Stefan Müller-Mielitz Thomas Lux Hrsg. E-HealthÖkonomie E-Health-Ökonomie Stefan Müller-Mielitz · Thomas Lux (Hrsg.) E-Health-Ökonomie Herausgeber Stefan Müller-Mielitz IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH Ibbenbüren, Deutschland Thomas Lux Hochschule Niederrhein Krefeld, Deutschland ISBN 978-3-658-10787-1 ISBN 978-3-658-10788-8  (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-10788-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Planung: Stefanie Brich Lektorat: Susanne Martus Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Gabler ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort E-Health-Ökonomie zeigt das Spannungsverhältnis der vielfältigen Akteure im Gesundheitswesen und deren individuelle Interessen, gerade wenn der Einsatz von Informationsund Kommunikationstechnologien und dessen ökonomische Betrachtung im Mittelpunkt stehen. Mit dem vorliegenden Buch liefern wir einen umfassenden Überblick über das Thema und zeigen den aktuellen Stand der Diskussion auf. Gesundheitsökonomie, Gesundheitswirtschaft, Gesundheitsversorgung sowie ambulante, stationäre, Sektoren übergreifende und Versorgung am Gesundheitsstandort der privaten Haushalte; E-Health ist heute und besonders auch in Zukunft, einhergehend mit weiteren technologischen Innovationen, von großer Bedeutung. Mit dem neuen E-Health Gesetz findet das Buch den Bezug zur aktuellen politischen Auseinandersetzung und will mit seinen ökonomischen Artikeln einen Beitrag für die Diskussion um Nutzen und Mehrwerte von Informationstechnologie in der Gesundheitswirtschaft leisten. In dem Buch E-Health-Ökonomie finden sich zu den genannten Themen Beiträge zahlreicher Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis und deren jeweiligen Stand der Forschung oder Berichte aus konkreten Projekten. Maßgeblich wurde das Thema „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ durch den gleichnamigen Ausschuss bei der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) e. V. in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht und vorangetrieben. In vielen Workshops und Ausschusssitzungen zur „E-Health-Ökonomie“ wurden unterschiedliche Aspekte diskutiert und es zeigte sich, wie vielfältig und umfassend das Thema ist. Daraus entstand letztendlich die Idee zu diesem Buch. Wie häufig im Leben, entwickelt sich vieles zufällig. Als wir zufällig im Mai 2010 im Schloss Schönbrunn (Wien) gegen Ende der E-Health Tagung die Zeit bis zur Abreise im Café überbrückten, erwuchs aus den bislang getrennten Ideen, einen Ausschuss „E-Health“ und einen Ausschuss „Gesundheitswirtschaft“ in der dggö zu etablieren die Idee, diese beiden Themen und damit auch die E-Health-Ökonomie zusammen zu führen. Die bislang durchgeführten Evaluationen befassten sich mit den fraglos wichtigen und relevanten Aspekten Wirksamkeit, Risiko und Qualität von E-Health-Anwendungen. Ökonomische, die Effizienz betreffende Effekte wurden aber allenfalls nur erwähnt und es bleibt nach wie vor offen, welches methodische Vorgehen angewendet werden soll, um prozessuale und die Effizienz betreffende Effekte zu evaluieren. V VI Vorwort Das ist – mit Ausnahmen wie das Buch zeigt – auch bis heute so geblieben. Insofern wollen wir mit diesem Buch die Interdisziplinarität und den fachlichen Austausch fördern und Verständnis für die jeweils andere Sicht vermitteln. Effektivität aus Sicht des Gesundheitsökonomen, Qualität aus Sicht des Mediziners und Versorgungsforschers, Risiko von Informationstechnologie aus Sicht des IT-Spezialisten und Datenschützers, die Wirtschaftlichkeit aus Sicht der Ökonomen, um nur einige Diskussionsrichtungen anzuführen. Medizin und Pflege werden zunehmend technisch versierter, ihre Arbeit erfordert ökonomisches Handeln. Die (IT-)Techniker müssen sich auch mit ökonomischen Fragestellungen und mit klareren Anforderungen aus dem medizinisch-pflegerischen Umfeld beschäftigen und diese Anforderungen professionell umsetzen. Die klassischen (Gesundheits-)Ökonomen müssen ihr Wissen um die Konzepte, Methoden und Anwendungen von E-Health erweitern und die medizinisch-pflegerischen Nutzen von E-Health erkennen, um dann die vermuteten Produktivitätssteigerungen zu analysieren und in lesbaren Reports für Experten, Öffentlichkeit und Politik zusammenzustellen. Dabei sehen wir eine Dichotomie der gesundheitsökonomischen Sicht (Effektivität) und der reinen ökonomischen Sicht (Effizienz) auf den „Untersuchungsgegenstand“ E-Health. Ziel des Buches ist es, ein einheitliches ökonomisches Verständnis von E-Health zu erwirken. Mit der Expertise der beteiligten Autoren, ihren wissenschaftlichen und praxisorientierten Beiträgen, schaffen wir den wichtigen Mehrwert für die Leserinnen und Leser: eine interdisziplinäre Sicht auf die E-Health-Ökonomie. Dieses erste Buch zur E-Health-Ökonomie schafft damit einen umfassenden Überblick, jedoch stehen noch viele Aufgaben an, wie die Standardisierung und Harmonisierung der Methodik zur ökonomischen Analyse. Hierzu wird die Arbeit im Ausschuss „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ der dggö weiter geführt. Der fachliche Diskurs, den wir nunmehr seit 2011 intensiv in der dggö pflegen, bietet bereits eine gute Basis für die weitere Arbeit. Die Workshops nehmen an Teilnehmern zu, werden fachlich konkreter und wir können zukünftig weitere Ergebnisse präsentieren. Auch Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sind herzlich zur Mitarbeit eingeladen, damit wir die Entwicklung zur Methodik der ökonomischen Analyse von E-Health gemeinsam fortführen können. Grundlegende Ansätze zur Methodik und dem Rahmen der E-Health-Ökonomie finden sich in diesem Buch. Wir freuen uns, dass wir über das in den Jahren gewachsene soziale Netzwerk von Fachleuten das Thema sehr breit und auch in der Tiefe beleuchten können. Daher gilt unser Dank allen Autorinnen und Autoren, welche zum Gelingen beigetragen haben. Unser ganz besonderer Dank gilt den Patinnen und Paten der verschiedenen thematischen Kapitel, Herrn Lars Treinat, Prof. Dr. Uwe Fachinger, Herrn Dr. Carl Dujat und Frau Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu. Ibbenbüren, Deutschland Krefeld, Deutschland im März 2016 Stefan Müller-Mielitz Thomas Lux Inhaltsverzeichnis Teil I  Grundlagen E-Health-Ökonomie E-Health – Begriff und Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Thomas Lux Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft am Beispiel von E-Health. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Klaus-Dirk Henke E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Stefan Müller-Mielitz Der Nutzen von E-Health: Eine medizinische, juristische und ökonomische Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Stefan Müller-Mielitz und Andreas J.W. Goldschmidt Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Maximilian C. von Eiff und Wilfried von Eiff Teil II  Projekte, Evaluationen, Positionen zur E-Health-Ökonomie Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Hannes Schlieter, Martin Benedict und Martin Burwitz Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz, Implementation und Verbreitung von Telecare und Telehealth – Ergebnisse einer internationalen Literaturstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sebastian Merkel E-Health-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stefan Müller-Mielitz und Thomas Lux VII VIII Inhaltsverzeichnis Teil III  E-Health in der Gesundheitswirtschaft Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive von Public Health. . . . . . . 141 Florian Fischer E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kurt Becker Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Stefan Müller-Mielitz Erschließung von Patientendaten – ein Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stefan Müller-Mielitz, Beatrice Moreno und Mathias Petri Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?. . . . . . . . . . . 207 Josef Schepers und Sebastian Semler Teil IV  Projekte, Evaluationen, Positionen zu E-Health in der Gesundheitswirtschaft SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer Referenzterminologie für Deutschland aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Heike Dewenter und Sylvia Thun Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität von eSource in der klinischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Stefan Müller-Mielitz Teil V  E-Health im System der Gesundheitsversorgung E-Health als Brücke zwischen den Leistungserbringern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Lars Treinat Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Gerald Spyra Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern. . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Stefanie Scholz und Nils Roth Apps im Gesundheitswesen – echter medizinischer Nutzen oder der Weg zum gläsernen Patienten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Veronika Strotbaum und Beatrix Reiß Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data?. . . . . . . . . . . . . . . 383 Josef Schepers und Sebastian Semler Inhaltsverzeichnis IX Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in  E-Health-Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Myriam Lipprandt und Rainer Röhrig Teil VI  Projekte, Evaluationen, Positionen zu E-Health im System der Gesundheitsversorgung Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Philipp Wöstmann und Marcus Kremers Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender, telemedizinisch gestützter Versorgungskonzepte für herzinsuffiziente Patienten – ein modulares Referenzmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Uta Augustin, Bettina Zippel-Schultz, Cornelia Henschke, Silke Steinbach und Thomas M. Helms Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft mithilfe der Telemedizin bewältigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Veronika Strotbaum Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt Intelligente Lösungen für den AAL-Tag!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Stefanie Mielitz Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag. . . . . . . . . . . . . 501 Kurt Becker und Yvonne Stammer AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung. . . . . . . . . . . . 517 Anke Häber und Thomas Nitzsche E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung für E-Health-Dienstleistungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Johannes Kriegel Gestaltung eines Studiengangkonzepts für einen Technologiemanagementstudiengang mit Schwerpunkt Alltagsunterstützende Assistenzsysteme (AAL). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Elmar Erkens und Stefanie Mielitz Teil VIII  Projekte, Evaluationen, Positionen zum Gesundheitsstandort privater Haushalt Das AAL-Netzwerk Saar – Ein ganzheitlicher Ansatz für nachhaltige Veränderungen im demografischen Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Wolfgang Langguth, Michael Uhl und Hans B. Kraß X Inhaltsverzeichnis Smart Home – eine Positionsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Alexander Schaper Teil IX  Ambulante und stationäre Versorgung Internationale technische Standards. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Michael Onken Nationale ambulante Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Karl-Josef Bohrer Syntaktische und semantische Interoperabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Sylvia Thun und Heike Dewenter Bildkommunikation in der Medizin: Vom PACS zum flächendeckenden E-Health-System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Uwe Engelmann und Florian Schwind Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements für Krankenhäuser im Bereich der Medizintechnik und der IT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Armin Gärtner E-Mental-Health – am Beispiel von internetbasierten Gesundheitsinterventionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Stephanie Nobis, Dirk Lehr und David Daniel Ebert Teil X  Projekte, Evaluationen, Positionen in der ambulanten und stationaren Versorgung Praxisbeispiel: OP-Logistik on Demand – Bestellung, Lieferung und Rechnungsstellung pro Eingriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Markus Stein Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären Versorgung am Beispiel der klinischen Radiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Bernd May DMS, ECM und IHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Oliver Gäng und Stefan Müller-Mielitz Teil XI  Grundlagen der Evaluation von E-Health Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Juliane Köberlein-Neu Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung. . . . . . . . . 801 Andrea Icks und Juliane Köberlein-Neu Inhaltsverzeichnis XI Evaluationsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Juliane Köberlein-Neu Solimed Pflegemanagement – EDV-gestütztes Pflegemanagement in der integrierten Versorgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Mark Kuypers und Juliane Köberlein-Neu Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten (PEPA) als zentrale Infrastrukturkomponente einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 Oliver Heinze und Björn Bergh INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation einer IT-gestützten, praxisnetzbasierten komplexen Intervention für multimorbide DMP-Diabetes mellitus Typ 2 Patienten/innen . . . . . . . . . . . . . . . 