis in die jüngste Zeit in den folkloristisch beeinflussten Werken Muammer Suns (*1932), İlhan Barans (*1934), Turgay Erdeners (*1957) und ihrer Schüler verfolgen lässt. Abseits der »offiziellen« Strömungen der staatlichen Konservatorien studierte Ertuğrul Oğuz Fırat (1923–2014) autodidaktisch neuere musikalische Entwicklungen des Westens. Infolge der privaten, in seiner Wohnung ausgetragenen Hörstunden gelangten viele Studierende des Ankaraner Konservatoriums nach 1980 zum ersten Mal in regelmäßigen Kontakt mit westlicher Gegenwartsmusik. 3. New York Nach 1945 zogen die meisten der später bedeutenden Komponisten zum Studium nicht mehr nach Europa, sondern nach Amerika. Als vielseitigster Komponist seiner Generation gilt İlhan Usmanbaş (*1921), der 1952, nach einem ersten Studienaufenthalt in New York, als Türkei erster türkischer Komponist den Schritt zur Reihentechnik vollzog (İlyasoğlu 2000). In den 1960er Jahren lockerte er seine Kompositionsverfahren durch Zufallsoperationen, erforschte Mikropolyphonie und erprobte Methoden repetitiver Musik. 1953 gehörte er gemeinsam mit Bülent Arel (1918–90) zu den Gründungsmitgliedern der Helikon Derneği (Helikon-Vereinigung) in Ankara, einer Gesellschaft zur Förderung experimenteller und abstrakter Kunst, Musik und Literatur, und unterrichtete ab den 1960er Jahren in Ankara und Istanbul. Arel arbeite ab 1959 mit Milton Babbitt und Edgard Varèse am Columbia-Princeton Electronic Music Center und lehrte von 1971 bis 1990 an der Stony-Brook-Universität. Bekannt als Pionier elektronischer Musik, prägte er eine eigene pointillistische Methode der Tonbandtechnik. İlhan Mimaroğlu (1926–2012) übersiedelte 1959 nach New York und studierte bis 1966 an der Columbia-Universität. Als Produzent der Atlantic Records finanziell unabhängig, war es ihm möglich, sich in seinem der musique concrète nahestehenden und interdisziplinär ausgerichteten Werk auch politisch zu äußern, häufig unter Einbeziehung des gesprochenen Wortes wie etwa in der Tonbandkomposition Tract (1972–74) und im Vierten Streichquartett Like There ’ s Tomorrow (mit obligater Stimme, 1981). 4. Seit den 1970er Jahren Ab 1975 begünstigte die Gründung des Staatlichen Konservatoriums für Türkische Musik Istanbul ebenso wie die internationale Weltmusik-Bewegung der 1980er Jahre eine allgemeine Rückbesinnung auf die Kultur der Osmanen, zumal der Militärputsch von 1980 jegliche politische Betätigung in den Künsten behinderte. Diese Wende zeigt sich deutlich im Schaffen Hasan Uçarsus (*1965), Professor am Konservatorium der Mimar-Sinan-Universität in Istanbul, der seine Sprache häufig durch Instrumente und Spielpraktiken der alten urbanen Tradition bereichert. Im Ausland errang Kâmran İnce (*1960), Mitbegründer des englischsprachigen Musikforschungszentrums MİAM (Erol Üçer Müzik İleri Araştırmalar Merkezi, Center for Advanced Studies in Music) der Technischen Universität Istanbul, internationale Berühmtheit mit einem durch folkloristische Elemente gebrochenen, post-minimalistischen Stil nach Art der Americana-Tradition. Die Beschäftigung mit interkulturellen Beziehungen mag über die eigene Verortung hinausreichen, wie im Falle Ahmet Yürürs (*1941), der 1983 Feldforschung im Pazifik betrieb und sich, ähnlich wie sein Schüler Alper Maral (*1969), häufig von außermusikalischen Programmen leiten lässt. Bei Meliha Doğuduyal (*1959), Sıdıka Özdil (*1960) und Mehmet Nemutlu (*1966) hingegen ist die lokale Identitätssuche infolge der zunehmend vernetzten globalen Türkei Musikkultur bereits einer stilistisch freieren Materialbehandlung gewichen. Ä Arabische Länder; Globalisierung Aydın, Yılmaz: Die Werke der Türkischen Fünf im Lichte der musikalischen Wechselbeziehungen zwischen der Türkei und Europa, Frankfurt a. M. 2002 „ Bartsch, Patrick: Musikpolitik im Kemalismus. Die Zeitschrift Radyo zwischen 1941 und 1949, Bamberg 2012 „ Gertich, Frank / Greve, Martin: Neue Musik im postkolonialen Zeitalter, in: Geschichte der Musik im 20. Jh., Bd. 4: 1975–2000 (HbM20Jh 4), hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 2000, 51–64 „ Gökalp, Ziya: Literatur 596 Türkçülügün Esasları [Grundlagen des Türkentums], Istanbul 1923 „ Greve, Martin: Traditionelle Musik in der zeitgenössischen westlichen Musik der Türkei, in: Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfers, hrsg. v. Jin-Ah Kim und Nepomuk Riva, Berlin 2014, 311–337 „ İlyasoğlu, Evin: İlhan Usmanbaş. Ölümsüz Deniz Taşlarıydı [İlhan Usmanbaş. Es waren unsterbliche Meeressteine], Istanbul 2000 „ ders.: 71 Türk Bestecisi [71 türkische Komponisten], Istanbul 2007 „ Maral, Alper / Lindley, Marc: Techniques of 20th-Century Turkish »Contemporary« Music. An Introductory Survey, Istanbul 2011 „ Oransay, Gültekin: Atatürk ile Küğ [Atatürk und die Musik], Izmir 1965 Stefan Pohlit 597 Vermittlung V Vermittlung Musikvermittlung hat sich zu einem zentralen Bezugspunkt des heutigen Konzertlebens entwickelt. In sie fließen musikpädagogische, künstlerische und dramaturgische Gesichtspunkte ebenso ein wie jene Bereiche, die man gemeinhin dem Aufgabenbereich des Kulturmanagements zurechnet (Öffentlichkeitsarbeit, Marketing etc.). Dieser Hybridcharakter legt es nahe, Musikvermittlung weniger als eine eigenständige »Sparte«, sondern als eine spezifische Umgangsweise an der Schnittstelle von Musik, Musiker, Hörer und Öffentlichkeit zu verstehen, die sich traditioneller Konzertformen bedient, aber auch zu vollständig neuen Formaten führen kann. Durch diese Offenheit wird Musikvermittlung zu einem übergeordneten Konzept, das den musikalischen Rezeptionsakt selbst zum Thema hat (Ä Rezeption). Letztlich gibt es keine Konzertsituation, die sich nicht immer auch unter dem Aspekt der Vermittlung betrachten ließe. Die Tatsache freilich, dass Musikvermittlung im öffentlichen Diskurs eine immer größere Rolle spielt, weist eindringlich darauf hin, dass die Kommunikation zwischen Künstler und Publikum über traditionelle Formate (Sinfoniekonzert, Oper) an Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Musikvermittlung kann daher einerseits eine Kompensationsfunktion haben, die durch gezielte Veranstaltungen den alten Formaten neue Hörerkreise erschließen soll. Sie kann aber ebenso die überkommenen Konzertformate hinter sich lassen und das Verhältnis zwischen Musik und Hörer neu zu definieren versuchen. In dieser Suche nach neuen Begegnungsmöglichkeiten liegt die enge Verbindung zwischen Musikvermittlung und neuer Musik begründet  – eine Verbindung, die so alt ist wie die neue Musik selbst. Im späten 19. Jh. bestand die Aufgabe von Musikvermittlung, ohne dass der Begriff schon existiert hätte, vor allem in einer instruktiven Belehrung des Publikums (Hinrichsen 1999; Thorau 2013). Die traditionellen Konzertformate blieben dabei nicht nur unangetastet, sondern bildeten den natürlichen Bezugspunkt der Vermittlungstätigkeit. (Der bekannteste und erfolgreichste Beitrag auf diesem Gebiet entstammte der Feder Hermann Kretzschmars und trug den bezeichnenden Titel Führer durch den Konzert-Saal [1887–90].) Mit den Werken der Wiener Schule trat erstmals ein deutlicher Bruch zwischen den bestehenden Formaten und dem Selbstverständnis einer sich als avantgardistisch verstehenden Komponistengeneration zutage. Arnold Schönberg versuchte mit seinem 1918 gegründeten und drei Jahre später wieder aufgelösten Verein für musikalische Privataufführungen ein ausgewähltes Publikum in die Lage zu versetzen, mit den komplexen kompositorischen Strukturen avancierter zeitgenössischer Werke vertraut zu werden. Durch eine Praxis gezielter Einladungen wurden bei diesen Konzerten alle Hörer ausgeschlossen, die sich diesem Anspruch nicht zu stellen bereit waren. Den geladenen Gästen sollte dann durch mehrmaliges Spielen der Werke und instruktive Einführungsvorträge eine tiefere Bekanntschaft mit der unvertrauten kompositorischen Idiomatik eröffnet werden (Szmolyan 1974; Metzger / Riehn 1984; Vojtěch 2000; Ä Kammerensemble, Ä Konzert). Im Gegensatz zu dieser auf Ausschluss und Exklusivität gründenden Form von Musikvermittlung versuchte Paul Hindemith mit seinem Konzept einer »Musik für den Laien« den Hörer als aktiv musizierenden Teil einer musikalischen Gemeinschaft anzusprechen (Hindemith 1930/94). Nicht um ein »Verstehen« komplexer Kunstmusik ging es hier. Hindemith sah es als wichtige Aufgabe des Komponisten an, den Amateur mit spielbarer moderner Literatur zu versorgen. Aus dem aktiven Kontakt mit diesen Werken sollte dann ein tieferes Verständnis der jeweiligen kompositorischen Faktur erwachsen. Aus heutiger Sicht können Schönbergs und Hindemiths Ansätze als frühe Erscheinungsformen eines »Audience Development« bezeichnet werden (Morison / Dalgleish 1992). Das für beide Komponisten so wichtige Bemühen um eine Heranziehung kompetenter Hörer ist mit wenigen Ausnahmen (Stockhausen 1955/63) von der folgenden Komponistengeneration freilich kaum weiter verfolgt worden. Zwar wurde Schönbergs Idee einer sich vom sonstigen Konzertbetrieb absondernden, ganz um die Sache ringenden Hörerschaft zum kennzeichnenden Merkmal der neuen Musik, die sich nach 1950 im Umkreis der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt herausbildete. Doch ging es in der fruchtbaren Arbeitsatmosphäre dieser Kurse weit eher um den Diskurs von Fachleuten als um den Kontakt zu interessierten Hörerkreisen. Ein entscheidender Impuls für die Vermittlung neuer Musik kam Ende der 1960er Jahre aus England. In Folge von Fördermaßnahmen des British Arts Council, die die Entwicklung neuer Partnerschaften zwischen Kunst, Bildung und Politik zum Gegenstand hatten, entstand im Umkreis von Ensembles wie der London Sinfonietta (gegründet 1968) eine Reihe von Initiativen, die sich darum Vermittlung bemühten, die klassische Musikkultur auch für weniger privilegierte Hörer erfahrbar zu machen. Sie griffen dabei Ideen des britischen Musikpädagogen John Paynter auf, der seit den frühen 1960er Jahren für einen Musikunterricht geworben hatte, in dem es primär um ein eigenständiges Gestalten von Klängen und Zeitverläufen gehen sollte (Mills / Paynter 2008). Wichtige Hauptakteure waren u. a. Michael Vyner, Gillian Moore und Richard McNicol. Die wohl folgenreichsten daraus hervorgehenden Aktivitäten waren die »Response«-Projekte, die auf die Initiative der weltweit ersten hauptamtlich eingestellten Musikvermittlerin, Gillian Moore, zurückgingen und 1985 in Zusammenarbeit mit der London Sinfonietta und 25 Londoner Schulen erstmalig durchgeführt wurden. In diesen Projekten sollten Schüler in die Lage zu versetzt werden, ein ausgewähltes Referenzwerk der neuen Musik durch eigene kompositorische und improvisatorische Versuche zu »beantworten« (response). Die aktive Auseinandersetzung sollte zu einem tieferen Verständnis für die dem jeweiligen Werk zugrunde liegenden kompositorischen Problemstellungen führen und ein intensiveres Hören ermöglichen. 1988 führte Richard McNicol in Berlin das erste deutsche Response-Projekt durch. 1990 griff das Ensemble Modern anlässlich seines zehnjährigen Bestehens die Response-Idee in einem Projekt an 16 Frankfurter Schulen auf (Meyer 2003). Der große Erfolg führte zu einer Verstetigung des Projekts in Hessen. Bald schlossen sich weitere Bundesländer, Städte und Regionen an. Stand bei der britischen Originalidee noch das Ziel eines verständigen Hörens weithin anerkannter Meisterwerke des 20. Jh.s im Vordergrund, kam es in den deutschen Folgeprojekten zu wichtigen Modifikationen und Erweiterungen. Mit dem 1998 durch die Komponisten Bernhard König und Hans W. Koch sowie die Pädagogin Anke Eberwein gegründeten Kölner »Büro für Konzertpädagogik« wurden Konzeptionen entwickelt, die nicht mehr bereits »fertige« Werke zur Voraussetzung hatten, sondern durch die Setzung übergeordneter Themen wie »Stimme«, »Ritual« und »Macht« die Gestaltungskraft der Schüler anregen wollten. Weitere Modifikationen der Response-Idee wurden in Österreich (»Klangnetze«) sowie in der Schweiz (»Klangserve«) entwickelt (Schneider 2000). Parallel zu diesen im engeren Sinne der Neuen-Musik-Szene zuzurechnenden Projekten etablierte sich in Deutschland seit den späten 1990er Jahren die Musikvermittlung als ein übergreifendes Arbeitsfeld. Meilensteine dieser Entwicklung waren die 2002 von den Jeunesses Musicales ins Leben gerufene »Initiative Konzerte für Kinder« sowie die Gründung des »netzwerks junge ohren« (2007). In beiden Projekten ging es um den Versuch, Netzwerke zwischen den oftmals getrennt voneinander 598 arbeitenden Akteuren zu knüpfen, mediale Plattformen für neue Projekte zu schaffen und einen Raum für die Entwicklung und Diskussion von Vermittlungsformaten zu ermöglichen. Dabei wendet sich das weiterhin bestehende »netzwerk junge ohren« dezidiert auch an Erwachsene. Daneben hat sich eine ganze Reihe von Initiativen gebildet, die Kindern und Jugendlichen – einerlei ob im Rahmen allgemeinbildender Schulen, Musikschulen oder auf institutionell ungebundener Basis – über den Weg eigener kompositorischer Praxis zu einem Zugang zur neuen Musik verhelfen wollen. Charakteristisch für viele dieser Ansätze ist die Arbeit in längerfristig angelegten Projekten. Vermittlung wird dabei nicht als einmaliges und für sich stehendes Ereignis, sondern als Prozess des Erforschens und Erfindens verstanden (Schneider 2012). Durch diese zeitliche Ausdehnung eröffnen sich Berührungspunkte zwischen Musikvermittlung und den »klassischen« musikpädagogischen Formaten in Schule und Musikschule – mit dem Unterschied, dass Vermittlungsprojekte zwingend auf eine öffentliche Präsentation ausgerichtet sind. Im Unterschied zum schulischen Lernen (dem freilich die Projektidee auch nicht gänzlich fremd ist) lässt sich Musikvermittlung somit als Versuch definieren, den an ihr beteiligten Menschen eine unmittelbare Teilhabe an einer über den schulischen bzw. musikschulischen Rahmen hinausgehenden, auf Öffentlichkeit abzielenden musikalischen Praxis zu ermöglichen. Das neue Arbeitsfeld der Musikvermittlung ist seit der Jahrtausendwende auch verstärkt Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden. Es ist auffallend  – und dem Hybridcharakter der Musikvermittlung durchaus angemessen –, dass diese Auseinandersetzung häufig von Persönlichkeiten geführt wird, deren Biographie eine Verbindung aus der Praxis des Musikvermittlers und ausübenden Künstlers und einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Tätigkeit aufweist (Wimmer 2010; Vandré / Lang 2011; Dartsch u. a. 2012; Schneider 2012; Rüdiger 2014). Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen inhaltliche Bestimmungsversuche (Gutzeit 2014), die Entwicklung von Kriterien, nach denen sich die Qualität von Vermittlungsprojekten beurteilen lassen (Wimmer 2010; Noltze 2014) sowie Überlegungen zu den Ausbildungsstrukturen an den Musikhochschulen (Brenk 2008; Schneider 2014). Gleichwohl bleibt zu konstatieren, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die das Phänomen der Musikvermittlung in einen übergeordneten soziologischen, erziehungswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kontext stellt, noch aussteht (Ansätze finden sich bei Flämig 2008 sowie Vogt 2008). Ä Konzert; Musiksoziologie; Rezeption; Wahrnehmung 599 Brenk, Markus: Konzertpädagogik / Musikvermittlung im Rahmen einer Musikhochschule am Beispiel Detmold. Porträt sowie didaktische sowie professionstheoretische Analyse einer musikpädagogischen Konzeption, in: Musikpädagogik auf dem Weg zur Vermittlungswissenschaft? Sitzungsbericht 2007 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik, hrsg. v. Martin Pfeffer, Christian Rolle und Jürgen Vogt, Münster 2008, 34–56 „ Dartsch, Michael / Konrad, Sigrid / Rolle, Christian (Hrsg.): Neues hören und sehen… und vermitteln, Regensburg 2012 „ Flämig, Matthias: Nun also Vermittlung. Begriffe als Indikatoren für Ausdifferenzierung oder Ratlosigkeit, in: Musikpädagogik auf dem Weg zur Vermittlungswissenschaft? Sitzungsbericht 2007 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik, hrsg. v. Martin Pfeffer, Christian Rolle und Jürgen Vogt, Münster 2008, 13–33 „ Gutzeit, Reinhart von: Musikvermittlung – was ist das nun wirklich? Umrisse und Perspektiven eines immer noch jungen Arbeitsfeldes, in: Musikvermittlung – wozu? Umrisse und Perspektiven eines jungen Arbeitsfeldes, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger, Mainz 2014, 19–36 „ Hindemith, Paul: Forderung an den Laien [1930], in: Aufsätze, Vorträge, Reden, hrsg. v. Giselher Schubert, Zürich 1994, 42–44 „ Hinrichsen, Hans-Joachim: Musikalische Interpretation. Hans von Bülow (BzAfMw 46), Stuttgart 1999 „ Kretzschmar, Hermann: Führer durch den Konzert-Saal, Leipzig 1887–90 „ Metzger, Heinz-Klaus / Riehn, Rainer (Hrsg.): Schönbergs Verein für Musikalische Privataufführungen (Musik-Konzepte 36), München 1984 „ Meyer, Claudia: Response – Quo vadis?, in: Musikpädagogik als Aufgabe. Festschrift für Prof. Dr. Siegmund Helms (Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 29), hrsg. v. Matthias Kruse und Reinhardt Schneider, Kassel 2003, 225– 248 „ Mills, Janet / Paynter, John (Hrsg.): Thinking and Making. Selections from the Writings of John Paynter on Music in Education, Oxford 2008 „ Morison, Bradley G. / Dalgleish, Julie G.: Waiting in the Wings. A Larger Audience for the Arts and How to Develop it, New York 1992 „ Noltze, Holger: Furchtbare Vereinfacher, galoppierender Reduktionismus. Kritik einer Vermittlung ohne Kriterien, in: Musikvermittlung – wozu? Umrisse und Perspektiven eines jungen Arbeitsfeldes, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger, Mainz 2014, 59–72 „ Rüdiger, Wolfgang: Zum Begriff der Musikvermittlung und den Beiträgen dieses Bandes, in: Musikvermittlung  – wozu? Umrisse und Perspektiven eines Literatur Vokalensemble, Vokalmusik jungen Arbeitsfeldes, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger, Mainz 2014, 7–18 „ Schneider, Ernst Klaus: Kann man Musikvermittlung lernen?, in: ebd., 37–58 „ Schneider, Hans (Hrsg.): Klangnetze. Ein Versuch, die Wirklichkeit mit den Ohren zu erfinden, Hofheim 2000 „ ders. (Hrsg.): Neue Musik vermitteln. Ästhetische und methodische Fragestellungen, Hildesheim 2012 „ Stiller, Barbara: Musikvermittlung: Am Anfang war das Modewort. Versuch einer kritischen Chronik, in: Musikvermittlung – wozu? Umrisse und Perspektiven eines jungen Arbeitsfeldes, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger, 81–98 „ Stockhausen, Karlheinz: Gruppenkomposition. Klavierstück I (Anleitung zum Hören) [1955], in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. v. Dieter Schnebel, Köln 1963, 63–74 „ Szmolyan, Walter: Schönbergs Wiener Verein für musikalische Privataufführungen, in: Arnold Schönberg. Gedenkausstellung, hrsg. v. Ernst Hilmar, Wien 1974, 71– 82 „ Thorau, Christian: Werk, Wissen und touristisches Hören. Popularisierende Kanonbildung in Programmheften und Konzertführern, in: Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. v. Klaus Pietschmann und Melanie WaldFuhrmann, München 2013, 535–561 „ Wimmer, Constanze: Exchange. Die Kunst, Musik zu vermitteln. Qualitäten in der Musikvermittlung und Konzertpädagogik, Salzburg 2010 „ Vandré, Philipp / Lang, Benjamin: Komponieren mit Schülern. Konzepte, Förderung, Ausbildung, Regensburg 2011 „ Vogt, Jürgen: Musikpädagogik auf dem Weg zur Vermittlungswissenschaft oder auf dem Holzweg?, in: Musikpädagogik auf dem Weg zur Vermittlungswissenschaft? Sitzungsbericht 2007 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik, hrsg. v. Martin Pfeffer, Christian Rolle und Jürgen Vogt, Münster 2008, 6–15 „ Vojtěch, Ivan: Einige Anmerkungen zur Idee des »Vereins für musikalische Privataufführungen in Wien«, in: Arnold Schönbergs Wiener Kreis, hrsg. v. Christian Meyer, Wien 2000, 107–113 Wolfgang Lessing Video Ä Film / Video Vokalensemble, Vokalmusik Ä Stimme / Vokalmusik 600 Wahrnehmung W Wahrnehmung Inhalt: 1. Voraussetzungen  „ 2. Musikologische Ansätze  „ 3. Kompositorische Struktur und Wahrnehmung: Kontroversen und Potenziale „ 3.1 Hörbarkeit „ 3.2 Selbstreflexives Hören „ 3.3 Kontemplatives Hören und Aufmerksamkeit „ 3.4 Strukturelles Hören „ 3.5 Wahrnehmungslernen „ 4. Performative Wahrnehmung, Verstehen, Nicht-Verstehen 1. Voraussetzungen Auditive bzw. musikalische Wahrnehmung kann verstanden werden als sensorische Informationsaufnahme (Bottom-up-Prozesse) sowie deren Organisation und Interpretation (Top-down-Prozesse). Verwandte, sich vielfältig mit dem Bedeutungsfeld von »Wahrnehmung« überschneidende Begriffe sind (musikalisches) Hören, Perzeption, Kognition und Ä Rezeption. Es bestehen zudem enge Wechselwirkungen mit Befindlichkeiten und Emotionen. Die Informationsverarbeitung ist vor allem von Wissensstrukturen abhängig, die mit dem Selektionsprozess aufmerksamen Wahrnehmens wechselwirken. Die Einbettung in vorhandene Wissensschemata macht einen wichtigen Teil der Interpretation der einströmenden Information aus. Musikalische Wahrnehmung ist zu einem gewissen Grad immer an eine Zusammenfassung des ZeitlichFlüchtigen durch eine quasi-räumliche Repräsentation des Gehörten im (Kurzzeit-)Gedächtnis gebunden (Ä Zeit). Ein Sistieren solcher Gedächtnisfunktionen ist physiologisch nicht möglich, selbst wenn im Selbstexperiment versucht werden kann, Wahrnehmung konsequent »atomistisch« ausschließlich auf das jeweils gegenwärtige Ereignis zu richten. In der Regel wird aber selbst in radikal fragmentierten Klangverläufen eine basale Art der Zusammenhangsbildung vorgenommen: Das im jeweiligen Moment Wahrgenommene wird dabei gekoppelt an unmittelbar zuvor gehörte Klangstrukturen – und führt ggf. zur Bildung von Gestalten, Konturen, Figuren und Gesten (Utz 2012) – sowie unter Umständen auch zu einer Rekonstruktion des Gesamtverlaufs seit Beginn des Wahrnehmungsvorgangs oder einem vorangehenden Einschnitt. Ebenso werden im Sinne einer syntaktischen Orientierung bzw. Erwartungshaltung fortgesetzt Klangereignisse der näheren und ggf. auch ferneren Zukunft vorausgehört oder vorausgeahnt. »Echtzeithören«, Erinnerung und Antizipation greifen also stark ineinander und verschränken sich in einer fortlaufenden »Übergangssynthesis« (Merleau-Ponty 1945/66, 477). Die Rekonstruktion eines längeren zusammenhängenden Wahrnehmungsvorgangs kann sich post factum, aber auch während des Hörens, etwa als körperliche Reaktion und / oder verbale oder bildhafte Interpretation äußern und sich dabei mit vielfältigen soziokulturell geprägten metaphorischen Deutungsmustern verbinden. Eine nicht geringe Rolle dabei spielt auch, dass Musik durch die Handlungen der Musiker immer auch ein sichtbares Ereignis ist, sodass vor allem für Live-Aufführungen intermodale Wahrnehmungsprozesse eine Schlüsselfunktion einnehmen, denen man freilich seit dem 19. Jh. bis in die Gegenwart immer wieder durch Strategien der »Subtraktion« der visuellen Anteile von Musikdarbietungen entgegenwirken wollte (Kaltenecker 2008, 2011, 179– 218), sie aber auch ganz gezielt, etwa im Ä Instrumentalen Theater sowie im Ä Musiktheater generell, herausforderte. 2. Musikologische Ansätze So gut wie alle musikbezogenen wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen beanspruchen Musikwahrnehmung als eine ihrer Kernkompetenzen: Ä Musikästhetik, Musikpsychologie (La Motte-Haber 2005), Ä Musiksoziologie, Ä Musiktheorie, Ä Akustik / Psychoakustik sowie Komposition und Ä Interpretation bzw. Aufführungspraxis. Daneben wurden und werden Aspekte der Musikwahrnehmung als ein prominentes Thema in der Philosophie und der allgemeinen Psychologie behandelt, eine Tendenz, die auf den Zeitraum um 1900 zurückgeht und besonders in gestalttheoretischen (Christian von Ehrenfels, Max Wertheimer, Kurt Koffka), phänomenologischen (Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Georg Picht) und lebensphilosophischen Ansätzen (Wilhelm Dilthey, Henri Bergson) erkennbar wird. Aus musikhistorischer und -soziologischer Sicht wurden in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe von Studien zum Wandel von gesellschaftlichen Konventionen und Tendenzen des Musikhörens vorgelegt (Johnson 1995; Sterne 2003; Kaltenecker 2011), die sich freilich noch kaum zu einer konsistenten »Geschichte des Hörens« zusammenfügen. Dabei liegt noch keine umfassende Darstellung für den Wandel des Hörens von Kunstmusik im 20. Jh. vor. Psychologisch orientierte Untersuchungen zur Wahrnehmung von Musik wurden seit den Anfängen bzw. Vorläufern der Musikpsychologie bereits im 19. Jh. durchgeführt, wobei Hermann von Helmholtz ’ Psychophysik über Jahrzehnte hinweg als Leitstudie diente (Helmholtz 1863; Hiebert 2014). In den 1920er und 30er Jahren leg- 601 te Ernst Kurth mit einer Folge von Monographien eine umfangreiche stilanalytisch, phänomenologisch und gestalttheoretisch beeinflusste Theorie tonaler Bewegung vor (Kurth 1931/69), die  – heute meist als »Energetik« klassifiziert  – in Kompositionspoetiken der letzten Jahrzehnte zahlreiche Parallelen findet, ohne dass eine Referenz auf Kurths Theorien zu beobachten wäre. Während Helmholtz ’ Ansatz aufgrund der beträchtlichen Resonanz psychoakustischer Phänomene in der neuen Musik spätestens seit Edgard Varèse (Lalitte 2011) immer wieder positiv von Komponisten rezipiert worden ist, dienten die bestimmenden musikästhetischen und -theoretischen Wahrnehmungstheorien des 19. Jh.s  – Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen (1854/1991), Hans von Bülows Wirken (Hinrichsen 1999), Hugo Riemanns Modell eines »aktiven Hörens« (Riemann 1888/1919; Rehding 2003) und Heinrich Schenkers Synthese aus Architektonik und Energetik (Cook 2007) – in ihrer engen Bindung an einen normativen Tonalitätsbegriff vorwiegend als Modelle der Musikwahrnehmung, gegen die in zahlreichen Strömungen der neuen Musik rebelliert wurde (vgl. 3.). Unter diesem Gesichtspunkt wären universalistisch konzipierte Theoriesysteme in der Tradition Schenkers oder Riemanns wie die Generative Theory of Tonal Music (Lerdahl / Jackendoff 1983) oder die Neo-Riemannian Theory (Cohn 2012) selbst in einer ggf. für posttonale Musik adaptierten Form zur Beschreibung der Wahrnehmung neuer Musik kaum geeignet, da ihnen letztlich ein strukturalistischer Wahrnehmungsbegriff zugrunde liegt (vgl. 3.4). Stattdessen wäre für eine wahrnehmungssensitive Theorie neuer Musik von einem Strukturbegriff aus zu gehen, der Struktur als sich erst im Wahrnehmungsakt konstituierendes Phänomen versteht (Cook 1999). Anknüpfen könnte man dabei nicht zuletzt an fundierte musikpsychologische Modelle wie Albert S. Bregmans Auditory Scene Analysis (1990), die ausgehend von »elementaren« Organisationsformen der Wahrnehmung, die bereits Anfang des 20. Jh.s von der Gestalttheorie beschrieben wurden, Bezüge zwischen Alltagswahrnehmung und musikalischer Wahrnehmung aufzeigt, etwa durch die Gruppierung von Klangereignissen durch cues (»horizontal«) oder das Zusammenfassen von klangfarblich oder tonhöhenbezogenen Gestalten oder Konturen in – bereits von Ernst Kurth in anderer Begrifflichkeit behandelten – streams (»vertikal«) (ebd., 47–394; vgl. auch Deutsch 1982/99). Für Klangstrukturen der neuen Musik unmittelbar relevant ist daneben die Unterscheidung zwischen »natural assignments« (Klänge werden aufgrund ihrer Quelle kategorisiert, z. B. als »Flötenklang«) und »chimeric assignment« (eine genaue Zuordnung zur Klangquelle kann nicht vorgenommen werden) (Breg- Wahrnehmung man 1990, 455–461). Bregmans Ansatz, der vor allem die Wahrnehmung der Klangstrukturen im Fluss des »Echtzeithörens« erfasst, wäre zu ergänzen durch Bezüge auf musikpsychologische Studien zur Formwahrnehmung wie sie für posttonale Musik vor allem Irène Deliège vorgenommen hat. Im Anschluss an die Theorie kategorialer Wahrnehmung bei Eleanor Rosch (1978) hat Deliège u. a. anhand von empirischen Studien zu Luciano Berios Sequenza VI für Viola solo (1967) und Pierre Boulez ’ Éclat für Ensemble (1965) nachgewiesen, dass formale Orientierung wesentlich anhand von Segmentierungen der klanglichen Oberfläche auf der Grundlage von Ähnlichkeit bzw. Kontrast zwischen Klangstrukturen sowie aufgrund salienter, gliedernder Ereignisse vorgenommen wird, wobei die musikalische Kompetenz der Hörer dafür eine untergeordnete Rolle spielt (Deliège 1989). Ähnliche Segmente können sich dabei im Sinne einer »Hierarchie von Salienzen« (Lerdahl 1989; Imberty 1993) zu einer übergeordneten Gruppierung der Klangstrukturen zusammenfügen, wobei kontextabhängige Ähnlichkeiten im Sinne von »Imprints« bzw. »Prototypen« die Kategorisierung erleichtern (Deliège 2001), oder aber, wie etwa bei minimalistischen oder hochkomplexen Strukturen, zu einer »flachen«, antihierarchischen Formwahrnehmung führen (Fink 1999). Andere Theorien haben wiederum auf die Bedeutung sukzessiver, stringenter Ableitungen für die Kategorisierung von Klangstrukturen hingewiesen (Ockelford 2006) – ein Phänomen, das etwa für die Transformation der Gestalten in der Musik Morton Feldmans besonders relevant erscheint (Hanninen 2004, 150–169). Letztlich lassen sich aber freilich keine intersubjektiv vollkommen stabilen Kriterien für »Ähnlichkeit« fassen: »Ähnlichkeit [ist] kein objektives Kriterium […], in dem Sinne, dass es unabhängig vom Kontext, der einen Vergleichsstandard etabliert, und der Perspektive auf eine Sache feststehen würde. Daneben stellt sich auch die Frage, wie grob bzw. fein ein individueller (empirischer) Hörer die Ähnlichkeitsskala für sich unterteilt« (Neuwirth 2008, 82). Durch Anwendungen solcher Theorien in Analysen neuer Musik  – freilich immer in Verbindung mit, nicht als Ersatz von »klassischen« produktionsästhetischen Methoden  – kann der Anspruch einer stärker an Wahrnehmungsstrukturen als an komponierten Strukturen orientierten Interpretation neuer Musik eingelöst werden (Hanninen 2004; Neuwirth 2008; Utz 2012) und sich dabei mit generellen Überlegungen über die auch in posttonaler Musik zentrale Rolle syntaktischer Beziehungen (Utz 2013b) und Erwartungssituationen (Utz 2013c) verbinden. Solche Überlegungen setzen eine grundsätzliche Kontingenz formaler Verläufe in posttonaler Musik voraus sowie die Einsicht, dass Intra- und Extra-Opus-Wissen sowie Wahrnehmung lokale und globale Erwartungsstrukturen beim Musikhören sich oft nur schwer trennen lassen und Hörerwartung somit nur im Rahmen einer »historisch wie stilistisch kontextsensitive[n] Theorie des Klang-Zeit-Erlebens« fassbar wird (ebd., Abstract). Als besonders produktiv erweisen sich daneben analytische Ansätze, die – ausgehend von für elektronische Musik entwickelten spektromorphologischen Kategorisierungen – die Wahrnehmung von komplexen Klangstrukturen mit Aspekten des Schaffensprozesses verschränken (De Benedictis / Decroupet 2012). 3. Kompositorische Struktur und Wahrnehmung: Kontroversen und Potenziale Der reflexiv-moderne Impetus der neuen Musik richtete sich von Anfang an gegen die »Trägheit« einer sozial konditionierten Wahrnehmung und appellierte an die Fähigkeit von Rezipienten, Neues hörend begreifen oder auch Bekanntes »neu« hören zu können, wobei der Bildungsbegriff anfangs eine wichtige Grundlage dieser Vorstellung bildete: »Große Kunst […] setzt den beweglichen Geist eines gebildeten Hörers voraus, der in einem einzigen Denkakt bei jedem Begriff alle Assoziationen, die zu dem Komplex gehören, einschließt. Dies gibt einem Musiker die Möglichkeit für die geistige Oberschicht zu schreiben« (Schönberg 1933/47/76, 49). Auch wenn dieser elitäre Anspruch längst gebrochen ist, vielfach in Frage gestellt wurde und in der Gegenwart kaum mehr haltbar scheint (Ä Popularität), so kann doch der Gedanke einer »Musik als Wahrnehmungskunst« (Utz / Gadenstätter 2008) als vielleicht wichtigste Voraussetzung der gesellschaftlichen Relevanz und sinnlichen Attraktivität neuer Musik gelten. Die Strategien zur Herausforderung und Ausweitung der Möglichkeiten musikalischer Wahrnehmung durch neue Musik betreffen dabei einerseits den morphologischen und metaphorischen Bereich der Klänge, Klangverbindungen und Klangtransformationen, zum anderen aber auch die gesellschaftlichen Kontexte und Vereinbarungen des Hörens. Vor diesem Hintergrund ist nach 1945 eine wiederholte enge Oszillation zwischen auf musikalische Wahrnehmung bezogener Philosophie und neuer Musik erkennbar, nicht nur in der breiten AdornoRezeption, sondern auch in Rezeptionsvorgängen bzw. Wechselwirkungen zwischen phänomenologischen oder poststrukturalistischen Philosophen und Komponisten der neuen Musik (Husserl  – Pierre Schaeffer; Gilles Deleuze / Félix Guattari – Pierre Boulez / Brian Ferneyhough; Jean-François Lyotard  – Gérard Grisey; Picht  – Helmut Lachenmann / Hans Zender etc.). Allerdings tritt »Wahrnehmung« in einem emphatischen Sinn erst seit den 1980er Jahren ins Zentrum des Diskurses und wird zum »selbstverständliche[n] Faktor des Komponierens«: »Die 602 Beförderung der Wahrnehmung zur Leitmetapher und zur causa finalis des Komponierens bedeutet, dass […] ein Musikwerk […] nicht ausschließlich als dramatisierte Struktur, sondern zugleich als umfangende Situation angelegt und verstanden werden kann« (Kaltenecker 2008, 115; vgl. auch Blomann / Sielecki 1997). Dies zeigt sich etwa darin, dass Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit zunehmend als zentrales Argument der Abgrenzung dient, etwa wenn Gérard Grisey Olivier Messiaens und Boulez ’ rhythmischen und formalen Symmetriebildungen eine »Unkenntnis gegenüber der Wahrnehmung« vorwirft, die mit »einer räumliche[n] und statische[n] Anschauung von der Zeit als einer geraden Linie« einhergehe (Grisey 1983, 191; Ä Zeit, 2.3). Bei Grisey wird besonders deutlich, wie das Paradigma Ä »Struktur« durch das Paradigma »Wahrnehmung« abgelöst wird (»die Struktur, so komplex sie auch sein mag, [muss] bei der Wahrnehmbarkeit der Aussage haltmachen«, ebd., 197), aber vor allem auch, dass ein universalistischer Begriff von Wahrnehmung, wie er die Diskussion bis in die 1980er Jahre hinein prägte (vgl. 3.1), verabschiedet wird: Grisey sucht nach »Strukturen […], die nicht an einen einzigen Typus der Wahrnehmung geheftet sind« (ebd., 199). 3.1 Hörbarkeit Das »Kriterium der Hörbarkeit, der restlosen Realisierung für die Wahrnehmung« ist »ein Postulat von geschichtlich begrenzter Reichweite« (Dahlhaus 1970/2001, 51) nicht zuletzt deshalb, weil sich musikalisches Hören  – wie in den genannten Studien zur Geschichte der Musikhörens (vgl. 2.) hinreichend dargelegt  – über die Epochen und Jahrhunderte in enger Wechselwirkung mit dem Wandel musikalischer Ä Stile und Ä Institutionen sowie der Gesellschaftsgeschichte nachhaltig wandelt. Darüber hinaus liegt den vielen Polemiken gegen die vermeintliche »Unhörbarkeit« atonaler, serieller oder elektronischer Musik häufig ein stark eingeschränkter, durch ästhetische Wertungen, restriktive Definitionen von Musik oder kulturpessimistische Züge geprägter Wahrnehmungsbegriff zugrunde. Einerseits wurde dabei von einer angeblich »natürlichen« Begrenzung des Wahrnehmungsapparats ausgegangen, wobei diese »Natürlichkeit« wahlweise zurückgeführt wurde auf den »Naturklang und seine Ableitungen« (Blume 1959/63, 881), eine im tonalen Tonsystem und im Prinzip der Gestaltbildung wurzelnde »Natur des Hörens« (Wellek 1969, 235; Federhofer / Wellek 1971), das »konstitutive Intervall« der Quinte (Ansermet 1961/85, 45–76) oder eine »natural compositional grammar«, die in einem symbiotischen Verhältnis zu einer »listening grammar« stehe und (wie in der dur-moll-tonalen Musik) durch eine »artificial compositional grammar« zwar ergänzt, 603 aber nicht ersetzt werden könne (Lerdahl 1988, 235–237). Andere Polemiken beruhten auf informationstheoretischen und linguistischen Überlegungen. Dabei lautete ein Grundargument, dass vor allem serielle Musik durch ihre permanent hohe Informationsdichte das  – auch hier als »Naturgesetz« (Winckel 1960, 72 f.) postulierte – Prinzip der »Redundanz« missachte, demzufolge neue Informationen immer gestützt durch bereits bekannte Informationen (etwa die als bekannt voraussetzbaren Prinzipien tonaler Syntax) auftreten müssten, um Verständlichkeit zu gewährleisten: »compositional redundancy [in serieller Musik] is often so low that almost all the information in the music must be perceived and used if the composition is to be understood« (Meyer 1967/89, 279). Von der Argumentationsweise vergleichbar ist die erstmals von Nicolas Ruwet vorgebrachte strukturalistische These, serielle Musik artikuliere eine parole (Rede) ohne eine für den Hörer nachvollziehbare Situierung in der langue (Sprachsystem) vorzunehmen, wie es das System tonaler Relationen noch erlaubt habe (Ruwet 1959/60; vgl. die Entgegnung in Pousseur 1960); Claude Lévi-Strauss verschärfte diese Kritik, indem er serieller Musik das Fehlen eines »objektiven Fundaments« von Sprachlichkeit vorwarf, was den Hörer dazu zwinge, den kompositorischen Schöpfungsvorgang als Ganzes nachzuvollziehen, wenn er die Musik erfassen wolle (Lévi-Strauss 1964/76, 29–45). Schließlich hatte ebenfalls schon früh mit Robert Francès auch ein bedeutender Musikpsychologe die »Hörbarkeit« serieller Musik deshalb in Frage gestellt, weil sie es nicht ermögliche, erlernte Hörerwartungen ins Musikhören einzubringen bzw. neue Erwartungshaltungen durch das Hören serieller Musik zu erlernen (1958/88, 78). Unschwer ist erkennbar wie sich in diese fast durchweg universalistischen und dadurch restriktiven Theorien der Wahrnehmung ästhetische Wertungen mischen, die Autorität aus den Bereichen der »exakten« Wissenschaften zu entlehnen suchen. Damit trafen sie sich freilich mit den Kompositionspoetiken der Zeit, von denen einige ebenfalls von der Informationstheorie ausgingen und daraus das Prinzip ständig wechselnder Dichtegrade, sowie einen Ausgleich zwischen Kontrast und Wiederholung als kompositorisches Prinzip ableiteten (Stockhausen 1955b / 63; Ä Zeit, 1.). Auch wenn die auf Quantitäten beruhenden technizistischen Kategorien der Informationstheorie, die auch in der von Abraham A. Moles begründeten »Informationsästhetik« (Moles 1958/71) weitgehend beibehalten wurden und in dieser Form etwa auch als Grundlage für Pierre Schaeffers Typologisierung von Klangobjekten dienten (Decroupet 2012, 297; Schaeffer 1966), bald als unzulänglich für das Erfassen von qualitativen Wahrnehmungsprozessen kritisiert wurden (Eco 1970/72, 378– Wahrnehmung 394; Pousseur 1970, 61–67; vgl. Mosch 2004, 99 f.; Borio 2005, 261 f.), so trug die Rezeption der Informationstheorie doch zu einer grundsätzliche Sensibilisierung für Fragen der Klang- und Zeitwahrnehmung und einer »Verflüssigung« des Strukturdenkens bei. Diese Entwicklung war zudem bereits durch die Arbeit im elektronischen Studio und die zunehmende Hinwendung zur »Klangkomposition« (Stockhausen 1953/63) angelegt (Ä Themen-Beitrag 3). Wenn Stockhausen seine durch »Gruppenkomposition« erzeugten Klangfelder durch eine »übergeordnete Erlebnisqualität« charakterisiert (1955a / 63, 63) oder Theodor Warner neuen Klangstrukturen eine »Komplexqualität« (1969, 96–98) zuspricht, zeigt dies an, wie diese neue Sensibilität für Wahrnehmungsprozesse auch in die sprachliche Beschreibung einfloss und damit den Weg für die Formulierung von Helmut Lachenmanns »Klangtypen« bereitete (vgl. 3.2). 3.2 Selbstreflexives Hören Es war gerade die Beschränkung auf quantitative Aspekte und das damit verbundene Postulat einer Analogie zwischen komponierter Struktur und auditiver Wahrnehmung, die sowohl Komponisten als auch Kritiker serieller Musik grundsätzliche Differenzen zwischen (quantitativer) »Information« und (qualitativer, kultureller) »Bedeutung« übersehen ließen, wie es Eco und Pousseur monierten. Lachenmanns Kritik an der seriellen Musik zielte in eine ähnliche Richtung: Da sie die auratischen Qualitäten des verwendeten Materials ebenso ignoriert habe wie die Neigung vieler Hörer, sich an expressive Residuen tonaler Musik zu klammern, hätte sie – wie etwa das Beispiel der Kuhglocken in Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) zeige – »in Wahrheit oft ein expressives Chaos und in vielen Werken einen regelrechten Trümmerhaufen geschaffen« (1979/96, 61). Es stelle sich also die Herausforderung, ein solches »Trümmerfeld« in ein »Kraftfeld« zu überführen (1988/96, 193). Dementsprechend entspringt Lachenmanns Komponieren einem Denken in morphologisch, aber auch affektiv und auratisch bestimmten Klangtypen und Klangfamilien, die strukturell in immer neue Beziehungen zueinander treten (1966/93/96; Ä Themen-Beitrag 3, 2.4). In vergleichbarer Weise kritisierte Nicolaus A. Huber (wie Lachenmann ein Schüler Luigi Nonos), dass die Tonalitätskritik der seriellen Musik auf der Ebene des Ä Materials stehen geblieben sei, während es gelte auch die archetypischen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Tonalität beim Musikhören ihre Wirkungen entfaltet, kompositorisch kritisch zu thematisieren (Sielecki / Huber 2000). Vor diesem Hintergrund zielen viele Komponisten seit den 1970er Jahren verstärkt auf eine selbstre- Wahrnehmung flexive Wahrnehmung beim Rezipienten. Die »kritische« Musik Lachenmanns, Hubers, Mathias Spahlingers oder Hans-Joachim Hespos ’ soll – ganz im Sinne der zeitgleichen politischen Emanzipationsbewegungen – durch ihre Brüche mit etablierten Hörkonventionen und -situationen die Bedingtheiten und Begrenzungen des eigenen Wahrnehmens bewusst machen und zur »Befreiung« aus diesen Konventionen auffordern (Lachenmann 1990/96, 90). Sie trifft sich damit im Ansatz mit der präsenzorientierten Ä Performance Art und verwandten performativen Tendenzen der neuen Musik, wie etwa der psychoanalytisch durchdrungenen szenischen Aktionsmusik Jani Christous oder auch wichtigen Tendenzen einer gegen den europäischen Kunstbegriff gerichteten US-amerikanischen Ä Avantgarde (Ä Themen-Beitrag 2). Suchte Christou mit seiner herkömmliches Musizieren übersteigenden »Metapraxis« nach »einer Musik, die auf die erstickenden Auswirkungen, ja, den Terror unserer alltäglichen Lebenserfahrungen zu starren sich vornimmt« (Christou 1968/2003), so war John Cages Aufmerksamkeit auf die Nicht-Intentionalität nicht nur des Komponierens, sondern auch des Hörens gerichtet »New music: new listening. Not an attempt to understand something that is being said, for, if something were being said, the sounds would be given the shapes of words. Just an attention to the activity of sounds« (Cage 1958/78, 10). 3.3 Kontemplatives Hören und Aufmerksamkeit Cage suchte eine solche Hörhaltung mit seinen unbestimmten Werken nicht zuletzt durch die Vorstellung eines unbegrenzten, nicht-direktionalen Zeit-Raums zu ermöglichen, in dem sich Klang und Stille »ungehindert durchdringen« (Ä Zeit, 1.). Cage stellte damit ein Modell kontemplativen Hörens bereit, das in unterschiedlicher Weise von zahlreichen Tendenzen neuer Musik – vor, zeitgleich mit und nach Cage – geteilt wurde, Tendenzen, die an religiöse, spirituelle oder meditative Praktiken und Erfahrungen anschlossen (Ä Themen-Beitrag 8), wie etwa in Werken von Dane Rudhyar, Giacinto Scelsi, La Monte Young, Terry Riley, Phill Niblock oder auch Luigi Nono, dessen Spätwerk sich auf ein »neues, kreatives, suchendes Hören […], das strikte Gegenteil des bestätigenden Hörens von längst Vertrautem« richtete und dabei »Hören und Komponieren als ein über die Musik hinausgreifendes Denken und Handeln« verstand (Stenzl 2004, 1164). In den Strategien einer immersiven, verräumlichten, zeitlich gedehnten Klanglichkeit einerseits und / oder einer (oft mehrfachen, verlängerten) Unterbrechung des Klangflusses durch Stille andererseits treffen sich viele der genannten Ansätze. Im Sinne einer »Aufmerksamkeitsschulung« knüpfen sie damit auch an eine Richtung der frühen Moderne an, die 604 als Reaktion auf eine vermeintlich zunehmende Zerstreuung der Wahrnehmungsaktivität im Alltag seit dem späten 19. Jh. zu verstehen ist (Crary 2002, 21–69). Dies zeigt sich etwa in Konzepten, die – wie bei Christian Wolff, Yūji Takahashi oder auch in Stockhausens Textkompositionen Aus den sieben Tagen (1968) – die soziale Interaktion und das Aufeinanderhören der Ausführenden besonders thematisieren, oder auch  – etwa bei Komponisten wie Antoine Beuger, Jürg Frey, Jakob Ullmann, Ernstalbrecht Stiebler, Albert Breier oder Michael Pisaro  – durch extreme Formen der Reduktion an der äußersten Grenze zur absoluten Stille ein konzentriertes Lauschen in besonderem Maß herausfordern (Wilson 2003). Solche Ansätze zielen damit insgesamt auf eine Sensibilisierung von Wahrnehmungsfähigkeiten in einer zunehmend von akustischer Ablenkung und Störung geprägten Umwelt, oft also auch im Sinne »akustischer Ökologie«. Salvatore Sciarrino hat im Rahmen einer weit ausgreifenden wahrnehmungsorientierten Poetik auch dieses Motiv aufgegriffen (Sciarrino 1985/2001; Carratelli 2006, 57–66). Diese Poetik sticht insofern heraus, als sie als Zeugnis einer systematischen Auseinandersetzung mit musikpsychologischen und soziologischen Wahrnehmungsbedingungen von Musik gelten kann (Sciarrino 1998). Im Sinne eines »Komponierens des Hörens« (Carratelli 2006) zielt sie darauf ab, durch klar unterscheidbare »Figuren«, eine stark visuell orientierte Intermodalität von Klang und (imaginiertem) Bild und einen differenzierten Umgang mit zeitlicher Diskontinuität hörende Orientierung zu ermöglichen und diese zugleich im Sinne einer »Gedächtnissabotage« (Snyder 2000, 234–238) an Grenzen zu führen. Sciarrinos Stille ist dabei weniger als Einspruch gegen ein Hören von Kontinuitäts- oder Gestaltbeziehungen zu verstehen (wie dies etwa bei Nono oder György Kurtág der Fall ist), sondern vor allem als Mittel, um zu einer »Phänomenologie des Körperlosen und des Unsichtbaren« und zu einer »Logik der Epiphanie« vorzustoßen (Sciarrino 2001, 204 f.). Stille wird in Sciarrinos Werken so immer wieder durch architektonisch gezielt gesetzte Schnitte durchbrochen, die als »Little Bangs« unvorhersehbare Prozesse auslösen können oder als »Fenster« zum Erzeugen von formaler Diskontinuität beitragen (Utz 2013a). 