859 Christian Jacke, Martina Kamradt, Dominik Ose, Johannes Krisam, Joachim Szecsenyi und Hans-Joachim Salize Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Juliane Köberlein-Neu und Stefan Müller-Mielitz Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Teil I Grundlagen E-Health-Ökonomie Thomas Lux Technische Innovationen dominieren in vielen Bereichen unseres Lebens unser Handeln und Entscheiden, so auch im Gesundheitswesen. Die räumliche entfernte Analyse von Röntgenaufnahmen, die Speicherung der eigenen Gesundheitsdaten in einem Patientenfach, die Nutzung einer mobilen Anwendung zur Tinnitus-Behandlung, die elektronische Übermittlung von Arztbriefen – dies sind nur einige wenige ausgewählte Beispiele dafür, wie IT bestehende Behandlungsabläufe verändert und auch völlig neue Szenarien ermöglicht. Diese Innovationen bedingen nicht nur neue Behandlungsabläufe für den Leistungserbringer, sie erfordern auch geeignete Methoden und Modelle in der Gesundheitsökonomie. Bestehende Konzepte, wie beispielsweise die ökonomische Bewertung pharmazeutischer Produkte oder die Bewertung medizintechnischer Technik und Prozeduren, sind standardisiert und weitgehender Konsens. Wie aber lässt sich die „grenzenlos vernetzte“ IT abgrenzen, wie der Nutzen einer persönlichen GesundheitsApp auf dem Smartphone bewerten? Was ist überhaupt das Neue an E-Health? Diese und weiterführende Fragestellungen sind Gegenstand dieses Kapitels Grundlagen „E-Health-Ökonomie“. Im Beitrag E-Health Begriff und Abgrenzung (vgl. Lux) wird zunächst der Begriff E-Health eingeführt und diskutiert. Es zeigt sich, dass E-Health nicht eine Anwendung oder Technologie ist, sondern vielmehr ein umfassendes Gestaltungskonzept, welches die Vernetzung, Integration und Interoperabilität der Akteure und deren IT-Systeme zum Ziel hat. Bei der Betrachtung des gesellschaftlichen Nutzens der Gesundheitswirtschaft am Beispiel von E-Health rückt Henke die quantitative Bestimmung der E-HealthLeistungen im Rahmen der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung (GGR) in den Mittelpunkt – dessen sogenannte economic footprint. Auch geht er der Frage nach, was E-Health-Leistungen im Sinne einer Gesundheitsdividende bewirken. 2 Teil I  Grundlagen E-Health-Ökonomie Der Nutzen von E-Health: Eine medizinische, juristische und ökonomische Reflexion ist Gegenstand des Beitrages von Müller-Mielitz und Goldschmidt. Sie konfrontieren den gesundheitsökonomischen Nutzenbegriff und die Ansätze zur Analyse mit E-Health. Dabei nehmen sie u. a. medizinische, juristische und ökonomische Perspektiven ein, um den Nutzen aus diesem Blickwinkel zu betrachten. M. C. und W. von Eiff fokussieren die Perspektiven der IT im Gesundheitswesen und stellen auf die Potenziale von IT zur Verbesserung der Effizienz ab. Dabei sind Konsolidierung und Integration von IT eine wesentliche Herausforderung zu Effizienzverbesserung, was anhand unterschiedlicher IT-basierter Entwicklungstrends im Krankenhaus aufgezeigt wird. Beispiele sind Digital Health, Big Data oder 3-D-Drucktechnik, die es zu managen gilt. Ebenso ist IT-Management in der Versorgungslogistik von Medikalprodukten erforderlich. In seinem Beitrag Die Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten konstatiert Schlieter die Problematik bei E-Health-Pilotprojekten, aus der Erprobungsphase in die Regelversorgung zu gelangen, also letztendlich die Nachhaltigkeit eines E-HealthProjektes über dessen Projektende hinaus. Als wichtige Voraussetzung dafür werden die Erweiterbarkeit und Offenheit einer E-Health-Plattform herausgearbeitet und in einen Ordnungsrahmen gestellt, um diesen anhand eines Praxisbeispiels aus der Telemedizin zu evaluieren. Merkel befasst sich im Rahmen einer internationalen Literaturstudie mit Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz, Implementation und Verbreitung von Telecare und Telehealth. Ziel ist es, Gründe für das Scheitern von E-Health-Projekten wie Akzeptanzprobleme, technische oder rechtliche Barrieren, herauszuarbeiten, eine Taxonomie zu entwickeln, diese anhand von Veröffentlichungen regelmäßig zu evaluieren und die Veränderung der Barrieren zu erfassen. Abschließend geben Müller-Mielitz und Lux einen Überblick über die ökonomischen Anreize und Auswirkungen, welche das am 03. Dezember 2015 im Deutschen Bundestag beschlossene „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ (E-Health Gesetz) beinhaltet. E-Health – Begriff und Abgrenzung Thomas Lux Gerade technische Innovationen bieten völlig neue Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. Während in der Vergangenheit die Medizintechnik mit innovativen Diagnose- und Therapiegerätschaften erhebliche Beachtung fand, schafft heute der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien für alle beteiligten Akteure völlig neue Perspektiven und bietet innovative Möglichkeiten für den Umgang mit den gesundheitsrelevanten Daten und Informationen, oftmals unter dem Begriff E-Health subsumiert. Hierbei steht die Verarbeitung der patientenbezogenen Daten und Informationen im Mittelpunkt und deren Austausch zwischen den beteiligten Akteuren. Allgemein betrachtet umfasst E-Health damit den Einsatz von Informations- und Kommunikationssystemen (IuK-Systemen) im Gesundheitswesen. Eine einheitliche Definition und Abgrenzung des Begriffes existiert bislang allerdings nicht. Dies dokumentieren auch die unterschiedlichen Begriffsbeschreibungen in den nachfolgenden Beiträgen. Dieser Beitrag liefert eine Systematisierung des Begriffes E-Health und zeigt die unterschiedlichen Facetten auf, angelehnt an den Anforderungen der heutigen gesundheitlichen Versorgung. 1 Definitionen von E-Health Unter dem Begriff Telematik, geprägt durch die Studie „Informatisierung der Gesellschaft“ von Nora und Minc in den 1980er Jahren, erfolgte eine umfassende Diskussion der Vorteile der digitalen gegenüber den konventionellen Kommunikationsverfahren u. a. im T. Lux (*)  Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: Thomas.Lux@hs-niederrhein.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_1 3 4 T. Lux Gesundheitswesen. Die Studie veranschaulichte die Vorzüge der damals noch neuen digitalen Übertragungstechnik bezüglich Qualität und Stabilität durch die Nutzung einer effektiven, softwarebasierten Vermittlungstechnik. Dafür kombinierten die beiden Autoren die Disziplinen „Telekommunikation“ und „Informatik“ und schufen somit den neuen „Telematik“Begriff. Aus technischer Sicht kombinierten sie damit die Nutzung von Übertragungsnetzen zur Überwindung von räumlichen Entfernungen bei der Übertragung von digitalen Daten mit der Wissenschaft der maschinellen Informationsverarbeitung (Nora und Minc 1978). Heute fungiert die im Auf- und Ausbau befindliche Telematikinfrastruktur als Vehikel für den Einsatz von IuK-Technologien im Gesundheitswesen. Wesentliche Basis dafür ist das Internet mit seinen Diensten und Protokollen als weltweites anwendungsneutrales Netz, welches auch für Telematikanwendungen nutzbar ist und schafft damit gute Voraussetzungen für die Gestaltung intra- und extraorganisationaler akteursübergreifender Geschäftsprozesse und deren Unterstützung durch IuK-Technologie. Obwohl die Telematik zunächst anwendungs- und branchenneutral gedacht war, kam es durch die Umsetzung von neuen Anwendungen auf Basis von telematischen Infrastrukturen und Diensten zur Entwicklung spezieller fachlicher Ausrichtungen und Begriffsbildungen. Durch die Verwendung von Anglizismen und der Voranstellung des „E1“ für „electronic“, ergaben sich u. a. Begriffe wie E-Commerce und E-Business für den allgemeinen Geschäftsbetrieb, E-Administration und E-Government für die öffentliche Verwaltung und das Regierungswesen sowie E-Learning und E-Research für das Bildungswesen und die Forschung. Auch im Gesundheitswesen gab es diese Begriffsentwicklung. Im Laufe der Zeit entwickelten sich für die Nutzung von Telematiksystemen im Gesundheitswesen unterschiedliche Bezeichnungen wie Gesundheitstelematik und Telematik im Gesundheitswesen (health telematics), Telehealth, Telemedizin (telemedicine), medizinische Informatik und Medizininformatik (health informatics) sowie auch elektronische Gesundheitsdienste oder E-Health. Für Verwirrung sorgte vielfach die Tatsache, dass Begriffe synonym für das gesamte Fachgebiet verwendet wurden. Die Wissenschaft grenzt die Begrifflichkeiten jedoch voneinander ab, was in den folgenden Abschnitten verdeutlicht wird. Auch die Beiträge in dieser Veröffentlichung nutzen verschiedene begriffliche Ausrichtungen, wie Abschn. 2 ausschnittsweise dokumentiert. 1.1 Begriffsdefinitionen in dieser Veröffentlichung Diese Veröffentlichung zur „E-Health Ökonomie“ gibt einen weiten Überblick über die ökonomischen Aspekte von E-Health. Genauso vielfältig wie die unterschiedlichen 1Dabei findet sich in der Literatur das „e“ häufig kleingeschrieben und ohne Bindestrich (. eCommerce). Im Rahmen dieses Beitrages erfolgt als einheitliche Schreibweise das großgeschriebene „E“ mit Bindestrich (z. B. E-Commerce), wobei hiermit bedeutungsgleiche Begriffe adressiert werden. E-Health – Begriff und Abgrenzung 5 Themen und Projekte, welche betrachtet werden, sind auch die Sichtweisen auf den Begriff E-Health. So stellen Müller-Mielitz und Goldschmidt E-Health als eine weite Fassung von IT im Gesundheitswesen dar, der mindestens die drei Disziplinen „juristisch, medizinisch und ökonomisch“ umfasst. Henke stellt besonders auf den Aspekt der Vernetzung ab, zur Verkürzung von Kommunikationswegen und Erleichterung von Arbeitsabläufen, weist aber auch gleichfalls auf die interdisziplinäre Ausrichtung mit medizinischen, pflegewissenschaftlichen, ökonomischen u. a. Aspekten als wichtiges Charakteristikum hin. Die Verbesserung von Prozessen im Gesundheitswesen allgemein und speziell im Krankenhaus durch den Einsatz integrierter IT stellen M. und W. v. Eiff in den Fokus ihrer Analyse. Schlieter hebt besonders die Potenziale der intersektoralen medizinischen Versorgung durch den Einsatz von E-Health-Technologien hervor, so wie auch Becker den sektor- und einrichtungsübergreifenden Informationsaustausch und damit auch den akteursübergreifenden Versorgungsprozess in der ambulanten und stationären Versorgung. Spyra nähert sich dem E-Health-Begriff detailliert aus verschiedenen Perspektiven an, stellt dabei die Vernetzung und Integration als wesentliche Eigenschaften heraus. Scholz und Roth weisen wiederum allgemein auf den Einsatz von IKT im Gesundheitswesen hin und diskutieren die Vielzahl unterschiedlicher Definitions- und Beschreibungsansätze in Literatur, Politik und Wirtschaft. Röhrig und Lipprandt sehen neben der Vernetzung auch die Mobilität von IT im Gesundheitswesen als wichtige Eigenschaft an, welche die Sektoren übergreifende Gesundheitsversorgung verbessert. Kriegel verweist auf den steten Wandel und die Veränderung bzw. Transformation, die der E-Health-Begriff durchläuft, letztendlich auch aufgrund technischer Innovationen im (Health-)IT-Bereich, aber auch auf die regionalen Besonderheiten der Entwicklung. Für Thun ist die Interoperabilität mit ihren unterschiedlichen Aspekten und Ebenen grundlegende Voraussetzung für die erfolgreiche Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen. Andere Autoren rücken besondere Aspekte von E-Health in den Mittelpunkt, wie z. B. technische, organisatorische oder auch rechtliche, und nähern sich damit aus fachlicher Sicht dem jeweiligen Aspekt der „IT im Gesundheitswesen“ an. Die unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkte, welche die Autoren bei ihren Analysen von E-Health nutzen, verdeutlichen, dass eine exakte begriffliche Abgrenzung, verbunden mit einem einheitlichen Begriffsverständnis bislang nicht zu existieren scheint und es stellt sich bereits hier die Frage nach dessen Erfordernis. Im nachfolgenden Abschn. 1.2 werden einige Definitionen oder Beschreibungen bedeutender Akteure zum E-Health-Begriff erörtert. 1.2 Begriffsdefinitionen der Gesundheitsakteure Die World Health Organization (WHO) beschäftigt eine eigene Arbeitsgruppe mit dem Thema E-Health. Die WHO definiert E-Health als: 6 T. Lux eHealth is the use of information and communication technologies (ICT) for health. Examples include treating patients, conducting research, educating the health workforce, tracking diseases and monitoring public health (WHO 2015). Damit stellt die WHO allgemein auf den Einsatz von IuK-Technologie im Gesundheitswesen ab und erweitert diesen Begriff um einige Anwendungsbeispiele wie die Behandlung der Patienten, Forschung, Schulung, Versorgungsforschung. Die WHO sieht E-Health als umfassendes Konzept, welches in alle Bereiche der gesundheitlichen Versorgung hinein wirkt und Innovationspotenzial entfaltet. Die Europäische Kommission hat innerhalb des Bereiches Public Health eine Arbeitsgruppe zum Thema E-Health. Diese beschreibt die Eigenschaften von E-Health wie folgt: E-Health … … refers to tools and services using information and communication technologies (ICTs) that can improve prevention, diagnosis, treatment, monitoring and management. … can benefit the entire community by improving access to care and quality of care and by making the health sector more efficient. … includes information and data sharing between patients and health service providers, hospitals, health professionals and health information networks; electronic health records; telemedicine services; portable patient-monitoring devices, operating room scheduling software, robotized surgery and blue-sky research on the virtual physiological human (EU 2015). Die Europäische Kommission sieht E-Health sowohl als Werkzeug zur Verbesserung des Behandlungsprozesses, als auch als Möglichkeit, den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung zu verbessern und die Effizienz zu erhöhen. Auch werden innovative Potenziale angesprochen, welche E-Health ermöglicht, von Big Data bis hin zur Forschung an virtuellen physiologischen Menschen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) der Bundesrepublik Deutschland versteht unter E-Health: Unter E-Health fasst man Anwendungen zusammen, die für die Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Patienten die Möglichkeiten nutzen, die moderne Informationsund Kommunikationstechnologien (IKT) bieten. E-Health ist ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von IKT-gestützten Anwendungen, wie z. B. Anwendungen der Telemedizin, in denen Informationen elektronisch verarbeitet, über sichere Datenverbindungen ausgetauscht und Behandlungs- und Betreuungsprozesse von Patientinnen und Patienten unterstützt werden können (BMG 2015a). Obwohl diese Begriffserläuterung des BMG recht allgemein bleibt, verdeutlicht das Beispiel als wesentliches Element den Datenaustausch und damit die Vernetzung verschiedener Systeme miteinander. Deutlicher werden die Ziele und Erwartungen der Bundesregierung bei der Betrachtung des am 03. Dezember 2015 beschlossenen „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ (E-Health-Gesetz). Dabei sind die wesentlichen Ziele u. a. die Einführung der E-Health – Begriff und Abgrenzung 7 Telematikinfrastruktur als zentrale Infrastruktur für eine sichere Kommunikation im Gesundheitswesen, die Interoperabilität der Systeme und auch die Förderung telemedizinischer Leistungen. Hier setzt der Gesetzgeber nicht allein auf die intrinsische Motivation der Akteure im Gesundheitswesen, sondern schafft konkrete monetäre Anreize, beispielsweise für die elektronische Übermittlung von Arztbriefen. Das Vehikel „Telematikinfrastruktur“ wird damit zentraler Erfolgsfaktor für die Vernetzung der Akteure (BGM 2015b). Die exemplarisch dargestellten Begriffsbestimmungen verdeutlichen, dass die Ziele des IT-Einsatzes im Gesundheitswesen, welche mit E-Health verfolgt werden, durchaus unterschiedlich ausgerichtet sind. So rückt die WHO auch Schulungen in den Mittelpunkt, die Europäische Kommission innovative Forschung und das BMG den Behandlungsprozess der Patienten. Ein einheitliches wesentliches Ziel ist die Vernetzung der Anwendungen und Akteure durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen. 2 Electronic Health Mit der Verbreitung des Internets als wesentlicher Treiber wurden dessen kommerzielle Nutzungsmöglichkeiten unter den Begriffen Electronic Commerce und Electronic Business geführt. Die sogenannte New Economy stand für neue ökonomische und technische Rahmenbedingungen, welche auf neuen, digitalen Märkten gelten. Wichtige Elemente des E-Business sind die Unterstützung der Leistungserstellung sowie die horizontale und vertikale Koordination auf Märkten durch IuK-Technologien. Beim E-Commerce steht die Nutzung digitaler Dienste und Anwendungen, und besonders des Internets, zur Unterstützung wesentlicher Phasen der Transaktion zwischen Anbieter und Nachfrager im Vordergrund (Wirtz 2013; Gersch und Goeke 2004). Die New Economy entsteht daher nicht aus der simplen Digitalisierung bestehender Geschäftsmodelle und -prozesse der Old Economy, sondern etabliert sich auf der Basis neuer und innovativer Geschäftsmodelle aufgrund der Potenziale der Vernetzung der Akteure. IT fungierte somit als enabler dieser Geschäftsmodelle. Bei der Analyse der Geschäftsmodelle bilden die Akteure und ihre Beziehungen zueinander verschiedene Interaktionsmuster. Grundsätzlich ist zwischen den Akteuren Konsumenten (engl. Consumer), Unternehmungen (engl. Business) und staatlichen Institutionen (engl. Government) zu differenzieren. Entsprechend der Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren können insgesamt neun verschiedene Segmente ausgemacht werden. Die Beziehungen werden dabei z. B. mit B2C (Business to Consumer), B2B (Business to Business) usw. bezeichnet. Insgesamt lassen sich beim E-Business damit drei verschiedene Betrachtungsebenen unterscheiden. Die Akteursebene mit den Akteuren und ihren Beziehungen, die Geschäftssystemebene mit verschiedenen Geschäftssystemen (z. B. E-Commerce) und die Anwendungsebene mit unterschiedlichen Anwendungen zur Unterstützung des Geschäftssystems (z. B. E-Sales, E-Procurement) (Wirtz 2013; Lux 2007). 8 T. Lux I2I Leistungsträger P: D: I: P2P Patient Doc (Arzt) Insurance (Versicherung) D2D P2D Leistungsempfänger D2P Leistungserbringer Abb. 1  Exemplarische Betrachtung der Akteursbeziehungen im Gesundheitswesen Diese Betrachtungsweise aus dem E-Business lässt sich auch auf den Bereich E-Health übertragen. Betrachtet auf der Akteursebene zeigt sich, dass die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen und deren Beziehungsgeflecht zueinander deutlich komplexer sind. Daher sollen hier exemplarisch die Akteure Leistungsempfänger (Patient), Leistungserbringer (Arzt) und Leistungsträger (Versicherung) und deren Beziehungen betrachtet werden (vgl. Abb. 1). Insgesamt ergeben sich dabei neun verschiedene Beziehungsmöglichkeiten: Patient zu Arzt (P2D) und Arzt zu Patient (D2P), Patient zu Leistungsträger2 (P2I) und Leistungsträger zu Patient (I2P), Leistungsträger zu Arzt und Arzt zu Leistungsträger. Weiterhin existieren auch Leistungsbeziehungen innerhalb der einzelnen Akteursgruppen (P2P, D2D oder I2I). Resultierende aus den jeweiligen Beziehungen sind verschiedene Anwendungsfälle bzw. Dienste denkbar. Diese werden wiederum von Anwendungssystemen unterstützt. So betreiben Patienteninitiativen beispielsweise ein Beratungs- und Kommunikationsportal für Patienten, also ein Dienst von Patienten für Patienten (P2P) und setzen als Anwendungssystem eine Social-Software-Lösung ein. Die bestehenden Anwendungsfälle, -systeme und -dienste, welche in ein E-HealthGeschäftssystem integrierbar sind, finden sich bereits in vielfältiger Weise im Einsatz. Einige Wesentliche werden nachfolgend kurz skizziert (Fitterer et al. 2009). 2Zur Vereinfachung wurde für die Gruppe der Leistungsträger das Kürzel „I“ für Insurance (Versicherung) gewählt. E-Health – Begriff und Abgrenzung 9 2.1 Telemedizin Gegenstand der Telemedizin (Teletherapie, Telechirurgie, Telemanipulation) ist die Leistungserbringung im medizinischen Umfeld unter Verwendung von Telekommunikationssystemen, wobei die Überwindung räumlicher und/oder zeitlicher Distanz zwischen den Akteuren wesentliches Ziel ist. 2.2 Teleberatung Teleberatungsdienst (Telekonsultation, Teleconsulting, Telepsychologie, Health Coaching) umfasst die Funktionen zur medizinischen Beratung und Befundaufnahme unter Anwendung telemedizinischer Untersuchungsmethoden. Auch hier kommt es durch die Nutzung von Telekommunikationssystemen zur Überwindung räumlicher und/ oder zeitlicher Distanzen. Möglich ist die Teleberatung sowohl zwischen den Akteuren Leistungserbringer und Leistungsempfänger als auch zwischen Leistungserbringer und Leistungserbringer (D2D). Hierunter fällt das Teleconsulting mit einer fallbezogenen Beratung unter Fachkollegen mit dem Ziel, eine zweite Meinung zur medizinischen Behandlung mit einzubeziehen. Voraussetzung des Teleconsultings zwischen zwei Leistungserbringern ist die vorherige Ermittlung von individuenspezifischen Untersuchungsbefunden oder Bilddaten, die dann simultan oder zeitversetzt unter Einbeziehung von Telekommunikationssystemen besprochen werden können. Dementsprechend lässt sich hier bereits eine Schnittstelle zum Telediagnostikdienst erkennen. 2.3 Telediagnostik Der Telediagnostikdienst (Telediagnose, Telediagnostics, Telepathologie) enthält alle wesentlichen Funktionen, um über die Bereitstellung von medizinischen Daten (und auch Bilddaten) eine Diagnose zu stellen. Dazu werden die Daten den voneinander entfernten Akteuren, mithilfe geeigneter Systeme (z. B. Groupware-Systeme) zur Verfügung gestellt. Mit Nutzung dieser Groupware-Systeme ist es den Akteuren möglich, die medizinischen Bilddaten und Dokumente simultan zu präsentieren, zu besprechen und zu bearbeiten. Ziel ist es, im Rahmen des Teleconsultings mithilfe der Telediagnostik zu einer eindeutigen Diagnose zu gelangen. 2.4 Telelabor Der elektronische Dienst des Telelabors (Tele-Lab, Telelaboratory, E-Labor, papierloses Labor) beinhaltet alle Funktionen, die es ermöglichen, unter Überwindung einer räumlichen und/oder zeitlichen Distanz Laborproben auszuwerten oder zurückzuverfolgen. 10 T. Lux Durch den Anschluss von Laboranalysegeräten an ein entsprechendes Informationssystem sollen die Analysedaten unmittelbar nach ihrer Bestimmung verfügbar gemacht werden, sodass die Akteure schnellen Zugriff auf die entsprechenden Daten bekommen und diese beispielsweise im Rahmen der Telediagnostik oder der Teleberatung nutzen können. 2.5 Telemonitoring Beim elektronischen Dienst Telemonitoring (Telehomecare, Telecare, auch oftmals Teil von Disease-Management- und Case-Management-Lösungen) geht es um die Bereitstellung der Funktionen für die Erfassung und Übermittlung von krankheitsrelevanten Daten unter Berücksichtigung einer zeitlichen und/oder räumlichen Distanz. Mit diesem Dienst ist es dem Leistungserbringer beispielsweise möglich, krankheitskritische Vitaldaten zeitnah oder gegebenenfalls simultan zu ihrem Auftreten zu erhalten und auszuwerten. Voraussetzung ist die vorherige Festlegung eines Fallmanagements, welches in Abhängigkeit der Krankheit des Leistungsempfängers festlegt, welche Daten, relevante Ereignisse und Beobachtungen erfasst werden. 2.6 Elektronische Medikation Im Rahmen des elektronischen Medikationsdienstes (E-Rezept, Arzneimitteldokumentation, E-Prescription) sollen alle Funktionen bereitgestellt werden, die sich mit der Verordnung von Arznei- und Heilmitteln in maschinenlesbarer Form befassen. Mit Nutzung dieses Dienstes sollen Medienbrüche bei der Verschreibung von Medikamenten verhindert werden, indem vom Leistungserbringer ein Rezept elektronisch auf einer Chipkarte des Leistungsempfängers gespeichert wird. Mit seiner Chipkarte könnte der Leistungsempfänger anschließend eine Apotheke aufsuchen und seine Karte vorlegen oder von zu Hause aus das Rezept elektronisch an die Apotheke übertragen, um es einzulösen. Die geplante Einführung des elektronischen Rezepts als Funktion der elektronischen Gesundheitskarte wurde jedoch vom BMG vorerst auf unbestimmte Zeit verschoben, da noch keine sichere und praxistaugliche Lösung vorliegt. 2.7 Medizinische Dokumentation Der Dienst der medizinischen Dokumentation (elektronische Patientenakte, elektronische Fallakte, Patientendossier, Befunddaten, Anamnese, electronic medical record, electronic health record) beinhaltet Funktionen, welche sich mit der Verwaltung und der Sammlung aller Daten und Dokumente des Leistungsempfängers befassen, die im Laufe seiner medizinischen Versorgung entstehen. Sämtliche Daten werden in einer E-Health – Begriff und Abgrenzung 11 elektronischen Patientenakte in maschinenlesbarer Form erfasst, sodass sie jederzeit von den Leistungserbringern abgerufen werden können. 2.8 Gesundheitsportale Einen weiteren E-Health-Dienst bieten die sogenannten Gesundheitsportale (Medizinportale, medizinische Onlinedienste, Informationsportale). Diese Internetportale stellen laienverständliche Informationen zu den Themen Gesundheit und Medizin für Bürger und Patienten bereit. Sowohl Informationen zu Krankheiten als auch zu Behandlungsmethoden können eingesehen werden. Zusätzlich bieten viele dieser Portale eine Arzt- oder Krankenhaussuche an, mit deren Hilfe sich der Leistungsempfänger über das Angebot an medizinischen Leistungen in seiner Umgebung informieren kann. 2.9 Persönliches Gesundheitsmanagement Das persönliche Gesundheitsmanagement (elektronische Gesundheitsakte, Gesundheitstagebuch, Patientenfach, Notfalldaten) als E-Health-Dienst aus Sicht des Leistungsempfängers beinhaltet alle Funktionen zur IT-gestützten Sammlung und Verwaltung der persönlichen Gesundheitsinformationen. Es werden Funktionen bereitgestellt, die es sowohl ermöglichen, selbst erhobene Daten wie Blutdruck- oder Blutzuckermesswerte digital in einem sogenannten Patientenfach abzulegen als auch medizinische Notfalldaten digital zu hinterlegen. Ursprünglich war es Ziel des BMG mit Einführung der Gesundheitskarte die zuvor genannten Funktionen bereitzustellen. Aufgrund von Sicherheitsbedenken, ähnlich dem E-Rezept, hat sich das BMG dazu entschlossen, vorerst auf das Patientenfach zu verzichten, dafür allerdings den Notfalldatensatz, der beispielsweise Medikamentenunverträglichkeiten und Allergien sowie chronische Erkrankungen enthält, direkt mit Einführung der Karte bereitzustellen. Im E-Health-Gesetz wird diese Funktionalität wieder aufgegriffen (BMG 2015b). 2.10 Social Health Networks Einen weiteren E-Health-Dienst bilden Social Health Networks (Social Networks, Online-Kontaktnetzwerke, Gemeinschaftsportal, Medizinforen, Austauschplattform, Web 2.0). Diesem Dienst liegt der Prozess des Erfahrungsaustausches zugrunde, sodass hier Funktionen bereitgestellt werden, die beispielsweise den Austausch von Erfahrungen bezüglich Krankheits- und Behandlungsverläufen über das Internet ermöglichen. Auch wenn es hier Ähnlichkeiten zu den Funktionen der Gesundheitsportale gibt, geht das Funktionsspektrum über die bloße Bereitstellung von Gesundheitsinformationen hinaus. Der Leistungsempfänger nimmt hier aktiv am Geschehen teil, indem er in 12 T. Lux themenspezifischen Diskussionsforen oder Chaträumen mit anderen Leistungsempfängern kommuniziert, mit ihnen anonym Gesundheitsdaten austauscht oder sogar direkt mit Leistungserbringern kommuniziert. 2.11 Fachlicher Verzeichnisdienst Der Service der fachlichen Verzeichnisdienste (Register, Arzneimittelliste, Arzneimittelregister, Ärzteliste) umfasst alle Funktionen, um die im Gesundheitswesen zugelassenen Materialien (z. B. technische und medizinische Geräte, Arzneimittel), Individuen (z. B. Ärzte, Apotheker) oder Institutionen (z. B. Krankenhäuser, Krankenkassen) zentral zu sammeln und die entsprechenden Sammlungen allen Akteuren des Gesundheitssystems bereitzustellen. Das BMG bietet beispielsweise über ein Gesundheitsportal die Möglichkeit, Informationen zu allen zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland abzurufen und auch die Bundesärztekammer ermöglicht auf ihrer Internetseite die Suche nach approbierten Ärzten. 2.12 E-Learning E-Learning (Teleteaching, Teleeducation, Onlinelernen, Computer Based Training, Distance Learning) beinhaltet alle wichtigen Funktionen, um medizinisches Basis- und Expertenwissen bereitzustellen. Dabei stehen die Nutzung des Internets und die damit verbundene Anwendung von elektronischen und digitalen Medien während des Lernprozesses im Vordergrund. 2.13 Elektronische Fakturierung (EBPP, electronic bill presentment and payment) Zum elektronischen Dienst der Fakturierung (E-Rechnungsstellung, elektronische Abrechnung und Bezahlung) zählen alle Funktionen, die den Administrations- und Managementprozess bei der Verrechnung und Bezahlung von bezogenen Leistungen im Gesundheitssystem unterstützen. Diese Funktionen stellen dem Unterstützer alle medizinisch-administrativen Daten eines Leistungsempfängers in maschinenlesbarer Form zur Verfügung, sodass eine elektronische Abrechnung mit den Kostenträgern erfolgen kann. 2.14 E-Überweisung Bei der elektronischen Überweisung von Patienten (E-Arztbrief, E-Entlassungsdokumentation) stehen umfassende Funktionen zur digitalen oder maschinenlesbaren E-Health – Begriff und Abgrenzung 13 Übermittlung der medizinisch-administrativen Daten bereit mit dem Ziel, die Überweisung bzw. Zuweisung eines Patienten zwischen den Leistungserbringern elektronisch abwickeln zu können. Insbesondere die flächendeckende Einführung des E-Arztbriefes ist eines der wesentlichen Ziele des E-Health-Gesetzes (BMG 2015b). 