3.4 Strukturelles Hören Beharrt also auch ein Komponieren wie das Sciarrinos auf einem engen Zusammenhang von gesetzter Struktur und wahrnehmender Organisation, so hat es sich in seiner konzeptionellen Flexibilität doch stark vom Ideal eines »strukturellen Hörens« entfernt, in dem ein enges Analogieverhältnis von »compositional grammar« und »listening grammar« vorausgesetzt wird. Dieser Hörmo- 605 dus oder -typus hat in reiner Form vermutlich nie existiert und kann als Konstruktion einer modernekritischen Musikwissenschaft gelten, die ihn auf Schönberg, Theodor W. Adorno und Milton Babbitt zurückführte (Subotnik 1988/91; Sofer i.V.). Adornos Gedanke des strukturellen Hörens ist zunächst als Apologie der neuen Musik zu verstehen, insbesondere der Schönberg-Schule, und als Korrektiv ästhetischer Abwertung entwickelt: »Auch der ungewohnteste und schärfste Einzelklang wird schön in dem Augenblick, da in ihm ein Licht aufleuchtet: da er sich offenbart als Träger eines musikalischen Sinnzusammenhangs« (1963/76/97, 247). Daneben schränkt Adorno den Typus explizit auf »den Kreis der Berufsmusiker« ein »ohne daß alle diese seine Kriterien erfüllten«: Dem »mitdenkenden« Ohr des strukturellen Hörers »sind die einzelnen Elemente des Gehörten meist sogleich als technische gegenwärtig, und in technischen Kategorien enthüllt sich wesentlich der Sinnzusammenhang« (1968/73, 182). Tatsächlich sind für Adorno jedoch vor allem eine Akzeptanz des nonkonformistischen Grundcharakters neuer Musik (»ihr Befremdendes ist mit ihrem Gehalt verwachsen«, 1963/76/97, 247) und eine grundsätzliche musikalische Bildung Voraussetzung eines angemessenen Hörens: »Wohl steht außer Zweifel, daß, wer überhaupt der Sprache der Musik mächtig ist, neue Musik verstehen lernen kann« (ebd.). Deutlich wurde durch jüngste Studien, dass Adornos Gedanken zum Hören von Musik zumindest seit den späten 1950er Jahren weit flexibler und pluralistischer waren, als es eine einseitige Fixierung auf das Modell des strukturellen Hörens erahnen lässt (Sofer i.V.), auch wenn seine Argumentation gewiss stets im Bann eines beziehenden und strukturorientierten Hörens im Sinn von Schönbergs »musikalischem Gedanken« verbleibt. Babbitt wiederum sah die Herausforderung für »ungeübte« Hörer im »contextualism« der neuen Musik: »the structural characteristics of a given work are less representative of a general class of characteristics than they are unique to the individual work itself. Particularly, principles of relatedness, upon which depends immediate coherence of continuity, are more likely to evolve in the course of the work than to be derived from generalized assumptions« (1958/78, 246). Vergleichbare Hörmodelle finden sich gehäuft, etwa bei Stockhausen (»Man hält sich in der Musik auf, man bedarf nicht des Vorausgegangenen oder Folgenden, um das einzelne Anwesende (den einzelnen Ton) wahrzunehmen«, 1952/63, 21) oder Elliott Carter (»In posttonaler Musik hat schlicht jeder Komponist, immer wenn er ein Stück schreibt, die Möglichkeit, sozusagen seine eigene Sprache zu kreieren, lediglich eingeschränkt durch den Anspruch […], dass aus der Sicht des imaginierten Hörers die morphologischen Elemente in jedem Wahrnehmung Fall wiedererkennbar sein müssen und dass ihr Status als musikalische Normen und Abweichungen klar im Werk eingeführt wird«, Carter 1999, 157). 3.5 Wahrnehmungslernen Die zuletzt referierten Positionen sind gewiss offener für unterschiedliche Hörmodelle als es die Verengung des »strukturalistischen Hörens« in der New Musicology erahnen ließe, aber sie verbleiben insgesamt doch im Glauben einer grundsätzlich möglichen bzw. erstrebenswerten Analogiebildung von Struktur und Wahrnehmung – und sie verkennen damit die erst in jüngerer Zeit in den Vordergrund gerückte »Nicht-Korrespondenz zwischen konzipierten und wahrgenommen Strukturen« (Borio 2005, 273) in zahlreichen Fällen und Kontexten der Musikgeschichte. Damit ist freilich nicht gemeint, dass strukturalistische Materialordnungen hinfällig oder sinnlos wären. Für die serielle Musik hat Ulrich Mosch gezeigt, dass serielle Strukturbildungen zwar in ganz bestimmten Klangkonstellationen resultieren, die beim Komponieren geschaffenen Strukturen selbst aber nicht zwangsläufig auch als Modelle des Wahrnehmungsvorgang dienen müssen (Mosch 2004, 80–88). Dabei zielen musikalische Beziehungen und musikalischer Zusammenhang in serieller oder allgemein in komplexer Musik meist nicht mehr auf eine (etwa harmonische und motivisch-thematische) Substanzgemeinschaft, und auch formale Funktionen wie Wiederholung oder Kontrast können nur noch bedingt als Orientierung dienen. Die hergestellten Zusammenhänge grenzen vielmehr, so Mosch, häufig an jene, die man beim Hören oder Sehen von Ä Collagen oder Montagen herstellt (ebd., 85 f.). Auch Mosch aber hält letztlich am »elitären« Charakter der neuen Musik fest, wenn er argumentiert, auch komplexe Musik könne schließlich »verstanden« werden und zwar mittels eines sukzessiven »Wahrnehmungslernens« durch mehrfaches Hören. Dieses Modell führt Mosch u. a. auf Adornos Hörmodell und die Praxis des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen zurück, in dessen Konzerten Werke oft mehrfach gespielt wurden (Ä Kammerensemble), aber auch auf das hermeneutische Modell Hans Georg Gadamers und musikästhetische Überlegungen Boris de Schloezers (ebd., 119–122, 127–130, 163–166). Gewiss ist es notwendig, das von Lévi-Strauss, Ruwet oder Lerdahl (vgl. 3.1) implizit zugrunde gelegte universalistische Ideal eines »spontanen Begreifens« musikalischer Zusammenhänge beim ersten, unvorbereiteten Hören  – analog zum spontanen Erfassen einer Sprache  – zu relativieren. Und zweifellos bedarf es einer verstärkten Einbeziehung von Lerntheorien in den Wahrnehmungsdiskurs und zwar sowohl des Wahrnehmung »spontanen« Lernens während des Hörens, etwa im Sinne des (während der 1960er Jahre viel diskutierten) »discovery learning« (Marsden 1989), als auch eines Lernens im Sinne der Erweiterung von Wissensschemata. Andererseits erscheint die Vorstellung, etwa serielle Musik, womöglich unter Anleitung, erst mehrmals geduldig hören zu müssen, um sie schlussendlich »verstehen« zu können, wenig plausibel. Und vermutlich gänzlich kontraproduktiv wäre es, in missverstandener Fleißarbeit die Patterns oder Fragmente einer Komposition von Morton Feldman und Luigi Nono so zu memorieren, dass man durch ihre Abfolge beim wiederholten Hören nicht mehr verwirrt oder »desorientiert« wird. Letztlich ist das Modell des »Wahrnehmungslernens« mit den meisten Poetiken der neuen Musik kaum in Einklang zu bringen. Denn sie zielen auf ein radikal befreites und damit (möglichst) voraussetzungsloses Wahrnehmen, das selbstreflexiv die eigenen Bedingungen hinterfragt oder sogar aufgibt – und wenden sich damit gegen jegliche Art der perzeptiven Vorurteilshaftigkeit oder Konditionierung. In vergleichbarem Sinne wird der Vorstellung eines »Wahrnehmungslernens« auch von Seiten der Musikpädagogik widersprochen. Für Wolfgang Lessing ist in Bezug auf das Hören posttonaler Musik einzig die »Kompetenz [der Hörer], ihrem eigenen, sie immer wieder ins Ungewisse führenden Hören zu vertrauen«, also ein »Vermögen der Hinwendung«, eine Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen, die Voraussetzung für einen wie immer »adäquaten« Zugang zu komplexer posttonaler Musik, wobei solche Bereitschaft mehr einer in verschiedensten Bereichen »geübten« Lebenshaltung entspringt als einer spezifisch musikalischen Kompetenz (Lessing 2012, 27). Ä Musiktheorie und Ä Analyse können zu einem solchen Hören gewiss dennoch weiterhin vieles beitragen, allerdings nicht, wie es bislang die Regel war, in Form präskriptiver Modelle oder »Höranleitungen«. Vielmehr wären über wahrnehmungssensitive Formen der Analyse unterschiedliche Wege aufzuzeigen, die ein »performatives« Hören komplexer Musik nehmen könnte (Kramer 1995; Utz 2014). 4. Performative Wahrnehmung, Verstehen, Nicht-Verstehen Gewiss muss betont werden, dass auch die musikanalytische Integration musikpsychologischer Ansätze musikalische Wahrnehmung nicht in ihrer ganzen Komplexität zu fassen vermag. Denn Erklärungsmodelle wie die Bregmans oder Delièges verbleiben auf einem vermeintlich »neutralen« Niveau auditiver Klangbeziehungen, das eben jene »auratischen« oder »metaphorischen« Komponenten und Assoziationen weitgehend ausklammert, die von vielen Komponisten und Hörern in den Vordergrund 606 der Musikerfahrung gerückt werden. Dazu kommt, dass eine systematische Anwendung des von Deliège akzentuierten Segmentierungsprinzips in Aporien führt. So zeigt Anna Rita Addessis und Roberto Caterinas anregender Versuch, den 5. Satz aus Kurtágs Erstem Streichquartett (1959) sowohl von Musikanalytikern als auch von (unvorbereiteten) Hörern segmentieren zu lassen, zwar manche naheliegenden Übereinstimmungen, vor allem jedoch eine Fülle von unterschiedlichen Optionen, sodass die Ergebnisse hier an Tautologie grenzen (Addessi / Caterina 2005; vgl. auch Addessi 2010). Einer solchen Erosion können nur Ansätze entgegenwirken, die verstärkt auch jene kulturell und sozial geprägte »Codierung« musikalischer Strukturen und Archetypen mit einbeziehen, die etwa musikalische Metapherntheorie (Zbikowski 2002; Spitzer 2004; Thorau 2012), Intertextualitätstheorie (Bleek 2010) oder Gestentheorie (Hatten 2004) entwickelt haben. (Diesem Grundgedanken folgt etwa die Analyse von Isabel Mundrys Ich und Du für Klavier und Orchester, 2008, in Utz 2010, 391–397). Neben dieser im weitesten Sinn »kulturellen« Situierung ist zudem die »performative« Qualität von Wahrnehmung im Doppelsinn stärker als bislang zu berücksichtigen: Zum einen werden musikalische Strukturen erst im gestaltenden, aktiven Wahrnehmungsakt  – der freilich keine »Leistung« im engen Sinn zu vollbringen braucht  – zu sinngenerierenden (oder sinnsubversiven) »intentionalen Gegenständen« (Ingarden 1962, 101–136); zum anderen ist es die durch die Interpretationsforschung und performance studies neu herausgestellte Rolle des Interpreten, die wesentlich zu der Art und Weise beiträgt, in der komponierte Strukturen zu einem solchen Sinndiskurs zusammentreten (Cook 1999)  – erst durch die Berücksichtigung der Dimensionen und des Spielraums der Ä Interpretation, ggf. durch systematische Interpretationsvergleiche, kann man sich auch dem Raum potenzieller Wahrnehmungsakte annähern. Universalistische Theorien der Wahrnehmung gehören zu Recht der Vergangenheit an. Aber ein unverbindlicher Wahrnehmungspluralismus ist kaum zufriedenstellender. Lawrence Kramer kritisierte in einer Rezension nicht ganz zu unrecht Nicholas Cooks Eintreten für ein pluralistisches Hören, für die Freiheit des Hörens von kulturellen Paradigmata, als Scheinfreiheit, die leicht in Beliebigkeit und Unverbindlichkeit münden könne (Kramer 1992). Das Modell eines performativen Hörens sollte dennoch so verstanden werden, dass es mit der Fülle an Informationen und Anregungen für ein (Neu)Entdecken von Klang-Zeit-Strukturen durch Analyse und Interpretation korrespondiert, was freilich die Möglichkeit einer sich unendlich verfeinernden Annäherung durch lernende 607 Wahrnehmung in Moschs Sinn auch einschließt. Ob aber eine solche Verfeinerung am Ende »angemessener« und höher zu werten ist als ein spontanes, schutzloses, vielleicht ratloses Hören, ist zweifelhaft. Auch wenn naives oder unwissendes Hören damit nicht als paradiesischer Zustand idealisiert werden soll, so muss man vor dem Hintergrund posthermeneutischer Philosophie (Mersch 2010, 170–186) nachhaltige Zweifel an der Vorstellung anmelden, musikalische Werke  – und ganz besonders jene der neuen Musik – in jeder Hinsicht »verstehen« zu können. Albrecht Wellmers Annahme eines Ineinandergreifens von Sinnkonstitution und Sinnsubversion beim Rezipieren posttonaler Musik (2009, 166–199) und Simone Mahrenholz ’ Kritik des Musikverstehens (2012) haben dies deutlich gemacht. Demgegenüber bietet eine Berücksichtigung der Interaktion von morphosyntaktischer und metaphorischer Wahrnehmung aber durchaus konkrete Möglichkeiten eines hörenden Begreifens von Musik, jenseits aller nativistischen oder biologistischen Theorien, die lange Zeit die Vorstellungen musikalischer Wahrnehmung bestimmt haben. Exemplarische Werke der neuen Musik haben zu dieser Flexibilisierung musikalischer Wahrnehmung Wesentliches beigetragen. Ä Themen-Beiträge 1, 3, 7; Akustik / Psychoakustik; Musiksoziologie; Musiktheorie; Rezeption; Serielle Musik; Spektralmusik; Zeit Addessi, Anna Rita / Caterina, Roberto: Analysis and Perception in Post-tonal Music. An Example from Kurtág ’ s String Quartet op. 1, in: Psychology of Music 33/1 (2005), 94– 116 „ Addessi, Anna Rita: Auditive Analysis of the Quartetto per Archi in due tempi (1955) by Bruno Maderna, in: Musicae Scientiae, Special Issue 14/2, Supplement (2010), 225–249 „ Adorno, Theodor W.: Anweisungen zum Hören neuer Musik, in: Der getreue Korrepetitor. Schriften zur musikalischen Praxis [1963] (Gesammelte Schriften 15, 157–402), Frankfurt a. M. 1976/97, 188–248 „ ders.: Einleitung in die Musiksoziologie [1968] (Gesammelte Schriften 14, 169–433), Frankfurt a. 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Jh. auffallend häufig explizit thematisiert und dabei ganz besonders mit generellen Überlegungen zur musikalischen Ä Wahrnehmung sowie zu Ä Rhythmus, Metrum und Tempo verknüpft. Diese erstaunliche Karriere des Zeitbegriffs im Diskurs über neue Musik hat ihre Begründung einerseits in einem allgemeinen Zuwachs philosophischer Reflexion über Zeitwahrnehmung seit den Jahrzehnten um 1900, daneben aber auch darin, dass etablierte Kategorien der Ä Musiktheorie und Ä Analyse wie Ä Form oder Ä Harmonik für die Beschreibung musikalischer Erfahrung atonaler / posttonaler und Ä serieller Musik oft nicht mehr adäquat erschienen. Darüber hinaus fand der grundlegend innovative Anspruch der neuen Musik (Ä Neue Musik, 2.) in der Dimension der Zeit – so schwierig sie philosophisch und kompositionsästhetisch greifbar sein mag  – ein Feld der Legitimierung der mitunter radikal anti-traditionalistischen ästhetischen Entwürfe: Dies gilt besonders für die neue Musik nach 1945, innerhalb derer man das nachhaltige Interesse für Aspekte der Zeitgestaltung in einigen Fällen auch mit der Erfahrung außergewöhnlicher zeithistorischer Umstände nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Zusammenhang bringen kann. Die Orientierung am Zeitbegriff hängt dabei eng mit dem in der neuen Musik anfangs kaum angezweifelten Modell einer autonomen Musikerfahrung zusammen, mit der in der Musikästhetik des 19. Jh.s ausgeprägten Vorstellung eines metaphorischen Beziehungsgeflechts zwischen Klängen »in der Zeit«, das abgekoppelt von realzeitlichen oder alltagsbedingten Einschränkungen beim Hören nachvollzogen werden könne. Dies wird auch dadurch deutlich, dass jene Impulse der neuen Musik, die einen nachhaltigen Bruch mit dieser Vorstellung provo- zieren wollten, etwa durch das Aufbrechen kontemplativer Hörhaltungen in Ä Performance, Ä Instrumentalem Theater, Happening / Fluxus oder situativer Ä Klangkunst, nur selten Zeiterfahrung an die Spitze ihrer ästhetischen Agenda stellten. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche Überschneidungen zwischen diesen Strömungen: So basiert etwa John Cages um 1950 ausgebildete Vorstellung eines unbegrenzten Raum-Zeit-Kontinuums aus Klängen und Stille (Utz 2002, 80–84; vgl. 1.) sehr wohl noch auf einem metaphorischen Modell des Hörens, das auch im berühmten 4'33" (1952) direkt angesprochen ist, wenn der Hörer die Umgebungsgeräusche nun plötzlich im Sinne von »Musik« wahrzunehmen beginnt und damit eben den Schritt von der Alltags- in eine metaphorische ZeitRaum-Wahrnehmung macht (vgl. 2.2). Umgekehrt öffnen sich zahlreiche in konventioneller Weise komponierte Werke (z. B. Edgard Varèses oder Helmut Lachenmanns) einer nicht-metaphorischen Zeit-Klang-Erfahrung, indem die Materialität der Klangs, seine Hervorbringung und physische Präsenz in besonderem Maß inszeniert werden und damit nachhaltig eine viszerale Rezeption herausfordern, die den Fluss metaphorischer Zeiterfahrung durchbricht (Ä Themen-Beitrag 3; Ä Körper). 1. Zeittheorien Viele der anti-traditionalistischen Impulse, die für die Herausbildung neuer Zeitkonzepte in der Nachkriegsmusik prägend werden, sind bereits vor 1945 angelegt. Zum einen reflektieren Komponisten und Musiktheoretiker seit den 1920er Jahren verstärkt neue Zeitphilosophien, wie sie durch das Aufkommen von Lebensphilosphie (Wilhelm Dilthey, Henri Bergson) und Phänomenologie (Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty), aber auch durch Implikationen der modernen Physik (Relativitätstheorie, Quantenmechanik / Unschärferelation) entstanden und eine geänderte Wirklichkeitserfahrung in der reflexiven Ä Moderne spiegeln. Zum anderen wurde zunehmend bewusst, dass mit dem Übergang zur Atonalität und vor allem mit der Emanzipation des Rhythmus im Zeitraum 1900–1914 auch kompositionspraktische und -poetologische Grundlagenprobleme in Bezug auf das hörende Erfassen von Form und Zeit verbunden waren. Ein darauf reagierender Reflex ist etwa die Wendung zum Aphorismus bei den Komponisten der Wiener Schule und bei anderen Komponisten wie Igor Strawinsky oder Erik Satie in diesem Zeitraum (Obert 2008), ein anderer die konzeptuelle Thematisierung von Zeiterfahrung durch die Entgrenzung gängiger Aufführungsformate etwa in der von John Cage initiierten 18-stündigen Aufführung von Saties Klavierstück Vexations (1893) am 9. 9. 1963 oder in Saties permanenter »Klang-Situation« musique 611 d ’ ameublement (1917/20/23) (Ä Themen-Beitrag 2, 12., Ä Themen-Beitrag 6, 6.). Eine Schlüsselrolle für die Musik nach 1945 spielten insbesondere Entwicklungen der französischsprachigen Zeitphilosophie und ihre musikalische Rezeption seit den 1920er Jahren namentlich durch Igor Strawinsky und Olivier Messiaen. Unter dem anhaltenden Einfluss von Henri Bergsons Zeitphilosophie (Bergson 1888/1989) entstand in Frankreich, u. a. vermittelt durch Pierre Souvtchinskys Kategorien der »ontologischen« und »psychologischen Zeit« (Souvtchinsky 1939), die in Strawinskys Musikalische Poetik übernommen wurden (Strawinsky 1945, 46– 50; vgl. Borio 2000, 317–320; Fontaine 2011, 221–223), eine Reihe musikästhetischer bzw. -philosophischer Entwürfe musikalischer Zeitwahrnehmung, die Olivier Messiaen intensiv rezipierte und im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an die junge Nachkriegsgeneration vermittelte. Ausgehend von der Erkenntnis eines Primats des Rhythmus, die nicht zuletzt durch das Studium von Strawinskys Le sacre du printemps (1911–13) und anderen Strawinsky-Werken der frühen Periode ausgelöst wurde, befasste sich Messiaen ausgehend von Bergson u. a. intensiv mit Schriften André Souris ’ (1948), Gisèle Brelets (1949) und Armand Cuvilliers (1953) (Borio 2000, 314–323; Keym 2002, 232–259; Fontaine 2011; Vogel 2013; Thiessen 2015). Die von Bergson übernommene Unterscheidung zwischen durée vécue (Erlebnisdauer) und temps structuré (gegliederter Zeit) rückt das Gefühl von erlebter Dauer und deren Verhältnis zur musikalischen Rhythmik ins Zentrum von Messiaens Betrachtungen. Dabei postuliert er anknüpfend an Cuvillier einen Zusammenhang zwischen musikalischer Dichte und der Dauerempfindung: (1) je höher die Ereignisdichte eines Zeitabschnitts, desto kürzer die empfundene Dauer; (2) je höher die Ereignisdichte eines Zeitabschnitts, desto länger die empfundene Dauer im Rückblick (Messiaen 2012, 11, 25). Ergänzt werden diese beiden Grundsätze durch das Postulat eines kompositionstechnisch relevanten Zusammenhangs zwischen Einsatz (attaque) und Dauer (durée): »Bei gleicher Dauer erscheint ein kurzer, von einer Pause gefolgter Ton länger als ein ausgehaltener Ton« (ebd., 25). Demnach würden (laut Messiaen) zwei jeweils von einer Achtelpause gefolgte Achtelimpulse als »länger« empfunden als zwei ohne Pause aufeinander folgende Viertelimpulse. Damit wird von Messiaen impliziert – durchaus nicht im Sinn Bergsons – dass »in der Musik die Erlebniszeit eine sehr enge Beziehung zur meßbaren und strukturierten Zeit hat, welche wiederum von der Materialbeherrschung im kompositorischen Prozeß kaum zu trennen ist« (Borio 2000, 323). Zeit wird damit zu einer kompositionstechnisch, etwa in Form von »Zeitkomplexen«, »Zeitschichten« oder »Zeitge- Zeit räuschen«, verfügbaren Größe (La Motte-Haber 1997; Borio 2000, 326). Messiaens Theorie-Figuren werden in die Aufsätze von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen übernommen, die Messiaens Analysekurse besuchten (Boivin 1995; Delaere 1998). Stockhausen übernimmt in seiner WebernAnalyse zunächst Messiaens Begriff des »Einsatzabstands« (1953/63, 31), definiert ihn dann im Aufsatz Struktur und Erlebniszeit neu als »Abstand zwischen zwei Anfängen« (1955b / 63, 86) in seinem Verhältnis zur »Zeitdauer« (»Abstand zwischen Beginn und Ende eines Vorgangs«, ebd.) und stellt darauf dann analog zu Messiaen einen Zusammenhang von Ereignisdichte und Erlebniszeit her, formuliert diesen aber unter dem Einfluss der Informationsästhetik technizistischer: »je größer die zeitliche Dichte unerwarteter Veränderungen – der Informationsgehalt – ist, […] um so kürzer vergeht uns die Zeit; je geringer die effektive Veränderungsdichte ist […], […] um so langsamer vergeht die Zeit« (ebd., 87). Qualitative Zeiterfahrung wird so zum Maßstab für den Komponisten, der auf der »schmalen Klippe zwischen einem Zuviel an […] ›Wiederholungen‹ oder aber einem Zuviel an ›Kontrasten‹ […] die Struktur von der Erlebniszeit her formen« soll (ebd., 98). Boulez ’ fünf Jahre später getroffene Unterscheidung zwischen einer auf chronometrischer Unterteilung beruhenden »pulsierenden« bzw. »(ein)gekerbten« und einer sich durch nur relative, nicht absolute Dauern in einem »Zeitfeld« vollziehenden »amorphen« bzw. »glatten« Zeit (1960/63, 76 f.) ist ebenfalls auf (zum Teil »durch die Brille« Souvtchinskys gelesene; vgl. Campbell 2010, 14–17) Grundbegriffe Bergsons rückführbar, reflektiert im engen Ineinanderdenken von Zeit- und Raumbegriff (ebd., 75– 78) aber auch Einsteins Relativitätstheorie, die  – u. a. als Gegenpol zu Bergson – ebenfalls früh in Künstlerkreisen rezipiert worden war (Fontaine 2011). Dabei weist Boulez ’ Präzisierung, nur die »amorphe Zeit« erlaube die Unterscheidung von Dichtegraden, während nur die »pulsierende Zeit« Geschwindigkeit, Beschleunigung und Verlangsamung ermögliche, darauf hin, dass Boulez die beiden Zeittypen als ineinandergreifende Aspekte kompositorisch gestalteter Zeiterfahrung versteht (Decroupet 1997, 386–390). Helmut Lachenmann schließlich knüpft mit dem Begriff der »Eigenzeit« – der bereits zuvor von Stockhausen eingeführt wurde (1957/63, 134 f.)  – an diese Rezeption eines qualitativen Zeitbegriffs an; »Eigenzeit« ist die »Zeit, welche erforderlich ist, um die Eigenschaft eines […] Klangs zu übermitteln« (1966/93/96, 8). Während in prozesshaften Klangtypen die Eigenzeit der Zeit des realen Erklingens entspricht, kann sie bei zuständlichen Klangtypen deutlich kürzer sein, was hier, im Kontext der Klangkomposition der 1960er Jahre, mit einer nachhaltigen Kri- Zeit tik an den so erzeugten »statische[n] oder statistische[n] Klangerfahrungen« verbunden ist, denen das reiche »innere Zeitgefüge« der Prozessklänge als positives Leitbild gegenübersteht (ebd., 17), wobei die zuständlichen Klänge als untergeordnete Funktionen des Strukturklangs an dieser Ausgestaltung von Zeit mitwirken (ebd., 20). Es wird so eine vielen Zeitkonzeptionen der neuen Musik zugrunde liegende Dialektik erkennbar, die Iannis Xenakis, vor allem in der Analyse seines Nomos alpha für Violoncello solo (1966), als »in-time« (en-temps) und »outside-time« (hors-temps) charakterisiert. Dabei verteidigt er die kompositorische Erkundung der Kategorie »outside-time« und sieht sie als Errungenschaft der Moderne, wobei er sich explizit auf Schönberg, Debussy und Messiaen beruft: »Questions of choice in the category outside-time are disregarded by musicians as though they were unable to hear, and especially unable to think. […] In depth, however, the outside-time structures do exist and it is the privilege of man not only to sustain them, but to construct them and to go beyond them« (1963/92, 208 f.). Auch unter Bezug auf die Erkenntnistheorie Jean Piagets (Xenakis 1988/94), bei der die Zeit als aus dem Raum abgeleitet erscheint, wird von Xenakis ebenso eine architektonische, verräumlichte Anschauung von Zeit als Grundlage kompositorischer Zeitorganisation herausgehoben wie dies in Bernd Alois Zimmermanns viel zitierten Vorstellungen einer »Kugelgestalt der Zeit«, einer »pluralistischen Kompositionstechnik« und eines »gegenseitige[n] Durchdringen[s] vieler Zeitschichten« (Zimmermann 1968/74, 35) der Fall ist, in denen historische Zeit und Zeiterfahrung beim Musikhören ineinander gedacht werden (Utz 2015, 28–32). Komplementär dazu verhält sich Giacinto Scelsis Vorstellung des »kugelförmigen Klangs« (Scelsi 1953? / 2013, 596), der zu einer vom linearen Zeitverlauf befreiten energetischen Klang-RaumErfahrung führen soll. Tatsächlich kann eine »Überwindung« von Zeit, im Sinne einer Überschreitung des alltäglichen linearen Zeitbewusstseins als ein gemeinsames Ziel gelten, auf das ein Großteil der poetologischen Konzepte in der neuen Musik zielt (Saxer 2005): Für Stockhausen ist so ein »Vergessen« der Zeit identisch mit dem »stärksten Erleben« der Zeit (1955b / 63, 88), für Zimmermann die »Überwindung der Zeit« das »Glück des Komponierens« (Stürzbecher 1971/73, 80). Äußerst charakteristisch ist dabei Zimmermanns Formulierung, eine »Überwindung der Zeit« sei nur durch »höchste Organisation der Zeit« zu erlangen (1957/74, 12). Bei Messiaen, Scelsi, Zimmermann und Stockhausen überschneiden sich – wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise – theologische bzw. spirituelle und (zeit-)geschichtliche Dimensionen des Zeitbegriffs in komplexer Weise mit musikstrukturellen (vgl. 2.2). 612 Im Gegensatz zu den europäischen Ansätzen versteht John Cage Zeit nicht als gestaltbare Größe, durch die gemessene und erlebte Zeit in Kontakt gebracht werden könnten, sondern vielmehr als unbegrenzten ZeitRaum (»time-space«), in dem für sich bestehende Klänge (»sounds […] centered within themselves«) einem »infinite play of interpenetration« unterworfen sind (1952/78, 59), im Sinne des aus dem Huayan-Buddhismus übernommenen Prinzips der »gegenseitigen Durchdringung und Nicht-Behinderung« (Utz 2002, 78–84). Durch Unbestimmtheit wird ein zeitlich nicht begrenzter Prozess ausgelöst (vgl. 2.3), dessen Dauer durch die lebensweltliche Situativität einer Aufführung und nicht durch interne, strukturelle Merkmale bestimmt ist (Cage 1958/78, 38 f.). Die pragmatische Ausrichtung an »time-lengths« im Sinne messbarer Dauern ist bestimmend für Cages gesamtes kompositorisches Schaffen. Sie beschränkt sich gezielt darauf, einen für sich genommen bedeutungslosen Rahmen für die individuelle Erfahrung von Zeit bereit zu stellen. In derselben Denktradition, die mit der »Radikalisierung des Subjektivitätsprinzips« (Rathert 2000, 300) im amerikanischen Pragmatismus und dem Erfahrungsbegriff John Deweys in Zusammenhang steht (Jürging 2002, 139–160), steht Morton Feldman, der seine Musik darauf ausrichtet, die »Zeit sich selbst zu überlassen« (1976/85, 230) – wobei er deutlich von Cage unterscheidbare kompositorische Konsequenzen zieht (2.4). Grundsätzlich kann kompositorische Zeitorganisation und -erfahrung wohl stets als eine Interaktion linearer und nicht-linearer Zeit aufgefasst werden (Kramer 1988, 20–65). Lineare Zeit repräsentiert das in der Musiktheorie seit Leonard B. Meyer bis in die Gegenwart systematisch behandelte Phänomen der »Implikation« (Meyer 1956, 6–32; vgl. Utz 2013b): Gegenwärtige Klangereignisse erscheinen als Konsequenz früherer Ereignisse und »implizieren« zukünftige – selbst wenn dies vom Komponisten nicht intendiert sein mag; so entsteht ein zeitliches Kontinuum, das fortgesetzt Vergangenes mit Zukünftigem verbindet. Nichtlineare Zeit zeichnet sich dagegen durch eine Abwesenheit eines solchen prozessualen Fließens aus und wird eher als Konstellation von Elementen, mithin verstärkt verräumlicht, begriffen. Es ist evident, dass diese Kategorien im konkreten Wahrnehmungsakt sich vielfältig überschneiden und vor allem niemals vollständig durch eine kompositorische »Setzung« determiniert werden können. Man muss also stets von einem unterschiedlich gewichteten Ineinandergreifen beider Prinzipien ausgehen. Analoges gilt für das Verhältnis von Zeit und ihrer Verräumlichung: Alle Zeiterfahrung schließt räumliche Vorstellungen ein (Scruton 1997, 75), die durch eine per- 613 manente »Übergangssynthesis« (Merleau-Ponty 1945/66, 477) von Echtzeitwahrnehmung, Erinnerung und Erwartung aktiviert werden; um sich einen Rhythmus, eine Klangtextur oder eine melodische Linie als Ganzes vorstellen zu können, als morphologisch verfasste Gestalt, bedarf es einer quasi-räumlichen »Verbreiterung« des Jetztmoments – worauf bereits Phänomenologie und Gestalttheorie prominent hingewiesen haben, auch wenn Bergson die Vorstellung einer (messbaren) verräumlichten Zeitwahrnehmung als »symbolische Vorstellung« (image symbolique) ablehnte (1888/1989, 70). Sollte man dennoch wohl im strengen Sinn eher von Raum-Zeit- oder ZeitRaum-Wahrnehmung sprechen, so ist darüber hinaus musikalische Zeiterfahrung nie unabhängig von einer realen Räumlichkeit, in der Musik mit körperlicher Hingabe aufgeführt (oder über Lautsprecher oder Kopfhörer wiedergegeben) wird, vermittelt über Reflektionen im Raum erklingt und dabei in ihrer Materialität die metaphorische Raum-Zeitlichkeit »stört« oder ergänzt und sie zu einer Art »verunreinigten Zeit« macht (Grüny 2014, 227). 2. Kompositorische Konsequenzen Exemplarisch können im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige allgemeine kompositorische Konsequenzen von Zeiterfahrung in und durch Musik seit 1945 beschrieben werden, die besonders charakteristisch sind. Gemeinsam ist ihnen das Ziel einer Überwindung einer vor allem mit dem klassischen Stil herausgebildeten dramatisch-zielgerichteten und homöostatisch gerundeten Zeitorganisation (Berger 2007; Fuhrmann 2013), zum Teil mit dem expliziten Ziel eines – von Karol Berger für die »prämoderne« Epoche postulierten – zyklischen Zeitbewusstseins (vgl. 2.2). Diese Opposition gegen finalistische Zeitkonzeptionen manifestiert sich in dezidiert unterschiedlichen kompositorischen Methoden. Diese lassen sich zwar grob in vier große Tendenzen kategorisieren (2.1– 2.4), sind jedoch letztlich nicht scharf voneinander separierbar, sondern weisen vielfältige Überschneidungen auf. 2.1 Dissoziation Bereits in der Philosophie der neuen Musik diagnostizierte Theodor W. Adorno eine »Dissoziation« von Zeit, ein »Absterben subjektiver Zeit« als eine dem Schaffen sowohl Schönbergs als auch Strawinskys gemeinsame Tendenz, ausgedrückt darin, dass es in ihrer Musik »keine echte Wechselwirkung von Ganzem und Teil« mehr gebe (1949/75, 71). Zweifellos war mit der Aufgabe der Tonalität auch der Bruch mit einer Form tonhöhen-orientierter Prozessualität verbunden, wie sie insbesondere Heinrich Schenkers organizistische Theorie der Tonalität in den Vordergrund gestellt hatte. Nichtsdestotrotz ist Adornos Zeit Diagnose nur bedingt zutreffend, hielten doch sowohl Schönberg als auch Strawinsky in unterschiedlicher Weise an einer Komposition von rhythmisch-motivisch bestimmten Gestalten in der Zeit fest, durch deren Abfolge syntaktische Beziehungen entstehen. Die vor allem mit der Ä seriellen Musik assoziierte strukturalistische Organisation von Zeitverhältnissen mittels einer Parametrisierung von Rhythmus, Metrum und Tempo versuchte genau diese Form der Gestalthaftigkeit zu durchbrechen und damit u. a. die »nervtötenden […] Tonsatz-Klischees« und das Festhalten an einer Hierarchie von Ä Melodie und Begleitung (Boulez 1952/75, 293) bei Schönberg zu überwinden. Die daraus resultierende Tendenz zur Atomisierung bzw. Isolierung musikalischer Sinneinheiten ist durch ein Denken in rhythmischen »Zellen« vorgebildet, wie es Boulez, von Messiaens Strawinsky-Analyse und eigenen im Text Propositions (1948/72) diskutierten kompositorischen Entwürfen ausgehend, in seiner Analyse von Strawinskys Danse sacrale zuspitzt (1953/75; vgl. Borio 2000, 313–316; Strinz 2013). Plastisch ist die Konsequenz des Zellenprinzips aber bereits in Boulez ’ Zweiter Klaviersonate (1946–48) nachzuvollziehen, die im vierten Satz gegen Ende zu einer »Pulverisierung« der Struktur geführt wird (»pulvériser le son«; vgl. Bösche 1999). Die Parametrisierung der musikalischen Struktur führt in der Folge der gegen jegliches Prozess- oder Entwicklungsdenken gerichteten »pointillistischen« seriellen Frühphase dann zu »Zeitgestalten«, die ein neues Hörmodell einfordern: Der Hörer soll sich »in der Musik aufhalten« ohne Erinnerung oder Erwartung (Stockhausen 1952/63, 21). Auch die damit einhergehende Tendenz zu einer »statistischen« Verteilung der Parameter (Stockhausen 1954/63) in »richtungslosen Zeitfeldern« (Mahrenholz 1998, 2242), die zu einer verstärkten Berücksichtigung makroformaler Organisationseinheiten in Stockhausens »Gruppenkomposition« oder Boulez ’ »Formanten« führte (Decroupet 1997, 312–326), ändert an diesem Ideal der Zeiterfahrung grundsätzlich wenig. Stockhausen empfiehlt nun dem Hörer die mit der Methode der Gruppenkomposition komponierten Stücke »auf das Ganze hin« zu hören und zwar so, dass »die Einzelheiten so gleich stark auseinandergehalten werden, daß keine Verbindungen auftauchen, die wichtiger als andere werden […]. Möglichst alles Komponierte soll gleich stark am Formprozeß beteiligt sein« (1955a / 63, 65). Dabei wird in der Folge durch die von Stockhausen eingeführte »temperierte Temposkala« (1957/63), die das Problem proportionaler Dauern von der Ebene der Rhythmik auf die des Tempos überträgt, ein entscheidender Schritt hin zu der Vorstellung einer Überlagerung verschiedener »Zeitschichten« gemacht, wie sie Stockhausen in den Gruppen für drei Zeit Orchester (1955–57) realisierte. Exemplarisch wird hierbei sichtbar, wie sehr die konzeptionelle Räumlichkeit der Zeitschichtung, die in eine reale Aufführungsräumlichkeit der drei im Raum verteilten Orchestergruppen übergreift, die entscheidende Voraussetzung dafür ist, die Zeitschichten als simultan präsente, aber unterscheidbare Bestandteile des Gesamtklangs erfassen zu können (Ä Themen-Beitrag 6, 4.). 2.2 Zyklizität, Verräumlichung, Simultaneität Wenn das dissoziative Zeitmodell auf eine stärker intensive Zeiterfahrung im Moment setzt und damit als Vorläufer einer Präsenzästhetik (vgl. 2.4) aufgefasst werden kann, so korrespondiert es zugleich mit einem Modell extensiver Zeiterfahrung, das Zeit, oft im theologischen oder spirituellen Sinn, als zyklische oder unbegrenzte erfahrbar machen will. Beiden gemeinsam ist die Idiosynkrasie gegen jegliches diskursiv inszeniertes Entwicklungsdenken. Das zyklische Modell als Symbol der Unendlichkeit stand dabei von jeher für eine göttliche Zeitdimension wie es in räumlich konzipierten Zeitstrukturen von Perotin bis Bruckner immer wieder emphatisch inszeniert worden ist (Rathert 2000, 290). In diesem Sinn wurde das extensive Modell in neuer Musik in prominentester Weise von Messiaen eingesetzt. Geradezu als Urform musikalischer Zeitdiskurse in neuer Musik steht sein Quatuor pour la fin du temps (1941) für eine göttliche Präsenz, die höchst rational musikalisch erzeugt werden kann, wie es Messiaen in seiner Einführung vor der Uraufführung im Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A in Görlitz-Moys ausführte: »Die Modi, die melodisch und harmonisch eine Art Allgegenwart erzeugen, bringen den Hörer der Ewigkeit näher, der Ewigkeit im Raum. Die speziellen Rhythmen, unabhängig vom Metrum, tragen wirkungsvoll dazu bei die Zeitlichkeit zu bannen« (zit. nach Rischin 2003, 64). Tatsächlich ging es Messiaen dabei nicht darum, dass etwa die symmetrischen Rhythmen hörend als solche identifiziert werden, vielmehr um die Erzeugung einer »gewisse[n] Einheit der Bewegung (worin sich Anfang und Ende, weil identisch, miteinander vermischen) in der Nicht-Umkehrbarkeit« (1944/66, 61). Auch die zahlreichen Formen symmetrischer Tonordnungen in der musikalischen Moderne, wie sie etwa durch Grund- und Krebsreihe bzw. Grund- und Umkehrungsreihe in der Ä Zwölftontechnik repräsentiert sind, stehen für unbegrenzte (Zeit-)Räume, wie es Schönbergs »Gesetz von der Einheit des musikalischen Raums« definierte: »In diesem Raum […] gibt es kein absolutes Unten, kein Rechts oder Links, Vor- oder Rückwärts« (1935/92, 115). Schönbergs Raumbegriff übte nicht unwesentlichen Einfluss auf die Nachkriegsavantgarde aus (Hansen 1996). Die besonders für Webern charakteristi- 614 schen Koppelungen von Grund- und Krebsreihe spielen eine zentrale Rolle für Zimmermanns Webern-Rezeption und bilden die Grundlage seines in den mittleren 1960er Jahren entwickelten Konzepts der »Zeitdehnung«. Im Zeitdehnungsprinzip kommt ganz besonders ein – teils religiös geprägter – ritueller Charakter zum Vorschein und versteht sich explizit als Gegenmodell zum seriellen Zeitbegriff. Zimmermann überlagert dabei ostinate Ebenen, die zumeist in »beide Richtungen zugleich« ablaufen, d. h. eine »Zeit-Grundgestalt« und ein »Zeit-Krebs« werden übereinandergeschichtet, womit Direktionalität unterlaufen werden soll. Zimmermann zielt, besonders deutlich etwa in der elektronischen Komposition Tratto (1966), so auf die Erfahrung von Zeit als Situation, in der das Gefühl für ein (lineares) Vergehen von Zeit suspendiert wird (Utz 2015). Der Zusammenhang einer solchen Konzeption mit »Zeit« im Sinne von Geschichtlichkeit, mit der Gegenwärtigkeit von Vergangenem auch in einem konkret politischen Sinn wird dann zum Hauptthema in Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) und in vergleichbarer Weise in Luigi Nonos »Hörtragödie« Prometeo (1981–85), in der Nono und Massimo Cacciari die vom Sehsinn beherrschte Vorstellung eines zeitlichen Kontinuums durch eine »insulare«, diskontinuierliche, immersive auditive Wahrnehmung ablösen wollen (Jeschke 1997, 97). Auch hier wird lineare Zeitlichkeit in eine räumlich erfahrene »Situation« aufgelöst, wie in verwandter Weise auch etwa in Mark Andres Prinzip der »gefrorenen Zeit« (Jeschke 2015). Die Ausdehnung des Zeitbegriffs ins Geschichtliche und Transzendente geht mit dem Gedanken einer sinnlichen Raumerfahrung einher. Stärker auf einen Bezug zur Alltagskultur zielte der Begriff der »Simultaneität« in den historischen Avantgarden des Futurismus, Kubismus und Surrealismus, der vor dem Hintergrund des industriellen Wandels und der Entdeckungen der modernen Physik die Erfahrung des Simultanen in die Kunst übernahm (Hubmann / Huss 2013). Auf musikalischem Gebiet kann ein Reflex davon in den multi-dimensionalen Klangzuständen in Charles Ives ’ Hauptwerken erkannt werden, in der nicht nur Ä Collagen zahlreicher Zitatebenen in unterschiedlichen Tempi dem Prinzip simultaner Zeitschichtung folgen, sondern in denen darüber hinaus vor dem Hintergrund der universalistisch gefärbten Religiosität des Transzendentalismus häufig eine »zeitlose«, meist diatonisch »reine« Schicht von sprachartig artikulierten, »subjekthaften« Einwürfen oder Strukturen überlagert wird, um zum Schluss wieder als beharrendes, transzendentales Moment zurückzubleiben. Vergleichbare Strukturen entwarf Elliott Carter, nicht zuletzt unter dem Einfluss Strawinskys, im Ersten Streichquartett (1951), während im Zweiten Streichquar- 615 tett (1959) der Heideggersche Gedanke einer sich vor allem im Sprechakt offenbarenden existentiellen Zeitlichkeit durch eine hochgradige »sprachnahe« Individualisierung der vier Parts im Sinn von »simultaneously interacting heterogeneous character-continuities« (Carter 1965/77, 247) realisiert wird, die auch eine echte Polytempik einschließt (Bernard 1988, 183–187; Revers 2002). Bereits seit 1953 wiederum hatte Cage, ausgehend von dem bereits seit den 1940er Jahren mit Merce Cunningham entwickelten Prinzip einer Unabhängigkeit von Tanz und Musik bei konzeptioneller Interdependenz (Schröder 2011, Ä Tanz / Tanztheater) und dem von Cage geleiteten Happening Untitled Event (Black Mountain College, 1952; Ä Performance), musikalische Werke für eine freie simultane Aufführung konzipiert, erstmals in den sog. »time-length pieces« (von Cage auch in Anspielung auf die daoistische Philosophie als »the ten thousand things« bezeichnet), einer Reihe von fünf Solowerken, davon zwei für präpariertes Klavier und je eines für Schlagzeug, ein Streichinstrument und einen Sprecher (45’ for a speaker, 1954), die in jeder beliebigen Kombination und zeitlichen Ordnung gleichzeitig gespielt werden können (Pritchett 1993, 95–102). Kulminierend im anarchischen »music circus« wurde in der Folge das Prinzip der Simultaneität im Sinne einer mit der Lebenswelt interagierenden Synchronizität prägend für Cages Zeit-Raum-Konzeptionen bis in die 1980er Jahre. 2.3 Prozessualität und Spiralform Der u. a. von Varèse, Cage, Fluxusbewegung und Ä Minimalismus mit unterschiedlichen Konsequenzen in Anspruch genommene Prozessbegriff, wie er in Cages Darmstädter Vortrag Composition as Process (1958/78) programmatisch vertreten wurde, versteht sich in erster Linie als Gegensatz zu »europäischen« formalen Entwicklungsoder Finalitätskonzepten (Herzfeld 2007). Ein Prozess im Sinne Cages ist ohne bestimmten Anfang oder Ende und vor allem ohne Ziel, also anti-teleologisch. In Folge des von William James (1890/1983) eingeführten Konzepts eines »stream of consciousness« hatte das Prozessprinzip fundamentalen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen und europäischen Literatur und Musik (ebd.), nicht zuletzt vermittelt durch die Rezeption der Werke James Joyces u. a. bei Cage und Zimmermann (Ä Neue Musik und Literatur). Es wurde, im Sinne einer Kontinuität zwischen Kunst und Lebenswelt und vermittelt über die Fluxus-Bewegung, vor allem von frühen Vertretern des amerikanischen minimalism aufgegriffen, die besonders durch die langen Spieldauern, etwa in La Monte Youngs frühen »Ein-Ton-Stücken« wie for Brass für Blechbläseroktett (1957) bis hin zu Philip Glass ’ ca. vierstündiger Zeit Music in Twelve Parts (1971–74), bei gleichzeitiger Minimierung von Kontrasten und mittels unmerklicher transformatorischer Techniken auf eine nicht-lineare Zeiterfahrung zielten (Ä Minimalismus / Minimal Music). Dass im Gegensatz dazu der von Steve Reich in den Vordergrund gerückte wahrnehmbare »gradual process«, für den als Beispiel das Beobachten des durch eine Sanduhr rinnenden Sands genannt wird (Reich 1968/2002, 34), durchaus linear-gerichtet konzipiert ist und ein aufmerksames mitverfolgendes Hören voraussetzt, zeigt deutlich die Ambivalenz des Prozessbegriffs auf. Die Abgrenzung von Cages Prozessverständnis (wie auch von den seriellen Systemen) bei Reich ist daher folgerichtig: »The compositional processes and the sounding music [bei Cage] have no audible connection« (ebd., 35). Das Beharren auf »Hörbarkeit«, wie es Reich mit dem Prinzip der »Phasenverschiebung« seit It ’ s Gonna Rain (1965) und Piano Phase (1967) systematisch umsetzte, muss in seiner zwar linearen, aber nicht final konzipierten Zeitlichkeit also von den kontemplativen Zeitkonzepten La Monte Youngs und Cages deutlich unterschieden werden. Stärker mit diesem kontemplativen Prozessmodell konvergiert der in Japan von Fumio Hayasaka begründete und vor allem von Tōru Takemitsu in den Vordergrund gerückte Gedanke eines unbegrenzten, ziellosen »Klangstroms« (oto no kawa) (Takemitsu 1971/95, 79). In verwandter Weise kann eine große Breite anti-kausalistisch markierter musikalischer Zeitbegriffe, die durch asiatische Denktraditionen beeinflusst sind, unter dem kontemplativen Prozessmodell begriffen werden, von Scelsis in »Atemzügen« gestalteten Bewegungen »ins Innere des Klanges«, die dabei durchaus eine geplante formale Dramaturgie aufweisen (Utz 2014a), über die auf eine Entfaltung von Einzelklängen konzentrierten Konzepte bei La Monte Young und Alan Hovhaness oder Isang Yuns »Hauptton«-Prinzip bis hin zu einer Rezeption japanischer Zeitphilosophie bei Helmut Lachenmann, Hans Zender oder Toshio Hosokawa (Ä Themen-Beitrag 9). Ein mit Reichs Kritik an den »atemporalen« verräumlichten Zeitstrukturen serieller Musik vergleichbarer Ansatzpunkt bestimmt Gérard Griseys Konzeption musikalischer Zeit. Ausgehend von einer Bemängelung der »Unkenntnis gegenüber der Wahrnehmung« bei Messiaen und Boulez, die sich in »einer räumliche[n] und statische[n] Anschauung von der Zeit als einer geraden Linie« niederschlage, »in deren Mitte sich implicite ein Hörer befindet, der nicht allein mit einem Gedächtnis, sondern auch mit einem Vorwissen ausgestattet ist, welche es ihm ermöglichen, die Symmetrieachse zu gewahren« (Grisey 1983, 191), skizziert Grisey seit den späten 1970er Jahren ein Programm musikalischer Zeitlichkeit, Zeit in dem die Wiedergewinnung zeitlicher »Vektorialität« im Zentrum steht, wie sie seit Apparitions (1958–59) auch György Ligetis Gedanken zur Form bestimmten (Ligeti 1960/2007; Ä Themen-Beitrag 3, 2.3; Ä Form). Grisey nun forderte, analog zu Reich, ein »Komponieren der […] wahrnehmbaren Zeit, nicht der chronometrischen Zeit« (Grisey 1978/2010, 321) und inszeniert in der Folge Zeitprozesse, deren prozessualer Verlauf wiederholt von Vorgängen der Entropie, des »Unkrauts«, erfasst und so mitunter abrupt unterbrochen wird (Haselböck 2009, 161–181, 235–250). Ziel ist es dabei, Strukturen zu entwickeln, »die nicht an einen einzigen Typus der Wahrnehmung geheftet sind« (Grisey 1983, 195). Plastisch prägt sich dieser dynamische Zeitbegriff Griseys in Vortex temporum für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier (1994–96) aus, wo »das Wachsen einer sich drehend wiederholten Arpeggio-Floskel und ihre Metamorphose in unterschiedlichen Zeitfeldern« als spiralartiger Prozess inszeniert wird (Grisey zit. nach Hervé 1997, 51). Vergleichbare spiralhafte Formmodelle hat parallel dazu Salvatore Sciarrino entwickelt (Utz 2013a, 332–339) und das Modell eines spiralhaften Sogs ist auch sonst in der neueren Musikgeschichte häufig anzutreffen (Saxer 2008). Sciarrino entwickelte seine eng mit einem Spannungsbegriff assoziierte Poetik des Unvoraushörbaren u. a. durch Analysen von Mahler, Webern und Nono (1998, 55 f.), wobei seine Werke zugleich am Topos transzendierender Zeitlichkeit im Sinne von Ives ’ »zeitlosen« Grundschichten partizipieren. Sciarrinos minutiöse architektonisch angelegte Verlaufsskizzen zeigen darüber hinaus, dass sich die »Rückgewinnung« linearer Zeitlichkeit und grundlegend »atemporal«, räumlich konzipierte ZeitForm-Verläufe wie sie sich auch bei Xenakis (Baltensperger 1996) oder Klaus Huber (Zimmermann 2005) finden, nicht widersprechen müssen. Es erweist sich, dass der Begriff »Prozess« insgesamt vermutlich zu generalisierend ist, um die Diversität solcher musikalischer Zeitkonzeptionen angemessen zu erfassen. 2.4 Fragmentierung und Präsenz Im Grunde zielten die meisten der bislang dargestellten anti-finalistischen Zeitkonzeptionen neuer Musik auf ein Präsenzerleben, das Musik von einem »Vorher-Nachher«, vom Zwang zur Kausalität befreit. Im dissoziativen Zeitmodell der seriellen Musik (2.1), das einen nur mehr »statistisch« und daher nicht mehr kausal fassbaren fortgesetzten Wandel von Dichtegraden inszeniert, und im zyklisch-transzendentalen Zeitmodell (2.2), das in der Hingabe an eine »höhere« Dimension von Zeitlichkeit eine Art »permanente Gegenwart« erzeugen will, ist Präsenz aber eher als Resultat denn als intentionale Setzung 616 zu verstehen. Im Gegensatz dazu zielen die hier abschließend skizzierten Ansätze dezidiert auf eine besonders intensivierte Hinwendung der Wahrnehmung zu »gebannten« oder »erfüllten Augenblicken«. Sie greifen damit einerseits einen Topos auf, der bereits um 1800 anlässlich von Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon-Paradigma« kontrovers verhandelt worden war, allerdings vor dem Hintergrund einer »Domestizierung des Moments« durch ein verräumlichtes Formhören in Musikästhetik und Musiktheorie des 19. Jh.s als anti-traditionalistischer Gegenimpuls verstehbar wird (Utz 2014b, 115–121). Zudem bestehen enge Konvergenzen mit der Konzentration auf Präsenzerleben, u. a. im Sinne eines »Anti-Gedächtnis«, in der poststrukturalistischen französischen Philosophie und in von dieser beeinflussten Denkmodellen in ästhetischen Schriften seit den 1990er Jahren. Kompositionstechnisch wird die Hinwendung zum Augenblick zumeist durch Techniken der »Gedächtnissabotage« provoziert (Snyder 2000, 234–238): entweder durch eine Vermeidung von deutlichen Kontrasten und markanten Einschnitten im Formverlauf, sodass post factum keine exakte Folge der Ereignisse rekonstruiert werden kann (low information strategy), oder durch eine starke Dehnung des Zeitverlaufs und das Einfügen langer Pausen, sodass die gliedernde Arbeit des Kurzzeitgedächtnisses unterlaufen wird (memory-length strategy). Durch beide Techniken wird die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Identität, Ähnlichkeit und Kontrast von Ereignissen in der Erinnerung stark abgeschwächt und tendenziell eine Konzentration der Wahrnehmung auf die Präsenz des jeweils klingenden Moments nahegelegt. Dass bereits die serielle Musik eine solche Form von Gedächtnissabotage provoziert hatte, wurde in 2.1 dargestellt. Stockhausen entwickelte auf Grundlage der in der Folge beobachteten »Hörprobleme« des Publikums die Idee der »Momentform«, die freilich die (a)temporale Aporie der seriellen Formen nicht aufgab, sondern gewissermaßen konzeptionell verabsolutierte und damit am Modell autoritativ gesetzter »Zeitquanten« festhielt (Stockhausen 1960/63; vgl. Utz 2014b, 119 f.). Stockhausen forderte Formen, »in denen ein Augenblick nicht Stückchen einer Zeitlinie […] sein muß, sondern in denen die Konzentration auf das Jetzt – auf jedes Jetzt – gleichsam vertikale Schnitte macht, die eine horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen bis in die Zeitlosigkeit« (Stockhausen 1960/63, 199). Damit ist für Stockhausen auch eine radikale Individualisierung des Hörvorgangs verbunden (ebd., 205), durchaus verwandt den Prinzipien Cages. Eine Bedeutung über den Kontext (post-)serieller Theoriebildung hinaus gewinnt der Gedanke Stockhausens in der musiktheoretischen Ausformulierung als »moment 617 time« durch Jonathan D. Kramer (1988, 201–220) sowie in der musikphilosophischen als »concatenationism« durch Jerrold Levinson, der in einem hörenden Verfolgen musikalischer Klänge von Moment zu Moment die Grundlage von musikalischem Verstehen und ästhetischem Urteil schlechthin sah (Levinson 1997) und darin im Wesentlichen durch musikpsychologische Untersuchungen zur Formwahrnehmung bestätigt wurde (Tillmann u. a. 1998). Inwiefern Stockhausens kompositorische Realisationen dieses Konzepts in Werken wie Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958–60) oder Momente für Sopran, 4 Chorgruppen, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 elektrische Orgeln und 3 Schlagzeuge (1962– 64/69) mehr sind als eine Folge von Klangereignissen, aus denen beim Hören am Ende doch wieder Kontinuitäten und Diskontinuitäten gebildet werden, mag offen bleiben. Deutlich ist, dass spätere Konzepte den Gedanken eines »Niveau[s] fortgesetzter Hauptsachen« (Stockhausen 1960/63, 199) konsequenter und nachhaltiger eingelöst haben. Mathias Spahlingers Konzeption in 128 erfüllte augenblicke  – systematisch geordnet, variabel zu spielen für Stimme, Klarinette und Violoncello (1976) etwa erlaubt es, die in der notierten Abfolge aus einem strengen parametrischen System resultierenden Fragmente in beliebiger Auswahl und Reihenfolge zu spielen, und stellt so »form in einem einzig menschenwürdigen sinn, […] als im resultat werdendes« dar (Spahlinger 1989, 5). Dagegen ist in Luigi Nonos Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979–80) das Fragmentprinzip mit großer formaler Strenge durch eine strukturelle Funktion von Pausen und Fermaten umgesetzt (Elzenheimer 2005) und zugleich an ein symmetrisch-räumlich angelegtes Konzept architektonischer makroformaler Planung gebunden (Drees 1998, 195–207), sodass »Architektur« und »Fragment« ineinander gedacht sind. Gleichsam vom Jetztmoment »weg« lenken aber vor allem die vielfältigen inter- und paratextuellen historischen Bezüge des Werkes (Renaissance, Hölderlin, Beethoven, Verdi, etc.). Tatsächlich hatte Nono bereits früh in seiner Darmstädter Polemik gegen Cage ein Bewusstsein zeitlicher Geschichtlichkeit gegen die »Verabsolutierung des jetzigen Augenblicks« geltend gemacht, die ihm als »Sehnsucht nach einem Zustand naiver und unverlierbarer Unschuld« erschienen war (1959/75, 36 f.). Ähnlich ins Geschichtliche geweitet sind die Werke György Kurtágs, in denen Miniaturformen (in der Tradition der expressionistischen Konzentrate der Wiener Schule) die Grundintention aufweisen, einzig »das konkrete musikalischen Ereignis für sich wichtig« zu nehmen (Kurtág zit. nach Brüllmann 2011, 47). Ist hier die Fragilität und tastende Unsicherheit, die Kurtágs kurze Stücke Zeit als Dokument ihres Entstehungsprozesses in sich tragen, ein wesentliches Agens ihrer Wirkung, so relativiert sich dieser Fragmentcharakter zum einen durch die Ausweitung der Miniaturform hin zu abendfüllenden Zyklen wie in den Kafka-Fragmenten für Sopran und Violine op. 24 (1985–87), andererseits durch den Beziehungsreichtum, der durch eine breit entfaltete intertextuelle Referenzialität von der Präsenzerfahrung hin zu einem beziehenden Hören weist (Bleek 2010). Rigoroser im Sinne eines »Anti-Gedächtnis«  – und zueinander komplementär  – sind daher die Strategien Morton Feldmans und Brian Ferneyhoughs. Feldmans »Musterkompositionen« seit der Oper Neither (1976–77) thematisieren Erinnerung und Vergessen besonders nachhaltig durch eine Inszenierung beider Strategien von »Gedächtnissabotage«. Der Wunsch, durch einen fortgesetzten Wandel von Akkorden diese »im Gedächtnis des Hörers auszulöschen« (1976/85, 230) bedingte für Feldman die Konzeption der Partitur als Leinwand, als Oberfläche, die vermeidet, dass die Musik Zeit »konstruiert« und sich damit als »rhythmischer Verlauf« zugleich der Zeit »unterwirft« (1969/85, 83). Ferneyhough dagegen entwickelte seit den 1970er Jahren mit Strategien der Zersplitterung und Unterbrechung Verfahren, die dazu dienen sollten, durch ein »Verbergen des Zeitpfeils« (Ferneyhough 1990, 15) »die Wahrnehmung musikalisch entwickelter Zeit gezielt auszuschalten« (Lippe 2010). In jüngeren Werken wie dem Sechsten Streichquartett (2010) ist die Unterbrechungsstrategie zur »sausage-slicer technique« geworden (Archbold 2011, 121), der musikalische Verlauf wird in einem Montageverfahren aus mehr als einhundert Zellen zusammengesetzt (Ä Collage / Montage). Auch Helmut Lachenmann hat seit den späten 1990er Jahren, freilich in der gewohnt skeptizistischen Weise, den Präsenz-Topos aufgegriffen. Der Titel von NUN, Musik für Flöte, Posaune, Männerstimmen und Orchester (1997–99/2002) rekurriert auf den zentralen Moment jenes Textes Leonardo da Vincis aus dem Codex Arundel, der bereits …  zwei Gefühle  …, Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble (1991–92) zugrunde lag. Durch die Beschwörung dieses »zwischen Furcht und Verlangen« hin- und hergerissenen Moments – und nicht zuletzt beeinflusst von der Philosophie der Kyōto-Schule (Worte Kitarō Nishidas werden zum Schluss des Werkes zitiert, vgl. Hiekel 2005, 77–79) – gewinnt die von hoher Dichte gekennzeichnete Musik zweifellos eine spezifische Qualität von Gegenwärtigkeit (Utz 2015, 49 f.). 3. Interpretation Wenn, wie mehrfach angedeutet, die Vorstellung einer schlichten Entsprechung von Zeitorganisation durch Zeit kompositorische Setzungen und Zeiterfahrung durch Hörer problematisch ist, so nicht nur, weil sie die »performative« Eigendynamik von Ä Wahrnehmung verkennt oder unterschätzt, sondern vor allem auch weil sie den beträchtlichen Einfluss ausklammert, den Interpreten auf die Vermittlung von Zeiterfahrung haben. Im Rahmen der Interpretationsforschung bzw. Performance Studies ist diese Frage erst in jüngerer Zeit systematisch aufgegriffen worden (Ä Interpretation). Dabei kann etwa gezeigt werden, dass der architektonisch-verräumlichte »Formalismus« der Musiktheorie, gegen den sich der Großteil der Zeitkonzepte in der neuen Musik wendet, eng an eine »texttreue« Tradition der Aufführungspraxis gebunden ist, wie sie durch Strawinskys Ideal der »éxecution« vertreten (Strawinsky 1945, 139–141) und in prominenter Form durch Nadia Boulangers Lehrtätigkeit am Pariser Conservatoire verbreitet wurde (Cook 2013, 219–223). Dennoch zeigen jüngere Studien deutlich, dass sich keine simple historische Abfolge von (»freien«, rubatolastigen) »rhetorischen« und »texttreuen« Interpretationstraditionen konstruieren läßt, sondern dass diese sich in wechselnden Mischverhältnissen komplementär zueinander verhalten (ebd., 129; Hinrichsen 2011, 36 f.). Wenn Lachenmann davon spricht, seine Pression für einen Cellisten (1969–70) solle wie Schumanns Träumerei interpretiert werden (Orning 2012, 21) oder Giacinto Scelsis rituelle Formen mit großen (nicht notierten) Rubati »inszeniert« werden (Utz 2014a, 168–170), wird deutlich, dass die Festlegung der Interpretation neuer Musik auf eine vermeintlich vorherrschende »texttreue« und autorzentrierte Darstellungsform musikalischer Zeit unzureichend ist und keinesfalls die zentrale Stellung der Interpreten in diesem Bereich zu erfassen vermag. Zur Frage, wie durch Interpretation auch von »konventionell« ausnotierten Partituren – mithin durch Tempo- und Dynamikgestaltung, Klanggebung, Proportionierung, Balance, Koordination, Bewegung etc. – verschiedene Zeiterfahrungen für ein und dasselbe »Werk« transportiert oder provoziert werden können, liegen für die neue Musik noch kaum Studien vor. Das Problemfeld macht jedenfalls deutlich, dass auch hier die quantitativen und qualitativen Aspekte von Zeiterfahrung kaum säuberlich zu trennen sind (Utz i.V.). Ä Themen-Beitrag 3; Form; Rezeption; Wahrnehmung Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik [1949] (Gesammelte Schriften 12), Frankfurt a. M. 1975 „ Archbold, Paul: Performing Complexity. A pedagogical resource tracing the Arditti Quartet ’ s preparations for the première of Brian Ferneyhough[’s] Sixth String Quartet, Kingston University London 2011, http://itunes.apple.com/gb/itunes-u/ardittiquartet/id441504831 (20. 8. 2015) „ Baltensperger, André: Iannis Xenakis und die stochastische Musik. Komposition im SpanLiteratur 618 nungsfeld von Architektur und Mathematik, Bern 1996 „ Berger, Karol: Bach ’ s Cycle, Mozart ’ s Arrow. An Essay on the Origins of Musical Modernity, Berkeley 2007 „ Bergson, Henri: Zeit und Freiheit [1888, dt. 1911], Frankfurt a. 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Voraussetzungen und historischer Wandel Die Entwicklung von Zentren neuer Musik ist implizit auch Gegenstand der allgemeinen Ä Musikhistoriographie sowie von speziellen Studien zur Lokalgeschichte von Städten, Regionen und Ä Institutionen, die sich als bedeutsam für die Musik des 20. und 21. Jh.s erwiesen. Bei allen lokal, regional, strukturell und situativ unterschiedlichen Bedingungen basiert jede Zentrumsbildung auf der Präsenz herausragender Persönlichkeiten, Gruppierungen, Initiativen und Einrichtungen zur Ausbildung, Produktion, Distribution und Ä Rezeption neuer Musik, die sich als derart einflussreich erwiesen, dass sie konzentrierend wirkten und zeitweilig oder langfristig Akteure von auswärts anzogen. Im Zusammenwirken von Komponisten, Interpreten, Dirigenten, Intendanten, Redakteuren, Musikwissenschaftlern und Musikjournalisten an Musikhochschulen, Rundfunkanstalten, Spielstätten, Verlagen, Labels, Vereinen, Tages- und Fachpresse lassen sich vielerorts Synergien beobachten, die Zentrumsbildungen begünstigten. Verbunden ist dieser Vorgang insbesondere auch mit dem Wirken von Ä Kammerensembles und Institutionen sowie der Existenz bzw. dem Neubau von Ä Sälen und Gebäuden. Im Zuge der durch Digitalisierung und Ä Globalisierung veränderten Rahmenbedingungen der musikalischen Produktion, Information, Distribution und Rezeption verlieren geographisch lokalisierte Zentren seit den 2000er Jahren allerdings zunehmend an Bedeutung. An die Stelle der traditionellen Unterscheidung von Zentren und Peripherien tritt in einer zunehmend multipolaren Welt vielmehr ein kaum mehr zu kartographierendes Geflecht an Initiativen und Einrichtungen, häufig mit (auch) abseits der Metropolen temporär oder langfristig wirkungsmächtig werdenden Knotenpunkten. Die Entstehung punktuell verdichteter Szenen der neuen Musik liegt im Selbstverständnis dieser Musik als »neu« begründet. Neue Ansätze grenzen sich von bestehenden Traditionen ab und stoßen in der Anfangsphase 621 zumeist auf Widerstand. Zu ihrer Durchsetzung bedürfen sie der Eigeninitiative der Protagonisten. In Opposition oder Kooperation mit höfischen, städtischen oder staatlichen Musikinstitutionen gründeten daher Akteure der neuen Musik eigene Vereine, Ensembles, Veranstaltungsreihen, Diskussions- und Publikationsforen. 1.1 Wien vor 1945 Die Wechselwirkung von freien Initiativen und großen Musikinstitutionen führte auch in Städten, deren Musikleben ursprünglich stark von der Tradition dominiert wurde, zu komplex ausdifferenzierten Szenen der neuen Musik. Besonders Wien entwickelte sich in den 1910er und 20er Jahren trotz insgesamt konservativen Musiklebens im Zusammenhang modernistischer Aufbrüche in Literatur, Kunst, Theater, Publizistik und Wissenschaft auch zu einem international ausstrahlenden Zentrum neuer Musik (Scheit / Svoboda 2010). Eine Schlüsselrolle spielten dabei die zentrale Komponisten- und Lehrerfigur Arnold Schönberg sowie seine Schüler und der von ihnen gegründete Verein für musikalische Privataufführungen mit maßstabsetzenden Interpreten wie Marie GutheilSchoder, Rudolf Kolisch, Erwin Stein und Eduard Steuermann (Ä Interpretation, Ä Konzert, Ä Vermittlung). Entscheidend war ferner die Publikation und Honorierung neuer Werke durch die 1901 gegründete und seit 1907 von Emil Hertzka geleitete Universal Edition, deren Zeitschrift Musikblätter des Anbruch von 1919 bis 1937 den Komponisten und Musikkritikern zudem ein im gesamten deutschsprachigen Raum einflussreiches Sprachrohr bot (Ä Medien). 1.2 Weitere Zentren vor 1945 Sensationell neu war im Paris der 1910er Jahre – gemessen am akademischen Konservatoriums-, Opern- und Konzertbetrieb – das Zusammenwirken der ballets russes und ihres Impresarios Sergej Diaghilew mit experimentellen Choreographen, Bühnenbildnern und Komponisten wie Igor Strawinsky, Claude Debussy, Maurice Ravel oder Erik Satie. Auch Berlin, Rom, Prag, London, St. Petersburg / Leningrad und Moskau sowie New York und San Francisco wirkten zwischen den Weltkriegen und darüber hinaus als Zentren neuer Musik. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges veranstaltete in diesen und weiteren Metropolen die 1922 in Salzburg gegründete Internationale Gesellschaft für Neue Musik mithilfe vor Ort ansässiger Akteure und bestehender Infrastrukturen ihre jährlichen Musikfeste (Haefeli 1982). Jährlicher Treffpunkt der internationalen Szene der neuen Musik waren ab 1921 auch die Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst und deren Wie- Zentren neuer Musik dergründung 1950 mithilfe des Südwestfunks Baden-Baden als Donaueschinger Musiktage. Privat initiierte lokale Gesellschaften für Neue Musik gab es auch in Köln (seit 1921), Frankfurt, Dresden und Hamburg, die regelmäßig Konzert- und Informationsveranstaltungen organisierten, bis ihnen die Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten 1933 ein Ende bereitete (Ä Nationalsozialismus). Infolge der Exilierung zahlloser Künstler, die vor dem faschistischen und stalinistischen Terror flohen, avancierten in den 1930er und 40er Jahren die USA, die Schweiz sowie in Ä Lateinamerika vor allem Buenos Aires (Heister / Mühlschlegel 2014) zu Zentren neuer Musik. 2. Zentren nach 1945 Nach Diktatur und Weltkrieg traten beim Wiederaufbau des Musiklebens in Europa die Rundfunkanstalten als maßgeblicher Faktor der Produktion, Finanzierung und Verbreitung neuer Musik hinzu. Während es sich bei BBC in London, RTF in Paris, RAI in Mailand und Rom um nationale Sender handelte, die teils auch Studios für Ä Elektronische Musik bzw. musique concrète errichteten, führte das von den Alliierten in der Bundesrepublik Deutschland installierte föderale System des öffentlichrechtlichen Rundfunks zur Gründung mehrerer Anstalten, die jeweils eigene Sende- und Konzertreihen neuer Musik unterhielten. Die neue Musik erhielt dadurch in Westdeutschland ein Vielfaches an Produktionsmitteln. Den Anfang machte unmittelbar nach Kriegsende 1945 die von Karl Amadeus Hartmann mit Unterstützung des Office of Military Government, United States (OMGUS) gegründete und seit 1948 vom Bayerischen Rundfunk in München veranstaltete Konzertreihe musica viva, gefolgt 1951 von den Reihen Das neue Werk des NDR Hamburg und Musik der Zeit des (N)WDR Köln, die schnell internationale Resonanz fanden. Von eigenen Klangkörpern zur Aufführung gebracht und gesendet wurde neue Musik auch vom Süddeutschen, Hessischen und Saarländischen Rundfunk sowie von Radio Bremen, Südwestfunk und Sender Freies Berlin. Auch der ORF in Österreich, der DRS in der Schweiz und Radio DDR (bis 1990) boten der europäischen und teils auch der amerikanischen Nachkriegsavantgarde wichtige Produktions- und Präsentationsforen sowie eine ökonomische Basis. 2.1 Darmstadt Schnell zum internationalen Treffpunkt avancierten die 1946 von Wolfgang Steinecke als Kulturreferent und Leiter des Kulturamts der Stadt Darmstadt gegründeten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik. Anknüpfungspunkte zu der vom Nationalsozialismus systematisch bekämpften Vorkriegsavantgarde  – insbesondere Zentren neuer Musik zur Wiener Schule  – boten hier führende Theoretiker wie Theodor W. Adorno und René Leibowitz, Interpreten wie Rudolf Kolisch, Hermann Scherchen und Eduard Steuermann sowie Komponisten wie Edgard Varèse, Ernst Krenek und Stefan Wolpe. Bald traten hier junge teilnehmende Komponisten wie Pierre Boulez, Mauricio Kagel, György Ligeti, Bruno Maderna, Luigi Nono, Henri Pousseur, Karlheinz Stockhausen u. a. auch als Dozenten auf, größtenteils als Theoretiker der Ä seriellen Musik, sodass bald die Bezeichnung »Darmstädter Schule« aufkam (Borio / Danuser 1997). 2.2 Köln Zeitgleich stieg in den 1950er und 60er Jahren vor allem Köln dank des (N)WDR zu einem internationalen Zentrum neuer Musik auf (Nonnenmann 2013). Neben der Konzertreihe Musik der Zeit und der von Herbert Eimert redaktionell verantworteten Wort-Musik-Sendung »Musikalisches Nachtprogramm«, die den Komponisten ein gut honoriertes Präsentationsforum bot, wirkte als Magnet besonders das 1951 formell beschlossene und 1953 mit Vorträgen und ersten Demonstrationen der Öffentlichkeit vorgestellte Studio für Elektronische Musik mit seinen festen Mitarbeitern Eimert, Stockhausen und Gottfried Michael Koenig. Aus aller Welt kamen Komponisten ins WDR-Studio, um hier Stücke zu realisieren: Ligeti, Pousseur, Maderna, Kagel, Bo Nilsson, Karel Goeyvaerts, Franco Evangelisti, Ernst Krenek und viele weitere bis zur Schließung im Jahr 2000. Zentrumsbildende Funktion entfaltete das Studio überdies als Ort des Diskurses der internationalen Ä Avantgarde, der auch Eingang fand in die von Eimert und Stockhausen von 1955 bis 1962 in der Universal Edition herausgegebene Zeitschrift die Reihe – Informationen über serielle Musik, die auch in englischer Übersetzung erschien. Große Anziehungskraft entfaltete gleichzeitig die Kölner Musikhochschule mit Kompositionslehrern wie Frank Martin, Bernd Alois Zimmermann, Hans Werner Henze, Stockhausen und Kagel. Die von Kagel ab 1972 geleitete Klasse für neues Ä Musiktheater war dabei ebenso einzigartig wie das von Eimert 1965 hier geleitete Ausbildungsstudio für elektronische Musik. Zudem wirkten an der Kölner Hochschule ausgewiesene Interpreten der neuen Musik wie Christoph Caskel, Saschko Gawriloff, Vinko Globokar, Aloys Kontarsky und Siegfried Palm, deren internationale Gastspiele und langjährige Präsenz als Dozenten bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt Schüler aus aller Welt nach Köln zog. Nach der Ausbildung fanden viele Zugezogenen Arbeit und Auskommen beim WDR, und manche gründeten eigene Studios, Verlage, Spielstätten, Vereine und Ensem- 622 bles, die noch heute den Grundstock der Kölner Szene der neuen Musik bilden (ebd.). Ähnliche Magnetwirkung hatten auch die an der Rheinischen Musikschule zunächst von Stockhausen 1963–68 und dann von Kagel 1969–75 geleiteten Kölner Kurse für Neue Musik. Die am Beispiel von Köln beschriebenen Mechanismen lassen sich auch in anderen Städten beobachten. Entscheidend für die temporäre oder dauerhafte Entstehung von Zentren neuer Musik ist das Ineinandergreifen von Produktions- und Ausbildungseinrichtungen mit neuen ästhetischen Ansätzen und technologischen Innovationen, die durch wechselseitige personelle, materielle, ideelle und publizistische Förderung internationale Aufmerksamkeit erreichen und Komponisten, Interpreten und Theoretiker sowohl untereinander als auch mit der Öffentlichkeit und Künstlern anderer Sparten in Austausch bringen (Ä Intermedialität, Ä Musiksoziologie, Ä Popularität). 2.3 Paris Ein anderes Beispiel dafür liefert Paris während der 1950er Jahre, als zentrale Lehrerpersönlichkeiten wie Leibowitz und Olivier Messiaen sowie die 1954 von Boulez initiierte und bis 1967 geleitete Konzertreihe Domaine Musical viele Komponisten außerhalb Frankreichs anzogen (Blumröder 2011). Als Informationsplattform in der frühen Nachkriegszeit hatte bereits das vom Congress for Cultural Freedom (Congrès pour la liberté de la Culture) unter der Leitung des Komponisten und Kulturimpresarios Nicolas Nabokov mit Unterstützung der CIA veranstaltete Festival L’Œuvre du vingtième siècle / Masterpieces of the XXth Century, bei dem 1952 u. a. die Structures Ia für zwei Klaviere (1951) von Boulez uraufgeführt wurden (Carroll 2003). Hinzu kam das 1958 von Pierre Schaeffer gegründete Institut zur Erforschung der elektroakustischen Musik Groupe de recherches musicales (GRM), dem u. a. Komponisten wie François Bayle, Michel Chion, Luc Ferrari, Bernard Parmegiani, Beatriz Ferreyra und Éliane Radigue angehörten. Weltweite Ausstrahlung entfaltete Paris auch während der 1970er Jahre durch das 1966 von Iannis Xenakis begründete Studio CEMAMu (Centre d’Etudes de Mathématique et Automatique Musicales) sowie durch das Zusammenwirken des 1977 eröffneten und bis 1992 von Boulez geleiteten Forschungs- und Produktionszentrums IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique / Musique) (Born 1995) mit Protagonisten der damals neu aufkommenden musique spectrale (Ä Spektralmusik) um das Ensemble d’Instruments Électronique de l’Itinéraire (EIEI, 1973). 623 2.4 Berlin Nach 2000 avancierte vor allem Berlin zu einem europäischen Zentrum neuer Musik mit zahlreichen hier arbeitenden Komponisten, Ensembles und Festivals wie Ultraschall, MaerzMusik, Klangwerkstatt und Berliner Festspiele, die ebenso für internationalen Austausch sorgen wie die Berliner Hochschulen, die Akademie der Künste und das Berliner Künstlerprogramm des DAAD, das bereits seit den 1960er Jahren renommierte Komponisten wie Xenakis (1963), Morton Feldman (1971), György Kurtág (1971) und Nono (1986) in die »Frontstadt« geholt hatte, sowie die vielen Kulturinstitute, Ländervertretungen und internationalen Botschaften (Traber 1999). 2.5 Weitere Orte und Institutionen Neben großen Metropolen können auch kleinere Orte zentrumsbildende Wirkung entfalten, sofern sie über international profilierte Forschungs-, Produktions- und Ausbildungseinrichtungen oder Musikfestivals verfügen, wie etwa Karlsruhe mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und der Musikhochschule mit Wolfgang Rihm als Kompositionslehrer, oder Salzburg mit Universität und Stiftung Mozarteum, den Salzburger Festspielen sowie den Festivals Aspekte, Taschenoper und Biennale. Kräfte konzentrieren auch Festivals, die trotz internationaler personeller und programmatischer Ausrichtung zugleich bei lokalen Künstlern, Institutionen und Szenen verankert sind. Das gilt bspw. für die Festivals Maggio Musicale Fiorentino, Musikfest Straßburg, Warschauer Herbst, Biennale Zagreb, Münchner Biennale für neues Musiktheater, Eclat Stuttgart, Ultima Oslo oder die seit 1888 in wechselnden skandinavischen Ländern stattfindenden Nordic Music Days (Ä Nordeuropa). Ausdruck bestehender Zentren sind auch Festivals in Belgrad, Dresden, Kopenhagen, Luxemburg, Montreal, Tallinn sowie interdisziplinäre Festivals wie Steirischer Herbst, Holland Festival, Festival d’Automne à Paris, Rheingau- und Schleswig-Holstein-Festival, Festival d’Aix-en-Provence oder RuhrTriennale. Nicht ausschließlich neue Musik präsentieren Festivals in Aldeburgh, Barcelona, Besançon, Bonn, Glyndebourne, Granada, Lissabon, Ljubljana, Schwetzingen, Weimar u.v. a. (Willnauer 2010). Internationale Podien wie das Festival Internazionale di Musica Contemporanea della Biennale di Venezia, die Wittener Tage für neue Kammermusik, das Lucerne Festival oder die kleinen Festivals Klangspuren (Tirol) oder Rümlingen machen mangels lokaler Szenen aus den veranstaltenden Städten noch keine Zentren neuer Musik. Keinerlei zentrumsbildende Kraft entfalten schließlich Festivals, die bewusst abseits von Musikmetropolen in der Provinz von einzelnen Musikern initiiert und veranstal- Zentren neuer Musik tet werden, wie die Festivals von Hans Werner Henze in Montepulciano, Gidon Kremer im burgenländischen Lockenhaus oder Lars Vogt in Heimbach (Eifel). Zumindest temporär als Zentren neuer Musik wirken hingegen mehrere Musikfestivals und Sommerkurse in den USA. Zu nennen wären vor allem das achtwöchige Dartmouth-College in Hanover (New Hampshire), das Berkshire Sinfonic Festival samt Kursen in Tanglewood (Massachusetts), das Aspen-Festival in Colorado sowie die Sommer-Oper in Santa Fe (New Mexico) (Jacobson 1969). Über Europa und Nordamerika hinaus als Zentren neuer Musik zu nennen sind die Schauplätze der von 1971 bis 1989 in wechselnden latein- und südamerikanischen Städten durchgeführten und vor Ort nachhaltig wirkenden Cursos Latinoamericanos de Música Contemporánea (Ä Lateinamerika) sowie im pazifischen Raum Metropolen wie Beijing, Shanghai, Hong Kong, Taipei, Seoul, Singapore, Tokyo und Sidney. Ä Institutionen / Organisationen; Musiksoziologie; Neue Musik Blumröder, Christoph von: Paris – Köln. Kompositionsgeschichtliche Momentaufnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Dialoge und Resonanzen. Musikgeschichte zwischen den Kulturen, hrsg. v. 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Versuch einer Klassifikation Die Einwirkung des Zufalls auf verschiedenen Ebenen des Kompositionsprozesses bzw. die Unbestimmtheit von Aspekten eines musikalischen Werks sind ein zentrales Thema der musikalischen Ä Avantgarde seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. »Zufall« ist in diesem Sinne als Oberbegriff für ein sehr vielfältiges Feld von Poetiken und Ä Kompositionstechniken zu verstehen, für die eine Reihe von Termini (Aleatorik, Indetermination, Unbestimmtheit, Offenheit, offene Form, offenes Kunstwerk, mobile Form, variable Form etc.) gängig sind, ohne dass bisher überzeugende begriffliche Abgrenzungen in musikwissenschaftlichen Studien vorgenommen worden wären. Der Mangel an terminologischer Präzision ist auch auf eine konzeptuelle Uneinheitlichkeit in den Schriften von Komponisten zurückzuführen (Boehmer 1967, 5 f.): Während für John Cage Zufall (chance) ein Vorgehen im kompositorischen Akt bezeichnet, Unbestimmtheit (indeterminacy) dagegen die Option, ein Stück in wesentlich unterschiedlicher Weise aufzuführen (Pritchett 1993, 108), wurden in Europa die Begriffe »aleatorische Musik« und »Aleatorik« vorgezogen, damit jedoch zum Teil sich stark voneinander unterscheidende Poetiken beschrieben (Frobenius 1977). Musikalische Aleatorik und Indetermination überschneiden sich zudem (unter gegenseitiger Beeinflussung) mit den damaligen Theorien des offenen Kunstwerks und des Informellen (Eco 1962/74; Adorno 1962/78; Boehmer 1967; Borio 1993; De Benedictis 2007; Ä Informelle Musik). Das gesamte Diskursfeld kann verstanden werden als Erweiterung – in manchen Fällen sogar als Überwindung – eines emphatischen Werkbegriffs sowie als Überschreitung der Grenzen zwischen unterschiedlichen Kunstformen (De Benedictis 2007, 318). Die folgende Unterteilung in zwei regionale Gebiete folgt chronologischen und historiographischen Kriterien und soll nicht als Gegensatz aufgefasst werden. Das langlebige Klischee einer aus den USA stammenden Zufallspoetik, die Ende der 1950er Jahre eine bereits in einer tiefen Krise steckende europäische Ä serielle Musik abgelöst hät- Einige Vorläufer musikalischer Zufallsverfahren sind bereits in der ersten Hälfte des 20. Jh.s zu finden. So ist in Charles Ives ’ The Unanswered Question für vier Flöten, Trompete und Streichorchester (1908/30–35) beispielweise die zeitliche Artikulation der Übereinanderschichtung einiger Passagen den Interpreten überlassen und Henry Cowells Drittes Streichquartett (das sog. »Mosaic Quartet«, 1934) bietet den Ausführenden eine Sammlung von Fragmenten, die frei zusammengesetzt werden müssen. Dennoch ist der Diskurs über den Zufall in der Musik eng mit der Poetik der New York School (John Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff ) seit den frühen 1950er Jahren verbunden. Feldman konzipierte im Winter 1950/51 den Zyklus Projection (1 für Violoncello, 1950, 2–5 für verschiedene Besetzungen, 1951), fünf auf kariertem Papier notierte Stücke, welche die ersten Beispiele graphischer Partituren darstellen (Ä Notation). In Projection 1 wird durch Quadrate (eine Zeiteinheit) und Rechtecke (zwei bis vier Zeiteinheiten) lediglich der Ambitus (hoch, mittel und tief ) der auf drei Systeme aufgeteilten Flageolett-, Pizzicato- bzw. Arco-Klänge bezeichnet; damit muss der Cellist die genaue Tonhöhen innerhalb der angegebenen Register selbst wählen (Claren 2000, 44–46). Feldmans Intention war es dabei, den Akzent auf den faktischen Klang eines Instruments zu verschieben und diesen von der historisch bedingten Dominanz des Parameters Tonhöhe (und der damit einhergehenden Rhetorik) zu befreien (ebd., 46 f.). Diese ersten graph pieces Feldmans, die in Cages New Yorker Wohnung entstanden, gaben Cage möglicherweise den endgültigen Impuls, auch bei der Komposition seiner Werke Zufallsoperationen anzuwenden (Cage 1988–89/90, 237–245), mit dem Ziel, die Musik von seinen eigenen Abneigungen und Intentionen zu befreien. Diese Zufallsoperationen wurden bekanntlich aus dem traditionellen chinesischen Orakelbuch Yijing (Buch der Wandlungen) abgeleitet, wobei der Münzwurf zentrale kompositorische Entscheidungen ersetzte. Im dritten Satz des Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra (Februar 1951) verwendete Cage dieses Verfahren, um die Reihenfolge der musikalischen Ereignisse festzulegen, die einer Tabelle mit vorkomponierten Klangaggregaten entnommen wurden (Pritchett 1993, 70–73); erst in der 625 nachfolgenden Komposition, Music of Changes für Klavier (1951), wurden diese Zufallsoperationen auch systematisch für die Bestimmung von Form, Dichte, Klangaggregaten, Dauern und Dynamik angewandt (ebd., 78–88; Utz 2002, 88–96). Der nächste Schritt auf dem Weg zu einer von der Entscheidung des kompositorischen Subjekts losgelösten Musik war in den nachfolgenden Jahren der Verzicht auf selbstgewählte Klangaggregate und die Entwicklung weiterer Prozeduren wie insbesondere die Beobachtung der Unreinheit des verwendeten Papiers (zuerst in Music for Carillon No. 1, 1952, und in Music for Piano 1–84, 1952–56) (Pritchett 1993, 92), durch die Klangaspekte wie z. B. die Tonhöhen festgelegt wurden. Im selben Zeitraum erstellte Brown seine graphische Partitur December 1952 (Teil des 1952–54 entstandenen Zyklus Folio), ein Einzelblatt mit 31 schwarzen, nach verschiedenen Richtungen ausgerichteten Rechtecken mit folgender Anweisung zur Ausführung: »The composition may be performed in any direction from any point in the defined space for any length of time and may be performed from any of the four rotational positions in any sequence. […] It is primarily intended that performances be made directly from this graphic ›implication‹ (one for each performer) and that no further preliminary defining of the events, other than an agreement as to total performance time, take place« (Brown 1961). In der graphischen Darstellung dieser Partituren wird der Einfluss der damaligen bildenden Kunst (Alexander Calder, Jackson Pollock, Mark Rothko, Robert Rauschenberg u. a.) auf die Poetik der New York School besonders deutlich, insbesondere bei Feldman und Brown (Ä Neue Musik und bildende Kunst). Auch Cage distanzierte sich zunehmend von der traditionellen musikalischen Notation und entwarf zahlreiche graphische Notationssysteme, deren akustische Realisierung vom Interpreten eine aktive Beteiligung an der musikalischen Gestaltung verlangt: Variations I für beliebige Instrumente (1958) besteht aus sechs transparenten Folien, eine mit Punkten unterschiedlicher Größe, fünf mit Linien. Die Folien werden in beliebiger Weise überlagert, wobei Punkte und Linien ein Koordinaten-System ergeben, in dem die Punkte Klänge bzw. Geräusche darstellen und ihre relative Distanz zu den Linien als Skala für die unterschiedlichen Charakteristika der Klangereignisse (Höhe, Dichte, Geräuschhaftigkeit, Dauer usw.) zu deuten ist. Das Concert for Piano and Orchestra (1957–58) bietet dagegen eine Art Kompendium der Zufallsoperationen Cages der 1950er Jahre. Die Klavierpartitur umfasst 63 Seiten, jede mit einer (per Münzwürf ) vorbestimmten Anzahl von Abschnitten. Ebenfalls durch Münzwurf wurde für jeden Abschnitt entschieden, ob dieser einer neuen Kompositions- und Notationsmethode entsprechen sollte oder einer Wiederholung bzw. Zufall Variation eines bereits existierenden Notats. Durch dieses Verfahren  – durch den »Willen« des Zufalls also  – war Cage »gezwungen«, sich 84 verschiedene Notationsmethoden auszudenken. 2. Westeuropa Wenngleich mit einigen Jahren Verspätung im Vergleich zu Nordamerika, spielte der Zufall auch in der europäischen Musik der 1950er und 60er Jahre eine herausragende Rolle. Zweifellos ist dies u. a. auf die Rezeption der Poetik Cages zurückzuführen, der im Lauf der 1950er Jahre schon vor seinem berühmten Auftritt bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt 1958 mehrere Möglichkeiten hatte, seine Werke in Europa vorzustellen (Decroupet 1997, 198–204). Die Tendenz zur Einbeziehung gewisser zufälliger Elemente in die Kompositionen resultiert aber auch aus einer internen Dynamik in der Entwicklung der europäischen seriellen Musik (ebd., 205–230; Boehmer 1967, 49–53; De Benedictis 2007, 329–331). Diese befand sich in einer Phase, in der das Interesse der Komponisten sich zunehmend von der lokalen Organisation von Einzelereignissen hin zu der Gestaltung und Aneinanderreihung komplexer Klangstrukturen verschob, etwa indem Verfahren wie Permutation und Variation auf die Makrostruktur eines Werks angewandt wurden. Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (1956) besteht aus einem einzigen Papierbogen mit 19 notierten Abschnitten (»Gruppen«), die vom Pianisten in beliebiger Reihenfolge »absichtlos« (Partituranweisung) auszuführen sind. Das Stück endet, wenn eine Gruppe zum dritten Mal gespielt wird. Die Aleatorik dieses Werkes wird von Stockhausen als Erweiterung seiner in den Jahren zuvor in den elektronischen Stücken und Gruppenkompositionen verwendeten »statistischen« Kriterien aufgefasst (Brief Stockhausens an Frobenius; Frobenius 1977, 3). Pierre Boulez, der bereits Anfang der 1950er Jahre die kompositorische Entwicklung Cages verfolgt und sie mit diesem in einem intensiven Briefwechsel diskutiert hatte (Boulez / Cage 1990/97), kritisierte 1957 die Überbewertung des Zufalls in der Musik als »Zurückschrecken vor der Entscheidung« (Boulez 1957/72, 102). Die vom Interpreten – nach gewissen Regeln  – frei gestaltbare Reihenfolge der fünf »Formanten« seiner Dritten Klaviersonate (1955–57) sieht er demzufolge lediglich als Ausdehnung des seriellen Permutationsbegriffs auf die formale Ebene. Diese »gelenkte Aleatorik« (notiert in sog. Modularpartituren und üblicherweise unter der Kategorie der »offenen Form« subsumiert) ist sehr charakteristisch für viele europäische Werke dieser Zeit – u. a. für Henri Pousseurs Scambi für zweikanaliges Tonband (1957) und Caractères I für Klavier (1961), Franco Evangelistis Aleatorio für Streichquartett Zufall (1959), Bruno Madernas Serenata per un satellite für Ensemble (1969) – und unterschiedet sich offensichtlich von Cages Poetik: Evangelisti sprach vom »bewussten Vorgang des Aleatorischen« – in Unterscheidung zu Cages Intentionslosigkeit  – d. h. als das »bewusste Akzeptieren der Situation des Wagnisses, die innerhalb eines Bereichs von Möglichkeiten und innerhalb gewisser Dimensionen gegeben ist« und exemplifizierte dies, indem er auf die lateinische Wurzel von alea [Würfel] rekurrierte: »Es leuchtet ohne weiteres ein, dass für einen Würfelspieler das Feld der Möglichkeiten durch die Würfelseiten mit ihren Zahlensymbolen von 1–6 bestimmt ist« (Evangelisti 1960/85, 61). Ähnlich verhält es sich bei verschiedenen Werken, in denen der Formverlauf zwar bestimmt ist, einige Details aber dem Interpreten überlassen sind – wie etwa die Tonhöhen innerhalb eines graphisch angegebenen Ambitus in György Ligetis Volumina für Orgel (1961–62/66) oder die einzelnen Dauernwerte der Klänge in Luciano Berios Sequenza I für Flöte (1958). Gerade dieses letztes Beispiel, bei dem die rhythmischen Werte aus dem proportionalen Abstand zwischen den Tonhöhen herzuleiten sind, bezeugt, in welchem Ausmaß für manche Autoren die eigenen Intentionen auch bei Werken mit offenen Elementen zentral bleiben: Unzufrieden mit der extremen Freiheit, mit der manche Interpreten seine Sequenza I ausführten, entschloss sich Berio 1992 eine zweite Fassung zu veröffentlichen, in der er selbst die rhythmische Struktur des Stückes im Detail realisierte (Folio / Brinkman 2007). Es fehlen jedoch auch in Europa nicht Fälle einer eindeutigen Rezeption der New York School, insbesondere in Form von gezielt zufälliger oder willkürlicher Kompositionsweise, etwa in Franco Donatonis Kammersinfonie Souvenir (1967) (Ä Fragment) bzw. in Form graphischer Partituren, z. B. in Sylvano Bussottis Five Piano Pieces for David Tudor (1959), Roman Haubenstock-Ramatis Mobile for Shakespeare für Stimme und sechs Spieler (1961) und Tableau II für Orchester (1970), Cornelius Cardews Treatise für variable Besetzung (1963–67) sowie in Werken, in denen die Unbestimmtheit zu äußersten Konsequenzen getrieben wird, wie in Dieter Schnebels »Materialpräparationen« glossolalie für Sprecher und Instrumentalisten (1959–60) oder Stockhausens Plus-Minus für variable Besetzung (»2 mal 7 Seiten zur Ausarbeitung«, 1963). 