2.15 Ressourcen- und Terminplanung Zum elektronischen Dienst der Ressourcenplanung (elektronische Auftragskommunikation, Behandlungsplanung, Operationsplanung, Personalplanung, Terminplanung, Online-Terminvereinbarung) gehören alle wichtigen Funktionen, die die Bereitstellung von relevanten Informationen zur medizinischen Leistungserbringung bereitstellen. Diese Funktionen liefern beispielsweise Informationen zur Aufnahme, Verlegung und Entlassung von Leistungsempfängern, der Bettenbelegung auf einer Station oder der Planung für den Materialaufwand einer Operation (Blutkonserven, Verbandsmaterial usw.). Die dargestellten Anwendungsfälle geben einen guten Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten, Prozesse und Akteursbeziehungen im Gesundheitswesen durch elektronische Dienste zu unterstützen bzw. diese Dienste überhaupt erst zu ermöglichen und damit völlig neue Leistungsbeziehungen mit den Akteuren aufzubauen. Entsprechend ist stets die Analyse des Gesamtsystems erforderlich: der jeweilige Akteur mit seinen individuellen Anforderungen, der jeweilige Anwendungsfall oder elektronische Dienst (Service) und die geeignete Technologie zur Unterstützung. 3 Prozessintegration durch Integrierte Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen Unter Integration ist die Herstellung einer Einheit oder die Eingliederung in ein Ganzes zu verstehen. Integration stellt gerade bei der Betrachtung von IuK-Systemen in Unternehmen, welche mit zunehmender Unternehmensgröße auch zunehmend komplexer werden, eine große Herausforderung dar. Darüber hinaus erfordert die Integration der IuK-Systeme zunächst die Integration der Prozesse, der fachlichen Abläufe. Damit ist die Verbesserung der Vernetzung der Akteure nicht nur eine IT-orientierte Fragestellung, sondern beginnt mit der Prozessintegration. 3.1 Der Anwendungsbereich sozio-technisches System Gerade im Gesundheitsbereich finden sich Beispiele für (software-)technisch getriebene Projekte und Entwicklungen, welche ein hohes Innovationspotenzial haben, jedoch an den Wünschen und Anforderungen der Nutzer vorbei entwickelt wurden. Um dieses zu vermeiden, ist es erforderlich, bei den verschiedenen Dimensionen der Gestaltung eines 14 T. Lux E-Health(-System) Technik Menschen Aufgaben • Hardware • Software • Anwenderbezogen • • • • Beispiele: • (Medizin-) Controlling • Diagnostik • Therapie • Abrechnung Arzt Pfleger Patient Verwaltung Abb. 2  Sozio-technisches System IuK-Systems oder einer E-Health-Lösung, den Anwendungsbereich als soziotechnisches System zu betrachten und die Nutzer und ihre besonderen Wünsche und Anforderungen mit in den Gestaltungs- und Entwicklungsprozess einzubeziehen. Zielsetzung ist es, den Menschen bei der Erfüllung seiner Aufgaben durch Technik zu unterstützen (s. Abb. 2). Bei der Gestaltung des Systems sollte der Mensch im Mittelpunkt stehen. Im Gesundheitswesen sind dies somit Ärzte, Patienten, Pflegekräfte, Verwaltungsmitarbeiter, Angehörige usw. Diese gilt es bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen, z. B. den Arzt bei der Diagnostik in der Notaufnahme, den Verwaltungsmitarbeiter im Controlling bei der Erstellung des DRG-Berichtes, den Pfleger bei der Pflegedokumentation. Die verfügbare Technik (Hard- und Software) ist so zu gestalten, dass sie die fachlichen Aufgaben des jeweiligen Akteurs, die funktionalen, nicht-funktionalen, qualitativen und sonstigen Anforderungen möglichst optimal unterstützt. Bei der Vernetzung der Akteure bilden damit der fachliche Ablauf, der Prozess und die Potenziale zur Integration von Prozessen den Ausgangspunkt der Analyse. 3.2 Horizontale und vertikale Prozessintegration Bei Integration von Prozessen ist zwischen der horizontalen und der vertikalen Integration zu unterscheiden. Die horizontale Integration ist durch die Integration entlang der Wertschöpfungskette gekennzeichnet. Im Krankenhaus ist eine solche Integration entlang einer Wertschöpfungskette beispielsweise die Verknüpfung vom Aufnahmeprozess über den gesamten Behandlungsprozess bis zum Entlassungsprozess. Die vertikale Integration hingegen ist durch die Verknüpfung verschiedener Hierarchieebenen gekennzeichnet. Damit erfolgt die Integration vertikal ablaufender Prozesse, zwischen hierarchisch über- und untergeordneten Abteilungen bzw. Bereichen (s. Abb. 3). Die Abb. 3 visualisiert die vertikale und horizontale Integration am Beispiel eines Krankenhauses. Auf der administrativen und dispositiven Ebene finden die primären wertschöpfenden Tätigkeiten statt. Hier sind verschiedene Fachabteilungen, E-Health – Begriff und Abgrenzung 15 Abb. 3  Horizontale und vertikale Prozessintegration Funktionsbereiche sowie die pflegerischen, medizinischen und ambulanten Leistungen angesiedelt. Letztendlich bildet die Diagnose und Therapie einen bereichsübergreifenden Prozess, der – in Form eines klinischen Behandlungspfades – netzwerkartig und akteursübergreifend innerhalb der verschiedenen Bereiche stattfindet. Die unterstützenden Tätigkeiten, wie die Termin- und Ressourcenplanung, Material- oder Medikalwirtschaft, unterstützen sämtliche Bereiche gleichermaßen und haben daher eine Querschnittsfunktionalität (Lux und Raphael 2016). 3.3 Integration von E-Health-Systemen Die Unterstützung der Prozessintegration in einer Einrichtung und auch über die Einrichtungsgrenzen hinweg erfordert gleichfalls die horizontale und vertikale Integration der verschiedenen Anwendungen im Gesundheitswesen. Daher sollen diese zunächst anhand der verschiedenen Ebenen strukturiert und eingeordnet werden, durch Übertragung der prozessorientierten Sicht auf die IT-orientierte Ebene. Sämtliche Systeme, die im Gesundheitswesen genutzt werden und dem betrieblichen Leistungserstellungsprozess dienen, entsprechen den mengenorientierten operativen Systemen. Der betriebliche Leistungserstellungsprozess wird dabei in vielfältiger Hinsicht 16 T. Lux Abb. 4  Systematisierungsgrundlage für Informationssysteme im Gesundheitswesen durch Informationssysteme unterstützt. So sind die Dokumentation, die Verarbeitung, die Organisation, die Kommunikation und die Entscheidungsunterstützung im medizinischen Bereich Teil des betrieblichen Leistungserstellungsprozesses und somit alle damit verknüpften Funktionalitäten und Systeme auf operativer Ebene einzuordnen. Die auf den operativen Systemen aufbauenden Buchungs- und Abrechnungssysteme lassen sich den wertorientierten Abrechnungssystemen zuordnen. Dem übergeordnet lassen sich das Controlling und gegebenenfalls weitere Berichts- und Kontrollsysteme in Form von Statistiksystemen einordnen. Sollten weitere Systeme, insbesondere betriebswirtschaftliche Entscheidungsunterstützungssysteme für Fach- und Führungskräfte in Form von Managementsupportsystemen (MSS) oder ein Datawarehouse-System, zum Einsatz kommen, ist eine entsprechende Anpassung bei den oberen Ebenen der Informationssystempyramide erforderlich. Eine allgemeine Übersicht zur Systematisierung der Informationssysteme im Gesundheitswesen zeigt Abb. 4. 3.4 Integration der E-Health-Systeme am Beispiel Krankenhaus Krankenhäuser bilden ein komplexes Gebilde aus vielen verschiedenen Informationssystemen. Auch das Krankenhausinformationssystem (KIS) besteht häufig modular aus vielen Teilsystemen. Neben dem Patientenverwaltungssystem sowie den medizinischen und administrativen Systemen lassen sich weitere Systeme identifizieren, die von Fach- und Führungskräften, insbesondere der Geschäftsführung, zur betriebswirtschaftlichen Entscheidungsfindung genutzt werden können. Auf Basis der Abb. 4 erfolgt die Zusammenfassung aller in einem Krankenhaus genutzten IuK-Systeme. Der Großteil aller Informationssysteme im Krankenhaus ist Teil des Krankenhausinformationssystems. In Anlehnung an Abb. 4 lassen sich eine ganze Reihe der administrativen und organisatorischen sowie alle medizinischen Informationssysteme den mengenorientierten operativen Systemen zuordnen. Alle genutzten Abrechnungs- und E-Health – Begriff und Abgrenzung 17 Abb. 5  Integrierte Informationssysteme im Krankenhaus Buchungssysteme finden sich auf der Ebene der wertorientierten Abrechnungssysteme wieder. Sollten Analyse- und Planungssysteme zum Einsatz kommen, bilden sie die Spitze der Informationspyramide. Abb. 5 zeigt eine Gesamtübersicht aller Systeme bzw. Systemkategorien, die im Krankenhaus zum Einsatz kommen, basierend auf der vorgestellten Struktur. Dabei stellen die unterschiedlichen Abstufungen der mengenorientierten Systeme keinerlei Hierarchieabstufung oder Abhängigkeiten zueinander dar, sondern dienen der Übersichtlichkeit. Alle mengenorientierten operativen Systeme stehen auf der gleichen Ebene, was auch anhand der gestrichelten Linie zur Informationsverdichtung in Abb. 5 verdeutlicht werden soll. Die Informationsverdichtung im Rahmen der Gesamtbetrachtung beginnt erst beim Übergang von mengenorientierten operativen Systemen zu den wertorientierten Abrechnungssystemen und setzt sich zur Spitze der Pyramide hin weiter fort. Die Zuordnung der am Leistungserstellungsprozess beteiligten Systeme erfolgt zu den mengenorientierten operativen Systemen. Dies entspricht hier sowohl allen medizinischen Informationssystemen als auch allen technischen, organisatorischen und administrativen Systemen, die direkt den Leistungserstellungsprozess unterstützen. Anhand eines kurzen Beispiels lässt sich die Zuordnung zum Leistungserstellungsprozess verdeutlichen. So nutzt ein Arzt der Inneren Medizin beispielsweise sein Fachabteilungssystem, um über das medizinische Leistungskommunikationssystem die Analyse einer 18 T. Lux Patientenblutprobe im angeschlossenen Leistungsinformationssystem, hier dem Laborinformationssystem (LIS), anzufordern. Nachdem die Probe vom LIS analysiert und der Arzt durch das Kommunikationssystem des KIS per E-Mail darüber informiert worden ist, hat er durch das Fachabteilungssystem Zugriff auf die elektronische Krankenakte und damit auch auf die Ergebnisdokumentation der Laboruntersuchung. Jetzt ist es dem Arzt möglich, eine genaue Diagnose zu stellen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen zu planen. Sollte aufgrund der Diagnose eine Operation des Patienten nötig sein, kann der Operationstermin sowie der entsprechende Personal- und Materialbedarf durch das Termin- und Ressourcenplanungssystem festgelegt werden. Über das Kommunikationssystem können jetzt die an der Operation beteiligten Personen informiert werden und darüber hinaus kann eine automatisierte Anforderung an das Material- und Medikamentenwirtschaftssystem gesendet werden, sodass die zur Operation benötigten Materialien und Medikamente zum terminierten Zeitpunkt bereitliegen. Auf der Ebene der wertorientierten Abrechnungssysteme finden sich Buchungsund Abrechnungssysteme, die auf die Leistungsdaten der untergeordneten operativen Systeme zurückgreifen. Dazu gehören die Leistungserfassung- und Abrechnung, die Kosten- und Leistungsrechnung sowie das Finanz- und Rechnungswesen und die Personalabrechnung. Auf der untersten Ebene der Planungs- und Kontrollsysteme kommen weitere administrative und organisatorische Systeme zum Einsatz. Zu den datenorientierten Berichts- und Kontrollsysteme zählen hier das Controlling-System, ein Qualitätsmanagementsystem und gegebenenfalls weitere Statistiksysteme. Zum oberen Teil der Planungsund Kontrollsysteme gehören alle analytischen Informationssysteme und die Systeme zur Unternehmungsplanung und -führung. Darüber hinaus finden verschiedene Managementunterstützungssysteme Einsatz, die die Krankenhausgeschäftsführung in unstrukturierten Entscheidungssituationen unterstützen. Dazu stellen die Systeme den Führungskräften unternehmensinterne und -externe Informationen zur Planungs- und Entscheidungsunterstützung sowie zur Unternehmensführung bereit, um z. B. die Führungskräfte bei der Analyse der Informationen durch Decision-Support-Systeme zu unterstützen (Gluchowski et al. 2008). Zur Prozessintegration verschiedener Akteure ist es nun erforderlich, die erforderlichen fachlichen Prozesse und ihre Abläufe, Zuständigkeiten, erforderliche Ressourcen und auch Daten bzw. Informationen exakt zu definieren und daraus einen akteursübergreifenden Integrationsprozess abzuleiten. Einen Gestaltungsansatz hierfür bietet das E-Health Engineering. 3.5 E-Health Engineering – prozessorientierte Gestaltung integrierter Anwendungssysteme im Gesundheitswesen Zur prozessorientierten Integration und Vernetzung der verschiedenen Dienste und Services im Gesundheitswesen sind geeignete Gestaltungsansätze und Betrachtungsebenen E-Health – Begriff und Abgrenzung 19 Management Strategieebene Systemebene erforderlich, um ausgehend vom technisch-organisatorischen System der Leistungserstellung (akteursübergreifende) Prozesse und deren Unterstützung durch vernetzte, interoperable IuK-Systeme zu unterstützen, zu analysieren, zu planen und zu steuern. Das E-Health Engineering, basierend auf dem Hospital Engineering (Lux et al. 2012), bietet sich hier als ein geeignetes Gestaltungs- und Engineering-Konzept an. E-Health Engineering bezeichnet die systematische Gestaltung vernetzter Anwendungen im Gesundheitswesen aus Management- und aus IT-Sicht. Dabei erfolgt die differenzierte Betrachtung der vier Architekturebenen „Strategie“, „Prozess“, „Anwendung“, „Software und Datenbanken“. Die Strategieebene umfasst überwiegend Gestaltungs- und Managementaufgaben, während die Ebenen drei und vier die Architektur des IT-Systems beschreiben. Ziel des E-Health Engineering ist die Transformation und Realisation der strategischen Entscheidung auf die darunter liegende Prozessebene, unterstützt durch Informations- und Kommunikationstechnologie. Damit liegt der Fokus auf der Prozessebene und damit der fachlichen Vernetzung der Akteursprozesse, welche auch die Leistungserstellung umfassen. Der IT kommt eine Schlüsselrolle als enabler neuer Prozessorganisationen zu. Die Abb. 6 visualisiert diesen Gestaltungsrahmen. Auf der Strategieebene erfolgen die Festlegung des Leistungsangebots im Netzwerk, die Positionierung und strategische Ausrichtung. Die Detaillierung dieser Entscheidungen als realisierbare Handlungsanweisungen erfolgt auf der Prozessebene durch Analyse, Modellierung und Implementierung der Ablauforganisation, welche arbeitsteilig und akteursübergreifend erfolgt. Dabei gilt es, Diagnose, Therapie- und Pflegeprozesse zu beschreiben z. B. in Form klinischer Pfade und deren Umsetzung sicherzustellen. Die Unterstützung der Prozessebene durch IT und die Integration der verschiedenen IuKSysteme erfolgt auf der Anwendungsebene. Sie ist Bindeglied zwischen den bei den Leistungserbringern vorhandenen Software-, Anwendungs- und Datenbanksystemen (4. Ebene), wie z. B. dem zentralen Krankenhausinformationssystem, Dokumentationssystem, spezielle Systeme (Röntgeninformationssysteme, Laborsysteme, Medikationssysteme, Planungssysteme usw.) und auch z. B. telemedizinische Systeme. Dabei integriert Anwendungsebene Prozessebene Software-, AnwendungsDB-Ebene Abb. 6  E-Health Engineering Positionierung i.d. Gesundheitsbranche, z.B. Leistungserstellungsnetzwerke (akteursübergreifende) Ablauforganisation der Leistungserstellung Integrierte, interoperable, flexible prozessorientierte Anwendungen z.B. Krankenhausinformationssystem (KIS), Dokumentation, spezielle Systeme (z.B. Laborsystem, RISC) 20 T. Lux die Anwendungsebene die vorhandenen Systeme innerhalb einer einheitlichen Sicht, um letztendlich den (akteursübergreifenden) Behandlungsprozess – den Leistungserstellungsprozess – als zentralen Ausgangspunkt der Betrachtung zu wählen. Die derzeit bei den verschiedenen Akteuren eingesetzten Informations- und Kommunikationssystemarchitekturen entsprechen kaum diesen Anforderungen. Die internen Systemlandschaften sind oftmals heterogen und schlecht integriert. Schnittstellen zwischen den verschiedenen Systemen oftmals nur unidirektional und Prozesse unzureichend unterstützt. Geeignete Standards und Schnittstellen für die Integration externer Prozesse und auch Systeme fehlen oder sind oftmals unzureichend. Dies ist das Ergebnis unterschiedlicher Studien, wie der Analyse des Standes prozessorientierter derzeit am Markt etablierter Krankenhausinformationssysteme. Anhand der Analyse der in anderen Branchen und Unternehmen eingesetzten Software-Produkte mit ihren Stärken und Schwächen konnten Kriterien erarbeitet werden, welche Merkmale prozessorientierte Systeme auszeichnen (allgemeine Merkmale). Darüber hinaus betrachteten medizinische Besonderheiten ablauforientierte Bereiche, wie die Unterstützung des klinischen Behandlungspfades eines Patienten und die aktive Unterstützung des Entscheidungsprozesses, z. B. zur Erstellung einer Diagnose und zur Planung der weiteren Behandlung. Auch wurden die Optionen zur Anbindung unternehmensexterner Akteure betrachtet (Lux und Raphael 2010). 4 E-Health als organisatorisch-technisches Konzept Die dargestellten Facetten von E-Health verdeutlichen, dass E-Health keine einzelne Anwendung, keine Software-Lösung oder kein Produkt ist, welches isoliert Nutzen entfaltet. Vielmehr ist die Zielsetzung, hoch-integrierte akteursübergreifende Prozesse zu schaffen durch die intra- und extraorganisationale Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen. Das erforderliche technische Vehikel ist mit der Telematikinfrastruktur bereits vorhanden, wenn auch noch unzureichend, und befindet sich unter hohem politischem Druck im weiteren Ausbau. Darüber hinaus existieren weitere (technische) Netzwerke, wie in vielen Projekten dokumentiert. Die erforderlichen (medizinischen) Anwendungen der Akteure, welche zu integrieren sind, befinden sich in den verschiedensten Formen bereits im Einsatz, wie bereits in Abschn. 1.2 dargestellt. Das Ziel von E-Health ist es vielmehr, geeignete Konzepte, Methoden und Werkzeuge bereitzustellen, um die bislang getrennten Anwendungen der Akteure im Gesundheitswesen und besonders deren fachliche, insbesondere patientenorientierten, Prozesse zu integrieren und zu vernetzen. Damit sind die wesentlichen Eigenschaften von E-Health: • Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen durch Bereitstellung geeigneter fachlicher und technischer Konzepte, Methoden und Werkzeuge. E-Health – Begriff und Abgrenzung 21 • Integration der Prozesse in einer Unternehmung und akteursübergreifende Integration der Prozesse, insbesondere der Behandlungspfade der Patienten, unterstützt durch den Einsatz integrierter IT-Systeme. • Interoperabilität der Prozesse und IT-Systeme auf syntaktischer und semantischer Ebene. Darüber hinaus ist E-Health enabler neuer, innovativer, vernetzter, akteursübergreifender Prozessorganisationen im Gesundheitswesen. E-Health stellt damit die Integration der fachlichen Prozesse der Akteure und deren IT-Unterstützung in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens, zeigt geeignete Gestaltungsmethoden und Konzepte für deren Vernetzung auf und etabliert Standards für die Interoperabilität von IT und fachlichen Prozessen. Darüber hinaus erfolgt die Einbeziehung der jeweiligen Rahmenbedingungen, u. a. (IT-)rechtliche, (gesundheits)ökonomische und (gesundheits)politische, in den Gestaltungsprozess. 5 Fazit Bei der Diskussion von E-Health werden oftmals einzelne IT-orientierte Anwendungen oder Projekte im Gesundheitswesen betrachtet, häufig aus technikzentrierter Sicht. Dieser Beitrag verdeutlicht den eigentlichen Mehrwert von E-Health als multiperspektivischer Gestaltungsansatz einen geeigneten Rahmen zu bieten, bestehende und neue Anwendungen und Konzepte miteinander zu vernetzen, zu integrieren und aus dieser Sichtweise heraus gleichfalls Potenzial für innovative Anwendungsszenarien zu schaffen. Damit steht die integrierte Gestaltung der fachlichen Prozesse zunächst im Mittelpunkt der Analyse, um daraus geeignete Anforderungen an die Vernetzung und Integration der Anwendungen abzuleiten und umzusetzen. Literatur BMG (2015a) Glossar Stw. E-Health, Bundesministerium für Gesundheit. http://www.bmg.bund. de/glossarbegriffe/e/e-health.html. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 BMG (2015b) Entwurf eines Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/5293, Berlin EU (2015) eHealth policy, European Commission. http://ec.europa.eu/health/ehealth/policy/index_ en.htm. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Fitterer R, Mettler T, Rohner P (2009) Was ist der Nutzen von eHealth? Eine Studie zur Nutzenevaluation von eHealth in der Schweiz, St. Gallen Gersch M, Goeke C (2004) Entwicklungsstufen des E-Business. Wirtschaftsstudium 33(12):1529–1534 Gluchowski P, Gabriel R, Dittmar C (2008) Managament Support Systeme und Business Intelligence, 2. Aufl. Springer, Berlin 22 T. Lux Lux T (2007) Intranet Engineering, Einsatzpotenziale und phasenorientierte Gestaltung eines sicheren Intranets in der Unternehmung. Gabler, Wiesbaden Lux T, Raphael H (2010) State of the Art prozessorientierter Krankenhausinformationssysteme Teil II, Competence Center eHealth Ruhr, Bericht 3, Bochum Lux T, Raphael H (2016) Vorgehensweise bei der Post Merger Prozessintegration. In: Timmreck C (Hrsg) (im Druck) Lux T, Gabriel R, Wagner A, Bartsch P (2012) Hospital engineering – business engineering in health care. In: Jordanova M, Lievens F (Hrsg) Med-e-Tel 2012 Electronic proceedings: the International eHealth, Telemedicine and Health ICT Forum for Educational, Networking and Business, ISfTeH, Luxembourg, S 231–235 Nora S, Minc A (1978) L’informatisation de la société: rapport à M. le Président de la République, Bd 92. La Documentation française, Paris WHO (2015) Health topics eHealth. http://www.who.int/topics/ehealth/en/. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Wirtz BW (2013) Electronic business, 4. Aufl. Springer, Wiesbaden Über den Autor Thomas Lux  Seit 2013 ist Thomas Lux Inhaber der Professur „Prozessmanagement im Gesundheitswesen“ am Fachbereich Gesundheitswesen der Hochschule Niederrhein, Gründer und Leitender Direktor des Competence Center eHealth an der Hochschule Niederrhein. 2012/2013 vertrat er die Professur „Wirtschaftsinformatik I: Geschäftsprozessmanagement und Informationsmanagement“ an der Technischen Universität Chemnitz. Er gründete und leitete das Competence Center eHealth Ruhr (CCeHR) (2009–2013) an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum folgte 2005 die Promotion zum Dr. rer. oec. an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Thomas Lux war weiterhin von 1999–2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik (Ruhr-Universität Bochum), von 2005–2007 Wissenschaftlicher Assistent (Habilitand) und von 2007–2012 Geschäftsführender Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der Ruhr-Universität Bochum. Weiterhin leitete er zahlreiche wissenschaftliche und praxisorientierte Projekte im Gesundheitswesen. Kontakt: Thomas.Lux@hs-niederrhein.de Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft am Beispiel von E-Health Klaus-Dirk Henke 1 Zusammenfassung Im ersten Kapitel steht einleitend die qualitative Erfassung des E-Health-Bereichs im Vordergrund. Zu diesem Zweck werden die elektronischen Netze als neue zukunftsweisende Form der Kommunikation in der Krankenversorgung und gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung erfasst. Angesichts der großen Anzahl und der Vielfalt der neuen Kommunikationswege überrascht es nicht, dass es sich um einen Wachstumsmarkt handelt. Der Begriff Markt passt insofern als viele Formen der elektronischen Kooperation überwiegend privat, das heißt noch aus den Ausgaben zur persönlichen Lebensführung finanziert werden. Vor diesem Hintergrund geht es im Rahmen der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung um eine engere qualitative und quantitative Erfassung der Gesundheitswirtschaft. Im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen stehen Beschäftigung, Wachstum, Export und weitere ökonomische Variable der Gesundheitswirtschaft im Vordergrund. Zu ihrem sogenannten „economic footprint“ gehören die industrielle Gesundheitswirtschaft und die Gesundheitsdienstleistungen jeweils mit einem Kernbereich und einem Erweiterten Bereich. In diesem methodischen Kontext lassen sich auch E-HealthLeistungen abbilden und erstmalig innerhalb der Gütergruppen und Güterkategorien quantitativ bestimmen. Diese Berechnungen stehen noch ganz am Anfang und bedürfen der Ergänzung um andere methodische Ansätze. Im dritten Kapitel und im Mittelpunkt dieser Abhandlung steht die Gesundheitswirtschaft als Bestimmungsgröße von Gesundheit und Wohlbefinden. Mit einer sogenannten K.-D. Henke (*)  Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht, TU Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: Klaus-Dirk.Henke@tu-berlin.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_2 23 24 K.-D. Henke „Gesundheitsdividende“ soll gezeigt werden, was die dienstleistungsorientierte Gesundheitswirtschaft und die industrielle Gesundheitswirtschaft bewirken. Es geht dabei um die sogenannten Gesundheitsproduktionsfunktionen mit ihren jeweiligen Bestimmungsfaktoren auf drei verschiedenen Ebenen. Zunächst erfolgt eine enge gesundheitswirtschaftliche Betrachtung auf der Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Bei der zweiten inputorientierten Sichtweise geht es um die tatsächlichen Leistungen in der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung und in der Rehabilitation, der Pflege, der Palliativmedizin und der Pflege in einem Hospiz. Schließlich ist der individuelle und der kollektive Gesundheitsstand der Bevölkerung der perspektivische Ausgangspunkt. Auf allen Ebenen ist zu prüfen, wie sich unterschiedliche Leistungen einschließlich E-Health auf die Gesundheit auswirken. 2 Elektronische Netze als neue Formen der Kommunikation und als Wachstumsmarkt Zu den elektronischen Netzen gehören das Telemonitoring von Patienten und der Datenaustausch zwischen medizinischen Einrichtungen. Mit ihrer Hilfe können E-HealthAnwendungen die Kommunikationswege verkürzen und Arbeitsabläufe erleichtern. Außerdem bieten sie die Möglichkeit, schneller auf Veränderungen im individuellen Gesundheitszustand zu reagieren. Dies führt zur Verbesserung und Beschleunigung einer effektiven Therapieeinleitung bzw. Therapieauswahl und diese kann sich unmittelbar positiv auf das Gesundheitsbefinden von Patientinnen und Patienten auswirken. Neben der Vernetzung unterschiedlicher Technologien und Anwendungen ist auch die interdisziplinäre Ausrichtung mit medizinischen, pflegewissenschaftlichen, ökonomischen und anderen Aspekten ein Charakteristikum. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und -systeme als übergreifende Kategorie umfassen mit anderen Worten die elektronische Patientenakte, Erfassungs- und Abrechnungssysteme für medizinische und anderen Gesundheitsleistungen, Krankenhausinformationssysteme, die Telemedizin, Spracherkennungssoftware und eine elektronische Einbindung von medizinisch-technischen Geräte in der Behandlung der Patienten. E-Health ist somit im weitesten Sinne der Einsatz von IKT im Gesundheitssektor. „Zum E-Health Bereich gehören auch die Interaktion zwischen Patienten und Leistungserbringern, die Datenübertragung zwischen Gesundheitsrichtungen und die peer-topeer Kommunikation zwischen Patienten und/oder den Fachleuten; der E-Health Bereich umfasst Netzwerke mit Gesundheitsinformationen, elektronische Gesundheitsbriefe, telemedizinische Dienste und auch in persönlicher Kleidung integrierte und tragbare Systeme zur Beobachtung und Unterstützung von Patienten umfassen“. (European Commission 2007, S. 10, eigene Übersetzung) Nach dieser Arbeit der Europäischen Kommission lässt sich der E-Health-Markt in vier Gruppen unterteilen: Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft … 25 • „Klinische Informationssysteme (größter Teilmarkt mit knapp 40 % in Deutschland) -Anwendungen im stationären und ambulanten Bereich für Ärzte und andere Leistungserbringer, z. B. Radiologie- und Pflege-Informationssysteme, medizinische Bildgebung, Praxissoftware; • Telemedizin und Homecare (zweitgrößter Teilmarkt mit schätzungsweise 35 % an den E-Health Ausgaben in Deutschland) – personalisierte Gesundheitsleistungen, z. B. Disease-Management-Module, Fernüberwachung von Patienten, Telekonsultationen und Teleradiologie; • Integrierte regionale/nationale Gesundheitsinformationsnetzwerke zum Austausch von Gesundheitsdaten zwischen Leistungserbringern, Krankenkassen, z. B. e-Rezept, e-Überweisung; • Systeme mit Bezug zum Gesundheitswesen – Lösungen zum E-Learning und Gesundheitsportale im Internet, Datenbanken zur Versorgungsforschung, unterstützende Systeme (Einkauf und Logistik, Rechnungswesen etc.)