3. Versuch einer Klassifikation Spätestens seit den 1960er Jahren umfassen die Begriffe Aleatorik und Indetermination so vielfältige und heterogene Phänomene, dass sie sich einer vereinheitlichenden Kategorisierung widersetzen  – wie es Konrad Boehmer anlässlich einer Diskussion des Begriffs »offene Form« 626 bemerkte (1967, 5–8). Unter den wenigen Versuchen, zumindest die wichtigsten Erscheinungsformen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (Dahlhaus 1966, 74; Boehmer 1967, 128), sticht aufgrund seiner Anschaulichkeit Pascal Decroupets Klassifikation heraus, die das Verhältnis zwischen Notentext und Aufführung in allen wesentlichen Facetten betrachtet. Decroupet unterscheidet drei Ebenen – Ä Form (Beziehung zwischen den Abschnitten), Ä Struktur (parametrische Fixierung der Ereignisse) und Klangmaterial (d. h. Ä Instrumentation) – die entweder determiniert [0] oder indeterminiert [1] sein können. Damit erhält man acht Kategorien, die von vollständig fixierten Stücken [Typ 000] wie Cages Music of Changes bis zu frei gestaltbaren Material- oder Regelsammlungen [111] wie Cages Variations I oder Schnebels glossolalie reichen. Werke für bestimmte Instrumente mit fixierten Klangereignissen, deren Reihenfolge aber vom Interpreten gewählt werden kann wie Stockhausens Klavierstück XI gehören dementsprechend dem Typ [100] an, Stücke wie Berios Sequenza I (in der Originalfassung von 1958) dem Typ [010] usw. (Decroupet 1997, 191–196). Obwohl die meisten Werke mit aleatorischen oder unbestimmten Elementen in dieser Klassifikation systematisch erfasst werden, bleiben einige Einzelfälle ausgeschlossen wie z. B. Stücke, die das Publikum als Zufallsfaktor einbeziehen: In Henri Pousseurs Oper Votre Faust. Fantaisie variable genre opéra (1960–68) z. B. entscheiden die Zuhörer bei jeder Aufführung – per Wahl aus einem begrenzten Möglichkeitsfeld  – über die Reihenfolge der Szenen; bei der einmaligen Aufführung von Stockhausens Musik für ein Haus (1968) während der Darmstädter Ferienkurse 1968 konnte sich das Publikum in verschiedenen Räumen frei bewegen, in denen Stücke von Stockhausens Kursteilnehmern gleichzeitig gespielt wurden, und damit den formalen Verlauf des Werkes gleichsam selbst konstruieren. Nur bedingt ist Decroupets Klassifikation schließlich anwendbar auf die verschiedenen Formen von Textkomposition, d. h. auf Werke, für deren Ausführung nur verbale Hinweise vorliegen, die eine Anforderung zur strukturierten Ä Improvisation darstellen wie etwa Stockhausens Aus den sieben Tagen für variable Besetzung (1968), Frederic Rzewskis Prose Pieces für Improvisationsensemble (1967–68), Christian Wolffs Play für Ensemble (1968) usw. Schwer zu klassifizieren sind daneben auch die verschiedenen Formen Ä konzeptueller Musik wie La Monte Youngs Composition 1960 oder Piano Pieces for David Tudor sowie Arbeiten von Fluxus-Künstlern wie Nam June Paik oder George Brecht (Ä Performance). Keine überzeugenden Klassifikationsversuche wurden dagegen bislang vorgelegt, um die Einwirkung des Zufalls auf den Kompositionsprozess zu erfassen, die, 627 Zwölftontechnik abgesehen von den bereits erwähnten Prozeduren Cages, eine zentrale Rolle in der Poetik mehrerer Autoren spielt (Ä Schaffensprozess). Das signifikanteste Beispiel dafür ist sicherlich die »stochastische Musik« Iannis Xenakis’, eine Musik, die vom Komponisten auf der Makroebene determiniert wird, während die Einzelheiten auf den Mikroebenen algorithmischen Verfahren überlassen werden (Baltensperger 1996; Ä Elektronische Musik). Vergleichbare Phänomene geteilter Verantwortung zwischen Komponist und Maschine sind noch heute charakteristisch für viele Strömungen der Computer- und Medienmusik, z. B. bei Komponisten wie Karlheinz Essl oder Georg Hajdu. Ä Themen-Beitrag1; Interpretation; Serielle Musik Adorno, Theodor W.: Vers une musique informelle [1962], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II (Gesammelte Schriften 16, 249–540), Frankfurt a. M. 1978, 493–540 „ Baltensperger, André: Iannis Xenakis und die stochastische Musik. Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik, Bern 1996 „ Blumröder, Christoph von: Offene Form, in: HmT (1984) „ Boehmer, Konrad: Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Darmstadt 1967 „ Boulez, Pierre: Alea [1957], in: Werkstatt-Texte, Berlin 1972, 100–113 „ Boulez, Pierre / Cage, John: Dear Pierre – cher John. Der Briefwechsel [1990], hrsg. v. Jean-Jacques Nattiez, Hamburg 1997 „ Borio, Gianmario: Musikalische Avantgarde um 1960. 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Zwölftonreihen in nicht-dodekaphon durchorganisierten Werken  „ 7. Reihentechnik und Form „ 8. Sinn der Reihenkomposition Unter Zwölftontechnik oder Dodekaphonie versteht man eine kompositorische Methode auf der Basis reihenmäßig vorgeordneten Tonhöhenmaterials. Kompositionstechnisch lassen sich generell zwei Arten von Reihenkomposition unterscheiden: die seit den frühen 1920er Jahren entwickelte Methode, nur das Tonhöhenmaterial reihenmäßig zu erfassen, und die seit den späten 1940er Jahren entwickelte Ausweitung dieses Verfahrens auf mindestens einen weiteren in Reihen organisierten Ä Parameter wie Tondauer, Dynamik, Artikulation oder Register. Im deutschsprachigen Raum wird ausschließlich letztere Methode als »serielle« Technik bezeichnet, während in anderen Sprachen der Terminus »seriell« beide Arten von Reihenkomposition einschließen kann. Historisch gesehen stellt die Ä serielle Musik also ein späteres Entwicklungsstadium der Zwölftontechnik dar. Milton Babbitts Three Compositions for Piano (1947) sind nach gegenwärtigem Forschungsstand das erste Werk, in dem mehrere Parameter seriellen Permutationen unterworfen werden. Während aus historischer und musiktheoretischer Perspektive eine Unterscheidung zwischen »nichtseriell«-zwölftöniger und serieller Reihentechnik sinnvoll ist, ist die Begriffstrennung angesichts der Vielfalt der sich ab der Jahrhundertmitte abzeichnenden kompositorischen Ansätze und Stile nicht unproblematisch. Die Methode, mit Reihen, d. h. mit festgelegten Ordnungen und deren Permutationen von Tonhöhenqualitäten (pitch classes), Tondauern usw. zu komponieren, ist nicht an einen bestimmten musikalischen Stil gebunden. Daher kann es sein, dass ein seriell gebautes Material (z. B. in Camillo Tognis Cinque Pezzi, 1975–76) stilistisch der Zwölftonmusik der Wiener Schule nahesteht, während ein nichtseriell-zwölftöniges Werk (z. B. Igor Strawinskys Variations (Aldous Huxley in memoriam), 1963–64) die europäische serielle Musik der Nachkriegszeit assoziieren lässt. Serielle Techniken und die mit ihnen historisch verbundenen Stile lassen sich also nichtseriell nachbilden und umgekehrt. Ob in einem Werk nur die Tonhöhen oder etwa auch andere Parameter reihentechnisch organisiert sind, lässt sich ohne entsprechende Indizien aus den Quellen und angesichts der Mannigfaltigkeit möglicher Verfahren außerdem nicht immer mit Gewissheit sagen. 628 Zwölftontechnik 1. Systemtheoretische Erfassung des Zwölftonsystems Ausgehend von der Tropenlehre Josef Matthias Hauers (1922, 1925) und anderen frühen Theorien zur Zwölftontechnik erforschten Babbitt (1946) und andere die abstrakten strukturellen Eigenschaften des Zwölftonsystems, um sich einen systematischen Überblick über Tonhöhenkonstellationen (sets) mit besonderen kombinatorischen Eigenschaften zu verschaffen. So definierte Babbitt Hexachorde (als ungeordnete sets verstanden), die sich durch Transposition oder (transponierte) Umkehrung ihrer selbst ohne Tonverdopplung zum Zwölftontotal (aggregate) ergänzen lassen (Abb. 1a), und die Hexachorde vom Typ all-combinatorial (die sechs sog. source sets), bei denen dies via Transposition und (transponierter) Umkehrung der Fall ist (Abb. 1b). Analoge Möglichkeiten der Kombination zum Zwölftonaggregat ohne Tonverdopplung ergeben sich auch bei bestimmten Typen von Tetrachorden sowie bei allen Trichorden außer dem verminderten Dreiklang (das Zwölftonaggregat lässt sich nicht aus vier verminderten Dreiklängen herstellen, Babbitt 1987) und bei allen Zweiklängen außer der großen Terz (das Zwölftonaggregat lässt sich nicht aus sechs großen Terzen bilden). Während Eigenschaften dieser Art teilweise aus der früheren Zwölftonpraxis bekannt waren, wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte die Untersuchung des Systems gezielt weitergetrieben, um immer weitere seiner Besonderheiten kompositorisch nutzbar zu machen. Man untersuchte die verschiedenen Arten, eine Zwölftonreihe in Segmente von gleicher oder unterschiedlicher Länge zu unterteilen (die 77 partitions, Babbitt 1974) und ermittelte die 223 Typen von Tonhöhenkonstellationen (set classes) vom Einzelton bis zum Zwölftonaggregat (Forte 1964, 1973; Vieru 1980/93). Man erörterte, wie verschiedene Formen einer Reihe sich in einem array (zweidimensionale Matrix) derart übereinanderschichten lassen, dass untereinanderliegende Reihensegmente sich wiederum zum Zwölftonaggregat ergänzen. Babbitt, als selbsterklärter »Maximalist«, untersuchte, wie in den all-partition arrays die Segmentierungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft werden können (Mead 1994, 31–37). Von den 1928 Allintervallreihen (Bauer-Mengelberg / Ferentz 1965) projizierte Elliott Carter diejenigen, deren zweites Hexachord einen (tritonustransponierten) Krebs oder eine Umkehrung des ersten darstellt, in die Vertikale, um 88 symmetrical inverted bzw. 60 parallel inverted Allintervallzwölftonakkorde und deren Umkehrungen zu erzeugen (Carter 2002, 18 der »symmetrischen Umkehrungsakkorde« finden sich bereits bei Slonimsky 1947). Die Umkehrung des 24. symmetrischen Umkehrungsakkords entspricht dem von Fritz Heinrich Klein entdeckten »Mutterakkord« (Klein 1925), aus dem Alban Berg die Allintervallreihe für das Lied Schließe mir die Augen beide (2. Vertonung, 1925) und die Lyrische Suite für Streichquartett (1925–26) abgeleitet hatte. Carter verwendet erstmals einen Allintervallzwölftonakkord in seinem Dritten Streichquartett (1971); ab den Night Fantasies (1978–80) sind solche Akkorde für seine harmonische Sprache allgemein charakteristisch (Link 2002). 2. Reihentechnische Integration von Horizontale und Vertikale Arnold Schönberg begriff die Zwölftonreihe als einheitsstiftendes, die Horizontale und Vertikale des Tonsatzes konstituierendes Element (Schönberg 1935/76). Als Herausforderung wurde von vielen erkannt, dass, sobald eine oder mehrere Reihenformen auf die Stimmen einer Akkordfolge oder eines Kontrapunkts verteilt werden, in der Horizontalen und / oder Vertikalen Intervalle zwischen in der Reihe nicht benachbarten Tönen freigelegt werden. Dem Gewinn an neuen Intervallen steht die Unmöglichkeit gegenüber, die Horizontale und Vertikale einer Zwölftonpolyphonie ausschließlich aus der direkten Intervallfolge der Reihe zu bilden (Westergaard 1966). René Leibowitz (1950), Babbitt (1962) und andere entwickelten Strategien, um aus verschiedenen Formen einer Reihe jeweils dieselben sekundären Intervalle und Motive herauszuschälen, gut zu beobachten bspw. im ersten Satz aus Leibowitz ’ Trois Poèmes de Pierre Reverdy op. 92 (1971, Neidhöfer / Schubert 2015). Babbitt (1962) zeigt, welche Auswirkung die Auslese invarianter Motive auf die Rhythmik haben kann. Die Idee, die verschiedenen Dimensionen eines musikalischen Satzes durch ein gemeinsames Prinzip zu steuern führte auch in der dodekaphonen Reihenkomposition zu neuen Ansätzen. Bruno Maderna permutiert Reihen mithilfe von lateinischen und magischen Quadraten derart, dass in seinen Matrizen Harmonien automatisch durch in dieselbe zeitliche Position gerückte Reihentöne entstehen und somit Horizontale und Vertikale des Tonsatzes durch ein einziges Verfahren integriert sind (Rizzardi 2004). Während Maderna dieses Vorgehen schließlich meist mit seriellen Techniken verband, komponierte seine Schülerin Norma Beecroft mit einer eigenen Version dieser Methode nichtseriell (Tre Pezzi Brevi, 1960–61). Strawinsky verwendete ab 1959 Ernst Kreneks Technik, die Tonfolgen der Hexachorde (später auch der Tetrachorde) einer Zwölftonreihe zu rotieren und die verschiedenen Rotationen, untereinander notiert, jeweils auf denselben Ausgangston zu transponieren (Krenek 1960; Abb. 2a). Während Krenek ursprünglich nur mit den Horizontalen solcher 629 Zwölftontechnik a. Zwei Hexachorde vom Typ transposional-combinatorial bzw. inversional-combinatorial komplementäres Hexachord = (Tritonus-)Transposion des ersten Hexachords komplementäres Hexachord = (transponierte) Umkehrung des ersten Hexachords b. Die sechs Hexachorde vom Typ all-combinatorial (komplementäres Hexachord = zugleich Transposion und Umkehrung des ersten Hexachords) (1) (2) (3) (4) (5) (6) Abb. 1 (a und b)) rotational arrays komponierte (erstmals in Lamentatio Jeremiae Prophetae, 1941–42), benutzte Strawinsky ab A Sermon, a Narrative, and a Prayer (1961) auch deren Vertikalen, welche automatisch aus dem Rotationsverfahren hervorgehen und sich überraschend gut mit Strawinskys harmonischer Sprache verbinden (Straus 2001) – in Variations (Aldous Huxley in memoriam) (1963–64) etwa mit dem typischen Dur-Moll-Dreiklang in der dritten Vertikalen (Skizze; Abb. 2b). Witold Lutosławski wiederum macht von stationären und fluktuierenden Zwölftonakkorden in den mannigfaltigsten Formen Gebrauch (Homma 1996). So steuert er bspw. in den Episoden des zweiten Satzes des Cellokonzertes (1969–70) die Harmonik durch einen vorwiegend aus Terzen gebauten Zwölftonakkord, der sich latent im Klangraum ausdehnt und gemäß einer Tonreihe transponiert wird (Homma 1991). 3. Gewichtung des Tonmaterials Der Einschränkung, dass anders als bspw. bei einem diatonischen Modus die Transposition, Umkehrung etc. einer Zwölftonreihe stets denselben Tonhöhenvorrat hervorbringt (das chromatische Total), begegneten Komponisten mit diversen Verfahren, die dem Tonhöhenmaterial eine Gewichtung geben sollten. Dazu gehört die Verwendung von Reihen mit weniger als zwölf pitch classes, von Reihen mit Tonverdopplungen und von Matrices, in denen die pitch classes ungleichmäßig verteilt sind, wie z. B. in den weighted arrays (Überlagerungen von Reihen derart, dass in der Vertikalen Tonhöhenverdopplungen auftreten) und den genannten rotational arrays (Morris 2003). Krenek spricht bei letzteren von »distinctive harmonic flavors«, die sich aus der ungleichmäßigen Verteilung des Tonmaterials, bei aller Strenge des Verfahrens, ergeben (Krenek 1960, 213). Ein beliebtes Mittel bleibt das momentane 630 Zwölftontechnik a. Krenek: rotaonal arrays in Lamentao Jeremiae prophetae Rotaon der beiden Hexachorde b. Strawinsky: rotaonal array in Variaons (Aldous Huxley in memoriam) (Skizze Paul Sacher Sung Basel, Sammlung Igor Strawinsky, Transkripon und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung) Transposion der roerten Hexachorde Abb. 2 (a und b) Verweilen bei einem Reihensegment durch dessen Wiederholung, bevor die Reihe fortgesetzt wird (besonders eingehend z. B. am Anfang von Luigi Dallapiccolas Piccola musica notturna, 1953–54). Entsprechende Umgewichtungen des Tonvorrats ergeben sich auch, wenn Ursula Mam- lok Zwölftonmatrizen auf sich konzentrisch verengenden quadratischen Pfaden durchschreitet (Straus 2009, 141). Gewichtungen innerhalb einer Zwölftonreihe entstehen außerdem, wenn Reihensegmente modal oder tonal gepolt sind. So verwendet Luo Zhongrong im Lied Hu- 631 anghun [Dämmerung] für Sopran und Klavier (1984–90) eine Reihe, deren drei Tetrachorde aus drei unterschiedlichen pentatonischen Modi gewonnen sind. Ähnliche Verfahren wurden auch von anderen chinesischen Komponisten verwendet, um die Zwölftontechnik mit chinesischen Tonsystemen zu verbinden (Zheng 1990; Ä China / Taiwan / Hong Kong). Entsprechend seiner Vorliebe für die Modi von Olivier Messiaen ist auch manche Zwölftonreihe von Tōru Takemitsu in vergleichbarer Weise aus modalen Segmenten aufgebaut, insbesondere mit Bezug auf Messiaens Modi 2 und 3 (Burt 2001, 73–80). 4. Komponieren mit mehr als einer Reihe Anders als Schönberg, der im Interesse struktureller Einheit jeweils nur eine Reihe verwendet, erkennen andere im Komponieren mit mehreren, d. h. nicht durch Transposition, Umkehrung usw. aufeinander bezogenen Reihen pro Werk gerade ein besonderes Potenzial der Materialvielfalt. Beliebt sind Verfahren verflochtener Reihenderivationen, indem etwa ein Reihensegment neu geordnet in eine andere Position einer zweiten Reihe verpflanzt wird (Donald Martino, Concerto for Alto Saxophone, 1987), indem verschiedene Segmente einer Reihe neu ineinander verzahnt werden (Morris 1977), indem eine Reihe iterativ ein und demselben Permutationsprinzip unterworfen wird (Krenek, Kette, Kreis und Spiegel, 1956–57, Messiaens Methode der interversion, bspw. durch wiederholte fächerartige Neuordnung der Reihentöne in der Reihenfolge 7–6–8–5–9–4–10–3–11–2–12–1, Messiaen 1996) oder indem gar alle faktoriell (n!) möglichen Permutationen eines Reihensegments ausgesponnen werden (Hanns Jelinek, Zwölftonfibel 9 / C, »Permutation«, 1953–54). 5. Tonalität und »Zwölftontonalität« Vom engeren Begriff der Verwendung modaler und tonaler Materialien in Reihenkompositionen ist das weiter gefasste Konzept der »Zwölftontonalität« zu unterscheiden. Wie früher Alban Berg und andere haben auch nach 1945 Komponisten immer wieder dur-moll-tonale und modale Elemente in ihre Tonreihen eingebaut, mitunter sogar harmonisch-funktional gepolt. So folgt z. B. in der Reihe von Nikos Skalkottas’ Tender Melody (1949), entsprechend deutlich im Werk hervorgehoben, auf die Dur-Moll-Akkorde auf es und a ein verminderter Septakkord mit Dominantfunktion zu diesen beiden Akkorden (Mantzourani 2011, 331–336). Aaron Copland, der die Zwölftontechnik in einen »freely interpreted tonalism« einband (Copland / Perlis 1989, 242), projiziert in Inscape (1967) eine Zwölftonreihe, deren erster und dritter Tetrachord einen halbverminderten Septakkord bzw. Dominantseptakkord bilden, vom ersten zum zwölften Ton aufsteigend in die Vertikale, wodurch Zwölftontechnik ein Zwölftonakkord mit diatonischen Ballungen entsteht (Straus 2009, 63). In der Gattung des third stream verband Gunther Schuller tonalen Ä Jazz und Ä Improvisation mit Zwölftonstrukturen (Schuller 1961/86). »Zwölftontonalität« meint darüber hinaus eine Hierarchisierung der Tonhöhenbeziehungen in einem weiter gefassten Sinn. Schönberg spekulierte schon früh über die »Tonalität einer Zwölftonreihe«, womit er allerdings den Bezug auf die chromatische Skala meinte (in der dritten Auflage seiner Harmonielehre, Schönberg 1911/22, 488), und Richard S. Hill schlug 1936 vor, dass in Analogie zur Anordnung der Töne der C-Dur-Skala gemäß deren Funktion im Dur-Modus als c–g–e–f–a–h–d–c entsprechende zwölftönige functional modes entwickelt werden könnten. George Perle (1941, 1977) schuf unabhängig von Hill seine Version der twelve-tone modality, ausgehend von der Verschachtelung eines aufsteigenden und eines absteigenden Quintenzirkels, überlagert mit einer rotierten Umkehrung derselben. Segmente aus dem resultierenden array, in denen auch Tonverdopplungen vorkommen, verwendet Perle in seiner Musik in freier Reihenfolge. 6. Zwölftonreihen in nicht-dodekaphon durchorganisierten Werken Während in vielen dodekaphonen Werken nach 1945 eine Abkehr von der thematischen Funktion der Reihe zu beobachten ist – Schönbergs Begriff der »Grundgestalt« der Reihe scheint keine große Rolle mehr zu spielen  – komponierten Benjamin Britten, Dmitri Schostakowitsch, Sándor Veress und andere zeitweise mit zwölftönigen Themen und Kontrapunkten in nicht-dodekaphonen Werken. So verwendet Britten im achten Satz (»Tema seriale con fuga«) der Cantata Academica op.  62 (1960) ein Zwölftonthema, welches er mit vier sich an die Reihe anschmiegenden, aber nicht aus ihr direkt abgeleiteten Durakkorden begleitet. In der anschließenden Fuge bestimmt die Tonfolge dieser Zwölftonreihe, als langsamer, crescendierender Cantus firmus ausgesponnen, die Folge der Anfangstöne, mit denen das kurze, weitgehend diatonische und nicht aus der Reihe abgeleitete Fugenthema einsetzt. Der Satz kulminiert in einer Stretto-Verdichtung dieses, den gelehrten Stil symbolisierenden, Prozesses. Als Chiffre für »Langeweile«, und die musikalische Avantgarde parodierend, setzt Leonard Bernstein in »Quiet« aus Candide (1956) eine aus zwei verschachtelten, fächerartig auseinanderdriftenden chromatischen Hexachorden gebildete Zwölftonreihe als öde-langsam vorgetragenes Thema in einem ansonsten tonalen Umfeld ein. Bei Schostakowitsch dienen Zwölftonmaterialien, am weitesten vorangetrieben im Zwölften Streichquartett (1968) und der 14. Sinfonie (1969), einer erweiterten Chromatik in einem 632 Zwölftontechnik übergeordneten tonalen Kontext, wobei die Grenze zwischen Tonalität und Ä Atonalität mitunter verwischt wird (Schmelz 2004). Im ersten Satz des Zwölften Streichquartetts variiert Schostakowitsch ein das Werk eröffnendes Zwölftonthema durch sich von den traditionellen dodekaphonen Manipulationen unterscheidende motivische Transformationen derart, dass in den abgeleiteten Formen der Zwölftonreihe die ursprüngliche melodische Kontur des Themas erhalten bleibt. In Boulevard Solitude (1950– 51) kontrastiert Hans Werner Henze voll durchorganisierte Dodekaphonie mit tonalen Materialien. Für ihn stand damals die Dodekaphonie, in den Liebesszenen der Oper verwendet, für »eine freie unbürgerliche Welt«, während er »die alte, korrupte Welt« mit »der alten Tonalität« darstellte (Henze 1984, 368 f.). 7. Reihentechnik und Form Die Tradition der Wiener Schule fortsetzend, verbinden Jelinek, Leibowitz und andere die Reihentechnik mit aus tonaler Musik entlehnten formalen Prinzipien. Leopold Spinner erklärt die Form seines Klavierkonzerts (1947–48) mithilfe der Schönbergschen Terminologie der tonalen funktionalen Formenlehre (Busch 1987, 86–89). Leibowitz (1950) spricht, auch bei seiner eigenen Musik, von den fonctions sérielles des Reihenmaterials bei der Gestaltung von Kadenzen, locker und festgeformten Strukturen etc., sich u. a. auf die Terminologie Schönbergs berufend, dessen unveröffentlichtes Manuskript über den musikalischen Gedanken (Schönberg 1923–36/1995) er kannte. Neben in der seriellen Musik geläufigen Verfahren, auch die Ä Form eines Werks aus der Reihenstruktur abzuleiten, indem bspw. Intervallverhältnisse die zeitlichen Proportionen bestimmen, haben Komponisten Eigenschaften der Reihe zudem nichtseriell großformal thematisiert. So realisiert etwa Wladimir Vogel in Spiegelungen für Orchester (1952) die Idee der Spiegelsymmetrie, wie sie die Zwölftonreihe charakterisiert, auch durch Spiegelungen in der Orchestrierung und durch Umkehrung der Folge von rhythmischen Motiven (Lanz 2009, 160). 8. Sinn der Reihenkomposition Debatten über den Sinn der Reihenkomposition werden bis in die Gegenwart geführt. Statt pauschal zu urteilen, etwa darüber, ob die Reihentechnik anderen Kompositionsmethoden über- oder unterlegen oder als totalitär einengende schlichtweg abzulehnen sei, scheint es heute angesichts der Vielfalt der kulturell-ästhetischen Kontexte, die sich der Reihenkomposition geöffnet haben, sinnvoller zu fragen, was im einzelnen Fall einen Komponisten zur Arbeit mit ihr bewegt. So lag für Strawinsky der Anreiz der Technik gerade in ihrer befreienden Wirkung durch Einschränkung. Bei Copland führte die Reihenkomposition zu einer Öffnung des Materials, wie er sie ohne diese Methode nicht erreicht hätte (Copland / Perlis 1989, 151). Ä Harmonik / Polyphonie; Material; Serielle Musik Babbitt, Milton: The Function of Set Structure in the Twelve-Tone System [1946], PhD Dissertation, Princeton University 1992 „ ders.: Twelve-Tone Rhythmic Structure and the Electronic Medium, in: PNM 1/1 (1962), 49–79 „ ders.: Since Schoenberg, in: PNM 12/1–2 (1974), 3–28 „ ders.: Words about Music, hrsg. v. Stephen Dembski und Joseph N. Straus, Madison 1987 „ Bauer-Mengelberg, Stefan / Ferentz, Melvin: On Eleven-Interval Twelve-Tone Rows, in: PNM 3/2 (1965), 93– 103 „ Beiche, Michael: Terminologische Aspekte der »Zwölftonmusik« (Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft 15), München 1984 „ ders.: Zwölftonmusik, in: HmT (1985) „ Burt, Peter: The Music of Tōru Takemitsu, Cambridge 2001 „ Busch, Regina: Leopold Spinner, Bonn 1987 „ Carter, Elliott: Harmony Book, hrsg. v. 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Metzler Verlag GmbH 636 Siglenverzeichnis AfMw Archiv für Musikwissenschaft BzAfMw Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft CMR Contemporary Music Review DBNM Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik GMO Grove Music Online, 2001 ff. HbM20Jh Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert in 14 Bdn., Laaber 1999–2011 HmT Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, nach Hans Heinrich Eggebrecht hrsg. v. Albrecht Riethmüller, Stuttgart 1972–2005 JAMS Journal of the American Musicological Society KdG Komponisten der Gegenwart, hrsg. v. Hanns-Werner Heister/ Walter-Wolfgang Sparrer, München 1992 ff. (unter Jahresangabe der online aktualisierten Fassung) MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Friedrich Blume, 17 Bde., Kassel 1949–86 MGG2S Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Auflage, hrsg. v. Ludwig Finscher, Sachteil, 9 Bde., Kassel u. a./Stuttgart u. a. 1994–98 MGG2P Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Auflage, hrsg. v. 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Metzler Verlag GmbH 637 Autorinnen und Autoren Arsalan Abedian (Iran) Sandeep Bhagwati (Indien) Camilla Bork (Neue Musik und Literatur) Christa Brüstle (Themen-Beitrag 6; Gender; Intermedialität; Interpretation; Instrumente und Interpreten/Interpretinnen; Körper; Neue Musik und Architektur; Notation; Performance) Pietro Cavallotti (Avantgarde; Fragment; Parameter; Serielle Musik; Zufall) Stefan Drees (Bearbeitung; Collage/ Montage; Internet; Musikjournalismus) Albrecht Dümling (Nationalsozialismus) Kim Feser (Informelle Musik; Material) Fuyuko Fukunaka (Japan) Bernhard Gál (Klangkunst) Wolfgang Gratzer (Humor) Christian Grüny (Musikästhetik) Lukas Haselböck (Themen-Beitrag 7; Klangfarbe; Multiphonics; Musikalische Logik; Spektralmusik) Wolfgang Hattinger (Dirigieren) Björn Heile (Globalisierung; Instrumentales Theater) Jörn Peter Hiekel (Themen-Beiträge 4, 8; Film/Video; Natur; Neue Musik; Neue Musik und bildende Kunst; Neue Musik und Literatur; Postmoderne) Simone Hohmaier (Pop/Rock) Eberhard Hüppe (Konzert; Popularität) Mirjam James (Synästhesie) Tobias Janz (Gattung; Moderne; Musikhistoriographie; Musikwissenschaft; Stil) Stefan Jena (Nordeuropa) Martin Kaltenecker (Geräusch; Melodie; Musique concrète instrumentale; Rezeption; Struktur) Dieter Kleinrath (Harmonik/Polyphonie; Minimalismus/Minimal Music) Heekyung Lee (Korea) Wolfgang Lessing (Vermittlung) Dieter Mack (Südostasien) Jörg Mainka (Kompositionstechniken; Musikalische Syntax) Dugal McKinnon (Australien/Neuseeland/Ozeanien) Ulrich Mosch (Themen-Beitrag 1) Christoph Neidhöfer (Zwölftontechnik) Rainer Nonnenmann (Form; Institutionen/Organisationen; Kammerensemble; Kammermusik; Kanonisierung; Komplexität/Einfachheit; Kulturpolitik; Rhythmus/Metrum/Tempo; Säle und Gebäude; Stimme/Vokalmusik Sprache/Sprachkomposition; Streichquartett; Zentren neuer Musik) Graciela Paraskevaídis (Lateinamerika) Stefan Pohlit (Türkei) Nina Polaschegg (Improvisation; Jazz) Kai Johannes Polzhofer (Musiksoziologie) Wolfgang Rathert (ThemenBeitrag 2; Nordamerika) Friedemann Sallis (Schaffensprozess) Valentina Sandu-Dediu (Osteuropa) Marion Saxer (Composer-Performer; Medien) Stéphan Schaub (Neue Musik und Mathematik) J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH Martin Scherzinger (Afrika) Tobias Eduard Schick (Konzeptuelle Musik) Oliver Schneller (Arabische Länder) Stephanie Schroedter (Tanz/Tanztheater) Yuval Shaked (Israel) Martin Supper (Elektronische Musik/Elektroakustische Musik/ Computermusik) Elena Ungeheuer (Themen-Beitrag 5; Akustik/Psychoakustik) Christian Utz (Themen-Beiträge 3, 9; Analyse; Atonalität/Posttonalität/Tonalität; China/Taiwan/ Hong Kong; Gattung; Harmonik/ Polyphonie; Musiktheater; Musiktheorie; Rhythmus/Metrum/ Tempo; Stil; Stimme/Vokalmusik; Wahrnehmung; Zeit) Manolis Vlitakis (Instrumentation; Instrumente und Interpreten/Interpretinnen; Orchester) Stefan Weiss (Polystilistik) Ferdinand Zehentreiter (Musiksoziologie) 638 Personen- und Werkregister A Aa, Michel van der; After Life 231; The Book of Sand 308; Up close 232 Abbado, Claudio 65 Abdel-Rahim, Gamal 160 f. Abe Keiko 304 Abendroth, Walter 427 Abiam, Nana Danso 158 Ablinger, Peter 346 f., 432; Das Orchester 367, 452; Quadraturen 346; Stadtoper 367; Voices and Piano 370, 564; Weiss/Weisslich 22 210 Abraham, Paul 428 Abrahamsen, Hans 471; Lied in Fall 372 Abramović, Marina 504 Acconci, Vito 504 Achmatova, Anna 458, 576 Acosta, Rodolfo 360 Adamčiak, Milan 476 Adámek, Ondřej 72, 232, 497 Adams, John X, 19, 22, 191, 314, 466, 468, 518, 555; Doctor Atomic 413; Naive and Sentimental Music 455; Nixon in China 376, 413; Phrygian Gates 376; Shaker Loops 376; The Death of Klinghoffer 413 Adams, John Luther 22, 303, 376 Addessi, Anna Rita 606 Adès, Thomas 486; The Tempest 459 Adler, Alfred 402 Adler, Guido 170, 567, 583 Admiral 589 Adorno, Theodor W. XIIf., 4 f., 11 f., 19, 39, 45–48, 57, 61–63, 65, 171, 177, 187, 190, 195, 234, 238, 258, 282 f., 335, 362 f., 364, 386, 388–390, 392, 397, 399, 402–405, 418, 423, 435–439, 441–443, 451, 492, 508, 514, 516 f., 520, 523–525, 561, 568, 602, 605, 622; Alban Berg 404; Ästhetische Theorie 61, 122, 388; Bergs kompositionstechnische Funde 404; Das Altern der Neuen Musik 11; Funktion der Farbe in der Musik 42; Ideen zur Musiksoziologie 403; Musik und neue Musik 439; Philosophie der neuen Musik X, 9, 45, 271, 403, 435, 437–439, 443, 613; Theorie der musikalischen Reproduktion 311; Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei 446; Vers une musique informelle 9, 27, 42, 236, 282, 439 Agawu, Kofi 160 Aharonián, Coriún 71, 358 f., 361; Gran tiempo 64 Aho, Kalevi 472, 507 Aimard, Pierre-Laurent 302 Aischylos 457 Aitken, Robert 297 Akiyama Kuniharu 323; Hihō 19 143 Akses, Necil Kazım 595 Akutagawa Yasushi 141, 143, 323 al-Wadi, Solhi 183 f. Albers, Josef 32 Alén, Olavo 360 Alexander, Haim 320 Alexandra, Liana 494 Ali-Sade, Frangis 492 Alighieri, Dante 456 Allende-Blin, Juan 302 Alnar, Hasan Ferid 595 Alsop, Marin 246 Altdorfer, Albrecht; Die Alexanderschlacht 449 Alvear, Maria de 289; Colourful Penis 245; Sexo Puro 245; Vagina 245 J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH Amacher, Maryanne 246; CityLinks 340 Amis, Kingsley William; Girl, 20 523 Amonkar, Kishori 280 Anastas, Mounir 184 Anders, Günther 35 Andersen, Hans Christian 409, 459 Anderson, Laurie 95 f., 313, 565, 576; Home of the Brave 95, 505; United States I–IV 505 Andre, Mark 116, 414 f., 614; …22,13… 130, 227, 415; wunderzaichen 132, 415 Andriessen, Louis 162, 191, 314, 376–378, 509, 518; Il duce 574; M is for Man, Music, Mozart 230 Anhalt, István; Millennial Mall 273 Ansermet, Ernest 368, 523; Les fondements de la musique dans la conscience humaine 13 Antheil, George 466; Ballet mécanique 25, 303, 538 Antunes, Jorge 359 Anzellotti, Teodoro 300 Aperghis, Georges 289, 504, 574; Kryptogramma 303; Pandaemonium 411; Rasch 296; Récitations 570 f. Appadurai, Arjun 136 Applebaum, Louis 468 Apuleius 459 Aquino, Luke 588 Aquino, Reis Luke 588 Arabi, Osman 185 Aranda, Pablo 193, 360 Arditti, Irvin 295 Arel, Bülent 220, 595 Aristoteles 54; Nikomachische Ethik 270; Poetik 270; Rhetorik 270 Aristoxenos 38 Armbruster, Sascha 297 639 Armstrong, Louis 570 Arnaudow, Georgi 495 Arnawa, Madé 589 Arnold, Martin 228 Arnold, Matthew 372 Arom, Simha 534 Arp, Hans 562 Artaud, Antonin 128, 303, 459; Théâtre de Seraphin 410 Artaud, Pierre-Yves 297 Artjomow, Wjatscheslaw 490 f. Artmann, H.C. 456 Artusi, Giovanni Maria 418 Asbury, Stefan 216 Ashley, Robert 289, 313, 467; in memoriam Crazy Horse 477; Perfect Lives 230 f., 413; The Wolfman 213 Asmara, Michael 589 Assafjew, Boris 532 Atherton, David 331 Atoui, Tarek 182 f., 185 ’Attār, Farīd al-Dīn Muhammad 458 Auerbach, Lera 507 Augustinus 393 Augustyn, Rafal 500 Auinger, Sam 97 Austin, Larry 534 Avni, Tzvi 320 Awraamow, Arseni Michailowitsch 105 Ayres, Richard; Komposition No. 8 451; Komposition No. 48 451 Azizol, Ainolnaim 588 B Babadschanjan, Arno 491 Babbitt, Milton 220, 312, 461 f., 466 f., 524 f., 595, 605, 627 f.; All Set 326; Correspondences 483; Reflections for piano and synthesized tape 302; Three Compositions for Piano 502, 549, 627; Who Cares if You Listen? 24, 524 Bacewicz, Grażyna 499 Bach, Carl Philipp Emanuel 381 Bach, Johann Sebastian 22, 31, 93, 117 f., 125, 157, 197, 210, 267, 381, 435, 441, 467, 490, 510, 583; Doppelkonzert in d-Moll 508; Matthäuspassion 334; O Ewigkeit, du Donnerwort 121 Personen- und Werkregister Bachmann, Ingeborg 409, 458 f. Bäck, Sven-Erik 470 Bacon, Francis 450 Baes, Jonas 588 Bāgčabān, Sāmīn 317 Bahr, Hermann 381 Bailey, Derek 276 Baird, Tadeusz 499 Bajoras, Feliksas 491 Balakauskas, Osvaldas 488, 491 Balassa, Sándor 498 Balint, George 494 Ball, Hugo 562, 576 Baltakas, Vykintas 491 Bancquart, Alain 302, 558 Bandt, Ros 97, 193 Banfield, Volker 302 Bangerter, Ma-Lou 505 Barainsky, Claudia 576 Baran, İlhan 595 Barber, Samuel 467; Adagio for Strings 22 Bardanashvili, Joseph 320 f.; Magnificat 321 Barenboim, Daniel 70 Barkauskas, Vytautas 491 Barlow, Clarence; Einführung in die außerindische Musik (mit Peter Ä Pannke) 281; Im Januar am Nil 370; Çogluotobüsisletmesi 223 Barolsky, Michael 320 Barraqué, Jean 173, 219, 302, 458, 547, 549; Étude 552; Séquence 551; Sonate 243 Barrault, Jean-Louis 6 Barrett, Richard 341; Dark Matter 100, 306 Barron, Bebe/Barron, Louis 219 f.; For an Electronic Nervous System No. 1 220; Heavenly Menagerie 220 Barth, Karl 119 Barthes, Roland 569; Der Tod des Autors, 440 Bartók, Béla 25, 103, 112, 147, 183, 187, 201–203, 259–261, 294, 436, 466, 471, 475, 493, 497, 499 f., 508, 523, 544, 561, 579 f., 595; Allegro barbaro 538; Drei Etüden 529; Mikrokosmos 529; Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta 303; Sechs Tänze in bulgarischen Rhythmen 529; Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug 333, 529 Barton, William 193 Bartos, Karl 508 Bartulis, Vidmantas 491 Baschet, Bernard 98, 339 Baschet, François 98, 339 Basha, Mohammad Saad 184 Bashmet, Yuri 295 Bashō Matsuo 457 Battistelli, Giorgio 289, 304 Bauckholt, Carola 229 f., 289, 304, 315, 426, 574; In gewohnter Umgebung III 230 Baudelaire, Charles 381 Bauermeister, Mary 476 Baumeister, Willi; Das Unbekannte in der Kunst 448 Baumgarten, Alexander 389 Bausch, Pina 593 Bayer, Konrad 458 Bayle, François 219, 249, 622 Bayr, Georg 385 Bazán, Oscar 358 f.; Austeras 359 Beach, Amy 590 Becerra, Gustavo 359 Beck, Julian 575 Beckett, Samuel 211, 261, 411, 414, 457, 577 Beckwith, John 468 Bedrossian, Franck 251 Beecroft, Norma; Tre Pezzi Brevi 628 Beethoven, Ludwig van 9, 21–23, 31, 58 f., 68, 72 f., 117, 125 f., 170, 198, 200, 210, 236, 272, 284, 348, 382, 435, 441 f., 506, 520, 525, 529, 544, 546, 579–581, 617; Appassionata (Sonate für Klavier f-Moll op. 57) 139; Fidelio 334; Fünfte Sinfonie 233, 583; Missa solemnis 56; Neunte Sinfonie 243, 334; Streichquartett op. 131 175; Streichquartett op. 132 208, 581; Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria 55 Behrens-Senegalden, Georg August 104 Behrman, David 84, 289 Beil, Michael 315; BLACK JACK 232; exit to enter 232 640 Personen- und Werkregister Béjart, Maurice 219 Bekker, Paul 397, 399, 428, 438, 443 Beljajew, Wladimir (Beleaev, Vladimir) 493 Beloiu, Nicolae 493 Beltjukow, Sergej 492 Ben-Haim, Paul 320 Ben-Moshe, Boaz; Triple Concerto 321 Benary, Barbara 375 Benda, François 297 Beneš, Juraj 497 Beneventi, Simone 304 Benjamin, George 216, 486, 557 Benjamin, Walter 62, 415, 457, 523 Bennink, Han 270, 277 Bense, Max 224, 235 Bentoiu, Pascal 493 f. Berata, Dewa Putu 589 Berberian, Cathy 246, 476, 574 f.; Stripsody 565, 575 Berg, Alban 66, 169, 171, 284, 329 f., 333, 404, 435 f., 454, 499, 561, 576, 582, 631; Kammerkonzert 330; Lulu 22, 109, 197, 230, 409, 475; Lyrische Suite 530, 628; Schließe mir die Augen beide 628; Violinkonzert 121, 266; Wozzeck 335, 409 Berg, Gunnar 471 Berg, Josef 497 Berger, Karol 383, 613 Berger, Wilhelm Georg 493 Bergman, Erik 254, 471 Bergman, Ingmar; Das siebente Siegel 130, 227 Bergson, Henri 393, 600, 610 f., 613 Berio, Luciano 21, 145, 159, 220, 283, 291, 296–302, 314, 331, 466, 470 f., 482–485, 488, 495, 509, 546 f., 552, 574–577, 593; a – ronne 572; Allelujah I und II 482; Chemins I 299; Circles 92, 299, 478, 575; Coro 484; Cries of London 370; Différences 299; Folk Songs 370, 575; Formazioni 485; Kol Od (Chemins VI) 298; Linea 370; Nones 482; Passaggio 412; Quartetto per archi 579; Requiem of Reconciliation 577; Requies 485; Rounds 302; Sequenza I 11, 385, 626; Sequenza II 299; Sequenza III 249, 370, 565, 575; Sequenza V 298; Sequenza VI 294, 601; Sequenza VII 370; Sequenza VIII 265, 294; Sequenza IXa 370; Sequenza X 298, 370 f.; Sequenza XI 299; Sequenza XII 294, 297; Sequenza XIII 300, 370; Sequenze 296, 333, 470; Sinfonia 190, 195, 210, 240, 243, 264, 272, 483, 506, 520, 576, 584; SOLO 298; Tema – Omaggio à Joyce 455, 563, 575 Berkeley, Lennox 372, 374 Berkoff, Steven 410 Berliner, Emil 26 Berlioz, Hector 45, 170, 336, 399, 529; Grand traité d’instrumentation et d’orchestration modernes 291; Symphonie fantastique 561 Bermúdez, Egberto 360 Bernard, Jonathan 376 Bernius, Frieder 577 Bernstein, Charles 415 Bernstein, Leonard 31, 60, 467, 523; Absorption of Race Elements into American Music 20; Candide 20, 631; Chichester Psalms 123; Mass 20, 370; Prelude, Fugue, and Riffs 29; West Side Story 22 Bértola, Eduardo 358 f.; Trópicos 359 Besseler, Heinrich 35, 428 Beuger, Antoine 518, 604 Beumer, Isabeella 504, 565 Beuys, Joseph 348, 451; Erdklavier 503; Infiltration homogen für Konzertflügel 503 Beyer, Marcel 460 Beyer, Robert 79; Klang im unbegrenzten Raum 221; Klangstudie I–III 220; Ostinate Figuren und Rhythmus 221 Beyls, Peter 224 Bhagwati, Sandeep 137, 151 f., 468; Atish-e-Zaban 151, 282, 576; Rasalila 151, 282 Bhatia, Vanraj 280 Bhatkande, Vishnu Narayan 280 Bhatt, Vishwa Mohan 281 Bibalo, Antonio 470 Biel, Michael von; Streichquartette 250; Zweites Streichquartett 580 Bień, Mateusz 500 Bijma, Greetje 565 Billone, Pierluigi 426; Legno. Edre 290, 296; Sgorgo 300 Birkenkötter, Jörg 426 Birnbaum, Johann Abraham 510 Birtwistle, Harrison 246, 302, 456; Earth Dances 485; Gawain 409; Punch and Judy 409, 573; The Cry of Anubis 298; The Last Supper 409; The Second Mrs. Kong 409; The Triumph of Time 451 Bjørlo, Per Inge; Dark Matter 100, 306 Björk 508, 570 Blaauw, Marco 297 f. Blacher, Boris 145; Abstrake Oper Nr. 1 410; Jüdische Chronik 66, 429 Black, Annesley 72, 232; 4238 De Bullion 367 Blackwood, Easley; Twelve Microtonal Etudes for Electronic Music Media 110 Blake, Michael; Kwela 163; Let us Run out of the Rain 163; Taireva 162 Blanco, Juan 359 Bland, Ed 157 Blavatsky, Helena 41 Bley, Carla 326 Bloch, Ernst 238; Violinkonzert 445 Blok, Alexandr 458 Blomdahl, Karl-Birger 470; Aniara 472 Blonk, Jaap 504, 565, 576 Bloom, Harold 171 Blum, Eberhard 297 Blume, Friedrich XII, 428; Was ist Musik? 12 Blumenthaler, Volker 449 Boder, Michael 216 Bodorová, Sylvie 497 Body, Jack 193 Boehmer, Helga 47 Boehmer, Konrad 626; Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik 32 Boetticher, Wolfgang 428 Bogatyrjow, Anatoli 492 Bogdanović, Ognjen 496 Bogojević, Nataša 496 641 Bohrer, Karl Heinz XIII Bohrmann, Karl 451 Bokwe, John Knox 163 Bolaños, César 358 Bolcom, William 22 Bond, Edward 412 Bonhoeffer, Dietrich 430 Borboudakis, Minas 456 Boretz, Benjamin 462 Borio, Gianmario 35, 48, 194, 283, 363 Born, Georgina 138, 402 Bornemann, Fritz 90, 445, 542 Borowski, Johannes Boris 244 Borris, Siegfried 428 Bose, Hans-Jürgen von 196, 237, 264, 341, 484, 507, 519, 555; Zweites Streichquartett 581 Boskovich, Alexander Uriah 320 Bosshard, Andres 97 Botti, Susan 570 Boucourechliev, André; Archipel II 580 Boulanger, Nadia 25, 28, 110, 280, 285, 318, 468, 618 Boulez, Pierre X, 3–13, 46 f., 61–64, 67 f., 89 f., 92–94, 128, 157, 171, 173–177, 188, 195, 198, 216, 218 f., 229, 234 f., 239, 253 f., 258, 286, 291, 296 f., 311 f., 330 f., 333–335, 367–369, 386, 390, 408, 410, 419 f., 437, 440, 443, 450, 459, 462 f., 466, 482–486, 488 f., 502, 506, 508, 515, 523–525, 528–531, 533, 538, 544 f., 547–553, 567, 579 f., 583 f., 601 f., 611, 615; 12 Notations 301, 485 f.; Anthèmes 2 294; …Auprès et au loin 6; Cummings ist der Dichter 576; Dérive 2 486; Dialogue de l’ombre double 296; Domaines 93, 296; Dritte Klaviersonate 10 f., 477, 504, 625; Éclat 601; Études de musique concrète 552; Éventuellement … 3, 5; …explosante-fixe… 296, 367, 483; Improvisation I&II sur Mallarmé 299; Le marteau sans maître 5, 12 f., 42, 63, 176 f., 262 f., 267, 299, 333, 337, 369, 457, 518, 544, 552 f., 576; Le Visage Nuptial 107, 372; Leitlinien 271; livre pour quatuor 249, 579; Notations I–IV 485; Pli selon pli 369, 457, Personen- und Werkregister 484, 525, 576; Poésie pour pouvoir 9, 90, 483; Polyphonie X 330, 482, 529, 551; Propositions 613; Répons 249, 482, 524; Rituel in memoriam Bruno Maderna 249, 265, 482; Schönberg Is Dead 5; Sonatine 296; Strawinsky bleibt 5; Structures 4 f.; Structures I 13, 234, 302, 334 f., 448, 475; Structures Ia 4, 5 f., 42, 62, 174, 177, 262, 267 f., 420, 530 f., 550 f., 583, 622; Structures Ib 5, 551; Structures Ic 5, 551; Sur Incises 299; Zweite Klaviersonate 12, 301, 613 Bouliane, Denys 468 Bour, Ernest 215 Bourdieu, Pierre 402 f. Bowie, David; Heroes 509; Low 509 Boyd, Anne 193, 207 Brabantinus, Gerardus 385 Brahms, Johannes 21, 236, 272, 329, 561 Branca, Glenn 376, 467 Brandmüller, Theo 302 Brânduş, Nicolae 494 Brant, Henry 21 f., 88 f., 93, 445, 467; Antiphony One, For Symphony Orchestra 89 Braque, Georges 210 Braun, Yehezkel 320 Braunfels, Walter 428 Braxton, Anthony 278, 313, 326–328, 509; Compositions 328 Brecht, Bertolt 58, 352, 408, 429, 458, 532; Der Ozeanflug 71 Brecht, George 92, 410, 503, 626; Drip Music 248; String Quartet 581 Bredemeyer, Reiner 59, 507 Breģe, Ilona 492 Bregman, Albert S. 168, 606; Auditory Scene Analysis 601 Breier, Albert 518, 604 Brelet, Gisèle 611 Brendel, Franz 284 Breuker, Willem 277 Brewster, Michael; acoustic sculptures 339 Bright, Colin 193 Brillouin, Léon 462 Brinkmann, Reinhold 170 f., 177 Britten, Benjamin X, 121–123, 190, 246, 253, 370, 525; A Midsummer Night’s Dream 409, 459; Billy Budd 409; Cantata Academica 631; Curlew River 145; Death in Venice 409; Nocturnal after John Dowland 300; Peter Grimes 409; The Turn of the Screw 409; War Requiem 58, 121, 456, 577 Broch, Hermann; Der Tod des Vergil 458 Brooks, William 25 Broomfield, Howard 97 Brouwer, Leo 359 Brown, Chris 309 Brown, Earle 30–33, 210, 219, 240, 276 f., 451, 461, 467, 584, 624; 25 Pages 32; 4 Systems 220, 327; Available Forms 31 f., 235; December 1952 33, 475, 504, 625; Folio 235, 327, 475, 625; November 1952 (Synergy) 475, 504; String Quartet 32; Tracking Pierrot 329 Brown, James 570 Broyles, Michael 20 Bruči, Rudolf 495 Bruck, Wilhelm 299 f. Bruckner, Anton 210, 381, 614; Erste Sinfonie 108, 482 Bruegel, Pieter der Ältere; Landschaft mit dem Sturz des Ikarus 449 Bruner, Cheryl L. 176 Brunner, Eduard 297 Brus, Günter 504 Brush, Leif 432 Bryars, Gavin 376–378 Bräuninger, Jürgen 163 Brötzmann, Peter 276 Brün, Herbert 220 Büchner, Georg 409 f., 459; Lenz 410 Bücken, Ernst 428; Handbuch der Musikwissenschaft 381 Budd, Harold 375, 409 Budón, Osvaldo 360 Buenaventura, Antonino 588 Buene, Eivind 471 Bukofzer, Manfred 428 Bull, Edvard Hagerup 470 Bülow, Hans von 601 642 Personen- und Werkregister Buñuel, Luis; Un chien Andalou 228 Burden, Chris 504 Buren, Daniel 91 Bürger, Peter 566; Theorie der Avantgarde 194 Burman, Rahul Dev 280 Burri, Alberto; Lettere 1969 175 Burroughs, William S. 210, 413 Burt, Warren 193 Bush, Kate 570 Busoni, Ferruccio 106, 432, 465; Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst 26, 79, 104, 258 Bussotti, Sylvano 109, 289, 299, 451, 476, 575 f., 584; Ancora odono i colli 576; Five Piano Pieces for David Tudor 626; La passion selon Sade 411; Pearson Piece 572 Butor, Michel 411 Butting, Max 427 Buzko, Jurij 490 Bußmann, Philip 231 Byrne, David 375, 508 Byström, Britta 470 C Cacciari, Massimo 409, 414, 614 Caccini, Giulio; Le nuove Musiche 438 Cáceres, Eduardo 360 Cage, John X, XIIIf., 4–6, 9–11, 17, 19, 21 f., 24–27, 30–33, 35–38, 40–42, 67, 69–72, 106 f., 109 f., 116, 127 f., 130 f., 140, 143 f., 149, 168, 188, 190, 195, 212 f., 219–222, 231, 235–237, 240, 253, 267 f., 274, 276, 287, 291, 301–306, 309, 312 f., 318, 324, 327, 331, 335 f., 339, 346–348, 353, 365–367, 370, 374, 387, 393, 406, 420, 437, 448, 452 f., 466 f., 470, 495, 498, 502–504, 508 f., 521, 537–539, 544 f., 548 f., 579 f., 584 f., 593, 604, 612, 615–617, 624–627; 0΄00˝ 348; 103 227; 30 pieces for string quartet 110; 4΄33˝ 27, 130, 248, 335, 346–348, 366, 378, 476, 610; 45’ for a speaker 615; Apartment House 1776 372; Aria 249, 476, 575; Atlas Eclipticalis 31, 484; Bacchanale 106, 248; Bird Cage 431; Cartridge Music 221; Cheap Imitation 372; Composition as Process 615; Concert for Piano and Orchestra 27, 30, 235, 243, 475 f., 482, 504, 545, 625; Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra 624; Credo in US 26; Europera 5 411; Europeras 242; Europeras 1&2 411, 413; Europeras 3&4 411; First Construction (in Metal) 248, 303; Fontana Mix 27, 220, 476; Forerunners of Modern Music 5 f.; Freeman Etudes 110, 293; History of Experimental Music in the United States 30; HPSCHD 367; Imaginary Landscape No. 1 222, 248, 304, 366; Imaginary Landscape No. 1–3 304; Imaginary Landscape No. 4 248; Imaginary Landscape No. 5 220; Music for Carillon No. 1 476, 625; Music for Piano 1–84 476; Music for Wind Instruments 333; Music of Changes 5, 42, 262, 267, 302, 312, 335, 475, 537, 625 f.; Music Walk 289, 348; One11 227; Roaratorio 455, 570; Seven 329; Silence 248, 390; Sonatas and Interludes for Prepared Piano 26, 302; Song Books (Solos for Voice 3–92) 576; String Quartet in Four Parts 549, 579; The Future of Music: Credo 26, 41; The Perilious Night 539; Theatre Piece 410; Thirty Pieces for Five Orchestras 482; »time-length pieces« 267 f., 615; Untitled Event 92, 410, 503, 615; Variations I 235, 348, 625 f.; Variations I–VIII 348, 504; Variations II 312; Variations IV 27; Water Music 476; Water Walk 348; Williams Mix 220, 476 Cahill, Thaddeus 26 Cai Yuanpei 200 Calder, Alexander 227, 625; mobiles 475 Cale, John 375; Church of Anthrax (mit Terry Ä Riley) 509 Cambreling, Sylvain 216, 300 Cameron, John 573 Campion, Jane; The Portrait of a Lady 499 Canetti, Elias 410 Cao Yu 202 Capellen, Georg 253 Capoianu, Dumitru 493 f. Cardenal, Ernesto 456, 458, 577 Cardew, Cornelius 31, 69, 152, 195, 213, 378, 467, 508 f.; Treatise 248, 277, 478, 626 Cardiff, Janet 98, 100 Cardona, Alejandro 360 Carlos, Wendy; Switched on Bach 467 Carlson, David; Anna Karenina 410 Carnap, Rudolf 462 Carrillo, Julián 105 f.; Preludio a Colón 105; Teoría del Sonido 13 105 Carrington, Leonora 460 Carter, Elliott 18, 22, 145, 262, 294, 298 f., 301–303, 400, 461 f., 466 f., 525, 538, 546, 581, 605, 614; A Symphony of Three Orchestras 484; Brass Quintet 298; Concerto for Orchestra 484; Drittes Streichquartett 536, 628; Eight Pieces for Four Timpani 303; Konzert für Klarinette und Ensemble 296; Night Fantasies 628; Piano Sonata 301; Shop Talk by an American Composer 24; Symphonia: Sum Fluxae Pretiam Spei 485; Triple Duo 329; Zweites Streichquartett 534–536 Casella, Alfredo 285 Caskel, Christoph 304, 311, 622 Cassidy, Aaron 293 Cassirer, Ernst 391 Castellengo, Michèle 167 Castiglioni, Niccolò 43 Caterina, Roberto 606 Caturla, Alejandro García 358 Caussé, Gérard 295 Ceauşescu, Nicolae 493, 501 Celan, Paul 73, 456, 458; Todesfuge 429 Cendo, Rafaël 251 Cerha, Friedrich 46, 195, 197, 216, 236, 290, 294, 318, 331, 337, 447; Cellokonzert 486; Eine Art Chansons 273; Erstes Streichquartett (maqām) 112; Fasce 42 f., 484; Keintate I/II 273; Mouvements I–III 42; Requiem of Reconciliation 577; Spiegel I–VII 42 f., 243, 643 483, 558, 585; Spiegel II 43, 108; Spiegel IV 483; Spiegel V 483; Spiegel VII 483; Zwei Szenen 576; Zweites Streichquartett 582 Cervantes, Miguel de 459 Cezar, Corneliu 494 Chadwick, George 23, 28 Chahine, Abdallah 159 Chailley, Jacques 523 Chailly, Riccardo 216 Chakrabarty, Dipesh 137 Chan Hingyan 208 Chan Kambiu 208 Chan Kinwah 207 Chan Waikwong (Victor) 207 Chan Wingwah; Sinfonien Nr. 6, 7 und 9 207; Trio 208 Chang, Lynn 150 Chao Ching-Wen 206 Chapman, Christine 298 Char, René 457 Charms, Daniil 562 Chase, Gilbert 18 Chatham, Rhys 375 f. Chávez, Carlos 254, 285, 358 f. Chen Gang; Butterfly Lovers’ Violin Concerto (mit Ä He Zhanhao) 201 Chen Mingzhi 147, 201 f. Chen Qigang 201; Poème Lyrique II 203; Yuan 203 Chen Xiaoyong; Circuit 204; Die (Dyeh) 203 Chen Xujing 135 Chen Yi 136, 203 f., 468; Duo Ye 203 Cherrier, Sophie 297 Chiang Kai-Shek 205 Chin Kyu-Yung 351 Chin Unsuk 244, 351; Alice in Wonderland 507; Šu 136 Chion, Michel 249, 622 Chlebnikow, Velimir 456, 562 Chojnacka, Elisabeth 303 Chomsky, Noam 112, 224, 418 Chong Hoe-Gap; Thema und Variationen 145, 253, 350 Chong Huey Ching 588 Chong Kee Yong; Yuan-He 587 Chopin, Frédéric; Klaviersonate b-Moll 585 Chopin, Henri 562, 565 Chottin, Alexis 183 Personen- und Werkregister Chou Wen-Chung 138, 147, 237, 254, 451; Asian Concepts and Twentieth-Century Western Composers 140; Pien 140; Seven Poems of T’ang Dynasty 202; The Willows Are New 140, 202; Windswept Peaks 204; Yü Ko 140, 202 Chowning, John 110, 557; Stria 221; Turenas 222 Chrennikow, Tichon 491 Christensen, Thomas 38 Christou, Jani 116, 122, 504, 604; Anaparastasis III – The Pianist, 411 Christow, Dimitar 494 Churchill, Winston 211 Ciconia, Johannes 266 Cikker, Ján 497 Ciobanu, Ghenadie 493 Claire, Paula 565 Clarke, Derek 468 Claus, Carlfriedrich 455 Clementi, Aldo 43, 69; Informel 1–3 584 Clifton, Thomas 35 Cobbing, Bob 504, 565 Cohan, George M. 33 Coleman, Charles 577 Coleman, Gene 278 Coleman, Ornette 22, 57, 467; Skies of America 29 Coleridge, Samuel Taylor 305 Collins, Nicolas 84, 213, 298, 509 Coltrane, John 467 Conrad, Tony 276, 327, 375 Constantinescu, Dan 493 f.; Klavierkonzert 493 Cont, Arshia 167 Contratto, Graziella 246 Cook, Nicholas 138, 172, 178, 606; The Cambridge History of Twentieth-Century Music (mit Anthony Ä Pople) XIV, 196, 396 Cook, Peter; Bloch City 445 Copland, Aaron 22, 285, 370, 400, 466, 631 f.; Four Motets 576; Inscape 631; Music for the Theatre 28; Piano Concerto 28; Piano Variations 28 Coppola, Francis Ford; Dracula 499 Corner, Philip 375 f. Corrado, Omar 361 Cossin, David 304 Coulter, John 193 Cousins, John 193 Cowell, Henry 21, 23, 26, 30–32, 41, 140, 144 f., 195, 220, 253, 260, 285, 301 f., 330, 461, 465–467, 475, 536; Aeolian Harp 301; American Composers on American Music 17, 466; Drittes Streichquartett 624; New Musical Resources 30, 465, 533; Ongaku 143, 145; The Banshee 465; The Tides of Manaunaun 248, 465 Cox, Franklin 61 Crabbe, George 409 Craig, Dale 207 Crawford Seeger, Ruth 22 f., 41 Crawford, Richard 18 Creed, Marcus 577 Croall, Barbara 468 Crumb, George 22, 92, 147, 149, 299, 302, 467; Black Angels – Thirteen Images from the Dark Land 293, 581; Echoes of Time and the River 478; Makrokosmos I–II 477 Csemiczky, Miklós 498 Cuni, Amelia 281 Cunningham, Merce 26, 32, 331, 410, 593, 615 Curran, Alvin 27, 97, 213, 277; erat verbum 564 Cutler, Chris 509 Cuvillier, Armand 611 Czernowin, Chaya 300, 320; Die Kreuzung 290; Maim 296; Pnima … ins Innere 414 Czukay, Holger 82 D Dadelsen, Hans-Christian von 341, 378; Sentimental Journey 264 Dahlhaus, Carl XIIf., 13, 19, 43, 47, 170 f., 178, 190, 197, 234 f., 271, 363, 369, 382, 390, 396 f., 417, 423, 435 f., 439, 442; Analyse und Werturteil 521; Thesen über engagierte Musik 61 Dalbavie, Marc-André 291, 558; Antiphonie. Double Concerto pour clarinette et cor de basset 485; Concertate il suono. Concerto pour 644 Personen- und Werkregister orchestre 485; Concerto pour violon et orchestre 482, 485; Requiem of Reconciliation 577; The Dream of the Unified Space. Concerto pour orchestre 485 Dallapiccola, Luigi 370; Piccola musica notturna 630; Ulisse 456 Dalos, Rimma 457 Dambis, Pauls 491 Damiens, Alain 297 Damrosch, Frank 28 Damrosch, Leopold 28 Damrosch, Walter 28 Dan Ikuma 141, 323 Dănceanu, Liviu 494 Daniel, Oliver 220 Danuser, Hermann 43, 47, 195, 311, 382, 397; Die Musik des 20. Jh.s XV Darboven, Hanne 476 Darwisch, Mahmoud 122, 458 Daske, Martin; Foliant Nr. 29 476 Daugherty, Michael 465 Davidovsky, Mario 220, 318 Davies, Peter Maxwell 456, 481; Eight Songs for a Mad King 249, 385, 520, 572 f. Davis, Bruce 97 Davis, Miles 22; Agharta 29; Dark Magus 29; Pangaea 29, 467 Dean, Brett 193 Debussy, Claude 21, 35, 41 f., 45, 47, 103, 111, 162, 195, 253, 259 f., 326, 329, 331, 369, 399, 431, 436, 446, 455, 457, 465, 544, 557, 612, 621; Jeux 41, 554; La Mer 336; Pelléas et Mélisande 409 Decroupet, Pascal 626 Dediu, Dan 494 Dehlawī, Husain 317 Deinzer, Hans 297 Delage, Maurice 253 Delangle, Claude 297 Deleuze, Gilles 255, 387, 602 Deliège, Irène 601 Demnig, Gunter 98 Dempster, Stuart 298 Dench, Chris 193, 341 Denew, Ljubomir 495 Deng Xiaoping 146, 200 Denhoff, Michael 274 Denissow, Edisson 195, 302, 440, 484, 488 f., 491, 493, 495; L’écume de jours 489; Le soleil des incas 489; Peinture 489; Requiem 489 Denoke, Angela 576 d’Erlanger, Rodolphe 183 Derrida, Jacques 62 Despić, Dejan 495 Desprez, Josquin 122; Magnificat quarti toni 198 Dessau, Paul 59, 428 f., 458, 466; Die Verurteilung des Lukullus (mit Bertolt Ä Brecht) 429; Jüdische Chronik 66, 429; Lilo Hermann 429; Miserere 66 Deutsch, Yaron 300 Dewey, John 612 Dhammabutra, Narongrit 587 Dharmoo, Gabriel 468 Di Scipio, Agostino 545; Audible EcoSystemics 95; Audible EcoSystemics Nr. 2: Feedback Study 96; Audible EcoSystemics Nr. 3b: Background Noise Study 96; Background Noise Study, in the Vocal Tract 96 Diaghilew, Sergej 621 Dianda, Hilda; … y después el silencio 359 Dibelius, Ulrich XI, 397 Dickson, William 26 Dierksen, Uwe 298 Dierstein, Christian 304 Dillon, James 341, 581; helle nacht 479; ignis noster 479 d’Indy, Vincent 529 Dilthey, Wilhelm 600, 610 Dine, Jim 503 Dinescu, Violeta 494 Ding Shande; Long March Symphony 201 DiOrio, Dominick 577 Dittrich, Paul-Heinz 59 f., 302, 456; Requiem of Reconciliation 577 Djaelani, Yoesbar 589 Dobrowolski, Andrzej 499 Doğuduyal, Meliha 595 Döhl, Friedhelm; Sound of Sleat 581 Dohmen, Andreas; 13_infra 576 Dolat-Shahi, Dariush; Elektronische Musik für tār und setār 318 Domeniconi, Carlo; Hommage à Jimi Hendrix 508 Domingo, Placido 204, 271 Donatoni, Franco 296, 299 f.; Etwas ruhiger im Ausdruck 329; Portrait 302; Souvenir 240, 626 Döpfner, Mathias 400 Dor, George 159 f. Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 456; Der Großinquisitor 121; Die Brüder Karamasow 121 Dowling, Lorelei 297 Downes, Edwin Olin 400 Dragostinow, Stefan 495 Drašković, Milimir 496 Dresher, Paul 376 Drewes, Heinz 427 Dreyblatt, Arnold 375 Driscoll, John 213 Drouet, Jean-Pierre 304 Druckman, Jacob 22, 467 Dschurow, Plamen 495 Du Mingxin; Yumeiren (mit Ä Wu Zuqiang) 201 Du Yun 204 Dubček, Alexander 211 Dubra, Rihards 492 Duchamp, Marcel XIV, 23, 33, 67, 91, 230, 339, 448 f., 452 Duckworth, William 376 Dufour, Denis 249 Dufourt, Hugues 110, 189, 302, 449, 555–557; Le Déluge d’après Poussin 484; Le Philosophe selon Rembrandt 484; Musique spectrale 556; Plus oultre 303; Saturne 558 Dufrêne, François 563 Dumitrescu, Iancu 494, 557 Dunsby, Jonathan 503 Durkó, Peter 498 Durkó, Zsolt 498 Dusapin, Pascal 302; Mille plateaux 447; Faustus, the last night 372 Duteurtre, Benoît; Requiem pour une avant-garde 523 Dutilleux, Henri 291, 294, 481, 589 645 Dvořák, Antonín 20 f., 28, 381; (Neunte) Sinfonie Aus der Neuen Welt 20, 26, 465; Music in America 21 Dylan, Bob 570 Dzenītis, Andris 492 E Eastman, Julius 375 Eben, Petr 124, 302, 497 Eberwein, Anke 598 Eckert, Gerald 447 Eckhardt-Grammaté, SophieCarmen 468 Eco, Umberto 282 f., 603; L’opera in movimento e la coscienza dell’epoca 11; Opera aperta 11 Edgerton, Michael Edward; Friedrich’s Comma 575 Edison, Thomas Alva 26 Edwards, Peter 588 Edwards, Ross; Yarrageh: Nocturne for Solo Percussion and Orchestra 193 Edwards, Sian 216 Eggebrecht, Hans Heinrich 423 Eggen, Christian 100 Eggert, Moritz 508 f.; Hämmerklavier 508; Riff 508 Egk, Werner 410, 427 Ehrenfels, Christian von 600 Ehrenzweig, Arnold 523 Ehrlich, Abel 320 Eichenauer, Richard 428 Eichendorff, Joseph von 562 Eimert, Herbert 234, 461, 622; Epitaph für Aikichi Kuboyama 563; Klang im unbegrenzten Raum 221; Klangstudie I–III 220; Ostinate Figuren und Rhythmen 221 Einarsdóttir, Gunnhildur 308 Einem, Gottfried von; Dantons Tod 409; Der Prozeß 409 Einstein, Albert 221; Relativitätstheorie 610 f. Einstein, Alfred 428 Eisenstein, Sergei 79; Alexander Newski 228; Iwan der Schreckliche 228 Eisler, Hanns XIII, 56–59, 61, 97, 229, 331, 428 f., 458, 466, 524, 532; Personen- und Werkregister Deutsche Sinfonie 59, 429; Palmström 329; Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben 329 Eizirik, Ricardo 232 El-Dabh, Halim 160; The Expression of Zaar 184 Eliasson, Anders; Desert Point 470; Vierte Sinfonie 470 Elkholy, Wael Sami 184 Ellington, Duke; Black, Brown, and Beige 29, 466 Eloy, Jean-Claude; À l’Approche du Feu Méditant 145 Éluard, Paul 458 Elvira, Julián 296 Emcke, Carolin 459 Emerson, Ralph Waldo 23; The American Scholar 21 Enescu, George 500; Kammersinfonie für 12 Instrumente op. 33 493 Engel, Joel 320 Englund, Einar 471 Engström, Andreas 338 Enkel, Fritz 220 Eno, Brian 509 Enríquez, Manuel 359 Ensslin, Gudrun 67, 409, 459 Enzensberger, Hans Magnus 196, 458 Eötvös, Péter 213, 216, 294, 498; Angels in America 246; Brass – The Metal Space 298; Drei Schwestern/Three Sisters 246, 459; Psalm 151 in memoriam Frank Zappa 509; Radames 246; Snatches of a Conversation 298 Eppelsheim, Benedikt 296 Ercklentz, Sabine 246 Erdener, Turgay 595 Erdman, Jean 26 Erkin, Ulvi Cemal 595 Ernst, Johannes 297 Ernst, Max 210, 450 Erpf, Hermann 169, 234, 261, 418; Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik 258 Escher, M.C. 449 Essl, Karlheinz 222, 278, 308 f., 627; 7x7 fo(u)r clarinets 309; Father Earth 508 Essyad, Ahmed 184 Estrada, Julio 359 f.; eua-on 360 Etkin, Mariano 359–361; Caminos de cornisa 360; Soles 360 Euba, Akin 138, 158–160, 163, 254; Chaka 160; Scenes from Traditional Life 158 Evangelisti, Franco 43, 69, 213, 277, 545, 622, 625 f.; Aleatorio 580, 625; Die Schachtel 410; Proporzioni 385 F Fabbriciani, Roberto 297 Fakhouri, Kifah 184 Fano, Michel 547; Sonate pour deux pianos 551 Farhang, Alireza 318 f.; Tak-Sim 318 Farmer, Henry George 183 Farr, Gareth 193 Farrokhzad, Forugh 318 Farwell, Arthur 465 Fassbinder, Rainer Werner 410 Fast Forward; Trommelfeuer 504 Febel, Reinhard 341, 432; Fantasie über ein Thema von Franz Schubert 538; Sculpture/Motion Picture 538 Federhofer, Hellmut 427 Feiler, Dror 509 Feldman, Morton XIII, 22, 28, 30–33, 131, 176 f., 219 f., 229, 235, 276, 287, 302 f., 341, 390, 393, 414 f., 449, 451, 467, 474 f., 484 f., 518, 525, 580 f., 601, 606, 612, 623–625; A Life without Bach and Beethoven 31; Between Categories 345; Coptic Light 33, 261, 485; Extensions III 378; For Bunita Marcus 265; For Samuel Beckett 261; Give my Regards to Eighth Street 33; Intermission V 378; Intersection 220; Intersections 1–4 475; Intersection 3 474; Neither 414, 457, 617; Patterns in a Chromatic Field 378; Piano Pieces 1956 283; Projection 1 624; Projections 1–5 33, 475, 624; Rothko Chapel 33, 591; Spring of Chosroes 177; String Quartet II 237; The King of Denmark 303; The Viola in My Life 2 329 646 Personen- und Werkregister Feliciano, Francisco 588 Feliz, Juro Kim 588 Ferneyhough, Brian 110, 171, 175 f., 223, 263, 273, 290, 301–303, 341, 344, 387, 390, 414 f., 420, 447, 478 f., 502, 518, 525, 528, 544 f., 555, 568 f., 581, 584, 602; Allgebrah 296; Bone Alphabet 303; Carceri d’Invenzione 449; Carceri d’Invenzione I 478; Carceri d’Invenzione II 296; Cassandra’s Dream Song 372; Chronos– Aion 240; Funerailles 293; Il Tempo della Figura 533; La chute d’Icare 296, 449; Missa Brevis 576; O Lux 198; Plötzlichkeit 240; Sechstes Streichquartett 240, 617; Shadowtime 415; Streichquartette 294; Streichtrio 175; Time and Motion Study II 312, 478 f.; Time and Motion Study III 572 Ferrari, Luc 71, 97, 249, 432, 622; Presque rien I 68; Strathoven 520 Ferreyra, Beatriz 622 Fichte, Johann Gottlieb 66 Fiedler, Leslie A.; Cross the Border – Close the Gap 517 Finnendahl, Orm; Wheel of Fortune 223 Finnissy, Michael 302, 341 Fırat, Ertuğrul Oğuz 595 Firsowa, Jelena 489, 491 Fischinger, Oskar 227, 339, 452 Fisk, Elliott 300 Fitkin, Graham 376 Fitzgerald, F. Scott 410 Flipse, Eline; Broken Silence 203 Floros, Constantin 171 Flynt, Henry 346 f. Fokkens, Robert 162 f. Fokker, Adriaan Daniel 107 Föllmer, Golo 308 Fontana, Bill 27, 97, 220, 339 f., 476; Brooklyn Bridge Sound Sculpture 339; Landscape Soundings 339 Fontyn, Jacqueline 245 Forkel, Johann Nikolaus; Allgemeine Geschichte der Musik 561 Forman, Bill 298 Forsyth, Malcolm 468 Forte, Allen 4, 175 f., 206, 418, 423, 461, 570 Fortner, Wolfgang 427; Bluthochzeit 409 Foss, Lukas 22, 468, 486 Foster, Stephen 465 Fouad I. von Ägypten 183 Foulds, John; Streichquartett 104 Fraenkel, Wolfgang 201 Francès, Robert 603 Francesconi, Luca 456, 574; Animus 298; Herzstück 576; Rest 486 Franck, César 110 Franco, Francisco 59 Frank, Patrick 72, 232, 346, 574 Franke, Bernd 451 Franklin, Aretha 570 Fraser, Juliet 577 Fraser, Simon 97 Frey, Jürg 604 Friedrich, Reinhold 298 Fripp, Robert 509 Frith, Fred 300, 504, 509 Fritsch, Johannes 211–213, 432, 589; Konzert für Trompete und Orchester 327; Violectra 212 Fritsch, Theodor 428 Fröhlich, Susanne 297 Fuchs, Paul 98 Fucks, Wilhelm 224 Fujikura Dai 325 Fuller, Richard Buckminster 445, 448 Furrer, Beat 184, 216, 318, 331, 456 f., 574; Fama (mit Christoph Ä Marthaler) 95, 414, 457, 459; Invocation (mit Christoph Ä Marthaler) 415; Spur 539; Wüstenbuch (mit Christoph Ä Marthaler) 415, 459 Fussenegger, Uli 295 G Gabor, Dennis 221 Gabrieli, Giovanni 441 Gadamer, Hans Georg 605 Gadda, Carlo Emilio 457 Gadenstätter, Clemens 449, 460; HEY 576; Sementical Investigations 68; WEH 576 Gál, Bernhard 213 Galás, Diamanda 246, 565, 576 Gallet, Luciano 358 Gallois, Pascal 297 Gandarias, Igor de 360 Gander, Bernhard; Das Leben am Rande der Milchstraße 413 Gandharva, Kumar 280 Gandini, Gerardo 359 f.; La casa sin sosiego 360; La ciudad ausente 360 Gann, Kyle 18, 376 Gao Weijie 202 f. Gaqi, Thoma 495 García, Fernando 359 f. Garrett, Charles Hiroshi 17 Garrido-Lecca, Celso 359 Gavett, Jeffrey 578 Gawrilin, Walerij 490 Gawriloff, Saschko 295, 622 Gazzeloni, Severino 296 Ge Ganru; Yi Feng 147, 149, 203 Gee, Erin 213, 576 Gefors, Hans 470; Christina 472 Gehlhaar, Rolf 213; Cybernet 84 Genet, Jean 414; Les paravants 459 Genette, Gérard 172 Genzmer, Harald 79 George, Stefan 261, 333 Georgescu, Corneliu Dan 494 Gerber, Rudolf 428 Gerigk, Herbert 427 Gershwin, George 326, 466; Porgy and Bess 22; Rhapsody in Blue 29 Gervasoni, Stefano 426 Gerwin, Thomas 97 Gesualdo, Carlo (Don Carlo Gesualdo da Venosa) 122, 198, 341, 413, 489, 576 Ghavamsadri, Farimah 319 Ghelderode, Michel de 412 Ghosh, Bikram 281 Ghosh, Dhruba 281 Ghosh, Nikhil 280 Giacometti, Alberto 85 f. Gibbs, Barry 570 Gibson, Jon 375 Gielen, Michael 216, 484 Gieseler, Walter 234, 290, 419; Harmonik in der Musik des 20. Jh.s 258 Gießer, Hermut 297 Gill, Brad 193 647 Ginastera, Alberto 138, 254; Cantata para América Mágica 358 Glaetzner, Burkhard 297, 331 Glandien, Lutz 509 Glanert, Detlev 229; Der Spiegel des großen Kaisers 410; Die Befristeten 410; Drei Wasserspiele 410; Solaris 410 Glass, Philip 161, 191, 213, 314, 327, 341, 373, 456, 466, 468, 581, 615; Akhnaten 375, 414; Another Look at Harmony 376; Changing Parts 376; Einstein on the Beach (mit Robert Ä Wilson ) 25, 375, 414 f.; Erstes Violinkonzert 22; In the Penal Colony 376; Koyaanisqatsi 375; Music in Twelve Parts 375; North Star 509; Satyagraha 375, 414; Sinfonie Nr. 1 (Low) 509; Sinfonie Nr. 4 (Heroes) 509; Strung Out 585; Two Pages 375 Glebow, Jewgeni 492 Glennie, Evelyn 304 Globokar, Vinko 71, 210, 297 f., 300, 313, 353, 484, 496, 622; ?Corporel 212, 304; Correspondences 313; Individuum – Kollektivum 277; L’armonia drammatica 69, 412; Laboratorium 277 Glodeanu, Liviu 494 Gloor, Valentin Johannes 577 Gluck, Christoph Willibald 381 Godard, Jean-Luc 227 Godziacki, Vitaly 492 Goebbels, Heiner 69, 289, 304, 306, 456, 459, 508, 519, 539, 576; Befreiung 570; Eislermaterial 56; Schwarz auf Weiß 71, 412; Suite 251 Goebbels, Joseph 574 Goehr, Alexander 147, 389 Goethe, Johann Wolfgang von 54, 73 Goetz, Rainald 570 Goeyvaerts, Karel 3 f., 6, 11 f., 376 f., 523, 547, 552, 622; Compositie Nr. 4 med dode tonen 221; De stemmen van de Waterman – Les Voix du Verseau 264; Nummer 5 met zuivere tonen 221; Sonate für zwei Klaviere (Komposition Nummer 1) 4, 12, 221, 530, 549 Personen- und Werkregister Gojowczyk, Hubertus 476 Gökalp, Ziya 594 Goldmann, Friedrich 59, 243, 451, 481, 507 Goldmark, Ruby 28 Goléa, Antoine 4, 13 Golijov, Osvaldo 468; La Pasión según San Marcos 577 Golmieh, Walid 184 Gomelskaja, Julija 492 Gómez, Zoila 360 González, Juan Pablo 361 Goodman, Nelson 391 f. Gordon, Michael 376 Górecki, Henryk Mikołaj 43, 124 f., 191, 264, 341, 377, 585; Beatus Vir 124; Dritte Sinfonie (Sinfonie der Klagelieder) 500; Scontri 499 Gorelowa, Galina 492 Gorji, Ali; Merke dir den Flug – der Vogel ist sterblich 318 Gorki, Maxim 458, 506 Gorne, Annette Vande 246 Gorsky, Arshile 32 Gosfield, Annie 313 Gostuški, Igor 496 Gottschalk, Louis Moreau 465 Gottwald, Clytus 119, 378, 577 Gould, Glenn 468 Goya, Francisco de 449 Grabowski, Leonid 491 f. Grainger, Percy 193 Gramatges, Harold 359 Grappelli, Stephane 508 Grass, Günter 66 Graves, Morris 448 Greenaway, Peter 230 Greenwood, Jonny 509 Greie, Antye 246 Grieg, Edvard 369, 469 f., 506 Griffiths, Paul XV, 415 Grigoriu, Theodor 493 f. Grigorjeva, Galina 492 Grillo, Fernando 385 Grimaut, Yvette 219 Grisey, Gérard 36, 110–112, 175 f., 189, 337, 387, 432, 484 f., 555, 557–560, 585, 602, 615 f.; Dérives 110, 558; Epilogue 298; Le noir de l’étoile 303; Les chants de l’amour 385; Les espaces acoustiques 167, 335; Partiels 49, 110, 167, 262, 558; Périodes 49, 110, 558; Prologue 175; Quatre chants pour franchir le seuil 112, 372, 559; Talea 49, 558; Tempus ex machina 303; Vortex temporum 175, 293, 302, 329, 559, 616 Grosset, Joanny 530 Grosskopf, Erhard 378 Grossman, David; Stichwort: Liebe 414 Groys, Boris 365 Großmann, Rolf 366 Gruber, HK (Heinz Karl) 216, 455 f. Grünbein, Durs 460 Gualda, Sylvio 304 Guattari, Félix 602 Gubaidulina, Sofia 60, 116, 125 f., 195, 245, 440, 489–491, 493, 593; Alleluja 490; Descensio 490; Ein Walzerspaß nach Johann Strauß 272; In croce 237; Introitus 490; Johannes-Ostern 490; Offertorium 125, 490, 520; Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes (JohannesPassion) 123, 237, 490, 577; Sieben Worte 490 Gubarenko (Hubarenko), Witalij 492 Gubler, Rico 297 Guðnadóttir, Hildur 246 Guevara, Che 66 Guggeis, Edgar 304 Gunawan, Iwan 587, 589 Günther, Hans F.K. 428 Guo Wenjing; Fengyi ting 204; Night Banquet (Ye Yan) 203 f., 415; She Huo 147, 203; Shu dao nan 203; Wolf Cub Village 203 Guston, Bruce 587 Guston, Philip 33, 451, 591 Gutheil-Schoder, Marie 621 Guy, Barry 326 f. Gwenzi, Gwanzura 162 Gwilt, David 207 H Haas, Georg Friedrich 104, 113, 189, 302, 456 f., 520, 559 f., 585; Bluthaus 246; Die schöne Wunde 246; Erstes Streichquartett 559; Hyperion 447, 486, 591; In vain 484; 648 Personen- und Werkregister Limited approximations 484; Nacht-Schatten 111; Natures mortes 484; Quartett für vier Gitarren 300 Hába, Alois 111 f., 261, 302, 475, 495 f., 500, 560, 595; Erstes Streichquartett 106; Fünftes Streichquartett 106; Neue Harmonielehre des Diatonischen, Chromatischen, Viertel-, Drittel-, Sechstel- und Zwölftel-Tonsystems 105, 258 Habermas, Jürgen IX, XIV, 67, 383, 515 Haddad, Karim 184 Haddad, Saed 184 Hafiz 458 Hagen, Lars Petter 471 Hagen, Nina 570 Hahn, Hilary 295 Hahn, Patrick 415 Haimo, Ethan 171, 176 Hajdu, Andre 320 Hajdu, Georg 104, 222, 627; Ivresse ’84 309; Ugly Culture 251 Halaka, Bassam 184 Halász, Franz 300 Halbreich, Harry 399 Haller, Hans Peter 83, 94, 367 Halprin, Ann 305 Hambraeus, Bengt 301 f.; Interferenzen 302 Hamel, Peter Michael 378, 518; Klangfarben (Colours of Sound) 281 Hamilton, Andy 38, 40 Hamm, Charles 18 Hämeenniemi, Eero; Layapriya 281 Hamner, Paul 163 Händel, Georg Friedrich 272, 334 Händl Klaus 459 Hanefi 589 Hannigan, Barbara 576 Hanninen, Dora 176 Hanslick, Eduard 233; Vom Musikalisch-Schönen 601 Hanson, Howard 462 Hanus, Jan 497 Harbison, John; Requiem of Reconciliation 577; The Great Gatsby 410 Hardjana, Suka 589 Harelava, Halina 492 Harle, John 297 Harmon, Chris Paul 468 Harnik, Elisabeth 278 Harris, Bryn 378 Harris, Ross 193 Harris, Roy 466, 482 Harrison, Lou 21, 140, 145, 253, 466; Fifth Symphony 248 Harry, Debbie 508 Hart, Roy 385, 569, 572 Hartman, Hanna 470 Hartmann, Karl Amadeus 55, 190, 243, 286, 326, 428 f., 481, 595, 621; 27. April 1945 70; Erste Sinfonie 70; Jüdische Chronik 66, 429; Zweites Streichquartett 70 Harvey, David 252 Harvey, Jonathan 111, 281, 294, 557, 585; Cellokonzert 486; Death of Light/Light of Death 250; Speakings 370, 483; String Quartet No. 4 581 Harvey, Lawrence 193 Hastings, Thomas 20 Hatzis, Christos 468 Haubenstock-Ramati, Roman 210, 272, 277, 300, 318, 451, 456, 476 f., 580; Credentials 477; Mobile for Shakespeare 626; Tableau II 626 Hauer, Josef Matthias 346, 461, 628; Zwölftontechnik. Die Lehre von den Tropen 258 Hauff, Wilhelm 458 Hauptmann, Moritz 527 Häusler, Josef 399 Hausmann, Raoul 562 Havel, Václav 497 Havelka, Jan Svatopluk 497 Hayasaka Fumio 141, 322, 615 Haydn, Joseph 20, 47, 111, 210, 233, 271, 479, 506, 510, 520, 579 f. Hayward, Robin 298, 338 He Luting; Buffalo Boy’s Flute 201 He Xuntian; Tianlai 203 He Zhanhao; Butterfly Lovers’ Violin Concerto (mit Ä Chen Gang) 201 Heaney, Seamus 456 Hechtle, Markus 344; Portrait 227 Hefuna, Susan 183 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31, 62, 131, 233, 362, 383, 524 Heider, Werner; Ritmica 303, 327 Heike, Georg 578 Heile, Björn 151 Heimerdinger, Julia 173 Heine, Heinrich 59, 73 Heininen, Paavo 471 f. Heißenbüttel, Helmut 456, 563 Helbich, David 313 Helffer, Claude 302 Helgath, Florian 577 Hellwig, Almut 576 Helmholtz, Hermann von 37, 106 f., 336, 600 f.; Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik 106 Helms, Hans G; Fa:m’ Ahniesgwow 85, 564 f., 578 Henck, Herbert 302 Hendrix, Jimi 453, 508; The StarSpangled Banner 81 Henius, Carla 246, 575 Henneberg, Claus H. 409 f., 415 Henrich, Dieter 62 Henry, Pierre 8, 339; Ceremony (mit Spooky Tooth) 509; Messe pour le temps présent 509; Orphée 53 – opéra concret (mit Pierre Ä Schaeffer) 219; Symphonie pour un homme seul (mit Pierre Ä Schaeffer) 88, 219, 249, 563; Toute la Lyre (mit Pierre Ä Schaeffer) 88 Henze, Hans Werner 55, 60, 147, 190, 197, 216, 229, 243, 299 f., 302, 408–410, 429 f., 456, 481, 512, 523, 575, 581, 622 f.; Barcarola 484; Boulevard Solitude 326, 409, 632; Das Floß der Medusa 66; Der junge Lord 272, 458; Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer 326; Der Prinz von Homburg 409, 458; Die Englische Katze 370; Divertimenti 272; El Cimarrón 65, 458, 572; Elegie für junge Liebende 248, 525; Jüdische Chronik 66, 429; König Hirsch 409; Lieder von einer Insel 458; Los Caprichos 449; Nachtstücke und Arien 458; Neunte Sinfonie 65; Requiem 264; Royal Winter Music 300; Sechste Sinfonie 484; We come to the River 65, 412 649 Herbert, Matthew 509 Herchet, Jörg 59 f.; namen gottes 125, Das geistliche Jahr (mit Jörg Ä Milbradt) 125 f. Hermlin, Stephan; Die Asche von Birkenau 429 Hernawan, Dedy 589 Herschkowitz, Philip 489 Hertzka, Emil 621 Hervé, Jean-Luc 175, 585 Hespos, Hans-Joachim 68, 289, 353, 411, 574, 604; Anjol 478; dschen – das Erregende ist wie eine offene Schale 327; ka 327 Hesse, Hermann; Das Glasperlenspiel 437 Hétu, Jacques 468, 576 Hetu, Joane 576 Heucke, Stefan; Das Frauenorchester von Auschwitz 429 Heusinger, Detlev 449 Heyn, Volker 68 Hidalgo, Manuel; Desastres de la guerra 449 Higgins, Dick 92, 305, 410, 503 Hilario, Alan 588 Hilbert, David 549; Grundlagen der Geometrie 462 Hill, Richard S. 631 Hiller, Holger 508 Hiller, Johann Adam XI Hiller, Lejaren A. 7, 223 f.; Illiac Suite (mit Leonard M. Ä Isaacson), 223 Hindemith, Paul X, 71, 82, 103, 110, 112, 118, 183, 271, 284, 294, 302, 310, 326, 399, 405, 419, 424, 428, 436, 438, 466, 471, 493, 495, 523, 597; Die Harmonie der Welt 409; Kammermusiken Nr. 1–7 330; Kleine Kammermusik für 5 Bläser 333; Messe 120; Trickaufnahmen 366; Unterweisung im Tonsatz 258, 265, 460 Hinterhäuser, Markus 349 Hintsa ka Khawuta 162 Hirayama Michiko 129, 246, 544, 563, 575 Hirs, Rozalie 175 Hirsch, Michael 300, 456 Hirsch, Peter 216 Hirsch, Shelley 576 Hirst, Linda 576 Personen- und Werkregister Hitchcock, Hugh Wiley 18 Hitler, Adolf 57, 211, 427–429 Ho Chee Kong 588 Ho Pingyee (Alice) 208 Hobbs, Christopher 376–378 Hobsbawm, Eric 544 Hodeir, André 219 Hodges, Nicolas 302 Hodzjazki, Witali 492 Hoffmann, E.T.A. 170, 583 Hoffmann, Reinhild 411 Hoffmann, Robin 353; An-Sprache 212, 304; Birkhahn-Studie 212 Hofman, Srdjan 495 Hofmann, Hans 32 Hofmannsthal, Hugo von 460 Hoh Chung Shih 588 Hölderlin, Friedrich 73, 111, 240, 409, 450, 457, 576, 581, 617; Der Archipelagus 562; Hyperions Schicksalslied 66 Hollaender, Friedrich 428 Höller, York 237; Antiphon 581; Schwarze Halbinseln 483; Tangens 235 Holliger, Heinz 216, 297, 313, 425, 456 f., 574; Cardiophonie 353; Erstes Streichquartett 353, 581; Gesänge der Frühe (nach Schumann und Hölderlin) 450; Not I 457; Pneuma 250, 353; Scardanelli-Zyklus 457; Studie über Mehrklänge 385 Holliger, Ursula 300 Hölszky, Adriana 245 f., 300, 304, 433, 447, 574; Bremer Freiheit 410; Böse Geister 246, 456; Countdown 246; Deep Field 593; Der gute Gott von Manhattan 246, 273; Die Wände (mit Hans Ä Neuenfels) 414 f., 459; Hängebrücken. Streichquartett an Schubert 450; Maske und Farbe 591; Monolog 273; Tragödia (Der unsichtbare Raum) 95, 414 Holtmeier, Ludwig 418 Holzer, Andreas 177 Homer 456; Ilias 270; Odyssee 270, 459 Homler, Anna 565 Hommel, Christian 297 Honegger, Arthur 595; Concertino pour Piano et Orchestre 29; Pacific 231 538 Hope, Cat 278 Horst, Jorge 360 Horváth, Balázs 498 Hosokawa, Toshio 55, 116, 137, 144, 191, 254, 296, 298–300, 302, 335, 433, 487, 615; Ans Meer 129; Hanjo 324, 415, 457; Koto-Uta 265; Matsukaze 324, 415, 457, 593; Moment of Blossoming 298; UtsurohiNagi 487; Vision of Lear 324, 459; Voiceless Voice in Hiroshima 66; Voyage IX, Awakening 299 Hovhaness, Alan 190, 253, 261, 324, 615; Sinfonie Nr. 16 145 Hsu Bo-Nian 207 Hsu Po-Yun 205 Hsu Tsang-Houei 205 Huang Ruo; Dr. Sun Yat-Sen 204 Huang Zi; Changhenge 201; Huajiu 201 Huber, Anna; Eine Frage der Zeit 593; zwischen jetzt 593 Huber, Klaus XIV, 66–68, 111–113, 116, 126, 189, 198, 383, 387, 546, 616; Des Dichters Pflug 112, 458; Die Seele muss vom Reittier steigen… 112, 487; Ecce Homines 111; Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… 66, 122, 456, 577; Lamentationes sacrae et profanae ad Responsoria Iesualdi 122, 576; Miserere hominibus 112, 122; … Plainte… 113; Plainte – Lieber spaltet mein Herz I 300; Plainte – Lieber spaltet mein Herz II 300; Quod est pax? – Vers la raison du cœur… 577; Schwarzerde 246, 415, 458; Von Zeit zu Zeit 112 Huber, Nicolaus A. 57, 67–69, 71 f., 187, 195, 206, 300, 343, 346, 390, 420, 457 f., 484, 521, 525, 555, 603; Ach, das Erhabene… 67; Aion 543; An Hölderlins Umnachtung 457; Covered with music 452; Darabukka 532; Demijour 532; Eröffnung und Zertrümmerung 230; Gespenster 370; Harakiri 189; Informationen über die Töne e–f 582; l’inframince – exten- 650 Personen- und Werkregister ded 230, 452; Morgenlied 372; Rose Selavy 452; Sechs Bagatellen 532; Solo mit Koonsstück 452; To »Marilyn Six Pack« 367, 452; Weiße Radierung 591; Werden Fische je das Wasser leid? 67 Huber, Rupert 577 Hübler, Klaus K. 293 Huelcker, Neele 232 Hufschmidt, Wolfgang 458; Meissener Tedeum 66 Hui Cheungwai 208 Hui Ngo-shan (Steve); Re-Autumn 208; The Memory Palace of Matteo Ricci 208 Humperdinck, Engelbert 381 Hung Chung-Kun 206 Hunt, Jerry; Birome (zone): plane 505 Huntrakul, Dnu 587 Hurel, Philippe 558 f.; La musique spectrale… à terme! 559; Leçons de choses 250 Huse, Peter 97 Hussain, Zakir 281 Hussein, Mazen 184 Husserl, Edmund 393, 600, 602, 610 Hussong, Stefan 300 Hutchinson, Brenda 246 Huygens, Christiaan 107 Hwang Byungki 145; Dance in the Perfume of Aloes 350; The Forest 350 Hwang Sung-Ho 351 Hykes, David 576 I Ibrahim, Abdullah 163 Ibrahimi, Feim 495 Ichiyanagi Toshi 143 f., 254, 324 Ifukube Akira 322 Ilijew, Konstantin 494 Imson, Danilo E. 588 İnce, Kâmran 595 Indrapraja, Dicki P. 589 Ingarden, Roman 35, 38 Inhetveen, Katharina 402 Ioachimescu, Călin 494 Iorgulescu, Adrian 494 Irino Yoshirō; Concerto for Seven Instruments 322; Musik für zwei Kotos 144 Irwansyah 589 Isaacson, Leonard M.; Illiac Suite (mit Lejaren A. Ä Hiller) 223 Isaksson, Madeleine 470 Isamitt, Carlos 358 Isherwood, Nicolas 576 Ishii Maki 143 f., 324 Isou, Isidore 562 f. Isozaki Arata 543 Israeljan, Martunik 492 Issa, Rose 183 Ives, Charles 19, 20 f., 22–26, 29, 59, 66, 68, 88, 93, 130, 161, 195, 239, 267, 285, 302 f., 310, 314, 326, 465, 521, 614, 616; Dritte Sinfonie 22; Life Pulse Prelude 534 f.; Majority 248; Piano Trio 210; The Fourth of July 534; The Music and its Future 17; The Unanswered Question 22, 210, 624; Three Places in New England 21; Three Quarter-Tone Pieces 105; Universe Symphony 21, 26, 105, 303, 534; Vierte Sinfonie 21, 26, 534; Zweites Streichquartett 536 Izarra, Adina 360 J Jaćimović, Srdjan 496 Jackendoff, Ray; Generative Theory of Tonal Music (mit Fred Ä Lerdahl) 418, 601 Jackson, George 577 Jacob, Henry 339 Jacoby, Hanoch 320 Jahnn, Hans Henny 228, 458 Jairazbhoy, Nazir Ali 281 Jalali, Mehdi 319 James, Henry 409 James, William 615 Janáček, Leoš 260, 370, 558 Janárčeková, Viera 497 Jandl, Ernst 455 f., 563 Janson, Alfred 470 Janz, Tobias 140 Janßen-Deinzer, Nina 297 Jarrett, Keith; Sleeper 467 Jawlensky, Alexej von 448 Jelinek, Elfriede 273, 410, 460 Jelinek, Hanns 318; Zwölftonfibel 631 Jencks, Charles 520; Die Sprache der postmodernen Architektur 517 Jeney, Zoltán 376, 498 Jennings, Terry 375 Jernberg, Sofia 565 Jesaja 456, 577 Jessenin, Sergej 211 Jesus Christus 121, 132 Jesús, Carolina Maria de 577 Jewtuschenko, Jewgeni 458 Jia Daqun 203 Jiang Qing 147, 204 Jiang Wenye 201 f.; Taiwan Wuqu 201 Jiang Zemin 150 Jin Xiang; The Savage Land (Yuanye) 202 Jóhannsson, Magnús Blöndal 471 Johanson, Sven-Eric 470 Johansson, Sven-Åke 304, 346, 504 Johns, Jasper 21 Johnson, David; Cybernet 84 Johnson, James P. 466 Johnson, Tom 237, 340, 346, 375, 467, 525; Puzzle Page 273 Johnston, Ben 107, 460 Jolivet, André 205 Jonas, Joan; Delay Delay 505; Lines in the Sand 505 Jones, Arthur Morris; Studies in African Music 164 Jones, Bill T. 593 Jones, Joe 248 Joplin, Janis 570 Josel, Seth 300 Jovanović, Vladimir 496 Joyce, James 211, 450, 455 f., 458, 562–564, 575, 615; Finnegans Wake 11, 455, 564, 570; Ulysses 11, 412, 455, 563 Judd, Donald 27 Julius, Rolf 98, 306, 340 Jung, Carl Gustav 452 Jünger, Ernst 524 Jurgutis, Vytautas V. 491 K Kabeláč, Miloslav 497 Kabelis, Ričardas 491 Kaché, Manu 590 Kaden, Christian 388 651 Kadosa, Pál 498 Kafka, Franz 90, 210, 456, 498, 576, 617 Kafui, Kenneth 159 Kagel, Mauricio XIII, 10, 71, 73, 92, 206, 228–230, 271–274, 299–303, 313, 353, 410–412, 425, 468, 488, 515, 521, 555, 580 f., 622; 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen 57, 272; Acustica 249; Anagrama 410; Antithese 248; Burleske 272; …, den 24. XII.1932 57; Der Tribun 574; Die Stücke der Windrose 254; Die Umkehrung Amerikas 254; Episoden, Figuren – Solo für Akkordeon 300; Études I–III 485; Exotica 253; Fanfanfaren 272; Heterophonie 109; Improvisation ajoutée 248, 302; Le Bruit. Invecticon pour toute sorte de sources sonores et expressions injurieuses 249; Ludwig van 195, 198, 210, 240, 272; Mare nostrum 254; Match 228, 289, 410; MM 51 248; Phonophonie – vier Melodramen 572; Quatre degrés 303; Sexteto de Cuerdas 109; Sonant (1960/…) 289, 299, 504; Staatstheater 273, 289, 408, 411, 478; Streichquartett I–II 249; Sur scène 289, 335, 504, 572; Szenario 228; Transición II 83, 249, 477; Variationen ohne Fuge über »Variationen und Fuge« über ein Thema von Händel für Klavier op. 24 von Johannes Brahms (1861/62) 272; Zwei-Mann-Orchester 249 Kalitzke, Johannes 216, 229 f., 331; Ortswechsel (mit Edgar Ä Reitz) 230 Kalsons, Romualds 492 Kaminskyj, Wiktor 492 Kammer, Salome 576 Kandinsky, Wassily 120, 446, 448 Kang Joon-Il; Hae-Maji Gut 351 Kang Sukhi; Catena 350; Klavierkonzert 350; The Feast of Id 350 Kangro, Raimo 492 Kant, Immanuel 62 Kantscheli, Gija 488, 490, 492, 500, 593 Personen- und Werkregister Kapp, Reinhard 363 Kaprow, Allan 69, 305, 410, 503; 18 Happenings in 6 parts 92; Words 339 Karajew, Faradsch 491 f. Karamanow, Alemdar 490 Karbusicky, Vladimir 62, 391 Karel, Rudolf 495 Karetnikow, Waleri 492 Karkoschka, Erhard 476 Karsadi, Donny 589 Karttunen, Anssi 294 Kasandschiew, Wassil 494 Käser, Mischa 565 Kasilag, Lucretia 588 Kasparow, Juri 489, 491 Kassar, Kamal 185 Katzameier, Otto 576 Katzer, Georg 92, 229, 578; Aide memoire 429; Wie ein Hauch, doch manchmal 296 Kaufmann, Harald 43, 45 Kaufmann, Walter 280 Kaul, Matthias 304, 308, 459 Kaumann, Tõnis 492 Kayn, Roland 43, 224 Kazerouni, Mehdi 318 Kelemen, Milko 496 Keller, Max E. 69 Kelterborn, Rudolf 216 Kentridge, William 448 Kerbaj, Mazen 182 f., 185 Kerkeling, Hape; Hurz 274 Kerkour, Brahim 184 Kerman, Joseph 393; How We Got into Analysis, and How to Get out 170 Kernis, Aaron Jay 376 Kessler, Thomas; NGH WHT 574 Kesting, Marianne 289 Ketut, Dewa 589 Khajenouri, Shahrokh; Broken Images 318; Voyage of Dena 318 Khan, Ali Akbar 280 f. Khan, Amjad Ali 281 Khan, Bade Ghulam Ali 280 Khan, Hassan 182 f., 185 Khatibi, Ehsan 318 Khayami, Mehdi 318 Khumalo, Andile; Cry Out 163 Khumalo, Mzilikaze 163 Kiefer, Anselm 449 Kiefer, Peter 339 Kientzy, Daniel 297 Kilar, Wojchiech; Riff 62 499 Killmayer, Wilhelm 576, 593; Hölderlin-Lieder 457 Kim Chung-Gil; Ch’uch’omun 350; Gop’ung 350 Kim Dong-Jin; Hanguk Kagok (Koreanische Kunstlieder) 350 Kim Jeeyoung; Tripitaka Koreana 351 Kim Se-Hyung; Hanguk Kagok (Koreanische Kunstlieder) 350 Kim Sun-Nam 350 Kim Won-Gyun 352 Kishino Malika; prayer/inori 432 Kittler, Friedrich 365 Kiyose Yasuji 322 Kjurktschijski, Krassimir 494 Klebanow, Dmitri 492 Klebe, Giselher; Die Räuber 409; Jakobowsky und der Oberst 409 Klee, Paul 5 f., 437; Das bildnerische Denken 448; Monument an der Grenze des Fruchtlandes 5, 448 Klein, Fritz Heinrich 628 Klein, Georg 99 Klein, Juliane 459; Geschwindigkeit (mit Edgar Ä Reitz) 229 Klein, Yves 449 f., 452; Symphonie Monotone-Silence 591 Kleist, Heinrich von 409, 458 Klement, Katharina 278 Klemperer, Otto 215, 428 Kline, Franz 451 Klinger, Cornelia 381 Knajfel, Aleksandr 491 Knapik, Eugeniusz 500 Knepler, Georg 396 Knittel, Krzysztof 500 Knobloch, Florian 577 Knox, Garth 295 Knussen, Oliver 216 Koapeng, Mokale 162 f.; Komeng 163 Koblenz, Babette 378 Kobler, Benjamin 302 Koch, Hans W. 598 Kochan, Günther 429 Kocherscheidt, Kurt 450 Kodallı, Nevit 595 Kodály, Zoltán 497 652 Personen- und Werkregister Koechlin, Charles; Traité de l’orchestration 291 Koellreutter, Hans-Joachim 280, 358 Koenig, Gottfried Michael 80, 318, 463, 471, 547 f., 552, 583, 585, 622; Essay 44, 107, 221; Klangfiguren II 107; Projekt 1 223; Segmente 85–91 223; Streichquartett 1987 223 Koffka, Kurt 600 Koffler, Józef 498 Kofroň, Petr 497 Kohipaha, Royke 589 Köhler, Armin 486 Kokkonen, Joonas 471 f.; Viimeiset kiusaukset 472 Kolberg, Kåre 470 Kolisch, Rudolf 173, 294, 310 f., 582, 621 f. Kolmar, Gertrud 429 Költzsch, Hans 427 Komai, Tetsurō 323 Komorous, Rudolf 497 Kondō Jō 130, 324, 518 Konfuzius 54 König, Bernhard 598 Konjani, Amir Sadeghi 318 Konrad, György 177 Kontarsky, Alfons 302, 311 Kontarsky, Aloys 213, 302, 311, 622 Konye, Paul 159 Koo Bonu 351; String Quartet 146 Koo Chatpo (Brian) 207 Kooning, Willem de 32, 451 Koons, Jeff 452 Kopatchinskaja, Patricia 295 Kopelent, Marek 60, 124–126, 497; Lux Mirandae Sanctitatis 124; Quintett für Blechbläser 125; Requiem of Reconciliation 577 Kopytman, Mark 320 Korhonen, Timo 300 Korn, Peter Jona 523 Korndorf, Nikolaj 491 Körner, Thomas 410 Korngold, Erich Wolfgang 428, 466 Kornowicz, Jerzy 500 Korot, Beryl; The Cave (mit Steve Ä Reich) 128, 231, 413, Three Tales (mit Steve Ä Reich) 25, 413 Kõrvits, Tõnu 492 Kostelanetz, Richard 305 Kosugi Takehisa 503 Kotik, Petr 497 Koto, Elizar 144, 151, 265, 299, 589 Kotoński, Włodzimierz 43, 499 Kötter, Daniel 574; Ökonomien des Handelns (mit Hannes Ä Seidl) 231 Kounellis, Jannis 476 Kourliandski, Dmitri 229 Koussa, Elia 184 Koussevitzky, Serge 28 Kovács, Inge 174 Kowald, Peter 276 Kowalski, Max; Pierrot lunaire 329 Kramer, Jonathan D. 617 Kramer, Lawrence 606 Krastewa, Newa 495 Kraus, Karl 454, 456 Krauze, Zygmunt 499, 585 Krček, Jaroslav 497 Krebs, Joachim 445 Kreidler, Johannes 198, 231 f., 287, 308, 346 f., 363, 393, 574; Call Wolfgang 273; Feeds. Hören TV 232; Fremdarbeit 137; Musik mit Musik 72; product placements 210, 273; Shutter Piece 232; Sätze über musikalische Konzeptkunst 347 Kreihsl, Michael; The Long Rain (mit Olga Ä Neuwirth) 230 Kreij, Johan van 44 Kremer, Gidon 125, 277, 295, 490, 623 Krenek, Ernst 190, 262, 284, 326, 330, 333, 399, 428, 461 f., 466, 622, 628 f.; Kette, Kreis und Spiegel 631; Lamentatio Jeremiae prophetae 576, 629 Kretzschmar, Hermann; Führer durch den Konzert-Saal 597 Kriwet, Ferdinand 563 Kroetz, Franz Xaver 410 Kropfinger, Klaus 583 Krupowicz, Stanislaw 500 Krzanowski, Andrzej 500 Krätzschmar, Wilfried; HeineSzenen 59 Kröll, Georg 333, 520 Kröpfl, Francisco 359 Kubik, Gerhard 164 Kubisch, Christina 98, 251, 340, 445 Kubrick, Stanley; 2001: A Space Odyssey 221, 228; Eyes Wide Shut 228; Shining 228 Kučera, Václav 497 Kuhn, Hans Peter 98, 340, 445 Kuhn, Jochen; Neulich 4 227 Kühr, Gerd 216; Stallerhof 410 Kulenović, Vuk 495 Kumalo, Alfred 163 Kumar, Niladri 281 Kupelwieser, Joseph; Feuergeist 55 Kupkovič, Ladislav 497 Kurosawa Akira; Ran 229 Kurtág, György 171 f., 198, 293 f., 333, 383, 497 f., 546, 604, 623; Die Sprüche des Péter Bornemisza 576; Erstes Streichquartett 606; Fragmente (nach Gedichten von Attila József ) 576; Játékok 302, 498; Kafka-Fragmente 210, 456, 498, 576, 617; Officium breve in memoriam Andreae Servánszky 210; Poslanija pokojnoj R.V. Trusovoj [Botschaften des verstorbenen Fräuleins R.V. Trusova] 457, 576; Requiem of Reconciliation 577; Songs to Poems by Anna Achmatova 576; Szenen aus einem Roman 576; What is the word 457; ΣΤΗΛΗ (Stele) 485 Kurth, Ernst 35, 265–267, 391, 418, 601 Kurz, Ivan 497 Kusturica, Emir 410 Kutavičius, Bronius 491 Kutter, Markus 565 Kyburz, Hanspeter 291, 302, 344, 432, 585; Cells 224, 296; Malstrom 482; Noesis 486; The Voynich Cipher Manuscript 456 L La Barbara, Joan 313, 376, 467, 565, 576 La Berge, Anna; Vamp.net 309 La In-Yong; Echo of Hyangak 350; T’ae 350 La Motte, Diether de 369 La Motte-Haber, Helga de XIV, 340 La Un-Yung 350 653 Labi, Gyimah 158–160; Dialects 158; Paukenkonzert 160 Lachenmann, Helmut XII–XIV, 11, 36, 39 f., 47–50, 65–68, 70, 110, 171, 174 f., 187, 189–191, 195, 198, 205 f., 236, 249–251, 253, 258, 266–268, 293 f., 314, 337, 343, 363, 387, 390, 405, 420, 425 f., 433, 441 f., 451, 456, 483–485, 511 f., 520 f., 524 f., 544, 555, 567 f., 584 f., 593 f., 602–604, 610 f., 615; Accanto 190, 243, 296, 483; Air 243, 425, 483; Allegro sostenuto 296; Concertini 50, 299; Consolation I 573; Consolation II 126 f., 573; Dal niente (Intérieur III) 296, 333; Das Mädchen mit den Schwefelhölzern 50, 67, 249, 409, 414, 459, 511, 525; Echo Andante 531; Eine musikalische Handlung 414; GOT LOST 576; Gran Torso 478, 580; Guero 301, 333, 478; Harmonika 298; Intérieur I 303 f., 477; Klangtypen der Neuen Musik 39, 48, 425, 531; Kontrakadenz 49, 268, 349, 425, 531; Mouvement (– vor der Erstarrung) 263, 372, 539; Musik als existentielle Erfahrung 271; Notturno 251, 425; NUN, Musik für Flöte, Posaune, Männerstimmen und Orchester 617; Pression 149, 243, 294, 321, 333, 335, 353, 425, 478, 567, 618; Salut für Caudwell 67, 299, 539; Serynade 263 f.; Staub 243, 485; Tableau 483–485; Tanzsuite mit Deutschlandlied 67, 294; temA 249, 564, 574; Toccatina 294; Wiegenmusik 531; Zur Analyse Neuer Musik 175; »… zwei Gefühle …«, Musik mit Leonardo 321, 431, 539, 570, 617; Zweites Streichquartett »Reigen seliger Geister« 264, 