“. (Vgl. European Commission 2007, S. 10 eigene Übersetzung) E-Health gilt national, europa- und weltweit als ein Wachstumsmarkt sui generis; der Branchenverband BITKOM 2006 veröffentlicht dazu erste Umsatz- und Beschäftigungszahlen (vgl. BITKOM 2007). Diese Teilbranche steht nach dem Markt für Arzneimittel und dem Markt für medizinisch-technische Geräte an dritter Stelle in der europäischen Gesundheitsbranche (European Commission 2007, S. 12 eigene Übersetzung). Ohne detailliert auf die Einzelheiten der klinischen Informationssysteme und der Telemedizin einzugehen, sei darauf verwiesen, dass erste Untersuchungen nicht nur die Wachstumspotenziale aufzeigen, sondern auch den Nutzen und die Kosten durch E-Health zu ermitteln versuchen (Henke et al. 2011, S. 156 und 158 ff.; Fachinger und Henke 2010). Eine statistische Erfassung von E-Health im Zeitablauf steht noch am Anfang und bedarf vielfältiger Ansätze. Die Zahlen aus der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind daher nur ein erster Schritt bei der qualitativen und quantitativen Ermittlung des E-Health-Bereichs. Erst auf dieser oder anderen methodischen Grundlagen lassen sich die Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung ermitteln. 3 E-Health in der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung Die Gesundheitswirtschaft tritt angesichts ihrer Bedeutung für die Wertschöpfung, die Beschäftigung und den Export sowie für weitere ökonomische Variable immer mehr in den gesundheits- und wirtschafts- und industriepolitischen Vordergrund (BMWi 2015; Bundesverband der Deutschen Industrie e. V 2013). Für den Betrachtungszeitraum 2000 bis 2014 liegen die Zahlen, wie sie auf der Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen berechnet wurden, nunmehr vor. In diesem Zeitraum stieg der Anteil 26 K.-D. Henke der Gesundheitswirtschaft an der inländischen Produktion, der Bruttowertschöpfung, am Konsum sowie ihr Anteil an den Erwerbstätigen kontinuierlich an (BMWi 2015, S. 6 ff.). Bei der statistischen Erfassung und um ihrer Heterogenität Rechnung zu tragen, wird die Gesundheitswirtschaft in einen Kernbereich und einen Erweiterten Bereich unterteilt. Dabei handelt es sich insgesamt um 31 Gütergruppen und Güterkategorien: • 13 Gütergruppen und Güterkategorien im Kernbereich der Gesundheitswirtschaft (Bruttowertschöpfung 222 Mrd. €, 2014) • 18 Gütergruppen und Güterkategorien im Erweiterten Bereich der Gesundheitswirtschaft (Bruttowertschöpfung 57 Mrd. €, 2014) Die gesamte Bruttowertschöpfung in Höhe von 279 Mrd. € entspricht einem Anteil von 11,1 % des BIP im Jahre 2014, wobei dementsprechend 79,6 % auf den Kernbereich und 20,4 % auf den Erweiterten Bereich entfallen. Eine zusätzliche Differenzierung ergibt sich aus der Unterteilung in die industrielle und dienstleistungsorientierte Gesundheitswirtschaft mit ihren Anteilen am jeweiligen Kern- und Erweiterter Bereich (s. Abb. 1). Im Jahre 2014 wird für die dienstleistungsorientierte Gesundheitswirtschaft knapp 75 % (207 Mrd. €) und für die industrielle Gesundheitswirtschaft gut 25 % (72 Mrd.) ausgewiesen. Drei Viertel der Gesundheitswirtschaft gehören also zum Dienstleistungsbereich, der auf den Produkten (z. B. Arzneimittel), Geräten (z. B. in der Radiologie), Techniken (z. B. in der Telemedizin) des industriellen Bereichs aufbaut. Die industrielle Gesundheitswirtschaft liefert also die Produkte und Leistungen, die die unverzichtbare Voraussetzung sind für die Patientenversorgung mit Gesundheitsdienstleistungen im Kernbereich (z. B. stationäre Leistungen) und im erweiterten Bereich (z. B. Sport und Wellness, E-Health). Innerhalb der dienstleistungsorientierten Gesundheitswirtschaft und damit der Gesundheitsversorgung im engeren Sinne wird auch zwischen den Kernleistungen und dem erweiterten Bereich unterschieden. Ersterer macht 83 % und letzterer 17 % der Dienstleistungen aus. Um vor diesem Hintergrund den Anteil von E-Health zu ermitteln, ist vor allem der Erweiterte Bereich der Gesundheitswirtschaft mit seinen 18 Gütergruppen bedeutsam. Er ist in seiner Zusammensetzung mit fünf Gruppen ebenfalls der Tab. 1 zu entnehmen. Im Erweiterten Bereich befinden sich alle gesundheitsrelevanten Dienstleistungen und Waren, die in aller Regel aus privaten Konsumausgaben bezahlt, also nicht über die gesetzlichen und privaten Krankenkassen erstattet werden. Sie gehören somit bisher nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung nach SGB V. Dem Bereich E 5, der zum ersten Mal in dieser Form statistisch erfasst wurde (BMWi in Druck, S. 193 f.)1, liegt die Definition des Bundesministeriums für Gesundheit zugrunde. „Unter E-Health fasst man Anwendungen zusammen, die für die Behandlung 1Siehe die Langfassung des Forschungsprojekts „Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung 2000–2014“, in Druck, Anhang, S. 193 f. Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft … 27 Abb. 1  Die deutsche Gesundheitswirtschaft im Jahr 2014. (Ostwald et al. in Druck, S. 18; BMWi 2015, S. 10) und Betreuung von Patientinnen und Patienten die Möglichkeiten nutzen, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bieten. E-Health ist ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von IKT-gestützten Anwendungen, wie z. B. Anwendungen der Telemedizin, in denen Informationen elektronisch verarbeitet, über sichere Datenverbindungen ausgetauscht und Behandlungs- und Betreuungsprozesse von Patientinnen und Patienten unterstützt werden können“ (Fachinger et al. 2014, S. 28 ff.)2,3 Zusammen mit einem kleinen Teilbereich innerhalb der Investitionen (Geräte) unter E4 findet der Bereich E-Health zum ersten Mal Berücksichtigung in Rahmen der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Zum einen wertete die WZ 2008-Umstellung den Wirtschaftsbereich Information und Kommunikation mit einem eigenen Wirtschaftszweigabschnitt auf, zum anderen fand gleichzeitig E-Health immer mehr Einzug ins Gesundheitswesen. Während gesundheitsrelevante Informationstechnologien (IT) bereits in der ersten Version des Gesundheitssatellitenkontos Berücksichtigung fanden, geht E-Health deutlich darüber hinaus und umfasst auch einige technische Geräte, die dem erweiterten Bereich der industriellen Gesundheitswirtschaft zugerechnet wurden (s. Tab. 1). 2BMG, Definition im Internet unter Glossar. hierzu im Einzelnen, allerdings ohne unmittelbaren Bezug zu E-Health ➙ Fachinger, U., Henke, K.-D. et al. Gesund altern: Sicherheit und Wohlbefinden zu Hause – Marktpotential und neuartige Geschäftsmodelle altersgerechter Assistenzsysteme NOMOS, 2014, hier insbesondere S. 28 ff. 3Siehe 28 K.-D. Henke Tab. 1  Erweiterter Bereich der dienstleistungsorientierten Gesundheitswirtschaft Nr. Gütergruppen der EGW E1 Waren zur eigenständigen Gesundheitsversorgung E11 Körper-, Mund-, und Zahnpflegeprodukte, Nahrungsergänzungsmittel E12 Biologische Lebensmittel, Obst, Gemüse E13 Naturfaser- und ökologische Bekleidung, Sportbekleidung E14 Gesundheitswissenschaftliche und medizinische Literatur E15 Sport- und Fitnessgeräte inkl. Schutzbekleidung E2 Sport-, Wellness- und Tourismusdienstleistungen E21 Sportdienstleistungen E22 Wellness- und Tourismus E3 Sonstige Dienstleistungen der Gesundheitswirtschaft E31 Unternehmensberatung für das Gesundheitswesen E32 Sonstige Dienstleistungen des Gesundheitswesens E33 Interessenvertretung und Informationsdienstleistungen der Gesundheitswirtschaft E34 Handelsleistungen der EGW E4 Investitionen E41 Ausbildung in Gesundheitsberufen E42 Forschung & Entwicklung in der Gesundheitswirtschaft E43 Bauinvestitionen im Gesundheitswesen E44 Dienstleistungen von Architekturbüros für Einrichtungen des Gesundheitswesens E5 E-Health E51 Geräte der Datenverarbeitung und Telekommunikation zur Nutzung in der Gesundheitsversorgung E52 Dienstleistungen der Informationstechnologie in der Gesundheitsversorgung E53 Dienstleistungen der Datenverarbeitung in der Gesundheitsversorgung Folgende vier Güterkategorien in der Gesundheitsversorgung werden durch die GGR von E-Health erfasst: Geräte der Datenverarbeitung, der Telekommunikation, Dienstleistungen der Informationstechnologie sowie Dienstleistungen der Datenverarbeitung. Aus diesen Güterkategorien wurde ein Anteil an E-Health-Leistungen geschätzt, da die zuvor genannten Güterkategorien auch in anderen Sektoren einen Beitrag zur Wertschöpfung liefern. Der Anteil von E-Health wurde über den Gesamtumsatz der IKTBranche berechnet. Aufgrund der eingeschränkten Datenlage und der sich stets weiter entwickelnden Branche E-Health, fließen alle Güterkategorien der Gütergruppe E-Health mit dem gleichen gesundheitsrelevanten Anteil in die Berechnung ein. Die Geräte und Leistungen E 51–E 53 gehören im Kontext der Berechnungen zum E-Health-Bereich (s. Tab. 1). Um diesen Anteil statistisch zu erfassen, wurde ausgehend vom Gesamtumsatz der IKT-Branche ein Anteil von 1.5 % des gesamten Produktionswertes der vier Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft … 29 dazugehörigen Gütergruppen geschätzt (BMWi in Druck, S. 186 ff.).4 Er macht etwas mehr als eine Milliarde Euro (einschließlich eines kleinen Anteils im erweiterten Bereich der industriellen Gesundheitswirtschaft, E 51) aus. Dieser Betrag entspricht dem ökonomischen Fußabdruck des E-Health-Bereichs im Rahmen der statistischen Erfassung mit der Methodik der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Jahr 2014. Vor dem Hintergrund der im ersten Abschnitt vorgenommenen Eingrenzung von E-Health erscheint er verhältnismäßig gering zu sein. 4 Die Gesundheitswirtschaft als Bestimmungsgröße von Gesundheit und Wohlbefinden? Global gesehen stand zunächst das Satellitenkonto der Gesundheitswirtschaft mit seinen eindrucksvollen Ergebnissen im Vordergrund (Henke et al. 2010). Auf dieser Grundlage wurde die Gesundheitswirtschaft nicht nur national, sondern auch regional und unternehmensspezifisch untersucht und zunehmend disaggregiert (Ostwald et al. 2014). Über diesen ökonomischen Fußabdruck in seiner je nach Abgrenzung und statistischen Erfassung unterschiedlichen Größe und Struktur geht es bei dem Wert der Gesundheitswirtschaft aber auch und zunehmend um ihren Beitrag für eine „bessere Gesundheit“ der Bevölkerung. Gesundheit und Wohlbefinden werden zur eigentlichen Zielgröße. Auf diesem Wege vom ökonomischen Fußabdruck zur Gesundheitsdividende gibt es unterschiedliche Ansätze. Sie sollen übergreifend und beispielhaft für den E-Health-Bereich analysiert werden. Aus den aufgelisteten Leistungen der industriellen Gesundheitswirtschaft und vor allem aus den Gesundheitsdienstleistungen können Teile aus dem E-Health-Bereich oder auch andere Güter und Leistungen herausgegriffen werden, um z. B. die hoffentlich positiven Wirkungen eines Hausnotrufsystems, einer regelhaften Blutdruckmessung oder eines innovativen Arzneimittels empirisch zu bestimmen. Ein erster und noch ungewöhnlicher Weg zur „besseren Gesundheit“ startet mit den Gütergruppen und Güterkategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist deswegen ein geeigneter erster Ausgangspunkt, weil ihre Güter und Leistungen im Kernbereich und im erweiterten Bereich unverzichtbar sind für die auf ihnen aufbauende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung (dienstleistungsorientierte Gesundheitswirtschaft). Im Kernbereich der erstattungsfähigen Leistungen sind die Gesundheitseffekte in aller Regel deutlicher und auch nachweisbarer, während das im erweiterten Bereich in aller Regel seltener der Fall ist. Auch die unterschiedliche Finanzierung über die gesetzlichen Krankenkassen und aus den Ausgaben der persönlichen Lebensführung verdeutlicht diese Situation bei der Bestimmung der 4Siehe die Langfassung des Forschungsprojekts „Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung 2000–2014, in Druck, Anhang S. 186 ff. 30 K.-D. Henke sogenannten Gesundheitsdividende. Eine solche Ermittlung für die E-Health-Leistungen ist allerdings noch schwierig, da ihre Leistungen nur anhand von Gesamtumsätzen der IKT-Leistungen geschätzt wurden. Bei einem zweiten Ansatz können unabhängig von den Kategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) inputorientiert die Geräte, Röntgenaufnahmen, Arzneimittel, Operationsinstrumente beispielhaft auf ihre gesundheitliche Bedeutung geprüft und bewertet werden. Mit diesen Perspektiven lässt sich die ambulant und stationär erbrachte medizinische Behandlung im eigentlichen Sinne zweckmäßigerweise trennen von der Rehabilitation, der Pflege, der Palliativmedizin und der Pflege in einem Hospiz. Hier liefern nicht die Gütergruppen und Güterkategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die Ausgangsdaten; Ausgangspunkt sind vielmehr einzeln erbrachte Leistungen auf dem Wege zu einer „besseren Gesundheit“ für die Bevölkerung. Auf einer dritten Ebene und einer in der Regel im Vordergrund stehenden Perspektive tritt die ergebnisorientierte Betrachtung stärker in den Vordergrund. In der Abb. 2 stehen ausgewählte Krankheitsbilder einzelner Patienten und von Bevölkerungsgruppen im Vordergrund und damit die Frage, inwieweit die Gesundheitswirtschaft mit ihren Eingriffen und Leistungen die individuelle und kollektive Gesundheit unmittelbar positiv beeinflusst. Sechs verschiedene Krankheitsorientierungen können beispielhaft auf dem Wege zu einer „besseren“ Gesundheit unterschieden werden. Um zu ersten Ergebnissen zu kommen, bedarf es in jedem dieser sechs ausgewählten Ausrichtungen der individuellen und kollektiven Gesundheit mit all ihren Unterformen einer Vielzahl und Vielfalt von einzelnen empirischen (Pilot-)Studien. Erst diese Einzelfallstudien können zeigen, inwieweit die Gesundheitswirtschaft mit ihren Gütergruppen, Gesundheitstechnologien und Arzneimitteln sowie im E-Health-Bereich zu einer in dieser Form bisher nicht verwendeten Bestimmungsgröße der Gesundheit einer Bevölkerung anzusehen ist. In diesem zentralen Bereich geht es um die Frage, inwieweit beispielsweise ein bestimmtes Arzneimittel oder eine technische Hilfe die Gesundheit der Patienten nachhaltig verbessert. Im Extremfall kann es Beispiele geben, bei denen eine einzige Behandlungsart zu dauerhaftem Erfolg führt. In anderen Fällen wirken auf die Gesundheit dermaßen viele Faktoren ein, dass eine Technologie oder ein Heilmittel nur geringen Einfluss ausübt. Abb. 2   Wirkungen auf den individuellen und kollektiven Gesundheitsstand Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft … 31 5 Fazit Zusammenfassend bietet das Fazit einen Überblick über die drei verschiedenen Perspektiven zur Ermittlung von sogenannten Gesundheitsproduktionsfunktionen. In jedem Fall geht es um die Berechnung des Beitrags der Gesundheitswirtschaft zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Bevölkerung. Und dazu gehört auch der wachsende E-Health-Bereich mit seiner kaum noch überschaubaren Anzahl an Gütern und Gesundheitsleistungen. Drei Perspektiven zur Ermittlung von sogenannten Gesundheitsproduktionsfunktionen 1. mit Hilfe der Güterkategorien und Gütergruppen der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung, 2. inputorientiert anhand von ausgewählten Produkten und Gesundheitsleistungen in der Prävention und in der ambulanten und stationären Behandlung, 3. Wirksamkeit von E-Health-Produkten und Leistungen (z. B. tele-intensivmedizinische Verfahren, online Gesundheitstraining) auf Krankheitsbilder, z. B. nicht übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen, Unfälle etc. Exemplarische Bedeutung kommt dem E-Health-Bereich deswegen zu, weil man im Rahmen der dazugehörigen Gesundheitsdienstleistungen im erweiterten Bereich ihre Gesundheitswirkungen beispielhaft ermitteln kann. Eingeschränkt werden diese Möglichkeiten allerdings in manchen E-Health-Bereichen dadurch, dass es sich oft um akteursübergreifende Vernetzungsprozesse handelt. Gesundheit und Wohlbefinden als wichtigste Zielgröße gilt für alle in den verschiedenen Abbildungen aufgeführten Leistungen. Dieses oft als Gesundheitsdividende bezeichnete Ergebnis gilt es in einem nächsten Schritt nicht nur für die elektronische Gesundheitsversorgung auf seine Effektivität zu ermitteln, sondern auch auf seine Effizienz hin zu untersuchen und mit anderen Aktivitäten im Gesundheitswesen zu vergleichen (Hausman 2015, S. 171 ff.). Literatur BITKOM (2007) Vom 15.4.2007 BMWi (2015) Gesundheitswirtschaft, Fakten und Zahlen, Ausgabe 2014, Berlin Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (2013) Die Gesundheitswirtschaft – ein stabiler Wachstumsfaktor für Deutschlands Zukunft, Berlin European Commission (2007) Accelerating the development of the e-health market in Europe, ehealth task force report 2007, European Commission Fachinger U, Henke K-D (Hrsg) (2010) Der private Haushalt als Gesundheitsstandort, Theoretische und empirische Analysen. Nomos, Baden-Baden 32 K.-D. Henke Fachinger U, Henke K-D et al (2014) Gesund altern: Sicherheit und Wohlbefinden zu Hause – Marktpotential und neuartige Geschäftsmodelle altersgerechter Assistenzsysteme. Nomos, Baden-Baden Hausman DM (2015) Valuing health – well-being, freedom, and suffering. Oxford University Press, Oxford, S 1–31 Henke K-D, Braeseke G et al (2011) Volkswirtschaftliche Bedeutung der Gesundheitswirtschaft – Innovationen, Branchenverflechtung, Arbeitsmarkt. Nomos, Baden-Baden, S 149 ff. Henke K-D, Neumann K, Schneider M et al (2010) Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland. Nomos, Baden-Baden, S 1–230 Ostwald DA, Henke K-D, Kim Z-G et al (2014) Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssatellitenkontos zu einer Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Nomos, Baden-Baden, S 1–12 Ostwald D, Schneider M et al (2015) Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung 2000–2014. Nomos, Baden-Baden, S 18 (im Druck) Weiterführende Literatur Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2015) Monitoring-Report Wirtschaft DIGITAL „Die Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung für Deutschland“ (2015) Zusammenfassung des Forschungsprojekts des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, April 2015; die englische Fassung als National Health Account for Germany European Commission vom 15.3.2010 George C, Whitehouse D, Duquenoy P (Hrsg) Aufl. (2013) eHealth: legal, ethical and governance challenges. Springer, Berlin Härter M, König HH et al (2015) Evaluation eines individualisierten telefonischen Gesundheitscoachings bei chronischen Krankheiten. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Power Point Presentation Henke KD, Reimers L (2007) e-Health als Finanzierungsgegenstand. In: Jähn K et al (Hrsg) E-Health im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Anwendung Lux T, Bartsch P, Wagner A, Gabriel R (2012) E-Procurement in hospitals – an integrated supply chain management of pharmaceutical und medical products by the usage of mobile devices. In: Proceedings of the MOBILHEALTH 2012, 3rd International Conference on Wireless Mobile Communication und Healthcare, International Workshop on “Advances in Personalized Healthcare Services, Wearable Mobile Monitoring, and Social Media Pervasive Technologies” (APHS 2012). Paris, France Markowetz A (2015) Digitaler Burnout. Droemer Müller-Mielitz S (2014) Entwicklung einer Methodik für die ökonomische Evaluation von Telemedizin-Services, Tagungsband der Telemed, S 77–89 Müller-Mielitz S, Ohmann C, Goldschmidt AJW (2010) Kosten-Nutzen-Analyse eines eSource Projekts – ein Beispiel aus dem Kompetenznetz Angeborene Herzfehler, eHealth2010 Health Informatics meets eHealth – von der Wissenschaft zur Anwendung und zurück. Tagungsband der eHealth2010 & eHealth Benchmarking 2010 vom 6.–7. Mai 2010 in Wien Nobis S, Lehr D, Ebert DD, Baumeister H, Snoek S, Riper H, Berking M (2015) Efficacy of a web-based intervention with mobile phone support in treating depressive symptoms in adults with type 1 and type 2 diabetes mellitus: a randomized controlled trial. Diabetes Care 38(5):776–783 Der gesellschaftliche Nutzen der Gesundheitswirtschaft … 33 Nobis S, Lehr D, Ebert DD, Berking M, Heber E, Baumeister H, Becker A, Snoek S, Riper H (2013) Efficacy and cost-effectiveness of a web-based intervention with mobile phone support to treat depressive symptoms in adults with diabetes mellitus type 1 and type 2: design of a randomised controlled trial. BMC Psychiatry 13:306 Nobis S, Ebert DD (2015) Online-Gesundheitsinterventionen – ein wirksames Instrument zur Prävention und Behandlung von psychischen Erkrankungen? Gesundheitsforen-Themendossier. Ausgabe 07/2015 Schwärzler MC (2015) Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung II, Methodisches Vorgehen, ausgewählte Ergebnisse, Perspektiven, Power Point Presentation, Berlin, 2. Nov. 2015 Über den Autor Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke  war von 1995–2011 Inhaber des Lehrstuhls für die Fachgebiete Öffentliche Finanzen und Gesundheitsökonomie am Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht der Technischen Universität Berlin und ist seit dem 1.10.2011 pensioniert. Er ist weiterhin als Universitätsprofessor der TU tätig. Seit 1984 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen. In den Jahren 1987–1998 war er Mitglied und von 1993–1998 Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Von 1999 bis 2003 war er Sprecher des Graduiertenkollegs „Bedarfsgerechte und kostengünstige Gesundheitsversorgung“ der DFG. Seit Anfang 2011 ist er zudem im wissenschaftlichen Beirat bei WifOR, einem unabhängigen Wirtschaftsforschungsinstitut, das eng mit der TU Berlin und der TU Darmstadt kooperiert. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Er arbeitet hauptsächlich auf den Gebieten der Gesundheitsökonomie. Kontakt: Klaus-Dirk.Henke@tu-berlin.de E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung Stefan Müller-Mielitz 1 Einleitung Unter dem Begriff „E-Health-Ökonomie“ verstehen wir in diesem Buch die Beschäftigung mit E-Health und dessen ökonomische Analyse bezogen auf eine Tätigkeit, dem Prozess und dessen Output. Der englischsprachige Begriff „E-Health-Economics“ ist schon sehr weit verbreitet. Eine klare Begriffsbestimmung scheint aber derzeit auch im englischsprachigen Raum nicht möglich. Zu unterschiedlich wird der Begriff benutzt. Die ökonomische Analyse von E-Health steht als eine von (mindestens) vier Säulen der Evaluierung einer E-Health-Maßnahme: Die erste ist die Frage nach der Effizienz dieser Maßnahme, die 2. Säule ist die Frage der Effektivität auf einen Analyseendpunkt hin, 3. die Frage der Qualität des Untersuchungsgegenstandes auf einen zu bestimmenden Zielparameter. Die 4. Evaluierungssäule ist die Frage des Risikos von E-Health auf den Patienten und seine Umgebung. Die letzten drei genannten Säulen verstehen somit E-Health als komplexe Intervention und damit einer gesundheitsökonomischen Betrachtung im Sinne eines Outcomes einer Maßnahme. 2 Einordnung von „E-Health-Ökonomie“ Aus Sicht des Ökonomen, der E-Health-Anwendungen aus ökonomischer Sicht analysiert, beschäftigt sich „E-Health-Ökonomie“ mit der ökonomischen Betrachtung von IT in der Gesundheitswirtschaft. E-Health-Ökonomie führt damit Disziplinen Medizinische S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_3 35 36 S. Müller-Mielitz Informatik, Wirtschaftsinformatik, Ökonomie (Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft), Gesundheitsökonomie zusammen und muss von Disziplinen wie der Medizin, Biometrie, Statistik und weiteren im Gesundheitswesen angewendeter Disziplinen unterstützt werden (s. Abb. 1). E-Health-Ökonomie ist damit eine interprofessionelle und interdisziplinäre Subdisziplin. Ziele sind die ökonomische Analyse und die darauf aufbauende umfassende Evaluierung von E-Health und der Darstellung des Wertbeitrags von E-Health innerhalb der Gesundheitswirtschaft. Die Erfahrung bei der Kosten-Nutzen-Analyse lehrt, dass es bei bestimmten Untersuchungsgegenständen zunehmend schwierig ist, bestimmte Nutzenaspekte monetär zu erfassen. Die Kosten-Nutzen-Analyse ist eine rein monetäre Betrachtung von Kosten und Nutzen einer Maßnahme. Da nicht immer alle Effekte in monetären Einheiten gemessen werden können, hat sich neben dem ökonomisch messbaren Output der Gedanke der Bestimmung eines Outcomes gerade in der gesundheitsökonomischen Evaluierung durchgesetzt. Die Frage nach den Auswirkungen (Impact) einer Maßnahme war auch den Pionieren der ökonomischen Analysen offensichtlich und sie lösten dieses durch die Benennung von intangiblen Nutzen, was sowohl dem Verständnis eines „Outcomes“ aber auch dem Verständnis eines „Impacts“ nahekommt. Intangibles sind nicht monetär bezifferbare Effekte. Durch das Konstrukt der intangiblen Nutzen ist es möglich, diese Effekte der Maßnahme zumindest zu benennen. An Rüstzeug ist und war somit alles da, um auch E-Health zu analysieren. Dennoch finden sich in der Literatur nur wenige ökonomische Analysen, die mit der Methode der Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt worden sind. Abb. 1  E-Health-Ökonomie im Dreieck von Medizin, Informatik und Ökonomie E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 37 3 Stand der internationalen Forschung Die in der Literatur veröffentlichten und bereits durchgeführten Analysen zur „Effektivität“ von IT im Gesundheitswesen wurden in einem „systematischen Review von Reviews“ von Ekeland untersucht und wie folgt zusammengefasst: „Results: In total 1593 titles/abstracts were identified. Following quality assessment, the review included 80 heterogeneous systematic reviews. Twenty-one reviews concluded that telemedicine is effective, 18 found that evidence is promising but incomplete and others that evidence is limited and inconsistent. (…) Conclusions: The emergence of new topic areas in this dynamic field is notable and reviewers are starting to explore new questions beyond those of clinical and cost-effectiveness. Reviewers point to a continuing need for larger studies of telemedicine as controlled interventions, and more focus on patients’ perspectives, economic analyses and on telemedicine innovations as complex processes and ongoing collaborative achievements. Formative assessments are emerging as an area of interest“ (Ekeland et al. 2010). Neben der Forderung nach größeren Studien muss die studienbegleitende ökonomische Analyse bei telemedizinischen Projekten mehr Bedeutung gewinnen. Dabei ist es besonders wichtig, die prozessualen Aspekte der Telemedizin zu analysieren. Bei der Evaluation aktueller und größerer Studien (3230 Patienten, „179 general practices in three areas in England“) zum Bereich Telemedizin wird jedoch das medizinische Outcome (vgl. Steventon et al. 2012) und nicht der Output untersucht. Die Kosten-Effektivität berücksichtigt die Outcome-Betrachtung, die Betrachtung von Kosten-Nutzen den Output. Aussagen zur Effektivität einer Maßnahme lassen keine Aussage über die Effizienz bei Prozessverbesserungen der Maßnahme zu. Wenn die Therapie mittels E-HealthAnwendung nicht signifikant unterschiedlich bezüglich der Effektivität ist, können dennoch Prozessverbesserungen für die beteiligten Akteure relevant sein und die KostenEffizienz von Vorteil sein. Im Fokus von gesundheitsökonomischen Analysen steht die Kosten-Effektivität. Einen Überblick über der Vielzahl von Artikeln zur Effektivitätsfrage gibt der Beitrag „The Impact of E-Health on the Quality and Safety of Health Care: A Systematic Overview“. Die Autoren führen für die Kosteneffektivität von Bild-IT-Systemen aus: „For example, the overall cost-effectiveness of systems could not be determined, as the findings from economic analyses were often contradictory and of poor quality“ (Black et al. 2011, S. 6). Diese beschriebene nicht bestimmbare Kosten-Wirksamkeit muss nicht zwangsläufig mit einer nicht vorhandenen Kosten-Effizienz einhergehen, was zu überprüfen wäre. Der Hinweis einer geringen Studienqualität („poor quality“) lässt eine fehlende, nicht abgestimmte und unsystematische Vorgehensweise bei ökonomischen Studien im ITUmfeld vermuten. Die geringe Studienqualität wird an zwei Übersichtsartikeln belegt, welche Kosten-Aspekte beschreiben (vgl. Eslami et al. 2007, 2008). Ein ähnlich Ergebnis stellen Whitten et al. (2002) dar, die nur 55 Studien mit Kostenangaben finden und 38 S. Müller-Mielitz die auch nur in der Größe der Studie begrenzt „small scale“ und nur auf die kurzfristige Sicht „short term“ ausgerichtet waren. Maurice Mars hat 2011 eine Literaturrecherche nach ökonomischen Aspekten und Schlüsselwörtern wie „E-Health“ oder „telemedicine“ oder „tele-Health“ oder „remote care“ und „cost“ oder „cost benefit“ oder „cost benefit analysis“ oder „economics“ durchgeführt (Mars 2011). Es wurden die Datenbanken Pubmed, CINAHL und Econlit abgefragt und 2174 Artikel gesichtet mit dem Ergebnis: • „E-Health has not assigned a priority high to measuring or dealing with economic and productivity factors.