290 Lācis, Kārlis 492 Laforgue, Jules 457 Lagnau, Frederic 376 Lai Deh-Ho 206 Lam Bunching 208 Lam Doming; Kunchong shijie 207; Qiujue 207 Lam Fung 208 Lam Manyee 208 Personen- und Werkregister Lamson, William 232 Landowska, Wanda 303 Lang, Bernhard 278, 509, 574; Das Theater der Wiederholungen 413; Der Alte vom Berge 413; Der Reigen 413; Differenz/Wiederholung 210, 227, 251, 327, 519, 539; Differenz/Wiederholung 2 251, 539; DW17 Doubles/Schatten II 113; I hate Mozart 198; Monadologie 198; Monadologie XIII: The Saucy Maid 108, 482 Lang, David 376; The Anvil Chorus 303 Lang, Klaus 95; Der Handschuh des Immanuel 415 Langer, Susanne K. 391 Langlamet, Marie-Pierre 300 Lanjuk, Juri 492 Lanza, Alcides 359 Laporte, Jean-François 468 Lara, Ana 360 Lardelli, Dylan 193 Larson, Chrichan 470 Larsson, Lars-Erik 470 Lasoń, Aleksander 500 Lasso, Orlando di 581 László, Alexander 590 Latte, Konrad 428 Lau, Frederick 136 Laurenzi, Carlo 167 Lavista, Mario 359 f.; Responso in memoriam Rodolfo Halffter 360 Lavry, Mark 320 Law Pingleung (Daniel) 207 Law Wingfai; A Thousand Sweeps 207; Can 207; Zuixiang 208 Lazarov-Pashu, Miodrag 495 Lazkano, Ramon 426 Le Corbusier 8, 90, 339, 445, 542 Le Roy, Xavier 593; More Mouvements für Lachenmann 594; Mouvements für Lachenmann 353, 594 Léandre, Joëlle 246, 295 Ledenew, Roman 490 Lee Ang; Crouching Tiger, Hidden Dragon 204 Lee Geon-Yong; Hwangsaek Jesuĉi Norae 351; Mansusan Dŭrŏongch’ik 351 Lee Heung-Ryul; Hanguk Kagok (Koreanische Kunstlieder) 350 Lee Sang-Geun 350 Lee Tai-Hsiang; Yu – Chan – Ximen ding 205 Lee Tzyy-Sheng 206 Lee Young-Jo 351 Lee Jaram; P’ansori Novelle 2: Ibanginĉi Norae 352; P’ansori Sachon-ga 351; Ukchuk-ga 351 f. Leef, Yinam 320 Leeuw, Reinbert de 216 Leeuw, Ton de 457 Leguizamón, Daniel 360 Lehmann, Harry 347, 399; Die digitale Revolution der Musik 72 f. Lei Liang 204 Leibowitz, René 174, 215 f., 472, 622, 632; Schoenberg et son école 322; Trois Poèmes de Pierre Reverdy 628 Leichtentritt, Hugo 169, 418, 428 Leipp, Émile 167 Leitner, Bernhard 339, 445 Lèkovich, Kenka 415 Lemaire, Alfred Jean-Baptiste 317 Lentz, Michael 455 Lenz, Jakob Michael Reinhold 459; Anmerkungen übers Theater 411 Lerdahl, Fred; Generative Theory of Tonal Music (mit Ray Ä Jackendoff ) 418, 601 Lerescu, Sorin 494 Leroux, Philippe 320 Lesle, Lutz 401 Lessing, Gotthold Ephraim; Laokoon 365, 616 Lessing, Wolfgang 606 Lévi-Strauss, Claude 136, 211, 577, 584, 603, 605; Le cru et le cuit 13 Levinas, Michaël 189, 456 f., 545, 557; Appels 250; La conférence des oiseaux 457; Les lettres enlacées 112; Ouverture pour une fête étrange 250; Par-delà 112; Rebonds 112 Levine, Carin 297 Levinson, Jerrold 617 Lévy, Fabien 163, 557, 559 Lewin, David 35, 461 Lewis, George 278 654 Personen- und Werkregister LeWitt, Sol; Sentences on Conceptual Art 347; Variations of incomplete open cubes 175 Li Bo 106, 203 Li Yuan-Chen 206 Lidholm, Ingvar 470 Liebermann, Rolf 408 f.; Concerto for Jazzband and Orchestra 326; Die Schule der Frauen 409; Penelope 409 Lieberson, Peter 22 Liebezeit, Jaki 82 Ligeti, György X, XIII, 21, 36, 39, 147, 171, 174, 189, 191, 203, 235, 240, 246, 266 f., 290, 292, 337, 341, 369 f., 386, 390, 420, 468, 470, 488, 497, 502, 506, 523, 546, 557, 590, 593, 622; Apparitions 42–44, 47 f., 266, 283, 483, 585, 591, 616; Arc-en-ciel 327; Artikulation 221, 563; Atmosphères 8 f., 42–48, 228, 236, 283, 335, 483, 531, 537, 558, 585; Aventures 48, 249, 273, 283, 410, 412, 563, 572; Clocks and Clouds 109; Columna infinita 461; Continuum 302, 378, 538; Désordre 264; Die Komposition mit Klangfarben 43; Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin 457; Drei Stücke für zwei Klaviere 378; Erstes Streichquartett 294; Hamburgisches Konzert 109, 297, 486; Harmonies 258; Hungarian Rock 302, 508; Klavieretüden 164, 168, 244, 302, 461; Klavierkonzert 109, 168, 485, 534; L’escalier du diable 461; Le grand macabre 249, 412, 472; Lontano 45, 228, 449, 482, 585; Lux aeterna 8, 120, 228, 266, 268, 576, 585, 591; Melodien 372, 484; Musica ricercata 228, 296, 378; Nonsense Madrigals 576; Nouvelles Aventures 273, 283, 370, 563; Passacaglia ungherese 302; Pièce électronique Nr. 3 44; Pierre Boulez. Entscheidung und Automatik in der »Structure Ia« 5; Poème symphonique 236, 378, 537; Ramifications 108, 321; Requiem 43 f., 48, 120, 175, 228, 577, 585, 591; San Francisco Polyphony 482; Sechs Bagatellen für Bläserquintett 296; Sonate für Viola 109; Sötét és világos 43; Trio für Violine, Horn und Klavier 297, 520; Vertige 461; Violinkonzert 109, 294 f., 486 f.; Víziók 43; Volumina 302, 477, 626; Wandlungen der musikalischen Form 9, 47; Zehn Stücke für Bläserquintett 296; Zweites Streichquartett 294, 580, 591 Ligeti, Lukas 185 Lilburn, Douglas; Soundscape with Lake and River 193 Lill, Märt-Matis 492 Lim June-Hee 351 Lim, Liza 193; Tongue of the Invisible 458 Lin Hwai-Min 205 Lindberg, Christian 298 Lindberg, Magnus 291, 294; Campana in Aria 298; Cellokonzert 486; Feria – Parada – Cantigas 485; Joy 250; Kraft 471; Mano a mano 299; Ottoni 298 Lindenmayer, Aristid 224, 432 Lindgren, Pär 470 Linke, Karl 438 Lipatti, Dinu 489 Liszt, Franz 259 f., 284, 381, 387, 561, 590; Klaviersonate h-Moll 106, 243 Liu Ching-Chih 396 Liu Sola 203 f.; Fantasy of the Red Queen 204; Ni biewu xuanze 204 Liu Tianhua 200 Liu Xiaobo 150 Lizee, Nicole 468 Ljatoschynskyi, Boris; Postludien 492 Lo Hau Man 208 Lock, Hans-Gunter; Lainetus 309 Lockwood, Annea 97, 246 Logothetis, Anestis 451, 476; Expansion-Kontraktion 277; Integration 277 Lohner, Henning 227 Lombardi, Luca; Faust, un Travestimento 264 Londeix, Jean-Marie 297 Lord, Kersi 280 Lorenz, Kuno 344 Loriod, Yvonne 246, 302 Loudová, Ivana 497 Lourié, Arthur; La Journée de l’Existence 105; Prélude 105 Loveday, Clare; Duodectet 163; Fever Tree 163; Johannesburg Etudes 163 Lu Xun; Kuang ren de riji 203 Lu Yen 206 Lubman, Brad 216 Lucier, Alvin 208, 287, 289, 313, 452, 467, 556; I Am Sitting in a Room 25, 27, 168, 232, 236, 345 f., 367, 563; Music for Solo Performer 95, 168, 213, 353; Music on a Long Thin Wire 168 Luening, Otto 467; Fantasy in Space 220; Invention in 12 Notes 220; Low Speed 220 Luhmann, Niklas 119, 236, 364, 566 Łukaszewski, Pawel 500 Lukrez 457, 459 Lüneburg, Barbara 246 Luo Zhongrong 201 f.; Huanghun 630; She jiang cai furong 201 Lutosławski, Witold 262, 291, 294, 299, 302, 312, 477, 481, 499 f., 537, 585, 593; Cellokonzert 629; Jeux vénitiens 43, 484; Livre pour orchestre 499; Musique funèbre »À la mémoire de Béla Bartók« 499; Streichquartett 499, 580; Trois Poèmes d’Henri Michaux 499 Lutz, Nikola 297 Luz, Angelika 576 Lybin, Dmitri 492 Lynch, David 410 Lyotard, Jean-François XIV, 187, 514–517, 521, 602; Das postmoderne Wissen 344 M Ma Shui-Long 206 Ma Sicong 202 Maayani, Ami 320 Maazel, Lorin; 1984 410 Macahis, Feliz Anne 588 MacDowell, Edward 20, 465 MacDowell, Fred 508 655 Maceda, José 43, 138–140, 586–588; Ading 139; Cassettes 100 139; Pagsamba 139, 543; Udlot-Udlot 139; Ugnayan 139 Machado, Antonio 459 Machaut, Guillaume de 120, 126, 359 Mâche, François-Bernard 585 Machover, Tod 505 Maciunas, George 503 Mack, Dieter 586 Mack, Heinz 91 MacLise, Angus 375 MacMillan, Ernest 468 Maderna, Bruno 145, 215 f., 220, 249, 265, 330 f., 385, 502, 530, 547, 549, 551–553, 563, 575, 622, 628; Aria 370; Composizione in tre tempi 482; Composizione N. 2 370, 482; Concerto per violino e orchestra 198; Continuo 80; Flötenkonzert 482; Grande Aulodia 370; Improvvisazione N. 1 482, 551 f.; Improvvisazione N. 2 482; Musica su due dimensioni 83, 552; Quartetto per archi in due tempi 552 f.; Serenata per un satellite 239 f., 626 Madikizela-Mandela, Winnie 158 Madjd, Fouzieh; Clockwork Doll 318; Hell is but a Sparkle of Our Futile Suffering 318; Shabkuk 318 Maeterlinck, Maurice 409 Mager, Jörg 104 Maggiolo, Daniel 360 Mahler, Gustav 22, 47, 66, 68, 72, 171, 234, 236, 341, 348, 363, 403, 427, 435, 455, 465, 472, 481, 484, 581, 616; Das Lied von der Erde 265; Dritte Sinfonie 431; Orchesterlieder 329; Sechste Sinfonie 425; Zweite Sinfonie 210, 264, 272, 577 Mahmoud, Hossam; 18 Tage… 184; Tahrir 184 Mahmoud, Parviz 317 Mahnkopf, Claus-Steffen 110, 175, 184, 196, 236, 267, 341, 418, 456; Angela Nova 2 575; Angelus Novus 415; Der Ewige Friede und die ungeteilte Gerechtigkeit 62; Kritik der neuen Musik 271; void – un delitto italiano 576 Personen- und Werkregister Mahrenholz, Simone; Kritik des Musikverstehens 607 Maierhof, Michael 278 Maiguashca, Messías; La Canción de la tierra 543 Mainka, Jörg; Voyeur 231 Majakowski, Wladimir 412, 458 Mak Weichu (Clarence); Butterfly 207 Makeba, Miriam 163 Malfatti, Radu; claude lorrain 1 271 Malina, Judith 575 Mälkki, Susanna 216 Mallarmé, Stéphane 93, 299, 455, 457, 484, 576 Mamissaschwili, Nodar 491 Mandelstam, Ossip 415, 458 Mann, Chris 565 Mann, Thomas 409 Manoury, Philippe 291, 302; Jupiter 222; Partita 1 294; Partita 2 294 Mansurjan, Tigran 490–492 Mantler, Michael 326 Mao Zedong 147, 200 f., 211 Mar-Haim, Joseph 320 Maraire, Dumisani; Kutambarara 158, 161 Maral, Alper 595 Marbe, Miriam 493 f.; Ritual für den Durst der Erde 493 Marcos, Imelda 577, 588 Marić, Ljubica 495 f. Marie, Jean-Étienne 112, 557 Markow, Andrei Andrejewitsch 223 Marlowe, Sylvia 303 Maros, Rudolf 498 Marquart, Odo 270 Márquez, Gabriel García; Gute Reise, Herr Präsident 352 Marthaler, Christoph 415; Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! 504 Martin, Frank 622; Golgotha 123; In terra pax 123; Requiem 123 Martinaitis, Algirdas 491 Martino, Donald 461; Concerto for Alto Saxophone 631 Martinů, Bohuslav 55, 466; Les trois souhaites 230 Martland, Steve 376, 508 f. Martynow, Wladimir 490 f. Marx, Adolf Bernhard 233 Marx, Josef 57 Masekela, Hugh 163 Mashayekhi, Alireza 317–319; Shur 317 f. Mashayekhi, Nader 318 Mason, Benedict 99, 109, 229, 519; Playing Away 410 Mason, Colin 577 Mason, Daniel Gregory 23; The Dilemma of American Music 28 Mason, Lowell 20, 23 Massow, Albrecht von 370 Mastropietro, Carlos 360 Mathews, Max V.; Bicycle Built for Two 221 Matsudaira Yoriaki 325 Matsudaira Yoritsune 191, 322 f.; Piano to kangengaku no tame no shudai to hensō 143, 323; Saibara ni yoru Metamorfōzu 143; U Mai 323 Matsushita Isao 324 Mattar, Nahla 184 Matter, Herbert 100, 306; Works of Calder 227 Mattheson, Johann 267, 381; Versuch einer systematischen KlangLehre 38 Matthews, David 372 Matthus, Siegfried 60 Mauersberger, Rudolf; Dresdner Requiem 429; Wie liegt die Stadt so wüst 429 Mauzey, Peter 220 Maxelon, Max 476 Maxfield, Richard 375, 503 Mayröcker, Friederike 456 Mayuzumi Toshirō 43, 90, 254; Aoi no ue 141, 323; Kinkakuji 415; Nirvana Symphony (Nehan kokyokyoku) 43, 90, 141–143, 323; Œuvre pour musique concrète x, y, z 141; Shūsaku I 141 Mažulis, Rytis 491 McAdams, Stephen 167 McDonald, Payton 281 McEachern, Doug 339 McEwan, Ian; Amsterdam 523 McKinnon, Dugal 193 McLeod, Jenny; Hohepa 193 McLuhan, Marshall 364 f. 656 Personen- und Werkregister McNicol, Richard 598 McPhee, Colin 145; Balinese Ceremonial Music 253 Medek, Tilo 429 Mehta, Rajesh 282, 320 Mekara, Chaipruk 587 Melichar, Alois 428 Melis, László 498 Melville, Herman 409 Mendelssohn Bartholdy, Felix 334, 427 Mendes, Gilberto 138; Beba Coca Cola 359; Vai e vem 359 Mendoza, Elena 304, 449 Menezes, Flo 360 Mengelberg, Misha 277 Merikanto, Aarre; Juha 472 Meriläinen, Usko 471 Merleau-Ponty, Maurice 600, 610 Mersmann, Hans 35, 381 f., 397, 399, 438 Mertens, Wim; Amerikaanse repetitieve muziek (American Minimal Music) 373, 378 Meschke, Michael 412 Messiaen, Olivier XIII, 4–6, 8, 105, 110, 116 f., 122 f., 161, 173 f., 190, 202, 205, 219, 253, 258–260, 271, 281, 291, 331, 368 f., 414 f., 419, 431, 433, 457, 461, 468, 472, 493, 495, 502, 527, 529–531, 533, 538, 544, 548–550, 556 f., 559, 583, 585, 589 f., 602, 611–615, 622, 631; Cantéyodjayâ 530; Chronochromie 43, 484, 590; Couleurs de la cité céleste 123, 590; Des canyons aux étoiles 298, 484; Éclairs sur l’Audelà 369, 485; Livre d’orgue 302; Mode de valeurs et d’intensités 4, 12, 530, 548–550; Quatre études de rythme 302, 530; Quatuor pour la fin du temps 333, 530, 614; Saint François d’Assise 415; Sept Haïkaï 145; Technique de mon langage musical 258, 530; TurangalîlaSymphonie 112, 302, 369, 529 f.; Vingt Regards sur l’Enfant Jésus 302 Metzger, Heinz-Klaus 10, 19, 32, 131, 289, 362, 399, 439, 514 f.; Das Altern der Philosophie der Neuen Musik 12 Metzmacher, Ingo 216 Meyer, Conrad Ferdinand 457 Meyer, Ernst Hermann 428 Meyer, Krzysztof 499 Meyer, Leonard B. 369, 612 Meyer-Eppler, Werner 85, 166 f., 220, 463, 502, 552 Meyerhold, Wsewolod 65, 412 Michaux, Henri 9, 499; Poèmes pour pouvoir 90 Michel-Dansac, Donatienne 576 Michelangelo Buonarroti 458 Michniewski, Wojciech 500 Miereanu, Costin 494 Mihajlović, Ana 496 Mihajlović, Milan 496 Mihály, Andras 498 Mihály, Julia 213 Miki Minoru 143 f., 324; Jōruri 144; Konzerte für koto und Orchester 144 Milbradt, Jörg; Das geistliche Jahr (mit Jörg Ä Herchet) 125 f. Milhaud, Darius 330, 333, 466; Christophe Colomb 230; Konzert für Marimbaphon, Vibraphon und Orchester 303; La Création du Monde 29 Miljković, Katarina 496 Miller, George Bures 100 Miller, Stephen M. 588 Mimaroğlu, İlhan; Like There’s Tomorrow 595; Tract 595 Minard, Robin 97, 340 Minbashian, Gholam-Hossein 317 Minbashian, Gholma-Reza (Salar Moazez) 317 Mingus, Charles; Epitaph 466 Minton, Phil 504, 565 Miranda, Fátima 504, 565, 576 Mishima Yukio 143, 323, 415 Mitry, Jean; Symphonie mécanique 229 Mitterer, Wolfgang 212, 278, 327 Miwa Masahiro 325 Miyagi Michio 144 Miyata Mayumi 151 Mo Wuping; Fan I 203 Moazez, Salar 317 Mochizuki Misato 229, 325; L’Heure bleue 591; Si bleu, si calme 591 Modi, Narendra 282 Moerane, Michael 163 Mohamad, Goenawan 589 Mohammad, Iyad 184 Mohapeloa, Joshua 163 Moholy-Nagy, László 366 Mokranjac, Vasilije 495 Moldovan, Mihai 494 Moles, Abraham 110, 166, 224, 463, 557, 603; Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung 235 Molinari, Ernesto 297 Möllendorff, Willi von 104 Mombelli, Carlo 163 Mon, Franz 456, 504 Mónaco, Alfredo del 359 Monahan, Gordon 376 Mondrian, Piet 33 Monk, Meredith 246, 313, 353, 375 f., 467, 504, 565, 576, 578 Monk, Thelonious 326 Monteverdi, Claudio 418 Monteverdi, Giulio Cesare 418 Moore, Gillian 598 Moore, Richard 221 Moorman, Charlotte 245, 410, 504 Moran, Robert 476 Morawetz, Oskar 468 Morgenstern, Christian 562 Mori Ikue 185 Moroi Makoto 323 Moroi Saburō 254, 322 f. Morricone, Ennio 213 Morris, Robert 33, 176, 461 Mortensen, Finn 470 f. Morthenson, Jan W. 43 Mosch, Ulrich 176, 605 Moss, David 353, 504, 565, 576 Moszumańska-Nazar, Krystyna 499 Mozart, Leopold 510 f. Mozart, Wolfgang Amadeus 170, 198, 210, 230, 233, 272, 334, 441, 446, 507, 510 f., 525, 579; Die Zauberflöte 511; Don Giovanni 534; Ein musikalischer Spaß 270; Klarinettenkonzert KV 622 190, 243, 483; Le nozze di Figaro 22; Streichquintett g-Moll KV 516 111 Mudgal, Shubha 281 Muenz, Harald; schweigenderest 574 Mugabe, Robert 158 Mukařovský, Jan 61, 66 Müller, Heiner 412, 456 657 Müller, Knut 447 Müller-Blattau, Josef 428 Müller-Siemens, Detlev 190, 341, 484 Müller-Wieland, Jan 456 Mumma, Gordon 81, 213, 289, 306, 353, 467; Medium Size Mograph 1962 478 Munari, Bruno 82 Mundry, Isabel 456, 459, 520, 593; Dufay-Bearbeitungen 198; Ein Atemzug – die Odyssee 411; Ich und Du 606 Munteanu, Viorel 494 Muntendorf, Brigitta; Anleitung zur künstlerischen Arbeit mit der Gegenwart 72; Hinterhall 232; Überhall 232 Murail, Tristan 163, 184, 189, 223, 291, 337, 372, 387, 545, 557–559; Désintégrations 558; Éthers 250; Gondwana 484; Le lac 175; Le partage des eaux 484; Les sept paroles 483; Mémoire/Érosion 111, 250, 558; Pour adoucir le cours du temps 250; Territoires de l’oubli 111, 302; Treize couleurs du soleil couchant 110, 302, 329, 558 Musil, Robert; Der Mann ohne Eigenschaften 17 Mussolini, Benito 574 Mutter, Anne-Sophie 295 Mykietyn, Pawel 500 N Nabicht, Theo 297 Nabokov, Nicolas 144, 622 Nagano, Kent 216 Nagy, Imre 211 Nakamura Isao 304 Nakas, Šarūnas 491 Namtchylak, Sainkho 504, 565 Nancarrow, Conlon 22, 461, 466, 475, 536–538, 558; Studies for Player Piano 302, 536; Study No. 21 (Canon X) 536 Narayan, Ram 281 Narbutaitė, Onutė 491 Nāsahi, Husain 317 Nath, Pandit Pran 254, 374 Natra, Sergiu 320 Personen- und Werkregister Nattiez, Jean-Jacques 173, 177, 391 Nauck, Gisela 90 Naujocks, Christian 509 Ndodana-Breen, Bongani; Hintsa’s Dances 162; Rainmaking 162; Sons of the Great Tree 162; Uhambo 162; Winnie: The Opera 158, 162 Ndubuisis, Okechukwu 160; Atuak Ukot Odo 158; Onye Naku na Onuzo Muo 158 Nemescu, Octavian 494 Nemtsov, Sarah 520 Nemutlu, Mehmet 595 Neuenfels, Hans 415 Neuhaus, Max 97, 251, 304, 309; Drive-In Music 340 Neumann, Andrea 246 Neumann, Robert 104 Neunecker, Marie-Luise 298 Neuwirth, Olga 229 f., 264, 431, 456, 507 f., 576; American Lulu 197; Bählamms Fest (mit Elfriede Ä Jelinek) 197, 246, 460; !?dialogues suffisants!? – Hommage à Hitchcock 210, 230; Die Schöpfung (mit Elfriede Ä Jelinek) 273; Drei Instrumental-Inseln aus »Bählamms Fest« 197; Hommage à Klaus Nomi – a songplay in nine fits 272; Hommage à Klaus Nomi. Songs für Countertenor und kleines Ensemble 508; Lost Highway 197, 246, 410; »…miramondo multiplo…« 230; Suite aus »Bählamms Fest« 197; Suite aus »Lost Highway« 197; The Long Rain (mit Michael Ä Kreihsl) 230; Zwei Duette aus »Bählamms Fest« 197 Newman, Barnett 131 Newman, Chris; Explanation 447 Niblock, Phill 189, 231, 327, 375, 467, 509, 556, 604 Nichifor, Şerban 494 Nicholls, David; The Cambridge History of American Music 18 Nicolet, Aurèle 296 Niculescu, Ştefan 493 f., 557; Ison I 493; Ison II 493 Nie Er 201 Nielsen, Carl 469 Niemöller, Martin 430 Nietzsche, Friedrich 172, 381, 454, 456 Nikolow, Lasar 494 Nilsson, Bo 43, 472, 622 Nishi Yoko 151 Nishida Kitarō 617 Nishimura Akira 324 Nithibon, Anothai 587 Nitsch, Hermann; Orgien Mysterien Theater 504 Nixon, Richard 200, 376, 413 Njoku, Akuma-Kalu 157 Nketia, J.H. Kwabena 138, 158–160; Antubam 158; Volta Fantasy 160 Nobutoki Kiyoshi 322 Nodaira Ichirō 325 Nodjadai V (die »Regenkönigin«) 162 Nolte, Irmela 297 Nomi, Klaus 272, 508 Nonken, Marilyn 302 Nono, Luigi 11, 55, 59, 63–68, 70, 94 f., 131, 171, 175, 195, 197 f., 254, 262, 302, 342, 372, 390, 405, 407, 414 f., 437, 441, 456–458, 461, 470, 482–484, 502, 518, 530 f., 542–545, 547, 551–553, 580 f., 603 f., 606, 616 f., 622 f.; A Carlo Scarpa architetto, ai suoi infiniti possibili 110, 445, 585; A floresta é jovem e cheja de vida 575; Al gran sole carico d’amore 65, 197, 211, 412, 458; Como una ola de fuerza y luz 65; Composizione per orchestra n. 1 552; Der rote Mantel 197; Diario polacco ’58 94; Due Espressioni per orchestra, I 370; Fragmente – Stille, An Diotima 94, 110, 240, 457, 581, 617; Fragmente aus »Al gran sole carico d’amore« 197; Il canto sospeso 44, 64, 66, 175, 370, 429, 482, 553, 563, 577; Incontri 44; Intolleranza 1960 65, 94, 197, 211, 306, 412, 458; Konzertsuiten 197; La fabbrica illuminata 94, 250, 543, 575; La lontananza nostalgica utopica futura 277, 370; No hay caminos, hay que caminar… Andrej Tarkowskij 227, 585; Omaggio a Vedova 449; Poli- 658 Personen- und Werkregister fonica – Monodia – Ritmica 330, 370, 551; Post-prae-ludium n.1 »per Donau« 50, 298; Prometeo. Tragedia dell’ascolto 49, 83, 94, 348, 409, 414, 457, 482 f., 542, 614; Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz 429; Suite da concerto da »Intolleranza 1960« 197; Varianti 531, 553; Variazioni canoniche sulla serie dell’op. 41 di Arnold Schönberg 549; À Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum 49, 545 Nordal, Jón 471 Nordheim, Arne 470; Requiem of Reconciliation 577 Nørgård, Per 376, 457, 469, 471 f., 509; Labyrinten 472; Nuit des Hommes 472 Norris, Michael 193 Nosaka Keiko 144 Noth, Hugo 300 Nott, Jonathan 216 Nova, Jacqueline 358; Creación de la tierra 359 Novalis 562 Nowitz, Alex 504 Nunes, Emmanuel; La Douce 456 Nunns, Richard 193 Nußbaum, Walter 577 Nyerere, Julius 158 Nyman, Michael 376–378, 437, 519, 555; Minimal Music 373 O Oberlinger, Dorothee 297 Obradović, Aleksandar 495 Ockeghem, Johannes 44, 266, 341, 581 Odeh-Tamimi, Samir 184 Odland, Bruce 97 Odstrčil, Karel 497 O’Dwyer, Timothy 588 Oehlschlägel, Reinhard 399 Oehring, Helmut 300, 486, 508, 539, 574, 576; Irrenoffensive 413; SehnSuchtMeer 413 Oesch, Hans 140, 254 Ogawa Rumi 304 Ohana, Maurice 302 Okba, Amr 184 Olah, Tiberiu; Zweite Sinfonie 493 Olbrisch, Beate/Olbrisch, Franz Martin; Schichtwechsel 230 Oldenburg, Claes 305, 503 Oldfield, Mike 509 Olivero, Betty 212, 245 f., 301, 313, 320, 353, 375, 467, 565 Oliveros, Pauline 212, 245 f., 301, 353, 375, 467, 565; Deep Listening Pieces 213; Sonic Meditations 213, 313 Olofsson, Kent; Treccia 470 Omojola, Bode 159 Omran, Farid 318 Ono Yoko 92, 346, 503, 565 Opeloge Ah Sam, Matatumua; We Are Pasifika 194 Orbán, György 498 Ore, Cecilie 471 Orellana, Joaquín 358 f.; Humanofonía I 359 Orff, Carl 595; Orff-Schulwerk 303 Orgad, Ben-Zion 320 Ormandy, Eugene 200 Ornstein, Leo 466; Suicide in an Airplane 28 Ortiz, Gabriela 360 Ortiz, William 360 Orwell, George 410 Osborn, Mark Randall 467 Osborne, Nigel 458 Ospald, Klaus 458 Osterhammel, Jürgen 137 Ostertag, Bob; Say No More 277; Verbatim 277 Oswald, John 508 Othman, Johan 587 Ott, Daniel 408; Blick Richtung Süden 100; Hafenbecken I & II 432; Paulinenbrücke 411 Owen, Wilfred 121, 456 Ox, Jack 476 Oxley, Tony 276 Özdil, Sıdıka 595 Ozgijan, Petar 495 P Pablo, Luis de 302 Pace, Ian 302 Paci, Mario 201 Paganini, Niccolò 450 Pagh-Paan Younghi 129, 245, 254, 351, 456, 574 Pahud, Emmanuel 297 Paik Byung-Dong; Un I–VIII 350 Paik Nam June 69, 346, 351, 410, 448, 453, 503 f., 626; Exposition of Music – Electronic Television 339; One 248; Opera Sextronique 245; Symphonie für 20 Räume 339; TV Cello 504; Un I–VIII 350; Video Opera 231 Palacios, Canela 360 Palester, Roman 499 Palestine, Charlemagne 375, 467; Strumming Music 505 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 125, 334 Palm, Siegfried 294, 311, 622 Palme, Pia 297 Palmer, Juliet 193 Pammer, Anna Maria 576 Pan Hwang-Long 205 f.; Streichquartett Nr. 2 206; Streichquartett Nr. 3 206 Pan Shyh-Ji 206 Panisello, Fabián 320; Trumpet Concert 298 Pannke, Peter 281 Panufnik, Andrzej 481, 499 Paraskevaídis, Graciela; Schatten 456 Parikh, Arvind 281 Park Minhee 351; Kagok Silgyŏk 352 Parker, Evan 276 Parkins, Zeena 185 Parmegiani, Bernard 249, 622 Parmerud, Åke 472 Parsons, Michael 69, 376 Pärt, Arvo X, 116, 123 f., 126, 222, 264, 377, 488, 490–492, 500; Berliner Messe 123; Fratres 341; Stabat Mater 43, 123; Tabula rasa 191, 341; Te Deum 123, 577 Partch, Harry 21 f., 109, 189, 195, 248, 261, 303 f., 330, 460, 466, 556; Bitter Music 370; Genesis of a Music 107; Seventeen Lyrics 106 Partos, Ödön 320 Pasaribu, Ben 589 Pascoli, Giovanni 459 Pasolini, Pier Paolo 576 Pasveer, Kathinka 246 659 Paté, Christine 301 Paul, Jean 172, 454 Pauls, Raymond 492 Pauset, Brice 216 Păutza, Sabin 494 Pavese, Cesare 458 Pawlenko, Sergej 489 Paynter, John 598 Paz, Juan Carlos 254, 358 Paz, Octavio 122, 458 Pearson, William 572 Peçi, Aleksandër 495 Pedersen, Gunner Møller 472 Peelman, Roland 577 Pelinski, Ramón 254 Pellegrini, Claudia 97 Penderecki, Krzysztof X, 42–44, 55, 63 f., 124 f., 236, 290, 337, 425, 481, 483 f., 488, 509, 520, 555, 580, 585; Anaklasis 42 f., 48, 108, 250, 483, 499; Capriccio 298; Dies Irae – Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz 429; Emanationen 109; Fluorescences 42; Lacrimosa 124; Partita 327; Passio et mors Domini nostri Jesu Christi secundum Lucam (LukasPassion) 43, 500, 577; Polnisches Requiem 124, 500; Requiem of Reconciliation 577; Seven Gates of Jerusalem 500; Tren ofiarom Hiroszimy/Threnos für die Opfer von Hiroshima 42, 63, 250, 477, 499 Peng Zhimin 203 Perle, George 176, 259, 423, 462, 631 Perlman, Itzhak 590 Pesson, Gérard 426; Cinq poèmes de Sandro Penna 372 Petraškevičs, Jānis 492 Petrassi, Goffredo 300 Petrić, Ivo 496 Petros, Hanna 183 Petrović, Miloš 496 Petrovics, Emil 498 Petrow, Petar 495 Petschull, Johannes 427 Pettersson, Allan 472, 482 Philippot, Michel 219 Philipsz, Susan 476 Piaget, Jean 612 Piano, Renzo 542 Picasso, Pablo 210 Personen- und Werkregister Picht, Georg 600 Piene, Otto 91 Piňos, Alois 497 Pintscher, Matthias 216, 300, 519 f. Pirandello, Luigi; Was ihr wollt 410 Piranesi, Giovanni Battista; Carceri 449 Pirchner, Werner 273 f.; Anstatt eines Denkmals für den Bruder meines Lehrers, der im Krieg, weil er sich weigerte, Geiseln zu erschießen, ermordet wurde 273; Do You Know Emperor Joe? 272 f.; Two War- and Peace-Choirs 273 Pironkow, Simeon 494 Pisaro, Michael 604 Piscator, Erwin 575 Piston, Walter 285, 330 Plakidis, Pēteris 491 Platon; Phaidros 365 Platz, Robert HP 236, 267, 459 Poe, Edgar Allan; Shadow 412 Polański, Roman; The Pianist 499 Pollini, Maurizio 65, 302 Pollock, Jackson 32, 451, 625 Pomàrico, Emilio 216 Pompidou, Georges 286 Poore, Melvyn 298 Pop, Adrian 494 Pople, Anthony; The Cambridge History of Twentieth-Century Music (mit Nicholas Ä Cook) XIV, 196, 396 Poppe, Enno 111, 224, 237, 411, 432, 559 f., 585; Altbau 486; IQ, Testbatterie in acht Akten (mit Marcel Ä Beyer) 460; Knochen 372; Speicher 372; Wald 582 Pörtner, Paul 456; Experiment Theater 411 Poullin, Jacques 88 Pound, Ezra 458 Pousseur, Henri 10 f., 174, 235, 254, 283, 331, 420, 463, 471, 502, 547– 549, 575, 603, 622; Caractères 477; Caractères I 625; Dichterliebesreigentraum 520; Musik, Form und Praxis 13; Quintette à la mémoire d’Webern 552; Scambi 11, 625; Votre Faust 411, 626 Powels, Tom 300 Prabowo, Tony 589 Prangcharoen Narong 587 Prauliņš, Uģis 492 Presley, Elvis; Blue Suede Shoes 508 Previn, André; A Streetcar Named Desire 410 Prévost, Eddie 213, 276 Prins, Stefan 72, 278; Generation Kill 231, 307 Prokofieff, Sergej 228, 260 Protschka, Josef 575 Prudencio, Cergio 360 Pruslin, Stephen 573 Psathas, John 193 Pstrokońska-Nawratil, Grażyna 500 Puccini, Giacomo 204; Turandot 150 Puckette, Miller 222 Pudlák, Miroslav 497 Purcell, Henry 378 Q Qin Wenchen; He Yi 204 Qu Xiaosong; Da pi guan 203; Death of Oedipus 203; Life on a String (Ming ruo qin xian) 204, 415; Mi 203; Mong Dong 147, 203; Versuchung 204; Yi 203 Qu Yuan 415 Quejada, Dominic G. 588 Queyras, Jean-Guihen 294 Qureshi, Taufiq 281 R Raad, Walid 183 Rääts, Jaan 491 Rabe, Folke 472; Joe’s Harp 385 Raden, Franki 586 Radić, Dušan 495 Radigue, Éliane 622 Radok, Alfred 412 Radovanović, Vladan 495 Rădulescu, Horatiu 432, 494, 557; Streichquartett Nr. 4 op. 33 582 Radzynski, Jan 320 Raetz, Markus 163 Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 446 Rahn, John 461 Rainer, Arnulf 450 Rajičić, Stanojlo 495 Rajtschew, Aleksandar 494 660 Personen- und Werkregister Rameau, Jean-Philippe 187, 548 Ramone, Joey 508 Ramuz, Charles-Ferdinand 408 Ran, Shulamit 320 Ranade, Ashok 281 Rands, Bernard; Requiem of Reconciliation 577 Ranjbaran, Behzad 318 Ranta, Michael W. 304 Rasch, Uwe 353; Musik als Leibesübung 304 Raskatow, Alexander Michailowitsch 125, 491 Rasmussen, Karl Aage; Berio Mask 471; Titanics Undergang 472 Rastam, Saidah 588 Rathaus, Karol 498 Ratkje, Maja Solveig Kjelstrup 249 Rattle, Simon 594 Rättyä, Janne 301 Rauschenberg, Robert 32, 305, 410, 448, 451, 625; White Paintings, Black Paintings 347 Rautavaara, Einojuhani 471 f., 482; Angel of Light 472 Ravel, Maurice 110, 326, 331, 399, 621; La valse 243; Zweite Violinsonate 29 Redfield, John; Music, a Science and an Art 40 Reed Lou; Metal Music Machine 509 Reese, Kirsten; Kugelspiele 213 Refat, Mahmoud 183, 185 Regamey, Konstanty 498 Reger, Max 105, 329 Rehnqvist, Karin 470 Reich, Steve 127, 161, 213, 254, 267, 314, 327, 341, 373–375, 466, 468, 537 f., 543, 555; Clapping music 164, 537; Come Out 175, 374; Different Trains 251, 413, 429, 581; Double Sextet 22; Drumming 164, 168, 303, 375, 378, 537; Four Organs 375; Four Sections 485; It’s Gonna Rain 24 f., 236, 335, 345, 374, 563, 615; Music as a Gradual Process 27, 374; Music for Eighteen Musicians 164, 236, 375; Music for Pieces of Wood 164; Pendulum Music 236, 378; Piano Phase 236, 374, 537, 585, 615; Tehillim 128, 191; The Cave (mit Beryl Ä Korot) 25, 128, 231, 413; The Desert Music 485; Three Movements 485; Three Tales (mit Beryl Ä Korot) 25, 413; Violin Phase 374, 537; WTC 9/11 55 Reich, Willi 399 Reicha, Antonin 378 Reichel, Hans; Shanghaied on Tor Road. The world’s 1st operetta performed on nothing but the daxophon 272 Reimann, Aribert 190, 246, 456, 576; Das Schloß 410; Die Gespenstersonate 410; Lear 250, 409 f., 459; Medea 410; Troades 410 Reinhardt, Django 508 Reinholdtsen, Trond 72, 232, 346, 574 Reiter, Eva 297 Reith, Dirk 81 Reitz, Edgar; Geschwindigkeit (mit Juliane Ä Klein und Josef Anton Ä Riedl) 229 f.; Ortswechsel (mit Johannes Ä Kalitzke) 230 Rescala, Tim 360 Resch, Gerald 507 Resnais, Alain; Nuit et brouillard 429 Réti, Rudolf 170 Reuchlin, Johannes 132 Reudenbach, Michael 459 Revueltas, Silvestre 254, 358 Rey, Cemal Reşit 595 Reynolds, Roger 289, 467; The Emperor of Ice-Cream 93, 478; Voicespace 93 Ricci, Matteo 208 Richter, Hans; Vormittagsspuk 229 Richter, Max 314 Richter-Herf, Franz 107 Riedl, Josef Anton 248, 451, 456, 476; Geschwindigkeit (mit Edgar Ä Reitz 229 Riehm, Rolf 66 f., 92, 456, 520; Adieu, sirènes 576; He, tres doulz roussignol joly 450; Wer sind diese Kinder 66 Riemann, Hugo 170, 187, 259, 386, 417–419, 508, 527, 601 Rihm, Wolfgang X, 36, 190, 196, 198, 229, 237, 240, 243, 264, 300, 302 f., 314, 341, 344, 456 f., 519 f., 555, 574, 584, 623; 3 Walzer 272; Auf- und Wiederhören. Ein verabschiedender Walzer für Manfred Reichert 272; Brahmsliebewalzer 272; Deus Passus 123, 577; Die Eroberung von Mexiko 246, 410, 415, 591; Dionysos 410; Dis-Kontur 484; Fetzen 581; HölderlinFragmente 457; Jagden und Formen 450; Jakob Lenz 335, 410, 459; Mehrere kurze Walzer 272; Musik für drei Streicher 333, 520; Quartett in g 581; Requiem of Reconciliation 577; Séraphin 410; »Séraphin«-Sinfonie 481, 486; Sieben Passions-Texte 576; Sine nomine I 298; Streichquartette op. 2, op. 10 581; Sub-Kontur 335, 484; Tutuguri IV (Kreuze) 303; Vers une symphonie fleuve 439, 481; Über die Linie I–VII 372 Riley, Terry 22, 30, 127, 254, 281, 327, 341, 372–375, 377 f., 466, 581, 604; Church of Anthrax (mit John Ä Cale) 509; In C 24, 190, 372, 374, 378, 538, 544, 585; Mescalin Mix 374 Rimbaud, Arthur 458 Rimmer, John 193 Rimski-Korsakow, Georgi Michailowitsch 105 Rimski-Korsakow, Nikolai; Grundlagen der Orchestration 291 Ripellino, Angelo Maria 211; Majakowski e il Teatro Russo d’Avanguardia 412 Risset, Jean-Claude 110, 557; Inharmonique 168; Mutations 168; Sud 84, 168 Ristić, Milan 495 Ritchie, Anthony 193 Robbe-Grillet, Alain 231 Robertis, Mariolina de 303 Robertson, David 216 Robertson, Roland 252 Robin, Yann 251 Rochberg, George 18, 22, 191, 467 Roche, Heather 308 Rodriguez, Ana Maria 246, 360, 450 661 Rodríguez, Damián 360 Rodríguez, Marcela 360 Rojko, Uroš 496; Bagatellen 174, 296, 300; Tangos 300 Rokeby, David 306 Roldán, Amadeo 358; Ritmicas 303 Romitelli, Fausto 539; An Index of Metals 415; EnTrance 372; Golfi d’ombra 303; Professor Bad Trip: Lesson I–III 300 Ronchetti, Lucia 457, 574; Lezioni di tenebra 246 Rorty, Richard 196 Rosbaud, Hans 215, 294 Rosch, Eleanor 601 Rose, Jon 504 Rose, Michael Alec 523 Rosenberg, Alfred 427, 566 Rosenboom, David 84, 95 Rosowsky, Solomon 320 Ross, Alex XI, 396, 400; The Rest is Noise 60 Ross, Valerie 588 Rossini, Gioachino 378 Rostropowitsch, Mstislaw 294 Rotaru, Doina 494 Rothko, Mark 32 f., 449, 451, 591, 625 Rougier, Louis 462, 549 Rouhani, Mehran 318 Rouse, Mikel 376 Rousseau, Jean-Jacques 369, 440 Rowe, Keith 213, 276, 504 Rozhdestvensky, Gennadi; Requiem of Reconciliation 577 Ruck, Jürgen 300 Rudhyar, Dane 28, 41, 145, 190, 261, 420, 604 Rudzinski, Zbigniew 499 Rugeles, Alfredo 360 Ruggles, Carl 23, 41, 285 Rühm, Gerhard 451, 455, 476, 504, 563; ein-wort-tafeln 274; eine cimarosa sonate gesprochen 274; eintonstück 274; reagans humor 274 Rundel, Peter 216 Russo, William 467; Three Pieces for Bluesband and Orchestra 29 Russolo, Luigi 248, 336 Ruttmann, Walter 79 Ruwet, Nicolas 13 f., 174, 177, 391, 523, 603, 605 Personen- und Werkregister Ruzicka, Peter 216, 408, 456–458, 524; Befragung 484; Celan 429; »… den Impuls zum Weitersprechen erst empfinge« 484; … sich verlierend 581; …über ein Verschwinden 581 Rùžička, Rudolf 497 Rychlik, Jan 497 Ryker, Harrison 207 Rzewski, Frederic 195, 213, 277, 313, 376, 467; Les Moutons de Panurge 370; Prose Pieces 626; The People United Will Never Be Defeated! 23, 370 S Saariaho, Kaija 111, 471 f., 557, 559; Io 385; L’Amour de loin 471; Lichtbogen 250, 385; Nymphea 471 Sabbe, Herman 221 Sabra, Wadih 183 f. Sachiko M 213 Sachs, Curt 428 Sachs, Joel 468 Sade, Marquis de 413 Sadra, Wayan 589 Safir, Rachid 577 Sahebnassagh, Kiawasch; Kava 318 Said, Edward 184 Sakai Kenji 325 Sallinen, Aulis 471 f.; Kullervo 472 Salmen, Walter 348 Salonen, Esa-Pekka 216, 471 Salzédo, Carlos 285 Samodajewa, Ludmila 492 Sánchez-Chiong, Jorge 278, 326 Sánchez-Gutiérrez, Carlos 360 Sánchez-Verdú, José Maria 229, 449, 574; Jardí blau 591; SCRIPTVRA ANTIQVA 576 Sandjari, Hišmat 317 Sang Tong 201 f.; Yejing 201; Zai na yaoyuan de difang 201 Sanguineti, Edoardo 69, 412, 572 Santiago, Francisco 588 Santoro, Cláudio 359 Santos, Ramon 586, 588 Sanyal, Ritwik; Philosophy of Music 281 Sarhan, François 72, 448; Zentral Park 232 Śārngadeva; Samgītaratnākara 530 Sáry, László 376, 498 Satie, Erik 69, 71 f., 130, 195, 239, 260, 346, 433, 546, 621; musique d’ameublement 91, 339, 610 f.; Parade 248 f.; Vexations 31, 370, 610 Satō Sōmei 324 Satyaekagustdiman, Dody 589 Saunders, Rebecca; Blue and Gray 591; Chroma 591; Molly’s Song 455 Savić, Miroslav 496 Saygun, Ahmed Adnan; Taş Bebek 595; Özsoy 595 Scartazzini, Andrea Lorenzo 459 Scelsi, Giacinto XIII, 36, 43, 49, 103, 110, 112 f., 116, 131, 141, 145, 189 f., 195, 212, 236, 261 f., 265, 277, 293 f., 336 f., 372, 400, 420, 432, 474, 485, 544, 556–558, 593, 604, 612, 615, 618; Anahit 108; Canti del Capricorno 128 f., 249, 563, 575; I Presagi 298; I Riti – I Funerali d’Achille 303; Natura renovatur 582; Ohoi 582; Quartetto No. 3 582; Quartetto No. 4 108, 582; Quattro Illustrazioni 128; Quattro pezzi (su una nota sola) 41, 108, 167, 190, 483, 531, 558, 581, 585; Streichtrio 190, 558; TKRDG 249; Trio à cordes 108; Yamaon 539; Zweites Streichquartett 293 Schaeffer, Bogusław 92, 184, 477, 499, 585 Schaeffer, Pierre 8, 39, 49, 141, 172, 218 f., 258, 339, 366, 425, 509, 552, 584, 602 f., 622; Cinq études de bruits 219, 249; Étude pathétique 563; La coquille à planètes 219; Orphée 53 – opéra concret (mit Pierre Ä Henry) 219; Symphonie pour un homme seul (mit Pierre Ä Henry) 88, 219, 249, 563; Toute la Lyre (mit Pierre Ä Henry) 88; Traité des objets musicaux 166; Wechselwirkung zwischen Musik und Akustik 166 Schafer, R. Murray 21, 36, 97, 432, 468; Music for Wilderness Lake 543 Schat, Peter Ane 193 Schdanow, Andrei 488, 496 662 Personen- und Werkregister Scheerbart, Paul 562 Scheibe, Johann Adolf 510 Schell, Daniel; Concerto for sarangi and strings 281 Schenk, Erich 428 Schenker, Friedrich 331; Fanal Spanien 1936 (Hommage à Paul Dessau) 59 Schenker, Heinrich 170, 187, 259, 418, 601, 613 Scherchen, Hermann 94, 166, 215, 285, 294, 329, 399, 429, 622 Scherer-Rügert, Gerhard 301 Schering, Arnold 568 Scherstjanoi, Valeri 504 Scherzinger, Martin 162 Schick, Ignaz 313 Schick, Steven 304 Schiller, Friedrich 66, 132, 233, 433, 455; Ode an die Freude 72 Schillinger, Joseph 33; Schillinger System of Musical Composition 461 Schillings, Max von 381 Schimana, Elisabeth 246 Schimi, Iraj; Topo 318 Schindhelm, Michael 415 Schirmer, Ulf 216 Schiske, Karl 318 Schklowski, Wiktor Borissowitsch 439 Schlegel, Friedrich 562 Schleiermacher, Steffen 456 Schlippenbach, Alexander von 277, 326 f. Schloezer, Boris de 583, 605 Schläpfer, Martin 593 Schmidt, Arno; Zettels Traum 459 Schmidt, Christfried 59 Schmidt, Irmin 82 Schmitz, Elie Robert 285 Schmucki, Annette 574 Schnebel, Dieter 19, 69, 92 f., 116, 119, 130, 254, 289, 346–348, 390, 410 f., 476–478, 545, 555, 564 f., 572–574, 578, 580; Atemzüge 572; Bach-Contrapuncti 93; concert sans orchestre 348; Dahlemer Messe 126, 430; Das Urteil (nach F. Kafka 90; Drei-Klang 93; dt 31,6 126 f.; Ekstasis 126 f.; Erstes Streichquartett (»im Raum«) 582; Gehörgänge. Konzept einer Musik für forschende Ohren 313; glossolalie 283, 410, 564, 626; Glossolalie 61 283, 410, 564; Hörfunk – Radiophonien 574; ki-no 93; Körper-Sprache 353, 477, 504; Maulwerke 249, 353, 478, 504, 564, 572; MO-NO 93 f., 476; Museumsstücke 449; Orchestra 93, 478; raum – zeit y 90; Sinfonie X 243, 520; visible music II. Nostalgie. Solo für einen Dirigenten 410 Schneemann, Carolee 504 Schneller, Oliver; Joyce Paraphrase 455 Schnittke, Alfred X, 159, 195, 229, 274, 472, 481, 488–490, 493, 506 f., 521, 593; Concerti grossi 489; Concerto grosso Nr. 1 190, 506; Dritte Sinfonie 211; Drittes Streichquartett 211, 489, 581; Erste Sinfonie 243, 483, 489, 506; Gesualdo 489, 576; Historia von D. Johann Fausten 489; Hymnen 125; Life with an Idiot 456, 489; MozArt 270; Neunte Sinfonie 125; Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik 506; Requiem of Reconciliation 577; Vierte Sinfonie 490; Zweites Konzert für Violoncello und Orchester 264 Schnitzler, Arthur 413 f.; Fräulein Else 414, 457 Schnoor, Hans 428 f. Schoof, Manfred 326 f.; Ode 327 Schopenhauer, Arthur 568 Schostakowitsch, Dmitri 22, 55, 58 f., 125, 190, 202, 229, 429, 472, 481 f., 488–490, 492, 500, 506, 525, 581; 14. Sinfonie 244, 482, 631; Fünfte Sinfonie 370; Sinfonie Nr. 13 »Babi Jar« 458; Zwölftes Streichquartett 631 f. Schreier, Manfred 577 Schreker, Franz 105, 330, 399; Die Gezeichneten 475 Schroeder, Marianne 302 Schryer, Claude 97 Schtschedrin, Rodion 490 Schubert, Alexander 72, 232 Schubert, Franz 55, 538; Der Tod und das Mädchen 581; Winterreise 197, 441, 520 Schulhoff, Erwin 57, 326 Schulkowsky, Robyn 246, 304 Schuller, Gunther 22, 29, 326, 467, 486, 631 Schultze, Norbert; Lili Marleen 427 Schumacher, Federico 360 Schuman, William 22 Schumann, Coco 428 Schumann, Otto 427 Schumann, Robert XI, 157, 170, 236, 436, 442, 446, 454, 519, 528, 561; Humoreske 271, 346; Träumerei 618 Schwartzkogler, Rudolf 504 Schwarz, Johannes 297 Schwarz, Robert 376 Schwehr, Cornelius 68; Neue Musik oder Neue Filmmusik 229 Schweinitz, Wolfgang von 109, 237, 341 Schwertsik, Kurt 216, 274, 331 Schwitters, Kurt 210, 339, 450, 456, 458; Merzbau 91; Sonate in Urlauten 562 Schäfer, Sabine 445 Schöffer, Nicolas 339 Schöllhorn, Johannes 520; Kazabana 372; Madrigali a Dio nach Pier Paolo Pasolini 576; Pierrot lunaire 329; rota 251 Schönberg, Arnold X, 3, 5 f., 27–30, 35, 47, 79, 104, 120 f., 138, 147, 173, 186–188, 216, 233, 236–238, 251, 273, 284, 294, 310 f., 322 f., 329–331, 359, 362 f., 368–370, 389, 399, 419 f., 424, 427–429, 435 f., 438, 440, 446 f., 461, 466, 493, 495 f., 498, 525, 534, 544, 548 f., 561 f., 567, 576 f., 580, 597, 605, 612–614, 621, 628, 631 f.; Begleitmusik zu einer Lichtspielszene 229; Bläserquintett 333; Die glückliche Hand 407; Drei Satiren 348; Ein Überlebender aus Warschau 66, 120 f., 429; Erste Kammersinfonie 259, 329, 331, 333, 335 f.; Erstes Streichquartett 106, 266; Erwartung 237 f., 413; Farben (Nr. 3 aus Fünf Orchesterstücke op. 16) 41, 266, 663 268; Harmonielehre 107, 258, 387, 419; Herzgewächse 576; Klavierstück op. 33a 262; Klavierstücke op. 11 169 f., 176, 188; Klavierstücke op. 19 169, 261; Pierrot lunaire 236, 243, 329, 333, 468, 475, 530, 562, 570, 573, 576; Serenade 266; Streichtrio 333; Suite für Klavier 348; Suite für sieben Instrumente 348; Variationen für Orchester 266; Verklärte Nacht 329; Vier Lieder 386; Violinkonzert 177; Zweites Streichquartett 335 Schönmüller, Annette 576 Schüttler, Martin 72, 232; schöner leben 7 308 Schütz, Martin; Eine Frage der Zeit 593 Sciarrino, Salvatore 36, 110, 171, 175, 198, 302 f., 456 f., 564, 570, 593, 604, 616; 12 Madrigali 576; Carnaval 576; Da gelo a gelo 413; Infinito nero 413; La porta della legge 246; Le voci sottovetro 576; Lohengrin. Azione invisibile 372, 413, 457; Luci mie traditrici 246, 413, 576; Macbeth 413; Notturno no. 3 251; Sei Capricci 294; Studi per l’intonazione del mare 296; Un fruscìo lungo trent’anni 303; Vanitas 413 Scodanibbio, Stefano 294 f.; Sei Studi 212 Scott, Stephen 376 Scruton, Roger 35, 40 Sculthorpe, Peter; Rites of Passage 193 Seawright, James 220 Seeger, Charles 22 f., 253, 465 Seeger, Mike 22 Seeger, Peggy 22 Seeger, Pete 22 Seghers, Anna; Das siebte Kreuz 430 Sehnaoui, Sharif 183, 185 Seidl, Arthur 381 Seidl, Hannes 72, 574; Ökonomien des Handelns (mit Daniel Ä Kötter) 231 Seither, Charlotte 456 Sellars, Peter 413, 415 Personen- und Werkregister Selmeczi, György 498 Seltzer, Cheryl 468 Sender, Ramon 374 Senghor, Léopold Sédar 160 Seong Dong-Chun 352 Šerkšnytė, Raminta 491 Serocki, Kazimierz 43, 499; Continuum. Sextett für Schlaginstrumente 303 Sessions, Roger 22, 82, 285, 400, 467, 482, 524 Seter, Mordecai 320 Seubold, Günter 363 Shaff, Stan 339 Shafiq, Viola 183 Shakespeare, William 300, 409, 456, 459, 626 Shanboone, Matius 589 Shankar, Lakshminarayana (L.) 280 Shankar, Ravi 280 f., 375; Concerto for sitar and orchestra 281 Shannon, Claude Elwood 14; A Mathematical Theory of Communication 224 Shapira, Arie 320 Sharma, Gerriet K.; I_LAND 85 Sharma, Shivkumar 281 Sharp, Elliott 185, 278, 313, 327, 376 Sheng, Bright (Sheng Zongliang) 136, 203 f.; H’un (Lacerations): In Memoriam 1966– 1976 147, 203 Sheriff, Noam 320 Shi Wei-Liang 205 Shi Yongkang; Huanghe de gushi 201 Shibata Minao 322 Shields, Alice 220 Shih Pei-Yu 206 Shimamoto Shozo; Breaking Open the Object 91 Shinohara Makoto 144 Shrapnel, Hugh 376, 378 Shupo, Sokol 495 Sibelius, Jean 469–471, 473, 479, 590 Sidelnikow, Nikolaj 490, 495 Sidharta, Otto 589 Siebert, Wilhelm Dieter 429 Siegwart, Peter 577 Sigal, Rodrigo 360 Siimer, Mart 492 Sikora, Elżbieta 500 Sikorski, Kazimierz 499 Sikorski, Tomasz 499 Silkstone, Francis; Arranging Marriages 282 Silva, Diego Rodríguez de 450 Simon, Paul 375 Singh, Hardesh 588 Sink, Kuldar 491 Šipuš, Berislav 496 Sitsky, Larry 193 Sjukur, Slamet Abdul 589 Skalkottas, Nikos 370; Tender Melody 631 Skempton, Howard 69, 376 Skoryk, Myroslaw 492 Skovhus, Bo 576 Skrjabin, Alexander 41, 105, 259, 261, 446, 489, 590 f. Slamet, Memet Chairul 589 Slavický, Milan 497 Slonimski, Sergei Michailowitsch 490; Eine Stimme aus dem Chor 506 Slonimsky, Nicolas 285 Sluchin, Benny 298 Smalley, Denis 193, 387 Smalley, Roger; Cello Concerto 271 Smiley, Pril 220 Smirnow, Dmitri Nikolajewitsch 489, 491; Canon-Humoresque 271 Smith Brindle, Reginald 303, 370 Smolka, Martin 113, 456, 497; Blue Bells 591; Hats in the Sky 229; Ich komponiere der Natur nach 432; Nagano 71; Observing the Clouds 71; Rain, a Window, Roofs, Chimneys, Pigeons and so … and Railway-Bridges, too 71 Smolski, Dmitri 492 Smutny, Daniel 244 Snowman, Nicholas 331 Sochrabjan, Aschot 492 Sodeika, Gintaras 491 Soh, Diana 588 Sohal, Naresh; Three Songs from Gitanjali 281 Sokolow, Iwan 489 Solomonoff, Natalia 360 Somers, Harry 468 664 Personen- und Werkregister Sommer, Vladimir 497 Sonami, Laetitia 213, 246; Lady’s Glove 505 Songtonga, Ernest 163 Sonoda Takahiro 323 Sophy Him 587 Sørensen, Bent 471 Sotthibanddhu, Nop 587 Souris, André 611 Sousa, John Philip 23 South, Eddie 508 Southworth, Michael 432 Souvtchinsky, Pierre 611 Sowande, Fela; Gloria 158; Jesu Olugbala 158; Kyrie 158; Obangiji 158; Yorùbá Lament 158 Spahlinger, Mathias XIV, 66, 71, 146, 173, 302, 343, 356, 426, 450, 484–487, 555, 581, 588 f., 604; 128 erfüllte augenblicke – systematisch geordnet, variabel zu spielen 617; adieu m’amour, hommage à Guillaume Dufay 198; doppelt bejaht 68 f., 486; furioso 532; passage/paysage 236, 485, 537; politische aspekte der musik 62; RoaiuGHFF (strange?) 327, 487; vorschläge – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten 346, 532 Spalt, Lisa 460 Sparavalo, Dejan; Die Zeit der Zigeuner 410 Spassow, Boschidar 494 Spassow, Iwan 494 Spence, Jonathan D. 208 Spiegel, Laurie 246 Spinner, Leopold; Klavierkonzert 632 Spinoza, Baruch de 31 Sprick, Jan Philipp 177 Spägele, Mona 577 Stahnke, Manfred 104, 189; Der Mandelbrotbaum 109; Der Untergang des Hauses Usher 109; Heinrich IV 109; Metallic Spaces 109; Orpheus Kristall 309 Stalin, Josef 105, 211, 488 Stańczyk, Marcin 557 Staub, Volker; Waldstücke 432 Staud, Johannes Maria; Die Antilope (mit Durs Ä Grünbein) 460 Steen-Andersen, Simon 231 f., 251; Beside Besides 314; Besides 314; Buenos Aires 10, 574; Klavierkonzert 232, 271; Next to Beside Besides 314; Quartett Nr. 2 581; Self-Reflection 367 Stefanović, Ivana 496 Steffen, Wolfgang; Die Botschaft 429; Gertrud-KolmarKantate 429 Steffens, Walter; Guernica 429 Stein, Erwin 169, 621 Stein, Gertrude 562 Stein, Richard Heinrich; Harmonielehre 104; Zwei Konzertstücke 104 Steinberg, Eitan 320 Steinecke, Wolfgang 10, 427, 621 Stelarc 353, 504 f.; Amplified Body 95; Stomach Sculpture 95 Stengel, Theophil 427 Stephan, Rudi; Musik für 7 Saiteninstrumente 333 Stephan, Rudolf 423 Stephens, Suzanne 246 Sterev, Krassimir 300 f. Sterk, Norbert; land of closed eyes 385 Sterne, Jonathan 365 Steuermann, Eduard 294, 621 f. Stevens, John 276 Stewart, Amanda 504, 565 Stiebler, Ernstalbrecht 518, 604 Still, William Grant; Afro-American Symphony 466 Stjerna, Åsa 338 Stockhausen, Karlheinz X, XII, 3, 21, 30, 36, 82, 116, 138, 163, 171, 188, 210 f., 213, 219–221, 239, 253, 281, 283, 306, 311, 327, 339, 353, 363, 374, 420, 437, 443, 448, 463, 466, 470, 488, 502, 508, 527, 529, 545, 557, 580, 622; Arbeitsbericht 1952/53 42, 584; Aus den sieben Tagen 277, 346, 554, 604, 626; Ave 108; Carré 9, 108, 445, 482; Drei Lieder 271; Etude/Konkrete Etüde 219, 552; Für kommende Zeiten 277; Gesang der Jünglinge 9, 42, 85, 89, 107, 110, 127, 167, 221, 249, 335, 366, 439, 554, 563, 575; Gruppen 9, 13, 42, 47, 89, 235, 240, 243, 263, 335, 445, 482, 528, 531, 533 f., 537, 542, 553 f., 584, 603, 613; Harlekin 271; HelikopterStreichquartett 582; Hymnen 63, 211, 240, 254, 264, 369; Hymnen (Dritte Region) 483; In Freundschaft 298, 369, 524; Inori 369, 412; Klavierstücke I–IV 301, 584; Klavierstück I 552; Klavierstück X 250; Klavierstück XI 10 f., 302, 312, 477, 504, 554, 625 f.; Kontakte 84, 89, 107, 235, 250, 302, 367, 410, 476, 524, 617; Kontra-Punkte 13, 175, 234, 330; Kreuzspiel 6, 301, 330, 333, 530, 539, 551; Licht – Die sieben Tage der Woche 108, 298, 349, 412, 582; Mantra 110, 367, 555; Mikrophonie I 250, 304, 367; Mikrophonie II 110, 250; Mittwoch aus Licht 582; Mixtur 110, 235, 483; Momente 235, 250, 584, 617; Momentform 235; Musik für die Beethovenhalle 313; Musik für ein Haus 313, 349, 626; Musik im Raum 8, 89; Oktophonie. Elektronische Musik vom Dienstag aus Licht 251; Originale 410; Plus-Minus 626; Punkte 484; Refrain 477; Situation des Handwerks: Kriterien der punktuellen Musik 6; Solo 84; Spiel 482; Sternklang 543; Stimmung 128, 167, 385, 431, 543; Struktur und Erlebniszeit 611; Studie I 107, 221, 258, 476, 552; Studie II 107, 221, 336, 476, 552; Telemusik 110, 145, 211, 254, 323; Weltmusik 145; … wie die Zeit vergeht… 44, 235, 531; Xi 108; Ypsilon 108; Zeitmaße 12 f., 531, 553; Zyklus 303, 333, 477 Stockhausen, Markus 298, 313 Stokowski, Leopold 220 Stramm, August 562 Strasnoy, Oscar 574 Stratos, Demetrio 385 Strauss, Johann 506 Strauss, Richard 21, 236, 329, 381, 397, 431, 455, 460; Salome 409 Strawinsky, Igor 5 f., 9, 29 f., 45, 60, 120, 126, 130, 162, 173 f., 187, 195, 239, 253, 262, 284, 291–293, 296, 302 f., 310 f., 322, 326, 330 f., 372, 665 399, 436, 438 f., 442, 466, 471, 482, 490, 493, 500, 506, 508, 519 f., 528–530, 534, 539, 544, 561, 593 f., 610 f., 613 f., 618, 621, 627–629, 632; A Sermon, a Narrative, and a Prayer 629; Augures printaniers – Danses des adolescentes (Ä Le sacre du printemps) 528; Danse sacrale (Ä Le sacre du printemps) 528, 613; Ebony Concerto 29; Elegy for J.F.K. 575; Le sacre du printemps 5, 112, 173, 260, 292 f., 303, 419, 528–530, 594, 611; Les noces 528; L’Histoire du soldat 408; Monumentum pro Gesualdo di Venosa 576; Musikalische Poetik 611; Octuor 330, 333; Piano-Rag-Music 29; Ragtime pour onze instruments 29; Requiem Canticles 484; Variations (Aldous Huxley in memoriam) 627, 629 f. Strindberg, August 413 Strobel, Heinrich 367, 399, 436, 438, 544 Stroe, Aurel 493 f.; Capricci und Ragas 493 Strohm, Reinhard 138 Stroppa, Marco 302; From Needle’s Eye 298; …of Silence 167; Re Orso 167; Zwielicht 84 Stuckenschmidt, Hans Heinz XII, 399, 423 Stumpf, Carl 336 Sturminger, Michael 413 Stäbler, Gerhard 69, 191, 289, 300, 302, 456 Su Cong 203 Subotnick, Morton 374, 467 Subramaniam, Lakshminarayana (L.) 280 Sugawara, Meirō 322 Suk, Josef 495 Sultan, Grete 246 Sumera, Lepo 492 Supanggah, Rahayu 589 Suslin, Viktor 490 f. Sutarma, Ayo 589 Suwardi, Al 589 Suzuki, Kayoko 144 Sveinsson, Atli Heimir 471 Svoboda, Josef 412 Personen- und Werkregister Svoboda, Mike 298 Swiridow, Georgi 490 Sylwestrow, Walentyn 128, 488, 491 f. Szabelski, Bolesław 499 Szalonek, Witold 499 Szathmáry, Zsigmond 303 Szeghy, Iris 497 Székely, Endre 498 Szemző, Tibor 498 Szervánszky, Endre; Sechs Stücke für Orchester 497 Szokolay, Sándor 498 Szymański, Pawel 500 Szöllösy, András 498 T Taborda, Tato 360 Tagore, Rabindranath; Fruchtlese 432 Tajuddin, Tadzul 587 Takahashi Aki 302, 509 Takahashi Yūji 144, 151, 325, 604; Kwangju, May 1980 146; Tori mo tsukai ka 265 Takasugi, Steven Kazuo 467; KrausZyklus 456 Takata Saburō 322 Takemitsu Tōru 129, 138, 143 f., 149, 229, 236 f., 253 f., 299 f., 323 f., 335, 615, 631; Eclipse 144; November Steps 144, 253, 324, 487; Rain Tree 303 Taktaschwili, Otar 491 Tal, Josef 320 Tallis, Thomas; Spem in alium 266 Tally, Mirjam 492 Talma-Sutt, Michał 500 Tamestit, Antoine 295 Tamir, Naama; Spring Fantasies 321 Tamusuza, Justinian; Abakadde Abaagalana Be Balima Akambugu 161 f.; Akadongo k’Akaabaluulu 159; Ekitundu Ekisooka 161 Tan Dun 136, 201, 254, 468; Adagio for Strings 203; Circle with Four Trios, Conductor and Audience 204; Crouching Tiger, Hidden Dragon (Filmmusik) 204; Death and Fire 203; Marco Polo 203, 415, 570; Nine Songs 203, 415; On Taoism 147, 203; Peony Pavilion 203; Silk Road 570; Snow in June 204; Soundshape 203; Symphony 1997 – Heaven, Earth, Mankind 150, 204; The First Emperor 204; The Map 145, 204; Water Passion after St. Matthew 385, 577 Tan Vu Nhat 589 Tan Zihua 588 Tan, Margaret Leng 246 Tanaka Atau 505 Tanaka Shōhei 104 Tanaka, Karen; Wave Mechanics 251 Tanç, Cengiz 595 Tang Jianping 203 Tanzer, Francisco 489 –ăranu, Cornel 493 f. Tarcan, Bülent 595 Tarnopolski, Wladimir 456, 489, 491 Taruskin, Richard XV, 60 f., 176, 396 f., 525; The Oxford History of Western Music XIV, 61, 137 Taube, Richard 221 Tavener, John 191, 264, 341, 377, 500 Taylor, Cecil 326 Taylor, Hollis 504 Tazelaar, Kees 44 Tchicai, John 326 Teitelbaum, Richard 84, 95, 213, 277, 328 Telemann, Georg Philipp 510 Tello, Aurelio 360 Tenney, James 21, 36 f., 189, 237, 287, 460, 467, 508, 556; Clang 41, 168; Critical Band 168; Glissade 168; Meta/Hodos 109 Tenor, Jimi; ReComposed 508 Teodorescu, Livia 494 Terterjan, Awet 488, 491 f. Teruggi, Daniel 219 Teshigawara Hiroshi 324 Tessier, Roger 545 Tetzlaff, Christian 295 Theodorakis, Mikis; MauthausenKantate 429 Theremin, Leon 26, 79 Thomalla, Hans; The Brightest Form of Absence 232 Thomas, Ernst 234 Thomas, Theodore 28 666 Personen- und Werkregister Thomas-Mifune, Werner; Komisches Streichquartett über die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven 272; Kurzfassung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker 273 Thomson, Virgil 400, 525, 567 Thorensen, Lasse 471 Thurver, Jeanette 20 Tian Leilei 204 Tiepolo, Giovanni Battista 449 Tihanyi, László 498 Tilbury, John 213 Tinctoris, Johannes; De Inventione et Usu Musicae 385 Tinguely, Jean 98, 339 Tippett, Michael 190, 372; The Ice Break 326; The Knot Garden 326 Tistschenko, Boris 490 Tito, Josip Broz 495 Tobey, Mark 448, 451 Toch, Ernst 428 Tocqueville, Alexis de; De la démocratie en Amérique 19 Toda Kunio 322 Togni, Camillo 370; Cinque Pezzi 627 Toledo, Josefino 588 Tolstoi, Lew 410 Tomlinson, John 252 Tone Yasunao 339 Toop, Richard 341 Torke, Michael 376; Bright Blue Music 591; Extatic Orange 591 Tormis, Veljo 491 Tosar, Héctor; Aves errantes 359 Tošić, Vladimir 496 Townshend, Pete 453, 508 Trajković, Vlastimir 495 Tran Kim Ngoc 589 Trautwein, Friedrich 79, 220 Tredici, David Del 191 Treichel, Hans-Ulrich; Tristanakkord 523 Trojahn, Manfred 237, 243, 341, 481, 519, 555; Enrico 410 Trojanow, Ilija 136 Truax, Barry 97 Tsang Yipfat (Richard) 207 Tsangaris, Manos 289, 304, 315, 346 f., 408, 447, 515; Bathsheba. Eat The History! 486; Die Döner Schaltung 100; Drei Räume 411; Karl May, Raum der Wahrheit (mit Marcel Ä Beyer) 460; Mauersegler 71, 227, 411, 432; Mistel-Album 71; Orpheus. Zwischenspiele 100; Schwalbe 227, 411, 432; Tafel 1 (Wiesers Werdetraum) 99; winzig 100, 411 Tsao Ming; Die Geisterinsel 459 Tschalajew, Schirwani 491 Tschechow, Anton 459 Tscherepnin, Alexander 147, 201, 324 Tsunoda Tadanobu 143 Tudor, David 30, 33, 212 f., 219, 287, 302, 312, 324, 366, 410, 504, 626; Rainforest 80 Tull, Jethro 385 Tulve, Helena 492 Tung Chao-Ming 206 Turkmani, Mahmoud 184 Turnage, Mark-Anthony 486; A Relic of Memory 456; Greek 410; Three Screaming Popes 450 Tüür, Erkki-Sven 376, 492; Requiem 124; Salve Regina 124 Tüzün, Ferit; Midas’ın Kulakları 595 Tye, Christopher 198 Tzara, Tristan 562 U Uçarsu, Hasan 595 Uecker, Günther 91 Uitti, Frances-Marie 246, 294, 544 Ullen, Fredrik 302 Ullmann, Jakob 518, 604 Ün, Ekrem Zeki 595 Ung, Chinary 587 Ungeheuer, Elena 218 Urbaitis, Mindaugas 491 Usmanbaş, İlhan 595 Ussachevsky, Vladimir 318, 467; Sonic Contour 220 Ustuwār, Hūšang 317 Ustwolskaja, Galina 116, 128, 244; Benedictus, qui venit 125; Chvalebnaja pesn’ »Mir!« 490; Dies irae 123, 125, 429, 581; Dona nobis pacem 125, 490; Klaviersonaten 490; Kompositionen Nr. 1–3 490; Oktett 490; Sinfonie Nr. 3 125; Sinfonien 490 Utz, Christian 388 Uzoigwe, Joshua; Egwu Amala 160 f.; Four Igbo Folk Songs 158; Four Nigerian Dances 160; Lustra Variations 160; Talking Drums 160 V Vajda, János 498 Valančiūtė, Nomeda 491 Valente, José Angel 459 Vali, Reza 318 Valie Export 504 Varèse, Edgard 18, 21, 23, 32, 35–37, 40 f., 79, 94, 138 f., 141, 195, 202, 259, 285, 330 f., 335 f., 365, 372, 466, 508, 523, 544, 548, 595, 601, 610, 615, 622; Amériques 26; Déserts 8, 219, 248, 304, 483; Hyperprism 330; Ionisation 26, 106, 303, 330, 333, 335, 593; Octandre 330; Poème électronique 8, 90, 339, 445, 542 Vasks, Pēteris 491 f. Veale, Peter 297 Vedova, Emilio 449 Veldhuis, Jacob Ter; I Was Like Wow 314; Lipstick 314; Off and On Situation Blues 314 Velten, Ruth 297 Verbugt, Eric; pijnberichten 459 Vercoe, Barry 193 Vercœ, Daniel 221 Verdi, Giuseppe 110, 525, 617; Quattro Pezzi Sacri 581 Veress, Sándor 631 Verlaine, Paul 455 Vertovec, Stephen 136 Vicentino, Nicola 103, 261 Vidovsky, László 498 Vierk, Lois V 376 Vieru, Anatol 461, 495; Sonnenuhr 493 Villa-Lobos, Heitor 254, 358 Villalpando, Alberto 359 Villanueva, Alexander John 588 Villanueva, María Cecilia 360 Vinci, Leonardo da 73, 409, 459; Codex Arundel 617 Vines, Nicholas 193 Viola, Bill 213 667 Vir, Param 280; Raga Fields 281 Vischer, Antoinette 303 Vitry, Philippe de 438 Vivier, Claude 468, 574; Pièce pour flûte et piano 372; Siddharta 372 Vlad, Ulpiu 494 Vogel, Peter 224, 306 Vogel, Wladimir; Spiegelungen für Orchester 632 Vogt, Lars 623 Voigtländer, Lothar 59 Volans, Kevin 161–163, 254; Hunting: Gathering 582; Mbira 162, 534; She Who Sleeps with a Small Blanket 161; The Songlines 162; White Man Sleeps 161 Voorberg, Marinus 577 Vosganian, Mihaela 494 Vostell, Wolf 69, 231, 453 Vostřák, Zbyněk 497 Vyner, Michael 598 W Waart, Edo de 216 Wagenaar, Diderik 376 Wagner, Richard XIII, 39, 122, 195, 242, 336, 339, 378, 425, 583; Das Rheingold 557; Der fliegende Holländer 413; Modern 381; Parsifal 557; Siegfried-Idyll 329; Tristan und Isolde 413 Wagner-Régeny, Rudolf 429 Wahren, Karl Heinz; Mit Musik geht alles besser 429 Waisvisz, Michel 213; The Hands 505 Waits, Tom 570 Wallin, Rolf 471 Walser, Robert 457 Walshe, Jennifer 72, 213, 246, 565, 576; minard/nithsdale 591; The Total Mountain 232 Walter, Caspar Johannes 113 Waltz, Sasha 593 Wang An’guo 203 Wang Ming 206 Wang Sue-Ya 206 Wang Xilin 201 f., 204; Dritte Sinfonie 202 Wang Ying 204 Warhol, Andy 367, 452 Personen- und Werkregister Warner, Theodor 26, 523, 603 Wassermann, Ute 246, 565, 576 Watkins, Glenn 377 Weber, Carl Maria von; Concertino 385 Weber, Gottfried 170 Weber, Max 382 Webern, Anton 3–6, 11, 31, 131, 147, 174 f., 258, 266, 284, 310 f., 323, 333, 370, 404, 435 f., 470 f., 489, 492, 497, 506, 525, 548, 552, 561, 576, 580, 611, 614, 616; J.S. Bach, Ricercar à 6 (Bearbeitung) 125, 197; Der Weg zur neuen Musik 438; Erste Kantate op. 29 174; Fünf Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4 261; Konzert op. 24 174, 330, 584; Orchesterstück op. 10,4 (aus Fünf Stücke für Orchester op. 10) 174; Streichquartett op. 28 174, 210; Streichtrio op. 20 374; Symphonie op. 21 4, 41, 330; Variationen für Klavier op. 27 174, 262, 311; Variationen für Orchester op. 30 583 Wedekind, Frank 409 Weeks, James 577 Weid, Jean-Noël von der XI Weill, Kurt 71, 326, 330, 428, 458, 466; Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (mit Bertolt Ä Brecht) 408; Die Dreigroschenoper (mit Bertolt Ä Brecht) 408 Weinberg, Mieczysław; Die Passagierin 429 Weingartner, Felix 324 Weir, Judith; Requiem of Reconciliation 577 Weiss, Marcus 297 Weiss, Peter; Ästhetik des Widerstands 64 Wellek, Alfred 427 Wellmer, Albrecht 61 f., 439, 515, 517, 561, 607; Versuch über Musik und Sprache 61, 67 Welsch, Wolfgang 136, 520 Wen Deqing 203 f.; Complainte (Lament) 203 Wen Long-Hsin 206 Wenzel, Bettina 565, 576 Wertheimer, Max 600 Wertmüller, Michael 304, 328 Wessel, David 222 Wessel, Kai 576 Westerkamp, Hildegard 97, 251, 468 Westphal, Kurt 399 Weöres, Sándor 458 White, John 376 Whitehead, Gillian Karawe 193 Whiteman, Paul 326 Whithorne, Emerson 285 Whitman, Walter 23 Widmann, Caroline 295 Widmann, Jörg 244, 297, 519, 581; Babylon 507 Wiegand, Charmion von; Untitled 475 Wielecki, Tadeusz 500 Wiener, Norbert 221, 224 Wiesenberg, Menachem 320 Wiesner, Dietmar 297 Wildberger, Jacques; La Notte 458; Oboenkonzert 385 Wilde, Oscar 409 Wilder, Thornton 410 Wilhelm, August 562 Wilhelm, Friedrich 448 Williams, Ralph Vaughan 190, 481 Williams, Saul 574 Williams, Tennessee 410 Wilson, Peter Niklas 64, 123; Sakrale Sehnsüchte 131 Wilson, Robert 25, 375, 415 Winckel, Fritz 14, 166 Winkler, Gerhard E. 223, 278; Terra Incognita 479 Winter, Manon-Liu 246 Wiora, Walter; Die vier Weltalter der Musik 396 Wittgenstein, Ludwig 48, 176, 231, 344 Wolf, Friedrich 429 Wolf, Guntram 296 Wolfe, Julia 22, 376, 467 Wolff, Christian 30–32, 84, 152, 195, 219 f., 235, 467, 498, 508, 584, 604, 624; Duo for Pianists I 313; Duo for Pianists II 313; Edges 478; Exercises 478; For 1, 2, or 3 People 313, 478; For Magnetic Tape 220; In Between Pieces 313; Lines 580; Play 626; Prose Collection 248, 478 Wölfli, Adolf 457 668 Personen- und Werkregister Wolfsohn, Alfred 385, 569 Wolgensinger, Michael 228 Wolkonskij, Andrej; Musica Stricta 489 Wollheim, Richard 40 Wolpe, Michael 320 Wolpe, Stefan 456, 466, 622; Quartet 56; Über neue (und nicht so neue) Musik in Amerika 57 Wonder, Stevie 590 Wong, Adeline 588 Wong Yukyee 207 Woodward, Roger 302 Wright, Frank Lloyd 445 Wu Ting-Lien 206 Wu Wei 136, 151 Wu Zuqiang; Yumeiren (mit Ä Du Mingxin) 201 Wuorinen, Charles 22 Wustin, Alexander; Hommage à Beethoven 58 Wyschnegradsky, Ivan 104–106, 111, 261, 302, 447, 461, 560; La Journée de l’Existence 105 Wyttenbach, Jürg 92, 216 X Xenakis, Iannis XIII, 7 f., 46, 49, 63, 90, 110, 138 f., 143, 184, 188, 195, 237, 293 f., 301–303, 327, 337, 339, 346, 360, 432, 445, 471, 478 f., 508 f., 523, 525, 542, 555, 557, 585, 616, 622 f., 627; À l’Île de Gorée 302; Achorripsis 8, 462; Analogique A 223; Analogique A+B 462; Bohor 250; Concret PH 545; Diamorphoses 108, 219; Duel 462; Eonta 145, 151, 302, 478; Herma 151, 223, 302, 386, 463; Horos 224; Keren 298; Khoai 302; Kraanerg 483; Metastaseis 42, 63, 108, 250, 283, 445, 483, 545; Musiques formelles 8; Nomos alpha 108, 223, 463, 612; Nuits 576; Persephassa 303, 539; Pithoprakta 42 f., 223, 283, 462, 483; Pléïades 303, 539; Polytope de Persépolis 317; Psappha 303; Rebonds 303; ST/10–1,080 262 545; ST/4 579; ST/48–1,240162 484; Tetras 294; Troorkh 298 Xi Qiming 202 Xian Xinghai; Yellow River Cantata 201 Xiao Youmei 200 Xu Fengxia 204 Xu Shuya; Chute en Automne 203 Xu Yi; Dao 203 Y Yamada Kósçak 254, 322 Yang Liqing 147; Meixian zuoqu jifa shentan 202; Sishou tangshi 202 Yassin, Raed 182 f., 185 Yazdani, Arash 318 Ye Xiaogang 203 f.; Da Lai Vi 203 Yeo Ge-Suk 565 Yi Jiyoung 151 Yi Kon-U 350 Yi Man-Bang 351 Yii Kah Hoe 587 Yin Chengzong; Yellow River [Piano] Concerto 201 Yip Shukin (Stephen) 208 Yoo Byung-Eun; Sinawi Nr. 5: Owŏlŭi Norae 146, 351 Yoon Hye-Jin; I Gaze on Your Voice 351 Yoon, Grace 565 Yoshihara Jiro 91 You Chang-Fa 206 Young, La Monte 22, 27 f., 31, 36, 127 f., 131, 189 f., 237, 254, 261, 327, 346 f., 373 f., 385, 460, 466 f., 503, 509, 531, 556, 585, 604; Composition 1960 626; Composition 1960 7 339, 374; Dream House 27, 92, 313, 340; for Brass 41, 615; Piano Pieces for David Tudor 626; The Well-Tuned Piano 107, 212; Trio for Strings 374 Young, Samson 137; Electric Requiem: God Save the Queen 208; The Anatomy of a String Quartet 208 Young, Simone 246 Yu Jingjun (Julian) 203 Yuasa Jōji 254; Cosmos Haptic 323; Requiem of Reconciliation 577; Toi 564, 573; Utterance 564, 573; Voices Coming 564, 573 Yudo, Luiz Henrique 376 Yuhas, Dan 320 Yun Isang X, 352; Cellokonzert 350; Drittes Streichquartett 582; Exemplum in memoriam Kwangju 146; Gagok 350; Naui Dang, Naui minjokiyo 146; Réak 140, 350, 487 Yürürs, Ahmet 595 Z Zabelka, Mia 246 Zacher, Gerd 303 Zagny, Sergej 376 Zagrosek, Lothar 216 Zaharjan, Hajg 495 Zahradníček, Jan 124 Zaimoğlu, Feridun 136 Zapf, Helmut 184 Zappa, Frank 25, 467, 508 f. Zazeela, Marian 92 Zebeljan, Isidora 496 Zehavi, Oded 320 Zehme, Albertine 246, 562 Zelter, Friedrich 132 Zemek, Pavel 497 Zenck, Martin 283, 304 Zender, Hans 116, 122 f., 126, 189, 191, 216, 240, 383, 387, 390, 393, 432, 451, 455–457, 484, 517, 559, 602, 615; 33 Veränderungen über 33 Veränderungen 197; Bardo 111; Cabaret Voltaire 576; Cantos 122; Chief Joseph 415; Dialog mit Haydn 111, 520; Don Quijote de la Mancha 459; Hölderlin lesen I–V 457, 576, 581; Kalligraphien I–V 111; Logos-Fragmente 122; Mnemosyne. Hölderlin lesen IV 111; Music to hear 111; Schuberts »Winterreise«. Eine komponierte Interpretation 197, 441, 520; Schumann-Phantasie 197; Shir Hashirim 111, 122; Spirituelle Musik – was ist das? 131; Stephen Climax 412, 455 Zepkolenko, Karmella 492 Zhang Dalong 203 Zhao Xiaosheng 201 f.; Yin yang san que 202 Zhao Yuanren; Jiao wo ruhe buxiang ta 201 Zhou Long 136, 201, 203 669 Zhu Jian’er 201 f., 482; Erste Sinfonie 147; Sechste Sinfonie 202; Zehnte Sinfonie 202; Zweite Sinfonie 147 f. Zhu Shirui 203 Ziegler, Hans Severus 428 Ziegler, Klaus-Martin 577 Zielińska, Lidia 500 Zierhofer-Kin, Tomas 349 Zimerman, Krystian 302 Zimmermann, Bernd Alois XIII, 8, 13, 57, 116, 171, 195, 227, 276, 294, 314, 318, 326 f., 341, 448, 506–508, 520 f., 527, 612, 622; Antiphonen 91; Concerto pour Violoncelle et orchestre en forme de »pas de trois« 326; Dialoge 91, 264; Die Befristeten 326; Die Soldaten 65, 91, 228, 230, 326, 411, 413, 429, Personen- und Werkregister 459, 483, 506, 530; Einige Thesen über das Verhältnis von Film und Musik 228; Giostra Genovese 210; Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne 109, 121, 456, 577; Medea 228; Metamorphose 228; Musique pour les soupers du Roi Ubu 210, 520; Nobody knows de trouble I see 29, 298, 326; Perspektiven 530; Photoptosis 45, 190, 450 f., 483; Requiem für einen jungen Dichter 66, 91, 120 f., 211, 240, 326, 429, 458, 483, 564, 577, 614; Sinfonia prosodica 428; Sinfonie in einem Satz 429; Tratto 614 Zimmermann, Frank Peter 295 Zimmermann, Tabea 295 Zimmermann, Udo; Weiße Rose 60, 64, 430 Zimmermann, Walter 302, 518 Zöller, Karlheinz 296 Zöllner, Eva 301 Zorman, Moshe; Violin Concerto (»Homage to Sasha«) 321 Zorn, John 22, 248, 278, 313, 467, 509; Forbidden Fruit – Variations for Voice, String Quartet and Turntables 210; Game Pieces 328 Zou Jingzhi 415 Zuckerman, Ken 281 Zur, Menachem 320 Zürn, Unica 459 Zweig, Arnold 410 Zykan, Otto M.; Polemische Arie 273; Staatsoperette 273 670 Sachregister A Absurdes Theater 411 f. Adenauer-Stiftung 286 Affekt 58, 63, 65, 67 f., 233, 370, 391 f., 413, 513, 517, 561, 563, 569 f., 572–574, 591, 603 Affektenlehre 392 Afrika X, 112, 138, 157–165, 168, 267, 302, 332, 335, 375, 377, 534, 537 afroamerikanisch 20, 23, 29, 326, 465 f., 507 Agitprop 56 Akademie der Künste Berlin 623 Aka-Pygmäen 534 Akiyoshidai International Art Village Hall 543 Akiyoshidai International Contemporary Music Seminar and Festival 324 Akkordeon 300 f., 370, 581 Akkulturation 24 f. AKM 287 Aktion 109, 121, 211, 289, 313, 408, 410, 456, 474, 577 Aktionsnotation 474 Akusmatik 26, 40, 184, 218 f., 593 Akustik/Psychoakustik 35, 88, 110, 165–169, 267, 463, 537, 600; Akustik 7, 37 f., 98, 109, 306, 417, 542 f., 557, 585 Alban Berg Quartett 582 Aleatorik X, 9 f., 45, 47, 143, 208, 234, 248, 260, 276, 283, 286 f., 302, 312, 343, 351, 359 f., 377, 405, 411, 477, 488 f., 492, 494–496, 499 f., 504, 537, 544, 554, 580, 624–626 (s. a. Zufall) Algorithmische Komposition 168, 218, 222–224, 245, 462 Algorithmus 7, 167, 222–224, 278 Allgemeiner Deutscher Musikverein (ADM) 284 Alliance Française 183 All-India-Music Conferences 280 Alltagsbezug 68, 70, 71–73, 231 Alltagskultur 68, 400, 511 f., 614 Allusion 64, 160, 172, 253, 483, 485, 506, 508, 533 (s. a. Intertextualität, Zitat) Alphorn 505 Alte Oper Frankfurt 331 Alterität 138, 518 Amadinda 159, 164, 168, 267, 534 Amar Quartett 582 AMM 213, 248, 277, 545 Amplitude 166, 168 Amsterdams Studenten Kamer Orkest 331 analog 77, 81, 83 f., 86, 184, 218, 222, 235, 318, 365, 544, 556 Analyse XIIf., 35, 49, 140, 169–181, 188, 191, 210 f., 261–263, 267, 310, 343, 362, 368, 403, 418 f., 423, 440, 529, 546, 606, 610 (s. a. Musikanalyse/musikalische Analyse) Analytische Methoden/Analysemethoden 170–173, 175–178, 403, 419 (s. a. Musikanalyse/musikalische Analyse) Anthropologie 30, 411, 422, 544, 559, 561 Anti-Oper 408, 410, 412, 478 Antiphon 66, 89, 91, 485, 581 Antisemitismus 381, 427 f., 458 Apperzeption 12 (s. a. Perzeption, Wahrnehmung) Arabische Länder X, 160, 181–186, 320; arabische Musik 103, 112, 122, 159, 487 Arbeitsgemeinschaft freie Komposition 4 archicembalo 103, 261 Architektur Ä Neue Musik und Architektur J. P. Hiekel, C. Utz (Hrsg.), Lexikon Neue Musik, DOI 10.1007/978-3-476-05624-5, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH Arditti Quartet 242, 295, 582 Argento Chamber Ensemble 468 Århus Sinfonietta 473 Arie 237, 370, 411, 562 Arnold Schönberg Chor 577 Ars Nova (Konzertreihe) 351 ars nova 331, 438 ars subtilior 341 Art of Music (Honare Musiqi, Zeitschrift) 319 Artemis Quartett 295 asamisimasa 287 Asasello Quartet 582 Asian Art Ensemble 151, 332 Asian Composers League 193, 205, 286, 587 Asien X, 8, 19, 35, 41, 103, 127, 136, 138–141, 145, 151, 191, 193, 200–202, 204 f., 237, 253, 286, 317, 324, 327, 335, 376, 393, 406, 573, 582, 615 Asko Ensemble 331 Aspekte Salzburg (Festival) 623 Aspen-Festival Colorado 623 Assimilation 160, 250 Ästhetik Ä Musikästhetik Asymmetrie 112, 120, 561 (s. a. Symmetrie) Atem/Atmen 295, 459, 531, 564, 572, 574, 581 Athelas Sinfonietta 473 Atlas Ensemble 151 Atonalität/Posttonalität/Tonalität 186–192, 343, 375, 420 f., 425, 432, 516; Atonalität X, 3, 35, 107, 259, 261, 264, 283 f., 333, 350, 386, 427 f., 435, 465, 488, 532, 567, 610, 632; Posttonalität 35 f., 195, 238, 244, 259 f., 261, 263 f., 267, 281, 392, 418, 601, 605–607, 609; Tonalität 24, 35, 103–105, 110, 112 f., 138, 176, 203, 223, 253, 257–260, 263 f., 370, 386, 392, 434 f., 440, 446, 448, 462, 671 472, 489, 500, 517, 519, 544, 603, 613, 631 f. Aube; Ionosphere II 251 audiovisuell 98, 208, 232, 306, 313, 315, 351, 365 f., 368, 447 AuditivVokal Dresden 577 f. Aufführungspraxis 216, 289, 310–312, 314, 323, 332, 355, 489, 569–572, 600, 618 Aufklärung 32 f., 381 f., 403, 431, 510 f. Aufmerksamkeit 38, 267, 314, 338, 346, 410, 559, 564, 567, 604 Augmentation 99, 178, 530, 538 Aura 39, 50, 54, 64, 127, 129, 132, 174, 189, 425, 447, 543, 573, 603, 606 Auryn Quartett 582 Ausdruck 108 f., 129, 147, 161, 216, 234, 237, 311 f., 350, 359, 387, 392, 410, 484 Außereuropäische Musik 103, 108, 111 f., 186, 253 f., 327, 337, 387 Australasian Computer Music Association (ACMA) 192 Australasien 192–194 Australian Music Centre 192 Australien/Neuseeland/Ozeanien X, 192–194; Australien 137, 203, 207, 278, 286, 332, 504, 577, 588; Neuseeland 286, 332 Authentizität 201, 255, 511 f. Autonomie 20, 38, 55, 59, 137, 194, 382f, 197, 403f, 431, 435, 511 f., 581 Autor 171, 307, 420, 545, 618 Autorintention 41, 174 f., 310, 330 Autorschaft 10 f., 210, 245, 313, 336, 418, 546, 575 Avantgarde IX, XIIIf., 3–16, 18, 37, 58, 67, 194–196, 245, 254, 286, 335, 346, 350, 362, 365, 370, 373, 381, 402 f., 410, 435, 441, 465, 488, 512, 514, 516, 545, 561, 569, 604, 622, 624 Avanti! Kammerorchester 473 B Balkanländer 493 f. (s. a. Osteuropa) ballets russes 621 Ballett 157, 197, 201, 273, 483, 539, 593 Baltikum 469, 490–492 (s. a. Osteuropa) Sachregister Banda Linda 534 Bar-Ilan University, Ramat-Gan 320 Basler Musik Forum 216 Bassetthorn 108 f., 122 Bassflöte 50 BBC Singers 577 Bearbeitung 197–199, 210, 310, 314, 383, 508, 568 Beatles, The 280; Revolver 509; Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band 509; White Album 509 Befreite Wahrnehmung 35, 39 f. Beijing Modern Music Festival 204 Beirut Art Center 183 bending 87 Benoît and the Mandelbrots 213, 222 Berkshire Sinfonic Festival 623 Berlin Ä Zentren neuer Musik Berliner Barockorchester 428 Berliner Festspiele 623 Berliner Künstlerprogramm 340, 623 (s. a. DAAD) Bertelsmann-Stiftung 286 Besides 278, 314 Bewegung 8, 10, 36, 84, 88–95, 98 f., 213, 289, 304, 314, 353, 391, 445, 459, 478, 485, 542, 558, 580, 593 f., 618 Bewegungsenergie 344 Bewegungsfarbe 44 Bewegungsrichtung 42, 554 Bewusstsein 13, 36, 128, 561 Biennale Zagreb 286, 495 f., 623 Bildende Kunst Ä Neue Musik und bildende Kunst Bildung 135, 157, 159, 246, 356, 401, 421, 424, 468, 511, 605 BIT20 Ensemble 473 biwa/satsuma-biwa (jap. Laute) 144, 253, 324, 487 Bläserquintett 242, 296, 333 Blasinstrumente 157, 219, 246, 353, 359, 425, 531 (s. a. Holzbläser, Blechbläser) Blechbläser 41, 49, 147, 297–299, 385, 534 (s. a. Blasinstrumente) Blockflöte 296 Body, Space & Technology Journal 308 Böll-Stiftung 286 bonshō (japanische Tempelglocken) 141 Borealis (Festival) 473 Bosch-Stiftung 286 bouteillophone (Flaschenklavier) 248 Brechung 57, 187, 208, 301, 420, 439, 442, 482, 512, 525, 564 Buganda 161 Bukarester Konservatorium 494 C Cairo Congress of Arab Music 183 f. Cairo Contemporary Music Days 183 Cairo Higher Institute of Arab Music 184 Can (Band); Mother Sky 508; Soon over Babaluma 82 cantAmabile Zürich 577 CAPUT New Music Ensemble 473 CCRMA (Center for Computer Research in Music and Acoustics, Stanford University) 221, 545 CEMAMu (Centre d’Etudes de Mathématique et Automatique Musicales) 622 Cembalo 301–303, 327, 378, 538, 541 CEME [Contemporary Encounters by Meitar Ensemble] 320 Cent 111, 113, 261 Center for U.S.-China Arts Exchange 202 Centre for New Zealand Music (SOUNZ) 192 Centre Pompidou 286 Chai Found Music Workshop 151, 206 f., 332 Champ d’action 278 ch’angjak kugak (traditionelle koreanische Musik der Gegenwart) 146 Chanson 273, 300, 370, 574, 581 Chaostheorie 166, 461, 463 Chijin Kai (Gruppe der »Erdenmenschen«) 322 China National Symphony Orchestra 204 f. China/Taiwan/Hong Kong X, 136, 147, 191, 200–209, 286, 468, 631; China 103, 135, 138, 145, 146–150, 149–151, 254, 332, 355, 376, 396 f., 406, 413, 415, 493, 587; Hong Kong 147, 150, 623; Taiwan 147, 332 Chinese Composers Festival 208 672 Sachregister Chinese University of Hong Kong 207 f. Chineseness 136, 208 Chinesische Oper 149 Chor 120, 123, 158, 272, 348, 412, 432, 457, 576–578, 591 (s. a. Stimme/Vokalmusik) Choreographie 304, 593 f., 621 ChorWerk Ruhr 577 Chromatik/chromatisch 44, 108, 160, 187, 195, 295, 530, 631 CIA (Central Intelligence Agency) 60 f., 144, 622 Cikada Ensemble 100 Cité de la Musique 355 Cluster 44, 46, 85, 105, 140, 160, 249 f., 260, 263, 301, 343, 465, 490, 508 Collage/Montage 66, 187, 190, 195, 198, 209–212, 236, 239, 253, 264, 273, 328, 343, 370, 398, 429, 450, 471, 483, 506, 508, 520, 567, 584, 617 Columbia University 202, 220 Columbia-Princeton Electronic Music Center 220, 224, 467, 595 complexity 89, 110, 157, 263, 312, 341, 344, 405, 478, 502, 528, 567 (s. a. Komplexität/Einfachheit) composed theatre/komponiertes Theater 289, 408 Composer-Performer 212–214, 222, 246, 276, 294, 331, 340, 504, 575 Composers Association of New Zealand (CANZ) 192 Composers Inside Electronics 213 Computer 78, 81, 84, 95 f., 106, 182, 192, 218, 221–223, 231, 237, 287, 291 f., 306, 309, 351, 365, 483, 505, 546, 627 (s. a. elektronische Musik/ elektroakustische Musik/Computermusik) Computermusik Ä Elektronische Musik/elektroakustische Musik/ Computermusik Concept Art 346 f., 447, 453, 589 (s. a. Konzeptkunst) Congress for Cultural Freedom (Congrès pour la liberté de la Culture) 144, 622 Conservatoire libanais national supérieur de musique 184 Contemporary Music Ensemble Korea 151, 332, 351 Contemporary Music Review (CMR) 424 Continuum Ensemble 468 Coro della RAI 575 Council of Cultural Planning and Development/Council for Cultural Affairs (Taiwan) 206 Countertenor/Contratenor 112, 123, 246, 487, 508 Coverversion 508 f. Crossover 22, 29, 467 f., 497 Culture and Music (Farhang va Âhang, Zeitschrift) 319 Cursos Latinoamericanos de Música Contemporánea 359, 623 D Dadaismus XIII, 19, 194 f., 336, 562, 565 Daoismus 150, 203, 267, 615 Darat al Funun (Amman) 183 Darmstadt Ä Zentren neuer Musik (s. a. Internationale Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt) Darmstädter Schule 377, 622 Dartmouth-College Hanover (New Hampshire) 623 Das neue Werk 621 Dauer 4 f., 8, 26, 30, 44, 78, 90, 108, 221, 233–235, 313, 376, 387, 396, 467, 475–477, 502, 527–533, 549 f., 551 f., 565, 580–582, 611–613, 625 (s. a. Parameter) DDR 56, 58–60, 125, 297, 331, 427–429, 440, 621 Decoder 84, 287 Deklamation 233, 561 f. Dekonstruktion 60, 152, 236, 420, 512, 518, 520, 526, 529, 584, 589 Determination 277 Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) 100, 286, 340, 623 Dialektisches Komponieren 59, 343 f., 567 f. Dialogisches Komponieren 344 Die Maulwerker 565, 578 die Reihe (Ensemble) 216, 331 die Reihe (Zeitschrift) 9, 169, 424, 502, 622 Differenz, kulturelle 149, 204, 252, 518 digital 72 f., 77 f., 81, 84, 96, 183, 207, 218, 221, 231 f., 250, 307 f., 318, 351, 353, 363, 365, 384, 396, 406, 423, 442, 445, 453, 467, 513, 519, 521, 544 Digitale Medien 365, 442, 453 Digitale Oper 208 Digitale Revolution XVI, 72 f., 231, 365, 424, 453, 467, 519, 521 Digitalisierung XV, 137, 250, 545, 620 Diktatur 56, 64, 330, 412, 493, 621 Dilettant 177, 249, 395, 419 Diotima Quartett (Quatuor Diotima) 295, 582 Dirigent 13, 31, 68, 93, 121, 166, 184, 215 f., 285, 297, 331, 358, 427 f., 478, 486, 498 f., 534, 577 f. Dirigieren 215–217, 246, 294, 331, 481 Dissonanz 48, 107, 146, 186–190, 250, 264, 366, 461, 528 Dissonanz/Dissonance (Zeitschrift) 424 Distinktion 20, 129, 406 Diversifikation 418 f. dizi (chin. Bambusflöte) 201 DJ/DJ-Kultur 208 f., 222, 520 Documenta Kassel 182 Dodekaphonie 107, 138, 143 f., 177, 188, 190, 201, 207, 245, 260, 262 f., 265 f., 322 f., 333, 341, 359, 461, 466, 471, 489, 497, 509, 589, 627–633 (s. a. Reihenkomposition, Zwölftontechnik) Dokumentaroper 408, 413 Domaine Musical 331, 622 Donaueschingen/Donaueschinger Musiktage 33, 42 f., 70, 140, 219, 285, 330, 340, 348, 367, 414 f., 433, 485, 497, 499, 582, 621 Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst 285, 348, 621 Doppelbegabungen 447 Doppeltrompete 297 f. Dynamik 42, 90, 98, 236, 290, 301, 342, 476, 490, 502, 530 f., 533, 538, 549–552, 561, 569 f., 573, 580, 625, 627 (s. a. Lautstärke, Parameter) 673 East West Music Encounter Conference (Tokyo 1961) 144 Eastman School of Music 203 Echtzeit 82 f., 99, 221, 223, 338, 340, 353, 505, 542 Eclat Stuttgart 623 Edition Suecia 473 E-Gitarre 299 f.; 81, 235, 453, 505, 508 Egyptian-European Contemporary Music Society (EECMS) 183 Eigenzeit 48, 531 f., 611 Einfachheit Ä Komplexität/Einfachheit Einflussangst (anxiety of influence) 28, 171, 173, 175 Einschwingvorgang 6, 258, 531 Eiserner Vorhang 59, 427, 488, 498 Ekmeles 468, 578 Electronic ID 287 Elektronische Klangerzeugung 35, 78–80, 258, 363, 552 Elektronische Medien 163, 172, 206, 218, 291, 360 Elektronische Musik/elektroakustische Musik/Computermusik XV, 7, 14, 88, 218–226, 246, 312, 338, 405; Computermusik 77, 218–222, 243, 246, 318, 351, 479, 502; elektroakustische Musik 77, 83, 93, 262, 358, 476, 496, 520, 622; elektronische Musik 26, 35, 71, 77, 107, 166, 172, 182, 220, 209, 237, 258, 260, 292 f., 320, 335 f., 343, 353, 363, 366, 425, 432, 462 f., 470, 476, 479, 489, 492, 502, 508, 523, 542, 544, 552, 558, 567, 621, 627 Elision Ensemble 100, 193, 332 Emanzipation; der Dissonanz 107, 186 f.; der Einzelstimmen 332; elektronischer Klänge 26; des Geräuschs 26, 40, 295, 336, 562; von Klang 35 f., 39, 48; der Klangfarbe 248; der Konsonanz 190; des Rhythmus 527–529, 610; von Stille 414; von Wahrnehmung 38; der Wiederholung 31 Emerson String Quartet 582 Emotion 391–393, 569, 572, 600 Empirische Methoden 314, 419 E-Musik 271, 489 Energetik 265, 531, 581, 601 Enharmonik 187 Ensemble Ä Kammerensemble Ensemble Ars Nova 473 Ensemble Asko Schönberg 331 Ensemble Decibel 278 Ensemble du Domaine Musical 331 Ensemble εkstrakt 151, 332 Ensemble intercontemporain 216, 286, 300, 331 Ensemble Modern 151, 282, 321, 331, 412, 509, 590, 598 Ensemble Nikel 300, 320 Ensemble Norrbotten NEO 473 Ensemble Offspring 332 ensemble recherche 331, 372 Ensemble Signal 216 Ensemble SoloVoices Basel 577 Entwickelnde Variation 188, 209, 236, 528 Eolian Review (Eolus) 285 E-Orgel 79, 235, 375, 617 Erhabene, das 20, 67, 72, 132, 431, 489, 525 erhu (chin. Kniefiedel) 149 Erinnerung 32 f., 227, 233, 274, 279, 387, 429, 575, 584, 600, 613, 616 f. Erlebnisgesellschaft 119, 126 Erlebniszeit 48, 345, 611 Ernst von Siemens Musikstiftung 356 Eskapismus 116 Essenzialismus/Kulturessenzialismus 135–140, 143 f., 150, 152 Ethnien 23 f., 160, 182, 465 Ethnomusikologie 138 f., 162, 170, 205, 253, 393, 432, 534, 569 Ethos 120, 188, 392, 494, 512 European Bridges Ensemble 309 Eurozentrismus 104, 159, 162, 335, 512 Exaudi Vocal Ensemble 577 Exil 18, 105, 135, 137, 146, 150, 177, 182, 201, 215, 280, 319, 405, 428, 621 Exilanten 150 Exotismus 140, 150, 159, 164, 182, 252–254, 326, 467, 589 Experiment 80, 95, 184, 206, 223, 323, 411, 441, 466, 546, 579 experimental music 30, 220, 223 Experimentalstudio des SWR Freiburg 83 Experimentelle Musik 193, 219, 246, 307, 313, 437, 441, 478, 495, 503, 521, 548 Expressionismus 32, 283, 451, 566 Extra-Opus Wissen 601 (s. a. IntraOpus Wissen) e E Sachregister F Fagott 125, 295–297, 534 Faktur 10, 62, 175, 332, 346, 566, 597 Fantasie 61, 321, 538, 628 Fasslichkeit 23, 235 f. Feedback 80 f., 84, 95 f., 167, 220, 504 Fehllesen (misreading) 67, 169, 171, 173, 446, 520 Feldaufnahmen 182, 185, 193, 281, 307, 432 Feldkomposition 188, 267 Festival d’Aix-en-Provence 623 Festival d’Automne à Paris 623 Festival für improvisierte Musik (Libanon) 183, 185 Festival Testimonium 321 Fibonacci-Proportionen 259, 360, 532 Fibonacci-Reihe 259, 360, 532 Figur 35, 65, 98, 111, 233, 237, 240, 265, 344, 370, 483, 502, 528, 533, 570, 600, 604 Figuration 191, 344 Figurenlehre 561 Film/Video XI, XV, 72, 190, 197, 227–233, 251, 306 f., 315, 397, 423, 447, 453, 458, 517, 520, 544, 574 Filmmusik 190, 197, 204, 228 f., 231, 272, 437, 471 f., 491, 501, 517, 589 Fine Arts Quartet 582 Finnish Music Quarterly 473 Flöte 11, 80, 83, 94, 105, 125, 222, 246, 273, 295–297, 329, 385, 482, 601 flow 82 Folklorismus 138, 201, 494 Folkwang-Hochschule 81 Form XI, 9,27, 35, 38, 42, 45–48, 62, 80, 233–238, 267, 283, 328, 338, 342 f., 345, 363, 376, 388, 390, 403, 421, 446, 450, 527, 537, 548, 566, 580, 583 f., 610, 616, 626, 632 (s. a. offene Form, variable Form) 674 Sachregister Formale Funktion 94, 605 Formalismus 233, 236, 439, 618 Formant 167, 235 Formel 369, 584 Formelkomposition 237, 372, 412, 555 Formenlehre 38, 234, 363, 403, 583, 632 Formwahrnehmung 237, 601, 617 Fortschritt XI, XIVf., 25, 60, 195 f., 254, 381, 403, 405, 427, 435, 485, 512, 516, 519 (s. a. Avantgarde) Forum Music Auditorium (Shifang Yueji) 207 Forum Music Ensemble (Shifang yueji xiandai yuetuan) 207 Fotografie 23, 98, 274, 452, 565 Fourieranalyse 221 Fragment 195, 210, 236, 238–241, 343, 457, 626 Fragmentierung 50, 136, 195, 238–240, 260, 496, 616 f. Fraktale Geometrie 461, 471 Franco-American Musical Society 285 Frankfurter Schule 423, 598 Frauen 245 f., 274, 288 Free Jazz 29, 56, 68, 276, 287, 326–328, 487, 506 (s. a. Jazz) Freiburger Schlagzeugensemble 304 Frequenz 78, 166 Fuge 234, 242, 272, 631 Futurismus 25, 105, 185, 195, 245, 445, 538, 614 G gagaku 117, 141, 143, 145, 265, 323, 374 Gakudan Shintaisei Sokushin Dōmei (Vereinigung für die Förderung des neuen Systems in der Musikkultur) 322 gamelan 253, 261, 374 f., 589 Garage 287 GAS (Göteborg Art Sound) 473 Gattung 64–66, 136, 242–245, 270, 271 f., 305, 308, 332 f., 395, 407, 409–411, 470, 472, 481, 491, 517, 566, 579–581 Gebrauchsmusik 393, 517 Gegenkultur/counterculture 383, 511 (s. a. Subkultur) Gegenstrebige Harmonik 111, 191, 432 Gehalt 21, 25, 54, 60, 122, 173, 233 f., 396, 403, 457, 582, 605 Gehirn 95, 143, 311, 353, 391, 590 Geige Ä Violine Geist 120, 131, 162, 204 f., 233, 355, 362, 369, 381, 496, 515, 568, 602 Geistliche Musik 116–134 (s. a. Kirchenmusik) GEMA 287, 427 Gemäßigte Moderne 190, 436, 490, 493 f. Gemeinschaft 93, 97, 158, 349, 436, 597 gendai hōgaku (modernes hōgaku) 144, 146, 324 Gender XII, 96, 245–247, 288, 335, 353 f. Genie 245, 287, 336 Genieästhetik XII, 170 f., 420 Geräusch 26, 37, 104, 195, 219, 247–251, 257, 292, 295, 336, 343, 362, 466, 484, 562, 583 (s. a. Klang, Klangfarbe) Gesamtkunstwerk 94, 119, 339, 412 Gesang Ä Stimme/Vokalmusik Geschichtsbewusstsein 396, 437 f. Geschlecht 151, 245, 569 Geschmack 28, 251, 510 Gesellschaft der Musikfreunde Donaueschingen 285 Gesellschaft 69, 273, 404 f. (s. a. Musiksoziologie) Gesellschaft zur Reform chinesischer Musik (Guoyue gaijinshe) 200 Gestalt 12, 35, 89, 168, 191, 233, 290 f., 311, 344 f., 528, 583 f., 613 Gestalttheorie 601, 613 Geste 35, 58, 63, 67 f., 84, 121, 123 f., 128, 250, 318, 344, 350, 353, 363, 387, 425, 450, 505, 513, 517, 562, 573, 584, 600 Gestentheorie 606 Gestik 100, 294, 311, 344 f. Gewandhausorchester 331 Gitarre 105, 157, 249, 299 f., 370, 449, 539, 588 Glissando 108, 293–295, 300 Globalisierung X, XII, 164, 172, 252–256, 319, 326, 337, 351, 361, 393, 396, 398, 406, 486 f., 501, 512, 518, 567, 569, 620 (s. a. Interkulturalität, Kulturaustausch) Globe Unity Orchestra 277 Glokalisierung 252 Goethe-Institut 280, 588 Goldener Schnitt 237, 444, 471 grain 569 Grammatik 6, 112, 175, 195, 388, 519, 561 Graphische Notation 248, 277, 343, 475 f., 584 (s. a. musikalische Graphik, Notation) Grateful Dead 508 Gregorianik 103, 123, 186, 260, 369, 506, 562, 590 Group Ongaku 143, 545 Groupe de Recherche de Musique Concrète 8, 219 Groupe de recherches musicales (GRM) 219, 622 Groupe des Six 326 Groupe Vocal de France 577 Grundpuls 527, 534, 536 Grundreihe 370, 549 f. Gruppe Neue Musik 331 Gruppenkomposition 7, 42, 235, 263, 527, 584, 603, 613 (s. a. serielle Musik) Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza 69, 213, 277, 331, 545 H Habitus 404, 433, 443, 511, 519, 566 Hagen Quartett 582 Hamburg Network Composers’ Collective 309 Hammondorgel 110, 250 Handwerk 3, 6, 10, 80, 215, 363, 418–420, 484 f., 566 f. Happening 31 f., 69, 91 f., 143, 248, 277, 287, 305, 339, 346–348, 374, 377, 408, 410, 467, 492, 503, 543, 570, 610, 615 Harfe 92, 105, 246, 299 f., 478 Harmonie 49, 110, 113, 257 f., 261, 369, 409, 418, 428, 510, 557 Harmonielehre 104 f., 107, 184, 257 f., 387, 419, 460, 631 675 Harmonik/Polyphonie 8, 42, 186, 188–190, 257–269, 343, 388, 421, 460; Harmonik 3, 110, 350, 432, 434, 508, 559, 584, 610; Polyphonie 7, 8 f., 89, 161, 168, 173 f., 204, 329 f., 482, 484, 489, 529, 551, 566, 582, 584 (s. a. Simultaneität) Havemann-Streichquartett 582 heavy metal 471, 507 Hebrew University Jerusalem 320 Heimbach (Eifel) (Festival) 623 Hemiole 528 Henry Cow 509 Hermeneutik 172 f., 234, 310 (s. a. Posthermeneutik) Heterophonie 24, 30, 204, 257, 262, 265, 493 f., 585 Hexachord 628 Hierarchie 85, 110, 168, 187, 264, 267, 344, 435, 440, 448, 516 f.,583, 601, 613 Hilliard Ensemble 577 Hindustani-Musik 374 f. Hintergrundmusik 91 histoire croisée (Verflechtungsgeschichte) 137 Historismus 119, 334 Hochkultur 400, 406, 517 f., 520 Holland Festival 623 Holzbläser 109, 210, 295–297, 385 (s. a. Blasinstrumente) Homogenisierung 139, 159, 252, 518 Homophonie 257, 265, 268, 582 Hong Kong Ä China/Taiwan/Hong Kong Hong Kong Academy for Performing Arts 208 Hong Kong Arts Festival 208 Hong Kong Chinese Orchestra 207 Hong Kong Composers Guild 207 f. Hong Kong Sinfonietta 208 Hoquetus 533 Hörerfahrung 172, 176, 238, 360, 401, 419, 433, 531 Horn 109, 111, 244, 250, 297–299, 385, 425, 486, 558 Hörspiel 121, 211, 219 f., 254, 281, 456, 570, 574 Humor 57, 73, 229, 269–275, 296, 343, 346, 359 f., 521 (s. a. Ironie, Parodie) Sachregister Hybridisierung/Hybridität 23, 28, 84, 99, 110, 112, 129, 136, 145, 147, 152, 157, 190 f., 194, 203 f., 236, 353 f. I Idealismus 233, 561 Idealtypus 59 Ideengeschichte 125, 170 f., 510 f., 555 Identität, nationale 18, 22, 138, 158, 201, 321, 490 Immanenz 296, 486 Imperialismus 193 Improvisation X, 24, 35, 69, 82, 107, 139, 172, 195, 213, 222, 245, 248, 276–279, 287, 299, 312, 327 f., 331, 334, 343, 352, 361, 374, 393, 412, 441, 465, 471, 478, 498, 504, 545, 565, 575, 593, 626, 631 Incontri musicali (Festival und Ensemble) 11, 331 Indien X, 151, 279–282, 253, 355, 377, 576 Individualisierung 242 f., 290, 396, 534, 615 f. Indonesien 135, 286, 377, 586 f., 589 f. (s. a. Südostasien) Informationstheorie 14, 168, 174, 224, 235, 419, 463, 557, 603 Informelle Musik 45, 48, 140, 195, 236, 282 f., 502, 555, 584, 624 Initiativkreis Freie Musik Köln (IFM) 356 Inkommensurabilität 56, 64, 121, 125, 127, 383 Innerlichkeit 131, 341, 579 Innovation 58, 109, 118 f., 149, 182, 184, 254, 261, 279, 333, 336, 358, 403, 418, 420, 435 f., 437, 546 Inspiration 21, 33, 163, 215, 227, 246, 276, 318, 327, 347, 414, 450 Installation 70, 90 f., 96–98, 100, 185, 236, 306, 340, 343, 447, 486 (s. a. Klanginstallation) Instant Composers Pool 277 Institut für Neue Musik und Musikerziehung 440 Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung Bonn 85, 167, 552 Institute for Sonology Utrecht 44 Institutionalisierung 23, 141, 157 f., 205–207, 286 f., 322, 347, 402, 423 f., 481 Institutionen/Organisationen XI, XV, 72, 138, 141, 170, 195, 231, 242, 252, 284–289, 308, 322, 329 f., 335 f., 340, 347, 354, 361, 366, 399, 402, 423, 436, 440, 470, 481, 488, 510, 602, 620 Instrumentales Theater 228, 289 f., 299, 315, 343, 348, 353, 363, 408, 410, 492, 504, 521, 555, 572, 580, 600, 610 (s. a. Musiktheater, Performance) Instrumentation 39, 166, 197, 263, 290–292, 342, 376, 471, 479, 626 (s. a. Orchestrierung) Instrumente und Interpreten/ Interpretinnen 106, 243, 290, 292–305, 308, 335, 343, 385, 481, 539, 562 (s. a. Interpretation) Instrumentenbau 103, 107, 287, 294 f., 297, 301, 336, 558 Interaktivität 86, 152, 306, 309 Interdisziplinarität 26, 166, 282, 323, 338, 382, 396, 423, 466, 468, 595, 623 (s. a. Transdisziplinarität) Interkulturalität 118, 122, 129, 132, 135–152, 193, 254, 270, 415, 441, 468, 517 f., 589, 595 (s. a. transnational) Intermedialität XV, 138, 190, 197, 222, 251, 278, 305 f., 338, 392, 409, 447 f., 486, 593, 622 (s. a. Medien, Multimedia) Intermodulation 211 International Association of Music Information Centres (IAMIC) 287 International Composers’ Guild (ICG) 285 International Society of Contemporary Music (ISCM)/Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) 205, 285, 322, 348, 492, 621 Internationale Bachakademie Stuttgart 577 Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) 331 676 Sachregister Internationale Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 4, 9 f., 43, 47, 61, 169, 215 f., 286, 323, 378, 382, 389, 429, 439, 493, 495, 548 f., 563, 580, 597, 626 Internationale Kammermusikaufführungen Salzburg 1922 285 Internationaler Arbeitskreis Frau und Musik 288 Internationales Kranichsteiner Kammerensemble 331 Internationalisierung 135, 145, 206–208, 285, 405 f. Internet XV, 183, 198, 231, 248, 252, 286, 306–310, 319, 338, 360, 396, 398, 400, 424, 441, 453 Interpretation X, 29, 35, 41, 78, 103, 113, 138, 178, 212, 216, 245 f., 276, 310–317, 341, 352, 383, 389, 392, 479, 546, 561, 600, 606, 618, 621 (s. a. Instrumente und Interpreten/ Interpretinnen) Interpretationsforschung 36, 170, 310, 315, 389, 606, 618 Interpretationsgeschichte 311, 314 Intertextualität 140, 171, 211, 314, 343 Intervall 4, 13, 42, 160 f., 176 f., 266, 370, 584, 602 Intervallstruktur 259 f., 263, 266, 318, 549, 552 Intra-Opus-Wissen 601 (s. a. ExtraOpus-Wissen) Intuition 215, 246, 583 Iran X, 103, 151, 317–319, 332, 355 Iranian Orchestra for New Music 151, 319, 332 IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/ Musique) 83 f., 111, 166 f., 184, 221–223, 286, 291 f., 351, 355, 366, 402, 424, 471, 485, 525, 542, 545, 558, 581, 622 Ironie 57, 71, 73, 230, 270, 273, 343, 359, 521 (s. a. Humor, Parodie) Isang-Yun-Musikfestival 146 Isolation 22, 24, 150, 204, 280, 319, 397, 402, 406, 409, 424, 436, 495 Israel X, 184, 254, 286, 319–321, 415 Israel Composers League 320 Israel Contemporary Players 320 Israel Music Center 320 f. Israel Music Institute 321 Itinéraire (Ensemble d’Instruments Électronique de l’Itinéraire) 167, 545, 556, 558, 622 J JACK Quartet 232, 295, 582 Jagdhörner 97 Japan X, 141–145, 253 f., 286, 322–325, 332, 335, 457, 487 Japan Foundation 286 Jasminrevolution 150 Java 103, 222 Jazz XV, XVI, 29 f., 57, 68, 190, 276, 297–299, 303, 325–328, 375, 383, 397, 400, 423, 466, 486, 494, 507 f., 523, 538, 631 (s. a. Free Jazz) Jerusalem Symphony Orchestra 320 Jianglan yueji (Jianglang Musicgroup) 205 Jikken kōbō (Experimenteller Workshop) 143, 323 Jiyū Sakkyokuka Kyōkai (Liberal Society of Composers) 322 Journal of Artistic Research 308 Journal of Sonic Studies 308 Ju Percussion Group 207 Juilliard String Quartet 375, 582 Junge Deutsche Philharmonie 331 K Kadenz 45, 264, 375, 425, 536 Kadenzklang 48, 258, 387, 585 Kairos Quartett 582 Kalter Krieg 3, 19, 33, 43, 59–62, 64, 141–150, 205, 252, 280, 284, 351, 406, 427 f., 440, 466 KammarensembleN 473 Kammerensemble XV, 158, 205, 243, 284, 287, 329–332, 333, 335, 481, 576, 597, 605, 620 Kammermusik 242, 284, 329, 332–334, 335, 481 Kanada 468 f. (s. a. Nordamerika) Kanon 22, 26, 31, 44, 77, 234, 245, 266, 334–336, 362, 378, 383, 516, 536 Kanonisierung XII, 31, 245, 284, 314, 334–336, 383, 513, 516 Kantate 107, 111, 121, 174, 201, 429, 472, 489, 506 Kapitalismus 39, 150, 384, 427 f. Karl ein Karl (Trio) 277; Bio-Adapter 278; Ja 278; Karls Fest 278 kayagŭm (korean. Wölbbrettzither) 145, 151, 253, 350 f. Kiganda 159, 161, 534 Kirchenmusik 117, 119, 124 f., 334, 496 (s. a. geistliche Musik) Kitsch 524 Klang Xf., 8 f., 27 f., 32 f., 35–50, 77, 140, 174, 189 f., 195, 218, 248, 257 f., 260, 263, 266–268, 290 f., 343, 372, 432, 481, 483 f., 580 f., 585 (s. a. Geräusch, Klangfarbe) Klangaggregat 553, 624 f. Klangfamilie 42, 48 f., 174, 267, 343, 603 Klangfarbe 4, 35, 79, 110, 166, 221, 248, 257 f., 290, 295, 336 f., 343, 482 f., 502, 552, 580, 590 (s. a. Klang, Geräusch, Parameter) Klangfarbenmelodie 35, 79, 195, 258, 336, 387, 482 Klangfläche 45, 47, 141, 250, 296, 343, 449, 482, 484, 526, 531, 558, 585 Klangflächenkomposition/Klangflächenmusik 43, 46 f., 108, 470 (s. a. Klangkomposition) Klangfluss 236, 604 Klangforschung 80, 99, 108 f., 432, 558 (s. a. recherche musicale) Klangforum Wien 216, 301, 331 Klanginstallation 97–100, 168, 230, 306, 313, 340, 348 (s. a. Installation) Klangkomposition X, 7 f., 39, 41–50, 104, 140, 146, 190, 195, 207, 218, 251, 257, 263, 266, 268, 283, 286, 290, 350, 353, 419, 483, 489, 499, 548, 555, 558, 603, 611 (s. a. Klangflächenkomposition) Klangkunst XV, 8, 31, 35, 70, 96 f., 213, 230, 244 f., 251, 287, 306, 313, 335, 337–341, 343, 347 f., 351, 364, 411, 432, 441, 445, 447, 479, 543, 593, 610 Klangmasse 7, 45, 139, 141, 301, 462, 481, 483 Klangobjekt 3, 40, 219 677 Klangorganisation 35, 37, 40 f., 50, 177, 257, 548 Klangskulptur 85 f., 95, 97–99, 306, 338 f., 350 Klangstrom 129, 350, 615 Klangsynthese 78, 80, 84, 109, 168, 221, 222, 505 Klangtypen/Klangtypologie 36, 39, 48, 258, 293, 337, 425, 485, 531, 585, 603, 611 Klangwerkstatt 623 Klangzentrum 261, 265, 267 Klarinette 93, 190, 243, 271, 295–297, 370, 449, 483, 581 Klavier 45, 104–106, 109, 124, 128, 157, 159 f., 163, 212, 301–303, 369, 425, 475 Klavierauszug 39, 291 Klischee 32, 48, 57, 127 f., 188, 229, 245 f., 271, 326, 362, 442, 469, 613, 624 Kognition/kognitiv XI, 41, 81, 96, 166, 170, 172, 352, 369, 388, 391 f., 419, 422, 513, 527 f., 534, 594, 600 (s. a. Wahrnehmung) Kognitionswissenschaften 81, 166, 391 f., 422, 594 Kolisch-Quartett 294, 582 Köln Ä Zentren neuer Musik Kölner Kurse für Neue Musik 622 Kölner Vokalsolisten 578 Kolonialismus 132, 135, 139, 157, 159, 164, 181–183, 193 f., 200, 205, 252–254, 279–281, 358, 380, 464, 586–588 (s. a. Postkolonialismus/ postkolonial) Kommerzialisierung 150, 206, 406 Kommunikation 68, 97, 119, 131, 236, 271, 285, 314, 363, 388, 474, 496, 498, 564, 590, 597 Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 200 Kompetenz 151 f., 170, 291, 352, 393, 398, 419, 487, 503, 512, 597, 601, 606 Komplexität/Einfachheit 110, 123– 126, 190, 237, 263, 312, 341 f., 344, 378, 405, 470, 484, 502, 518 f., 528, 567; Einfachheit 27, 63, 131, 376, 490, 551; Komplexität 195, 250, 294, 433, 447, 475 (s. a. complexity, Neue Einfachheit) Sachregister Komponierte Interpretation 197, 314, 441, 520 Kompositionsausbildung 135, 319, 421, 492 Komposition 6 f., 10, 29, 212 f., 222 f., 245 f., 276–278, 286, 289 f., 297, 313 f., 420 f., 424, 523, 546, 548, 552, 562, 575, 589, 593 f., 600 Kompositionsgeschichte 14, 25, 103 f., 242, 245, 271, 292, 470 f., 528 Kompositionslehre 419, 421 Kompositionsprozess 4, 7, 14, 80, 173, 175 f., 198, 209, 212, 223, 250, 262, 278, 419, 463, 530, 533, 545, 624, 626 Kompositionstechniken 173, 251, 257, 276, 342–346, 362, 376, 388, 395, 421, 544, 558, 566, 593, 624 (s. a. Strategien, künstlerische/ kompositorische) Konsonanz 48, 110, 186, 188–190, 264, 375, 461, 528, 536 Kontrabass 44, 182, 185, 212, 246, 292–295, 385, 534, 591 Kontrabassdämpfer 580 Kontrabassklarinette 50, 251, 297 Kontrafagott 45, 296 Kontrapunkt 184, 257, 265, 267, 418, 454, 499, 553, 585, 628 (s. a. Harmonik/Polyphonie) Konzeptkunst 70, 339, 347, 374 (s. a. Concept Art) Konzeptuelle Musik 72, 195, 248, 287, 313, 336, 338, 346 f., 374, 393, 405, 441, 447, 503, 555, 626 Konzert 54, 69–71, 242, 284, 332, 347–350, 441, 446, 521, 597, 621 Konzertbetrieb 31, 70–72, 197, 215, 597, 621 Konzertinstallation 99 f. 306, 497 (s. a. Installation, Klanginstallation, Rauminstallation) Konzertwesen 69–71 Korea X, 135, 138, 145, 151, 253, 286, 332, 350–352 Körper XI, XV, 27, 63, 93, 95, 130 f., 212, 246, 250, 304, 442, 504, 352–354, 570, 610 Körperlichkeit 63, 563, 574 f. koto (jap. Wölbbrettzither) 144, 151, 265, 299 Kreuzrhythmik 147 Kritische Theorie 61, 390, 420, 423 Kritisches Komponieren 66–69, 137, 484 Kronos Quartet 161, 295, 468, 582 Kroumata 304, 473 Kubismus 614 Kult 131, 497 Kulturalismus 151 Kulturamt der Stadt Darmstadt 621 Kulturaustausch 202, 252, 254 f., 356 (s. a. Globalisierung) Kulturbegriff 136, 400, 470 Kulturessenzialismus Ä Essenzialismus/Kulturessenzialismus Kulturgeschichte 242, 271, 569 Kulturindustrie 18 f., 61, 195, 517 Kulturpolitik 138, 284, 354–357, 405 f., 471 (s. a. Politik) Kulturrevolution 146 f., 149, 200, 202 Kultursoziologie 402 (s. a. Musiksoziologie) Kulturwissenschaft 63, 136, 171, 423, 435, 514, 519 kundiman 139 Kunstgeschichte 32, 81 Kunstmusik 20, 36, 41, 120, 123, 130, 135–137, 139, 150, 157–161, 163 f., 171, 182, 187, 193 f., 200, 205, 212, 248 f., 251, 253, 260, 270 f., 276, 279–282, 299, 317, 319–321, 326, 336, 358 f., 384 f., 387, 392 f., 402, 404, 434, 437, 443, 466, 471, 474, 494, 501, 513, 516 f., 525, 527, 547 f., 566, 594, 597, 600 Kunstwerk 11, 27, 33, 38, 54, 62, 64, 139, 195, 209 f., 215, 221, 233, 238, 282 f., 306, 366, 383, 397, 399, 406, 409, 447, 564, 566, 624 Kuomintang (chin. Nationalpartei) 205 Kuss Quartet 582 Kwangju (Massaker, Mai 1980) 146 Kybernetik 224 L LaSalle String Quartet 580–582, 588 Lateinamerika X, XIV, 64, 135, 138, 252, 254, 280, 285, 332, 335, 358–361, 406, 440, 621, 623 678 Sachregister Lautstärke 4–6, 8, 42, 79, 89, 463, 467, 477, 502, 554, 572 (s. a. Dynamik) League of Composers 285 Lebenswelt 99, 132, 189, 398, 400, 525, 615 Leipziger Schlagzeugensemble 304 Leipziger Streichquartett 582 Leitmotiv 61, 65, 160 Les Jeunes Solistes (Ensemble solistes XXI) 577 Les Percussions de Strasbourg 304, 331 Liedermacher 206 Lili Marleen 427 Linearität 140, 229, 265 f., 307, 370, 372, 441, 482 Linguistik 463, 549, 561 Listen to Norway (Zeitschrift) 473 Literatur Ä Neue Musik und Literatur Literatur und Kunstforum Yan’an (Yan’an wen yi zuotanhui) 200 Literaturoper 408–410, 415 Literaturwissenschaft 62, 171, 338, 435 Liturgie 341, 429, 490, 530, 577 Live-Elektronik 82–85, 95 f., 193, 218, 221 f., 243, 246, 295, 306, 313, 367, 472, 479, 545, 587, 593 Living Theatre 575 Lockenhaus (Festival) 623 L’Œuvre du vingtième siècle/Masterpieces of the XXth Century 622 Logos 122, 356 London Sinfonietta 331, 597 f. Lotosflöte 109 Lucerne Festival Academy 331 Lux Æterna Hamburg 577 M Madras String Quartet 281 Madrigal 127, 370, 383, 413, 576 MaerzMusik 100, 623 Magie 10, 25, 33, 127, 143, 215, 360, 425, 568, 628 Mainstream XIV, 22, 60, 195, 229, 282, 467, 508, 513 Makroform 26, 49, 80, 233, 551 Malaysia 286, 586, 587 f. (s. a. Südostasien) Manieren 270 Maoismus 32, 201 f. Maori 193 maqām 103, 112, 160 f., 189, 582, 594 Markt 4, 22, 204, 325, 406 Marsch 532 Massenkultur 200, 384 matepe 161 Material 5, 35, 116, 189, 195, 233 f., 238, 246, 254, 342, 362–364, 377, 388, 390, 397, 403, 461, 516, 524, 548, 561 f., 567, 603 Materiale Formenlehre 234, 363, 403 Mathematik Ä Neue Musik und Mathematik matralab (Concordia University Montreal) 468 Max Planck Institut für empirische Ästhetik 423 mbira 534, 582; mbira dza vadzimu (Mbira der Vorfahren) 161–164 Medien XV, 27, 71, 77, 170, 190, 197, 212, 222, 230, 247, 278, 305, 307, 310, 334 f., 338, 346, 348, 351, 364–368, 370, 396, 398 f., 423, 441 f., 452, 486, 504, 544, 546, 621 (s. a. Intermedialität, Multimedia) Medienkunst 99, 351, 364 Medientechnik 212 f., 282, 287, 306, 366 f. Meditation 131 f., 213, 313, 377, 494 Mehrdeutigkeit 295, 557, 560 Mehrstimmigkeit 223, 257, 265, 267 Meiji-Restauration 141, 145 Meisterwerk 520 Meitar Ensemble 320 Melodie 368–373, 434, 517, 561, 613 Melos (Zeitschrift) 13, 169, 285, 399, 424, 438 Melos Quartett 582 Mensurkanon 527 Menuett 237 Meredith Monk & Vocal Ensemble 578 Messe 120, 123, 126, 129, 139, 242, 430, 509, 542 Metapher 11, 17, 21, 24, 30, 32, 35, 40, 49, 144, 445, 516 Metaphysik 132, 365 Metrum Ä Rhythmus/Metrum/Tempo MIDI 78, 213, 223, 296, 483 MIDI-Flöte 296, 483 MIDI-Klavier 223 Migration 137, 252 Mikrointervalle/Mikrointervallik 103, 109, 261 f., 293, 297, 300, 490, 560, 585 Mikrologie 177 Mikropolyphonie 44, 48, 266, 294, 343, 483, 498, 585, 591, 595 Mikrotonalität 26, 103–113, 147, 163, 261 f., 293, 295, 299, 303, 318, 343, 432, 460, 467, 471, 475, 487 f., 496, 498, 556 f., 560, 587 Milieu 138, 157, 182, 242, 395 f., 405, 423, 436, 511 Mimesis 122 Minge caiji yundong (Volksliedsammlungsbewegung) 205 Minguet Quartett 295, 582 Minimal Art 27, 373 f. Minimalismus/Minimal Music XV, 25, 43, 107, 127, 164, 168, 191, 193, 213, 236, 254, 263 f., 303, 314, 324, 327, 341, 345, 372, 373–380, 466, 490, 509, 515, 518, 525, 531, 538, 582, 585, 589, 615 Mittelalter 124, 265, 365, 382, 527 Mivos Quartet 582 Modalität 103, 108, 112, 186, 191, 260 Mode 4, 12, 157, 366, 380 f., 530, 548–550, 566, 570, 583, 631 Modellwerke (yangbanxi) 147, 200 Modern Music (Zeitschrift) 285, 400 Moderne IXf., XIVf., 29, 35, 62, 117, 170, 182, 191, 238, 242, 252, 267, 271, 289, 292, 380–385, 397, 402, 418, 434, 470, 490, 507, 511 f., 514, 527, 566, 610 (s. a. Postmoderne, reflexive Moderne) Moderne, ästhetische 381 f., 515 Modernisierung 205, 317, 351, 380, 382 f., 512 Modulation 112, 211, 221, 301, 343, 489, 532, 534, 537 Modus 4, 6, 79, 82, 112, 260 f., 318, 590, 594, 629, 631 mohan vina (Slide-Gitarre) 281 Moldaurepublik 493 f. (s. a. Osteuropa) Momentform 42, 235, 239 f., 393, 616 Monochord 168, 220 Monodie 161, 369 f. Monophonie 257 679 Montage Ä Collage/Montage Montepulciano (Festival) 623 Morley College, London 318 Morphologie 6, 10, 233, 235, 268, 344, 483, 502, 552, 561, 583 Morphosyntaktische Analyse 268, 607 Moskauer Konservatorium 489, 491 Motette 242, 266, 429 Motiv 8, 12, 234, 330, 365, 393, 604 Motorik 538 Mozambique 161 Multikulturalität 136, 193 Multimedia 72, 231, 251, 287, 304 f., 334, 348 f., 360 f., 366 f., 393, 413, 447, 472, 497, 500 f., 574, 588 f. Multiphonics 104, 250, 262, 295, 336, 343, 385 f. Münchener Biennale für neues Musiktheater 203 f., 230 f., 408, 410 Music from China 151 Musica Elettronica Viva 213, 248, 277, 331, 370, 545 Musica Nova Consort 320 Musica nova Helsinki (Festival) musica viva (Konzertreihe) 70, 286, 621 Musica viva (Verlag) 285 Musica viva Pragensis (Ensemble) 497 Musicarama –International Contemporary Music Festival/ISCMMusicarama 208 Musik als Sprache 13 f., 561 f. Musik mit Musik 72, 198, 314 Musik über Musik 172, 343 Musikalische Graphik 313, 475 f., 499 Musikalische Logik 38, 273, 386 f., 388, 420, 431 Musikalische Prosa 237, 561 Musikalische Syntax 48, 388 f., 548 Musikanalyse/musikalische Analyse 82, 170 f., 177, 368, 403, 419, 606 (s. a. Analyse, analytische Methoden) Musikästhetik XIf., 38 f., 78, 287, 310, 333, 365, 388, 389–395, 404, 418, 422 f., 442, 544, 548, 600 (s. a. Musikphilosophie) Musikblätter des Anbruch 399, 621 Musikdrama 39, 242, 412 musikFabrik 216, 331 Sachregister Musikhistoriographie XII, 17, 191, 242, 335, 395–398, 423, 441, 470, 516, 567, 568, 620 Musikhochschulen XI, 157, 183 f., 287, 291, 318, 320, 428, 473, 493, 587, 598, 620 Musikhören 88, 186 f., 189, 218, 348, 363, 387, 425, 600, 602 f., 612 Musikjournalismus XIf., 171, 246, 335, 355, 398–402, 406, 440 Musikkonservatorium Shanghai (Shanghai yinyue xueyuan) 200 Musikkritik 246, 284, 398–400, 406, 510 Musikpädagogik XI, 432, 442, 606 Musikphilosophie 36, 281, 389 f., 391, 393 (s. a. Musikästhetik) Musikpsychologie 389, 391, 417, 533, 600 (s. a. Psychoakustik, Psychophysik, Wahrnehmung) Musikpublizistik 43, 399, 428 Musiksoziologie XII, 137, 177, 187, 288, 314, 362, 389, 393, 397, 402–407, 423, 438, 511, 600, 622 (s. a. Kultursoziologie) MusikTexte 273, 366, 424 Musiktheater XV, 22, 65, 69, 95, 197, 230, 244, 249, 289, 299, 306, 313, 324, 330, 335, 338, 343, 348, 353, 361, 407–417, 454, 459f., 467, 472, 478, 513, 574, 593, 600, 622 (s. a. Oper) Musiktheorie XI, 166, 169, 246, 257, 342, 389, 417–422, 442, 561, 583, 600, 606, 610 Musikwissenschaft XI–XIV, 17, 169, 218, 246, 389, 403, 422–424, 419, 428, 442, 567 musique concrète 8, 71, 88, 104, 139, 141, 182, 184 f., 205, 218–220, 243, 249 f., 281, 323, 336 f., 339, 343, 366, 405, 425, 432, 492, 500, 509, 520, 552, 563 f., 567, 574, 595, 621 musique concrète instrumentale 39, 68, 110, 206, 250, 290, 337, 343, 405, 425 f., 478, 483, 520, 525, 564, 567, 574, 580 musique spectrale 110 f., 189, 250, 290, 502, 525, 556–560, 587, 622 (s. a. Spektralmusik) Myrkir músíkdagar (Dunkle Musiktage) 473 N Nadar 278, 287 Narrativität 18, 21, 32, 100, 160, 175, 185, 209, 211, 229, 259, 315, 344, 352, 375, 377, 408–415, 459, 466, 525, 548, 569, 585, 629 National Concert Hall (Taipei) 206 National Cultural Center (Taipei) 206 National Institute of the Arts (Guoli yishu xueyuan/Taibei yishu daxue) 206 National Symphony Orchestra (Taiwan) 207 National Taiwan Normal University (Guoli shifan daxue) 205 National Taiwan Symphony Orchestra 207 National Theater (Taipei) 206 Nationale Musikschule Shanghai (Guoli yinyue yuan) 200 Nationalismus 71, 135 f., 143, 193, 200, 252, 254, 281 f., 320, 322, 324, 358, 488, 491, 494, 497 f., 514, 595 Nationalsozialismus 64, 66, 215, 284 f., 399, 405, 408, 418, 423, 427–430, 496, 512, 621; Entnazifizierung 57, 405, 427; NS-Regime 201; NS-Zeit 56 f., 61, 538 nation-building 138 Natur XVI, 21, 111, 430–434, 461, 469, 479, 585 Naturhorn 109 Naturposaune 109 Naturwissenschaften 422 Nebelhorn 26 Neoklassizismus 28 f., 189, 215, 322, 386, 436, 439, 465, 471, 507, 566 Neoromantik 207, 237, 264, 341, 375, 470 f., 490–492, 494, 497, 500, 588 Neotonalität X, 187, 191, 237, 263 f., 341, 374–378, 441, 490, 492, 516, 555 Netherlands Chamber Choir 577 Netzwerk Neue Musik 356 Neue Einfachheit 237, 341, 484, 496, 515 f., 519 f. (s. a. Komplexität/Einfachheit) Neue Kulturbewegung (Xin wenhua yundong) 200 680 Sachregister Neue Musik IX–XV, 3, 8, 18, 21, 23, 33, 63, 73, 118, 166, 182, 186–189, 199, 210, 223, 227, 229, 237, 240, 242, 250, 261, 305, 308, 338 f., 346, 362, 374, 381, 396, 399, 432, 434–444, 465 f., 484, 514, 542, 548, 591, 610, 615, 625 Neue Musik und Architektur XI, XV, 8, 63, 166, 237, 338 f., 444–446, 542 Neue Musik und bildende Kunst XI, XV, 23, 227, 305, 308, 346, 374, 446–454, 466, 591, 625 Neue Musik und Literatur XI, XV, 210, 240, 305, 338, 454–460, 615 Neue Musik und Mathematik 21, 33, 166, 189, 223, 237, 364, 432, 460–464, 548 Neue Musikgesellschaft 285 Neue Musikzeitung 424 Neue Vocalsolisten Stuttgart 576 f. Neue Zeitschrift für Musik XI, 169, 284, 366, 442 New Age 118, 130 New Music Edition 285 New Music Orchestral Series 285 New Music Quarterly Recordings 285 New Music Society of California 285 New Music Workshops 285 New Musicology 170, 605 New York Music Ensemble 468 New York Philharmonic 144, 324 New York School 30–33, 195, 327, 467, 624–626 New Zealand Symphony Orchestra 332 Nexus 304 Niederrheinische Musikfeste 284 Nieuw Ensemble Amsterdam 203 Nihon Gendai Ongaku Kyōkai (GenOn, Japanische Gesellschaft für zeitgenössische Musik) 322 Nihon Gendai Sakkyokuka Renmei (Vereinigung zeitgenössischer japanischer Komponisten) 322 Nihon Ongaku Bunka Kyōkai (Japan Music Culture Association) 322 Nihon wo mamoru Kokumin Kaigi/ Nippon Kaigi (Nationalkonferenz zur Verteidigung Japans/Japankonferenz) 143 nihonjinron (Japanerdiskurse) 143 Nijūsēki Ongakukenkyūjo (Musikalisches Laboratorium 20. Jh.) 323 noise 26, 37 f., 40, 91, 97, 185, 248, 251, 508 Nordamerika X, 17–34, 135, 324, 335, 406, 452, 464–469 Nordeuropa X, 284, 469–474, 507, 623 Nordic Music Days 284, 623 Nordiska Musikdagar (Nordische Musiktage) 472 Nordkorea 146, 350, 352, 493 (s. a. Korea, Südkorea) Notation 30, 32, 78, 210, 212, 222 f., 240, 248, 276, 301, 310, 312, 342 f., 346, 352, 376, 391, 406, 445, 451, 467, 471, 474–480, 504, 544, 545, 563, 569–572, 584, 624 (s. a. graphische Notation, musikalische Graphik) Notenschrift 78, 451, 475, 545 f. Notentext 173, 178, 216, 277, 310 f., 503, 626 NOTUS: IU Contemporary Vocal Ensemble 577 Nouvel Ensemble Moderne 468 Nova (Vokalensemble) 577 O Obertonreihe/Obertöne 25, 30 f., 38, 111, 166 f., 342, 385, 465 (s. a. Teiltonreihe/Teiltöne) Oboe 250, 295–297, 353, 370, 385 Offene Form 234, 338, 343, 584, 624, 626 (s. a. Form) Office of Military Government, United States (OMGUS) 286, 621 Okarina 109 Ökologie 337, 432 f., 604 Oktoberrevolution 105, 488 Ondes Martenot 558 Ondiola 128, 212, 336 Ongo-Hörner 534 Oper 65, 88, 130, 158, 160, 167, 193, 197, 202–204, 208, 228, 230 f., 237, 242–245, 250, 252, 271–273, 289, 303, 305, 326, 331, 335, 338, 360 f., 372, 376, 381, 407–415, 428 f., 455, 457, 459, 471 f., 475, 478, 483, 489, 496, 506, 517, 530, 563 f., 570, 574, 576, 582, 593, 597, 617, 623, 626, 632 (s. a. Musiktheater) Opéra de la Bastille 355 operas for television 413 Operette 20, 428 Oratorium 59, 105, 124, 162, 211, 231, 414, 429, 517 Orchester XV, 35, 221, 243, 290 f., 335, 481–487 (s. a. Sinfonik) Orchestrierung 167 f., 197, 280, 291, 585, 632 (s. a. Instrumentation) Organisationen Ä Institutionen/Organisationen Organologie 359 Orgel 107, 158, 258, 301–303, 327, 477, 505, 626 Orientalismus 10, 141, 252, 457 Originalität 78–80, 333, 467, 498 Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) 151, 332, 360 Oslo Sinfonietta 473 Osteuropa X, 43, 58 f., 190, 244, 264, 284, 377, 405, 440, 461, 487–501, 557, 585, 594 Ouverture 201, 250 P P.E.N.-Club (Club der Poets, Essayists, Novelists) 285 Paetzold-(Sub-)Bassblockflöten 296 Pan American Association of Composers (PAAC) 285 Pan-African Orchestra 151, 158, 332 Panflöte 161 Paradigmenwechsel 18, 33, 55, 71 f., 195, 292, 311, 418, 440, 510, 548, 580 Parameter 108, 221, 234, 262, 336, 343, 363, 376, 390, 463, 482, 502 f., 547, 627 Paris Ä Zentren neuer Musik Parodie 29, 189, 248, 270, 272 f., 370 (s. a. Humor, Ironie) Partitursynthese 78, 222 f. Passacaglia 14, 302 pathet 103 Pathos 59, 120, 151, 250 Pattern 25, 161–164, 168, 236, 267, 345, 374 f., 377 f., 534, 537, 581 f., 585, 606 Paul Sacher Stiftung Basel 5, 424, 547 681 Peking-Oper (jingju) 570 Pentatonik 191 Performance 29, 67, 212 f., 244, 246, 248, 277, 287, 289, 307, 310, 334, 338, 343, 346, 348, 353, 374, 392, 405, 408, 410, 441, 466 f., 475, 503–506, 546, 565, 570, 575, 593, 604, 610, 615, 626 Performanceforschung 36 Performanz 348 f., 503, 513 Performative Wahrnehmung 606 Performativität 347, 392, 423, 503, 572, 574 f. Permutation 10, 260, 461, 625, 631 Personalstil 254, 310, 499, 566 f. Perspectives of New Music (PNM) 169, 424 Perzeption 600 (s. a. Wahrnehmung) PHACE 278 Phänomenologie 35, 391, 604, 610, 613 Philadelphia Orchestra 200 Philip Glass Ensemble 213, 375 Philippinen 138 f., 286, 543, 586 f., 588 (s. a. Südostasien) Phonetik 85, 167, 419, 552, 561 f., 578 Physik 293, 419, 462, 610, 614 Physiologie 166 pipa (chin. Laute) 149, 207 pitch class theory/Pitch-Class-SetAnalyse 170 f., 175 f., 206, 263, 369, 418, 461, 627, 629 Pluralismus 68, 344, 364, 406, 443, 483 f., 512, 517, 520 f. Polen 58, 63, 124 f., 341, 367, 377, 494, 496, 498 f., 557, 583 (s. a. Osteuropa) Politik 55–57, 105, 135, 137, 158, 162, 250, 354 f., 484, 565, 597 (s. a. Kulturpolitik) Politische Musik 55 f., 61, 65, 67, 355, 405 Politisierung 56, 250, 405 f., 412 Polymetrik 45, 343, 527, 533 f., 537 Polyphonie Ä Harmonik/Polyphonie Polyrhythmik 302, 343, 533 f. Polystilistik 159, 190, 211, 243, 264, 341, 343, 472, 483, 488 f., 498, 506 f., 520 f., 567, 581 Polytempik 527, 531, 533 f., 536 f., 615 Sachregister Polytonalität 147, 186, 260, 343 Pop/Rock X, XVI, 190, 251, 314, 327, 337, 375, 400, 405, 423, 437, 442, 453, 507–510, 512, 517, 538 f., 568, 570 Pop-Art 349 Popindustrie 136 Popsong 185, 206 Populäre Musik 138, 400, 508, 512 f. Popularität X, 246, 314, 333, 378, 405, 510–514, 517, 602, 622 Populärkultur/Popkultur 18, 95, 208, 319, 379, 410, 437, 442, 511, 513, 517 f. Popularmusik/Pop-Musik X, 21, 25, 36, 56, 81, 119, 123, 136, 138, 157, 159, 190, 194 f., 211, 244, 251 f., 299 f., 314, 322, 327 f., 349, 375, 383, 392 f., 400, 423, 442, 465, 486, 506–509, 512 f., 519, 538, 574, 587 Populismus 56, 119, 441, 501 Posaune 167, 174, 271, 297–299 positionen (Zeitschrift) 424 Posthermeneutik 172 f., 607 (s. a. Hermeneutik) Posthorn 97 Postkolonialismus/postkolonial XIV, 132, 135, 138, 157 f., 161, 164, 181 f., 193, 254, 380, 423, 517 f., 530, 586 (s. a. Kolonialismus) Postmoderne IXf., XII, 187, 189, 191, 196, 210, 242, 263 f., 264, 271, 287, 375, 380, 383, 398, 405, 434, 457, 483, 506 f., 514–522, 567 (s. a. Moderne) Postserielle Musik 47, 108 f., 171, 174, 188, 222 f., 262 f. , 301, 337, 359 f., 516, 519, 527–529, 531–533, 554 f., 557, 587 f. (s. a. serielle Musik) Poststrukturalismus 176, 240, 555, 602, 616 (s. a. Strukturalismus) Posttonalität Ä Atonalität/Posttonalität/Tonalität Prager Frühling 497 Prager Konservatorium 106, 496 Pragmatismus 612 Präparierte Gitarre 185 Präparierter Kontrabass 185 Präpariertes Klavier 26, 106, 159, 161 f., 227, 248, 293, 303, 336, 493, 502, 539, 615 Präpariertes Orchester 483 Praxis, musikalische 103, 157, 310, 362, 392, 503, 569, 588, 598 Pro Arte Quartet 582 Pro Helvetia 356 Pro musica Nipponia (Nihon Ongaku Shūdan) 144 Pro musica viva 496 Programmmusik 207 Pronomos-Flöte 296 Propaganda 56, 58, 185, 330, 427 Proportionskanon 44, 266 Prozess 9 f., 24, 47 f., 93 f., 222, 250, 309, 343, 345, 374, 367, 376, 378, 585, 613, 615 f. Prozessualität 111, 557, 575, 613, 615 f. Psalmodie 369 Psychologie 166, 391 f., 422, 600 Psychophysik 37, 170, 186, 600 Publikum 22, 24, 28 f., 31, 43, 67, 78, 84, 89–91, 93–96, 99 f., 139 f., 157, 169, 191, 204, 212, 216, 246, 273, 280, 284, 312–314, 319, 324, 330, 332, 334 f., 348 f., 385, 397 f., 400, 405 f., 411 f., 449, 467 f., 481, 496, 511, 542 f., 561, 572, 597, 616, 626 Puls/Pulsation 12, 24, 42, 98, 164, 236, 303, 374, 377, 413, 482, 527, 529, 532–534, 537–539, 611 Pult und Taktstock 424 Punk 251, 471, 570 Punktuelle Musik 6, 12, 549, 585 (s. a. serielle Musik) Q qin (chin. Zither) 140, 149, 202, 208 Quartenakkord 259 Quince Contemporary Vocal Ensemble 578 R Radio-Sinfonieorchester des ORF 331 Ragtime 23, 28 f., 326, 465, 506, 534 Rahmung 151, 404, 486, 569 Rasse 137, 286 Rationalisierung 11, 21, 362, 382, 461 Rauigkeit 108, 186 Raum XV, 8 f., 32, 83, 85–102, 139, 306, 348, 432, 479, 485, 542, 611, 614 f. 682 Sachregister Raumakustik 27, 85, 88, 96, 168 Rauminstallation 91 f., 339, 447 (s. a. Installation, Klanginstallation, Konzertinstallation) Raumkomposition 55, 88–102 f., 91, 94, 232, 298, 323, 445 Raumkunst 88 Räumlichkeit 88, 108, 613 f. Raummetapher 45 Raum-Zeit 593, 610, 613 Rauschen 27, 37, 89, 210, 250, 306, 574 Realismus 43, 58–60, 124, 146, 381, 440, 448, 488–490, 493–495, 497, 499 f., 511, 589 recherche musicale 109 f., 558, 560 (s. a. Klangforschung) Rechnen 120, 176, 452 Reduktion 30, 130 f., 175–177, 197, 312, 329 f., 345, 355, 360, 375, 377, 402, 404, 414, 475, 477, 482, 518, 556, 604 Reflexive Globalisierung 137 Reflexive Moderne 242, 610 Reflexivität X, XIII, 39, 137, 140, 242 f., 380, 382 f., 438, 602, 610 Reform 73, 110, 135 f., 146, 200, 215, 287, 344, 403, 408, 412, 468, 475, 498, 594 Regie 413, 415 Regietheater 415 Reihenkomposition 547, 627 f., 632 (s. a. Dodekaphonie, serielle Musik, Zwölftontechnik) Reihung 45, 47, 210, 235 f., 459, 553 Reihungsform 43, 45 Reine Intervalle 107, 109, 189 Reine Stimmung 104, 106 f., 109, 111, 300, 303, 374 relational musicology 138, 152 Religion 116, 130, 132, 136, 181, 286, 490, 580 Religiöse Musik Ä Geistliche Musik Remix 151, 190, 197 f., 227, 244, 314, 508, 568 Renaissance 119, 175, 193, 266, 276, 301, 303, 334, 339, 346, 353, 527, 549, 561, 617 Repertoire 20, 23, 38, 43, 123, 139, 158, 162, 170, 186 f., 201, 216, 243, 280, 284, 292–304, 308, 329–332, 348, 355, 418, 465, 481, 483, 539, 558, 574–578, 582 Reproduktionsklavier 366 Restauration 237, 517 Resultatnotation 474 Rezeption XIIf., 12, 35, 138, 235, 245, 283, 306, 308, 314, 342, 346, 349, 352, 365, 368, 383, 390, 392, 423, 437, 449, 513, 523–526, 555, 597, 600, 620 Rezipient 40, 86, 113, 246 f., 270, 306, 338 f., 345 f., 349, 503, 561, 602, 604 Rezitationston 370 Rheingau- und Schleswig-HolsteinFestival 623 Rheinische Musikschule 622 Rhetorik 10, 60, 233, 270, 391, 561, 624 Rhythmus/Metrum/Tempo 12, 21, 188, 267, 343, 376, 388, 393, 419, 421, 434, 526–541, 561, 610 Rhythmuskomposition 532 Ricercar 125, 197 Ringmodulation 78, 110 f., 258, 558 Ringmodulator 220, 560 Ritual 27, 93, 123, 127–130, 159, 377, 493, 503, 598 Ritualmusik 139, 298 Romantik 28, 33, 163, 201, 207, 242, 334, 339, 383, 435, 438, 492, 519, 562 Rondo 237, 563, 566 Rotation 30 Royal Academy of Music London 355 Royal Opera House (London) 412 RuhrTriennale 623 Rumänien 489, 493 f., 498, 557 (s. a. Osteuropa) Rundfunk XI, 7, 11, 220, 248 f., 281, 307, 330–332, 355, 398 f., 428, 439, 467, 481, 496, 523, 563, 574, 621 Rundfunkchor des NDR 577 Rundfunkchor des RIAS (RBB) 577 Rundfunkchor des WDR 577 Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig 331 Russland 26, 82, 105, 320, 355, 376, 488–491, 500, 594 (s. a. Osteuropa) S Saiteninstrumente, indische 281 Säle und Gebäude 8, 139, 348, 436, 542 f. Salzburg Biennale 623 Sample 185, 309, 314, 508, 519 Sampler 137, 213, 223, 251, 271, 318 Sampling 151, 251, 508 Samtene Revolution 497 San Francisco Tape Music Center 374 Sangeet Prayog (Ensemble) 282 santoor (ind. Hackbrettzither) 281 sarangi (ind. Streichinstrument) 281 sarod (ind. Laute) 281 Satz 38 f., 45, 120, 257 f., 262, 294, 311, 333, 420 f., 438 f., 561 f., 585, 628 Satzlehre 257 Satztechnik 150, 191, 209, 223, 257, 264, 334, 342, 418, 562, 580, 582 f.; Satztyp 420 f. (s. a. Harmonik/ Polyphonie) Satzweise 140, 150 sawari 144 Saxophon 224, 272, 295–297, 328, 478, 631 Saxophonquartett 163, 296 Schaffensprozess 41, 171 f., 212, 342, 376, 479, 544–547, 590, 602, 627 Schallplatte 4, 26, 82, 318, 339, 348, 366 Schiffshörner 97 Schlagquartett Köln 304, 331 Schlagzeug/Schlaginstrumente 8, 25 f., 33, 56 f., 83 f., 93, 106 f., 121, 123, 126, 164, 168, 202, 207, 210, 219, 243 f., 248–250, 270, 272, 292, 298, 300, 303 f., 329–331, 333, 336, 350 f., 353, 367, 370, 375, 410, 425, 432, 476–478, 482 f., 487, 490, 504, 529, 537, 539, 551, 558, 570, 575, 577, 590 f., 615, 617 Schlagzeugensemble 58, 106, 149, 303 f., 330, 333, 473, 539 Schola Cantorum 577 Schola Cantorum Stuttgart 577 Schola Heidelberg 577 Schönberg Ensemble 216, 331 Schönheit 65, 174 f., 287, 341, 450, 524 f. Scratch Orchestra 31, 69, 378, 509 683 Selbstreferenzialität 21, 32, 198, 572 Selbstreflexivität 40, 151, 171, 188 f., 411, 603, 606 Semantik 127, 228, 233, 391, 459, 559, 562, 569 Semiotik 391, 402 Septakkord 259, 631 Serielle Musik 3–16, 30, 57 f., 80, 107 f., 127, 195, 220, 234, 239, 245, 250, 258, 262 f., 276, 290, 311, 320, 323, 326, 330, 334, 337, 343, 350, 359, 374, 386, 405, 440, 448, 461, 470, 482, 488, 502, 506, 516, 529–531, 547–556, 558, 584, 610, 613, 622, 624, 627 (s. a. postserielle Musik) shakuhachi (jap. Bambusflöte) 144, 253, 324, 487 Shanghai Municipal Orchestra 201 Shanghai New Music Week 204 Shanghai Philharmonic Orchestra 205 Shanghai Sinfonietta 151, 205, 332 Sharjah Biennale (VAE) 183 sheng (chin. Mundorgel) 136, 151, 300 Shenyang Konservatorium 203 Shin Nihon Ongaku (Neue japanische Musik) 144 Shin Sakkyokuha Kyōkai (New Group of Composers) 322 Shinkō Sakkyokuka Renmei (Vereinigung innovativer Komponisten) 322 Shinsei Kai (Gruppe der neuen Stimme) 322 shō (jap. Mundorgel) 50, 141, 145, 151, 191, 250, 300, 487 Shona 163, 534 Sibelius-Akademie Helsinki 473 Sichuan Conservatory 202 f. Sichuan-Oper (chuanju) 147 Sidney 623 Siebtheorie 223 sillabazione scivolata 413, 570 Simultaneität 109, 258, 267, 614 f. (s. a. Harmonik/Polyphonie, Zeit) Sinfonieorchester 23, 29, 200–202, 204, 207, 231, 279, 281, 285, 292, 317, 330 f., 349, 456, 534, 577, 587 Sinfonik 59, 139, 146, 150, 202, 243, 329, 333, 481–487, 493, 500, 542 (s. a. Orchester) Sachregister Singapur 205, 282, 286, 586, 588 (s. a. Südostasien) Singen 124, 127, 295, 370, 385, 413, 428, 455, 523, 564, 572 f., 577 Sinn 11, 61, 85, 314, 345, 388, 392, 404, 455, 561, 631 f. Sinuston 42, 79, 89, 110, 221, 367, 552, 567 sitar (ind. Langhalslaute) 281, 385 Skala 25, 84, 111, 160, 186, 190, 259– 261, 263, 270, 470, 530, 625, 631 Skalenstufe 160 Skandal 31, 59, 206, 219, 245, 409, 580 Slowakei 496 f. (s. a. Osteuropa) Sō Percussion 304 Società cameristica italiana 331 Società Italiana di Musica Moderna 285 Society for Chinese Folk Music Research (Zhongguo minzu yinyue yanjiushe) 205 Sogenanntes Linksradikales Blasorchester 69 Sōgetsu Art Center 324 Solarorchester 248 Sommer-Oper Santa Fe 623 Sonagramm/Spektrogramm 166, 177, 476, 557 (s. a. Spektralanalyse) Sonate 4, 12, 21, 109, 221, 237, 242 f., 274, 294, 300 f., 333, 529 f., 549, 551, 562 Sonic Arts Union 213, 545 sound design 97, 437, 517 soundscape 36, 97, 193, 251, 337, 432 Sound of Stockholm 473 Sowjetunion Ä Russland Sozialgeschichte 242, 333, 511 Sozialisation 28, 349, 513, 538 Sozialistischer Realismus 43, 58–60, 124, 146, 440, 488–490, 493–495, 497, 499 f., 511, 589 Soziologie Ä Musiksoziologie space notation 475, 580 Speak Percussion 332 Spektralanalyse 49, 141 (s. a. Sonagramm/Spektrogramm) Spektralmusik 45, 49, 103–113, 163, 167, 189, 195, 250, 261 f., 292, 323, 337, 343, 372, 387, 400, 420, 483 f., 492, 502, 525, 545, 548, 556–560, 567, 585, 587, 622 (s. a. musique spectrale) Spektrogramm Ä Sonagramm/Spektrogramm Spektromorphologie 387 Spiegelsymmetrie 262, 530, 632 (s. a. Symmetrie) Spieltechniken 201, 292–304, 327, 385, 533, 579 Spiritualität XVI, 117 f., 125–127, 130–132, 341, 406, 497 Spirituelle Musik Ä Geistliche Musik Sponsoring 355 Spontaneous Music Ensemble 277 SPOR (Århus) 472 f. Sprachähnlichkeit 318, 370, 392, 418, 561 Sprachakzent 532 Sprachcharakter 174, 251, 404 Sprache und Musik 25, 85, 561, 563 f. Sprache/Sprachkomposition 27, 64, 85, 237, 338, 353, 370, 404, 455, 561–566, 569; Sprache 343, 365, 391, 484, 548, 568, 585; Sprachkomposition 211, 408, 410, 412 Sprachkritik 561 f. sprechbohrer 565, 578 Sprechgesang 25, 329, 455, 562 Sprechstimme 106, 243, 329, 333, 475, 570, 572 Sprechtheater 70, 410, 413 Stadler Quartett 582 STAGMA 427 Standardisierung 78, 106, 135, 149, 159, 183, 200, 243, 286, 348, 404, 569, 582 Statische Musik 4, 13, 45, 531, 549 (s. a. Klangkomposition) Statistische Form/statistische Verfahren 7 f., 14, 42, 45, 188, 234, 260, 263, 266, 291, 523, 530 f., 537, 552, 554 f., 585, 612 f., 616, 625 Stedelijk Museum Amsterdam 182 Steirischer Herbst 623 Stereotyp XIf., XVI, 119, 137, 143, 152, 162, 183, 188, 245 f., 281, 378, 438 Stereotypisierung 137, 152, 183 Steve Reich and Musicians 213, 375 Stil 29, 190, 239, 242, 489, 566–568 Stille 5, 27, 64, 94, 110, 131, 144, 203, 237, 240, 248, 306, 313, 346, 414, 457, 484, 526 f., 581, 591, 604, 610, 617 684 Sachregister Stimme/Vokalmusik XV, 129, 249, 454 f., 563 f., 568–579; Stimme 80, 166, 213, 246, 303, 330, 353, 366, 413, 504; Vokalmusik 127 f., 130, 184, 233, 254, 369, 475, 497, 500 Stimmung 103 f., 106 f., 109, 111–113, 159–161, 167, 186, 189, 253, 300, 303, 311, 374, 466, 487, 531 Stochastische Musik 8, 223, 462, 627 (s. a. Zufall) Stock11 287 Stockhausen-Ensemble 213 Strategien, künstlerische/kompositorische XIII, XVI, 9, 27, 33, 66, 68 f., 71, 108, 111, 117, 137, 175, 187–189, 198, 229, 240, 259, 262, 267, 271, 278, 291, 312, 343, 346, 366 f., 390, 411, 441–443, 446, 448–453, 455, 459 f.,517 f., 520 f., 526–528, 529–531, 536, 562, 617, 628 (s. a. Kompositionstechniken) streaming 164, 267, 307, 537 Streichinstrumente 43 f., 105, 108, 147, 292–295, 359, 385, 425, 475, 504, 562, 579 f., 581, 615 (s. a. Viola, Violine, Violoncello, Kontrabass) Streichquartett 242, 287, 293, 332 f., 335, 349, 579–583 Stroma New Music Ensemble 332 Struktur 26, 38 f., 171, 224, 233, 259, 263, 266, 283, 290 f., 342 f., 392 f., 417, 423, 432, 446, 475, 548, 566, 583–586, 602, 604, 626 (s. a. Textur) Strukturalismus 39, 170–172, 174, 206, 236, 419, 584 (s. a. Poststrukturalismus) Strukturanalyse 171, 176–178, 404, 406 Strukturklang 39, 48, 236, 258, 267, 337, 531, 585, 612 Strukturtyp 257, 421 Studio der Folkwang-Hochschule Essen 81 Studio des Middle East Radio Cairo 184 Studio di Fonologia (RAI, Mailand) 80, 220, 552, 563, 575 Studio für elektronische Musik Köln (NWDR/WDR) 220, 286, 424, 621 Studio in Gravesano 166 Subjekt 27 f., 238, 242, 362, 384, 395 f., 525, 625 Subjektivität 173, 276, 362, 382 f., 457, 612 Subkultur 348, 374 (s. a. Gegenkultur/counterculture) Südostasien X, 135, 286, 406, 586–590 Südwestfunk Baden-Baden 285, 621 SuperCollider 222 Surrealismus 19, 32, 122, 194, 448, 451, 614 SWF-/SWR-Sinfonieorchester 285 Swingle Singers 572, 577 SWR Vokalensemble 577 Symbol 19 f., 146, 150, 286, 323, 326, 391, 411, 614 Symbolismus 28 Symmetrie 91, 159, 162 f., 237, 259–263, 266, 369, 461, 529 f., 533, 602, 614 f., 617, 628, 632 (s. a. Asymmetrie, Spiegelsymmetrie) Synästhesie 308, 407, 447, 513, 590–592 Synkope 23, 528 f. Synlab 81 Syntax Ä Musikalische Syntax Synthesizer 78, 110, 212 f., 220 f., 235, 250, 318, 467, 503 Systematische Musikwissenschaft 417, 422 Systemtheorie 236, 568, 628 Szenische Komposition 273, 289, 411 Szenische Musik 343, 408 T tabla (ind. Kesseltrommeln) 281 taegŭm (korean. Bambusflöte) 351 Taipei Digital Art Festival 207 Taipei National University of the Arts 206 Taipei Symphony Orchestra 207 Taiwan Ä China/Taiwan/Hong Kong Takefu International Music Festival 325 Takt 45, 261, 263, 303, 528, 533 f., 537 f. Taktarten 529 Talea 49, 468, 530, 558 Talea Ensemble 468 Tampere Biennale 473 Tanglewood (Massachusetts) 623 Tanz/Tanztheater XI, XV, 23, 88, 348, 353, 411, 466, 539, 570, 593 f., 615 tapping 81 Taschenoper 623 Tasteninstrumente 106, 158, 301–303, 503, 565 (s. a. Cembalo, Klavier, Orgel) Techno 196, 251, 335, 509 Tectonics (Festival) 473 Tehran Music Group 319 Teiltonreihe/Teiltöne 42, 103, 107, 109 f., 189, 258, 261, 293, 385, 460 f., 471, 533, 557, 559 (s. a. Obertonreihe/Obertöne) Teiltonspektrum 262 Temperatur 107, 112 Temperierte Stimmung 103, 109, 160, 531 Tempo Ä Rhythmus/Metrum/Tempo Terminologie 463, 583, 632 Tetrachord 631 Textur 39, 48, 140, 160 f., 177, 210, 266, 283, 312, 342, 344, 367, 477, 534, 583–585 (s. a. Struktur) Texturklang 48, 266, 585 Textvertonung 128 Thailand 286, 586 f. (s. a. Südostasien) The League of Composers’ Review 285 The Review of Yugoslav Music 495 The Song Company 577 The Who 508; Baba O’Riley 509 Theorbe 122 Third Coast Percussion 304 third stream 29, 326, 467, 631 Tiananmen (Massaker, Beijing, Juni 1989) 150, 200, 202 Tibet 298, 576 Timbre 35, 49, 110, 113, 143, 159, 261, 290, 557, 582 (s. a. Klangfarbe) Tintinnabuli 123, 264, 377, 491 Tokyo String Quartet 582 Tonalität Ä Atonalität/Posttonalität/ Tonalität Tonart 186, 264 Tonband 78, 83 f., 90, 128, 220, 227, 277, 374, 552, 563, 581 Tondauer Ä Dauer Tonhöhe 4 f., 8, 11–14, 25 f., 44–46, 83, 90, 107, 190, 221, 234, 290, 363, 502, 527, 531, 550–552, 561, 570, 624 (s. a. Parameter) 685 Tonhöhenorganisation 158, 175, 177, 343 (s. a. Harmonik/Polyphonie) Tonika 186, 259, 370 Toningenieur 81, 83 Tonkünstlerfeste 284 Tonleiter 103, 108, 168, 234 (s. a. Skala) Tonmeister 79, 83, 312 Tonordnung 6, 103, 113 Tonpsychologie 170, 186, 391 Tonraum 104, 108, 112, 261, 265, 301, 461 Tonreihe 629 Tonsatz 188, 257 f., 265, 460, 613 Tonsystem 13, 29, 105, 107, 111, 112, 150, 186, 189, 201, 258, 260, 261, 602 Tonsysteme 7, 104, 106, 109, 112, 191, 260 f., 487 Tonvorrat 186, 260 f., 369, 630 Topos 37–40, 43, 49, 62, 137, 140, 145, 204, 469, 482, 616 f. Totalitarismus 60 Townhouse Gallery (Kairo) 183 Traditionsbruch 169, 173, 242–244, 382 Traktat 38, 385, 438, 530 Trance 374 Transfer 307 Transdisziplinarität 228, 270, 339, 411, 447 (s. a. Interdisziplinarität) Transkription 177, 222, 474, 537 transnational 135–152, 157, 183, 202, 396, 470 (s. a. Interkulturalität) Transzendentalismus 105, 130, 614 Traum 227, 337, 459 Trautonium 79 Tremolo 299 f., 584 Triller 295, 297 Tristanakkord 523 Tritonus 370, 628 Trompete 100, 174, 182, 185, 210, 246, 272, 297–299, 327, 370 f., 624 Trondheim Sinfonietta 473 Tschechien 496 f. (s. a. Osteuropa) Tuba 45, 50, 125, 297–299, 425, 452, 490 Tubax (Kontrabass-/Subkontrabasssaxophon) 296 Türkei X, 496, 529, 594–596 Sachregister Turntablism 82, 209 f., 509 Twentieth-Century Music (Zeitschrift) 424 Tzlil Meudcan [Aktueller Klang] 320 U Ukraine 20, 491, 492 f., 496, 500 (s. a. Osteuropa) Ultima (Festival) 473 Ultraschall (Festival) 623 U-Musik 271, 370, 489 Unbestimmtheit 21, 31, 41, 312, 324, 348, 374, 612, 624, 626 Ungarn 120, 359, 376, 497 f., 500 (s. a. Osteuropa) Universal Edition 285, 424, 621 f. Universalismus 19, 122 Universität Haifa 320 University of Hong Kong 207 f. University of Michigan 203 Unmittelbarkeit 39, 47, 98, 244 Urheberrecht/Urheberschutz 281, 287, 307, 356, 427, 508 Urheberschaft 277, 340, 544 f. USA 17–33, 464–468, 624 f. (s. a. Nordamerika) Usinesonore (Festival) 356 Utilitarismus 138, 200 Utopie 19, 65, 93, 177, 293, 358, 486 Uusinta Ensemble 473 V Variable Form 235, 624 (s. a. Form, offene Form) Variante 106, 136, 162, 212, 219, 312, 314, 349, 414, 462, 499, 506 Variation 9, 14, 27 f., 160, 167, 175, 188, 209 f., 235–237, 249, 260, 312, 345, 348, 369 f., 504, 528, 583, 625–627, 629 varietas 127 Velvet Underground, The 374, 509 Verbum 564 Verein für musikalische Privataufführungen 284, 348, 597, 621 Vereinigte Staaten Ä USA Verflechtungsgeschichte 137 (s. a. histoire croisée) Vermittlung 137, 169, 246, 284, 308, 349, 405, 473, 543, 597–599, 621 Verschriftlichung 41, 219, 251, 277, 563, 569, 587 Verwestlichung 135, 252, 351 Video Ä Film/Video Video-Oper 128, 231, 415 Vierstimmigkeit 537, 579 (s. a. Harmonik/Polyphonie) Viertelton 104–109, 112, 189, 263, 297, 300, 302, 482, 496, 528 Viertelton-Akkordeon 300 Vierteltonklavier 105, 302 Vietnam 586, 588 (s. a. Südostasien) Vietnam-Krieg 458, 581 Viola d’amore 113, 212, 300 Viola/Bratsche 105 f., 109, 292–295, 536, 601 Violine/Geige 44 f., 147, 150, 265, 277, 292–295, 504, 536 f., 581, 585, 617 Violoncello/Cello 105, 108, 145, 147–149, 203 f., 292–295, 250, 308, 312, 463, 478 f., 482, 486 f., 536, 612, 624, 629 Virtuose/Virtuosität 31, 110 f., 270, 289, 291, 293 f., 296–302, 304, 341, 471, 486, 539, 545 Vishnu 128, 280 Visuelle Medien 230, 306, 411, 505 Vokalensemble Zürich 577 Vokalmusik Ä Stimme/Vokalmusik Vokalpolyphonie 120, 122, 266, 341, 438 Völkerbund 285 Volkslied 150, 158, 160, 201, 205, 369 f., 589 Volksmusik 23, 106, 157, 252, 280, 465, 470 f., 493 f., 496, 529, 588 W Wahrheit 17, 195, 238, 391, 460, 516, 603 Wahrnehmung XI, XV, 10, 12, 21, 26 f., 37, 39 f., 64, 110, 113, 137, 168, 170, 172, 174, 176, 187, 222, 238, 248, 257, 308, 312, 314, 337, 342, 344, 346, 349, 352, 363, 365, 386, 388, 390 f., 420, 426, 437, 440, 442, 463, 484, 503, 512, 525, 528, 555, 557 f., 594, 600–609, 610, 618 (s. a. Apperzeption , Kognition, Musikpsychologie, Perzeption) 686 Sachregister Warschauer Herbst 286, 405 f., 488, 491, 493, 496, 498, 500, 623 Weißes Rauschen 37, 250 Weltanschauung 80, 380 Weltbezug XIVf., 54–76, 120–123, 129, 392, 399, 443, 449, 453, 516 Weltliteratur 456 Weltmusik 141, 145, 253, 595 Werbepsychologie 406 Werk 3, 6 f., 10 f., 29, 31, 93, 138, 170, 172, 234 f., 238, 336, 346, 392 f., 618 Werkbegriff XIII, 14, 18, 29, 32, 170, 178, 195, 198, 234, 277 f., 310, 384, 387, 392 f., 544, 546, 624 Werturteil 521 Westeuropa X, 60, 128, 470, 488–491, 493, 624–626 Westliche Musik 141, 350 Wiederholung 14, 31, 196, 210, 227, 233, 236, 251, 327, 338, 345, 364, 406, 518 f., 529, 539, 563, 584, 603, 605, 625, 630 Wien Ä Zentren neuer Musik Wiener Singverein 577 Wirklichkeit 3, 54 f., 61 f., 70, 166, 270, 403, 464 Wirtschaft 356, 513 Wissenschaft XI–XIV, 11, 13, 24, 38, 50, 104, 112, 166 f., 170, 173–175, 197, 208 f., 224, 245, 270, 279–281, 286, 307 f., 317 f., 335, 344, 349, 365, 378, 380, 418, 422, 428, 442 f., 511 f., 518, 549, 556, 585, 598, 600, 603, 621 Wittener Tage für neue Kammermusik 70, 100, 340, 506, 623 Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen, die Musik betreffend (Zeitschrift) XI World Music 138, 162, 467 World Music Days 285 Wu ren yueji (Five Man Musicgroup) 205 Wuhan Konservatorium 203 Wundergrund Kopenhagen (Festival) 473 X Xi’an Konservatorium 203 Xiandai yuefu (Modern Music Bureau) 205 Xiangrikui yuehui (Sunflower Group) 205 Xin yue chu zou (Music Premiere) 205 xinchao (Neue Welle) 147, 149 f., 203 Y Yale Percussion Group 304 Yarava Music Group 319 Yoruba 158, 160 Z Zeit XV, 9, 10, 27, 31, 35, 45–48, 103, 127–130, 144, 167, 174, 235, 237 f., 267, 345, 376, 383, 390 f., 393, 419, 445 f., 451, 523, 526 f., 530, 557, 600, 602–604, 610–620 Zeitkunst 9, 88, 393, 445 Zeitorganisation 176, 527–531, 612 f., 617 Zeitschrift für Musik & Performance ACT 308 Zeitschrift Music & Politics 308 Zen-Buddhismus 128, 130, 237, 452 Zensur 355, 493, 496 Zentralkonservatorium Beijing 203 Zentren neuer Musik 135, 284, 349, 355, 424, 436, 620–624 Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe 287, 623 zheng (chin. Wölbbrettzither) 204, 208 Zhi yue xiao ji (Composers’ Forum) 205 Zitat 54, 56, 121, 125, 161, 163, 182, 190, 206, 210 f., 239, 264, 328, 370, 413, 447, 457, 489, 494, 496, 520, 532, 534, 581, 584, 588, 614 (s. a. Allusion, Intertextualität) Zufall 5, 10 f., 27, 172, 220, 223, 234, 240, 248, 258, 276, 287, 302, 312, 324, 326, 343, 351, 359, 374, 405, 466, 476, 488, 504, 544, 554, 624–627 (s. a. Aleatorik, stochastische Musik) Zufallspoetik 240, 624 Zweite Moderne 521 Zwölftonaggregat 628 Zwölftonmusik 147, 358, 370, 489, 497–499, 524, 627 Zwölftonreihe 4, 14, 147, 188, 263, 266, 550, 628–632 Zwölftontechnik 3 f., 30, 107, 160, 188, 191, 195, 201, 262 f., 287, 322, 326, 343, 350, 358, 362, 368, 386, 427, 461 f., 466, 488, 544, 547, 566, 583, 614, 627–633 (s. a. Dodekaphonie, Reihenkomposition)