“ • „Economic evaluations of telemedicine, however, remain rare, and few of those conducted accounted for the wide range of costs and benefits.“ • „No literature on comparisons of different E-Health solutions. Paucity of data on methodologies and frameworks. Absence of standardised metrics“ (Mars 2011). In der Untersuchung von Mars wird festgestellt, dass E-Health nicht die Priorität beim ökonomischen Vergleich im Sinne eines Produktivitätsfaktors hat und die ökonomischen Analysen hierüber sehr selten sind. Es fehlen Standards in der Untersuchungsmethodik. Mögliche Gründe dafür können laut Mars sein: • • • • „Complexity of E-Health? Many different stakeholders? Health outcomes difficult to quantify in $? Inappropriate evaluation models?“ Die Untersuchung von Mars führt damit folgende Problemfelder und sich daraus ableitende Forderungen auf: 1. Durchführung ökonomischer Vergleiche von E-Health-Lösungen, 2. Ermittlung von Daten, Entwicklung von Methoden und ein Gerüst dazu sowie 3. standardisierte Messungen. Das Fazit der Untersuchung von Mars entstammt aus der Erkenntnis von zwei systematischen Reviews aus dem Jahr 2009 (mit 33 Journalbeiträgen): „(…) the majority of the economic evaluations reviewed were not in accordance with standard evaluation techniques (…)“ (Mars 2011). Schlussfolgernd kann als vierter Punkt notiert werden: 4. Es fehlt an Leitlinien zur ökonomischen Analyse speziell für Untersuchungsgegenstände in der Gesundheitswirtschaft. Dass Leitlinien und Standards fehlen, um E-Health ökonomisch zu bewerten, wird auch bei O’Reilly et al. deutlich. Die Autoren kommen zu der Folgerung: E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 39 The quality of the economic literature in this area is poor. A few studies found that HIT may offer cost advantages despite their increased acquisition costs. However, given the uncertainty that surrounds the costs and outcomes data, and limited study designs, it is difficult to reach any definitive conclusion as to whether the additional costs and benefits represent value for money. Sophisticated concurrent prospective economic evaluations need to be conducted to address whether HIT interventions in the medication management process are cost-effective (O’Reilly et al. 2012). Durch dieses Zitat wird offenkundig, dass nicht nur die Literaturlage zur Kosten-Effektivität im Bereich E-Health schlecht ist, sondern dass die wenigen Ergebnisse der Studien ganz allgemein zu uneindeutig sind, um eine Kosten-Effektivität von E-Health beurteilen zu können. Ökonomische Aspekte werden in den bisher durchgeführten Evaluationen nur tangiert. „At present, there is little economic evaluation of eHealth and insufficient research to reach generalizable conclusions for investment decisions in lower and middle-income countries“ (Schweitzer und Synowiec 2012). Für die von Ammenwerth und Keizer aufgebaute Datenbank gelten folgende Einschlusskriterien: „EvalDB contains evaluation studies, defined as the systematic, empirical assessment of a component of a health information system. A health information system comprises all computer-based components that are used to enter, store, process, communicate, and present health related or patient related information, and which are used by health care professionals or the patient themselves in the context of inpatient or outpatient patient care.“ Damit wird deutlich, dass im Umfeld der Medizininformatik das Augenmerk auf IT-Komponenten und nicht auf ökonomische Aspekte gelegt wird. Die Datenbank „EvalDB“ wurde Anfang 2013 auf 1800 Studien der letzten 20 Jahre erweitert (vgl. Ammenwerth und Keizer 2012). 4 Stand der Diskussion in Deutschland Für den aktuellen Stand des Themas „E-Health-Ökonomie“ im deutschsprachigen Raum zur Diskussion „IT und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ wurde auf den Webseiten von verschiedenen institutionellen Akteuren im Bereich Informationstechnologie, medizinischer Forschung und Ökonomie des deutschen Gesundheitswesens recherchiert. Es wurde eine Übersicht erstellt, inwieweit das Thema IT und Ökonomie auf deren Agenda der Arbeitskreise steht. Aus den Beschreibungen zu den Verbänden wird deutlich, dass sich nur die dggö mit dem Thema E-Health und Ökonomie intensiv beschäftigt: bvitg Der bvitg e. V. ist ein Verband, der die führenden IT-Anbieter im Gesundheitswesen in Deutschland vertritt. Die Gesamtheit seiner Mitglieder repräsentiert ca. 90 % des stationären, des ambulanten sowie des zahnmedizinischen IT-Marktes, wovon über 70 % der Unternehmen international tätig sind (vgl. bvitg 2012a). Folgende Arbeitsgruppen 40 S. Müller-Mielitz werden bei bvitg gelistet: AMTS, Datenschutz, VDDS Dental, Digitale Signaturprozesse, Digitale Sprachverarbeitung, eGK/Telematikinfrastruktur, Entgeltsysteme, Interoperabilität, ITaV, Marketing, Marktforschung, MPG, Qualitätssicherung. Relevant könnte die AG eGK/Telematikinfrastruktur sein. Diese Arbeitsgruppe setzt sich zum Ziel, das Projekt zum Aufbau einer Telematikarchitektur und zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und des Heilberufeausweises zu geleiten und zu kommentieren. Weitere Aufgaben sind die Kontaktepflege mit den Fachgremien der gematik und ihren Gesellschaftern, BMGS, Körperschaften und Fachverbänden, so können die Interessen der bvitg-Mitglieder eingebracht werden (vgl. bvitg 2012b). BVMI Der Berufsverband Medizinischer Informatiker kennt die Arbeitsgemeinschaften: AG IKT-Beratung für die Gesundheitswirtschaft und AG Landesvertretung Österreich. Die Landesvertretungen organisieren vereinzelt Treffen der Mitglieder zu unterschiedlichen Themen. Es existiert eine Kooperation mit dem Bundesverband der Krankenhaus-IT-Leiterinnen/Leiter e. V. (vgl. BVMI 2014). GI In der Gesellschaft für Informatik gab es eine Fachgruppe 5-7 IT-Controlling. Es gibt in der GI folgende Fachbereiche: Grundlagen der Informatik, Künstliche Intelligenz, Softwaretechnik, Mensch-Computer-Interaktion, Datenbanken und Informationssysteme, Technische Informatik, Informatik in den Lebenswissenschaften, Grafische Datenverarbeitung, Wirtschaftsinformatik, Informatik in Recht und Öffentlicher Verwaltung, Informatik und Ausbildung/Didaktik der Informatik, Informatik und Gesellschaft (vgl. GI e. V. 2012). GMDS Die GMDS (Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V.) verfügt über eine Vielzahl von Arbeitsgruppen, Arbeitskreisen, Projektgruppen. Es wird deutlich, dass in der GMDS das Thema „Ökonomie“ mit der Arbeitsgruppe HTA und mit dem Arbeitskreis Gesundheitsökonomie in dieser Fachgesellschaft wohl angesprochen ist, es noch nicht gelungen ist, IT, Ökonomie und Medizin in dieser Fachgesellschaft zusammenzubringen, obwohl alle Beteiligten in der Gesellschaft vertreten sind (vgl. GMDS 2012). Es fehlt in der GMDS die Bearbeitung der Themen „E-Health“ und „Ökonomie“. KH-IT Im Bundesverband der Krankenhaus-IT-Leiterinnen und -Leiter, dem KH-IT-Bundesverband, werden folgende Themen im Rahmen von Arbeitskreisen bearbeitet: AK IT-Benchmarking, AK „Software als Medizinprodukt“, AK Ethik, AK Telematik, AK Vertrag, AK Personal (vgl. KH IT Bundesverband 2015). Im Berufsverband der Krankenhaus IT-Leiter fehlen ökonomische Betrachtungen gänzlich. E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 41 DIMDI-HTA Die Recherche in der HTA-DIMDI-Datenbank nach „E-Health“ führt zu einem Treffer: „Dr. Sigurd von Ingersleben schlägt vor, Methoden für das Erstellen von HTA-Berichten für das Evaluieren von E-Health-Produkten, die durch das EU-Forschungsprogramm gefördert werden, einzusetzen“ (DIMDI 2003, S. 3). Und weiter: „Auf einer Konferenz der Gesundheitsminister der EU und der Europäischen Freihandelsvereinigung (EFTA) im Mai 2003 in Brüssel verabschiedeten die Gesundheitsminister eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich für eine verstärkte Implementierung gesundheitsbezogener Informatikanwendungen zur Errichtung einer European E-Health Area (EeHA) aussprachen. Außerdem sind zusätzliche Anstrengungen anderer Generaldirektionen (…) zu verzeichnen, die sich ebenfalls an einer verstärkten Nutzung telematischer Methoden und Instrumente orientieren. Im Ergebnis werden diese Bemühungen zur Entwicklung einer E-Health-Industrie führen, die allerdings regionaler, nationaler und internationaler Initiativen bedarf, um eine positive Bewertung und die Implementierung ihrer Produkte sicherzustellen“ (DIMDI 2003, S. 34). Es finden sich in der HTA-DIMDI-Datenbank keine weiteren Treffer für „E-Health“. Das Vorgehen von HTA ist in der Regel die systematische Literaturrecherche von bereits erfolgten Evaluationen. Es werden in der Regel keine Daten durch HTA gewonnen. Telemed Die Telemed als Fachkongress in Berlin hat sich 2009 des Themas Wirtschaftlichkeit angenommen: „Dujat: Ich komme da noch mal auf unsere Themenschwerpunkte zurück. Wenn es uns gelingt, bei Themen wie Ökonomie, Wirtschaftlichkeit, Kostensenkung oder Transparenz zu vernünftigen Aussagen zu kommen und auf entsprechende Projektergebnisse zu verweisen, dann werden viele Akteure aufspringen. Diese Themen interessieren gerade die Kostenträger stark. Bei den niedergelassenen Ärzten sieht es anders aus: Hier gibt es viele, die Telemedizin heute schon praktizieren und sagen: ‚Das ist super, das machen wir.‘ Für andere ist das Thema dagegen immer noch angstbesetzt. Da ist die Politik aufgerufen, diese Ängste zu nehmen“ (TMF 2009). DGG „Die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitstelematik – Forum für eHealth und Ambient Assisted Living – (DGG) e. V. setzt sich bereits seit 1998 für die Entwicklung und Einführung von Telematikanwendungen im Gesundheitswesen ein. Kernanliegen ist, die Implementierung von eHealth, Gesundheitstelematik und Ambient Assisted LivingLösungen zu beschleunigen und allfällige Konsensprozesse zu unterstützen“ (DGG 2014). E-Health-Landkarte Eine Möglichkeit, E-Health-Projekte transparent darzustellen und teilweise auf deren Wirtschaftlichkeit einzugehen, wird mittels der E-Health-Landkarte vom IAT in Bochum ermöglicht (vgl. IAT 2012). Die Aktualisierungen der Webseite wurden 2012 eingestellt. 42 S. Müller-Mielitz Für das Buch „AAL- und E-Health-Geschäftsmodelle“ von Gersch (vgl. Gersch und Liesenfeld 2012) diente die Landkarte als Arbeitsgrundlage und Datengrundlage. DFG-Förderatlas Der aktuelle DFG-Förderatlas vom Juni 2012 enthält Informationen über die regionale Verteilung von Fördermitteln nach Förderschwerpunkten („Kennzahlen zur öffentlich finanzierten Forschung in Deutschland“). Ergebnis ist ein Ranking der beteiligten Fördermittelempfänger nach der Höhe der eingeworbenen Mittel (vgl. DFG 2012). TMF Die Technologie und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) hat zwei Projekte im Bereich Wirtschaftlichkeit durchgeführt: Archivierung (vgl. Dujat 2010) und Forschungseffizienz (vgl. Müller-Mielitz 2012). Damit beschäftigt sich die TMF auf der medizinischen Forschungsseite mit den Themen E-Health und Ökonomie. dggö In der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) hat sich im März 2011 der Ausschuss „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ gegründet, der sich als einziges wissenschaftliches Arbeitsgremium in Deutschland mit dem Thema „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ auseinandersetzt und damit das Teilthema „Ökonomie und E-Health“ anspricht (Lux et al. 2015). 5 Budgetierung Die öffentliche Finanzierung und die Förderung von Forschung sind durch den Staatshaushalt auf Bundesebene budgetiert, und es ist daher bei begrenzten finanziellen Ressourcen rational, Geld in die „beste Verwendung“ zu geben. Die Antwort nach der „besten Verwendung“ kann ökonomisch sein, sie kann aber auch medizinisch, ethisch, politisch oder aus einem anderen Blickwinkel erfolgen. Das digitale Gesundheitswesen und damit im Kern die Gesundheitsleistungserstellung kann aus prozessualer Sicht am – Beispiel der Behandlung im Krankenhaus – folgendermaßen eingeteilt werden: a. b. c. d. e. f. Digitale Diagnostik: Bezogen auf eine bessere Leitungserbringung Digitale Leistungserstellung: Bezogen auf den Prozess Digitale Therapie: Bezogen auf den Patienten und seine Lebensqualität Digitale Prozessdokumentation: z. B. Pflegedokumentation Digitale Abrechnung: im Sinne des Erlösmanagements Digitale Qualitätsverbesserung und Versorgungsforschung im Sinne eines lernenden Gesundheitssystems E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 43 In allen Fällen spielt E-Health und IT im Gesundheitswesen eine relevante Rolle. Die Evaluierungen dieser E-Health Anwendungen sind so vielfaltig wie die Anwendungen selbst. Ein Telekonsil unterscheidet sich von einer Stroke-Unit mit telemedizinischem Ambulanzfahrzeug und dem Telemonitoring der Blutdruckmessung in der häuslichen Umgebung und alle genannten Maßnahmen unterscheiden sich von einem Patientenabrechnungssystem oder einem Krankenhaus-Informationssystems, welche auch als E-Health-Instrumente angesehen werden müssen. Für die Entscheidung, welche Anwendung wie viele monetäre Ressourcen erhält, kann die ökonomische Analyse die Grundlagen liefern. 6 Digitalisierung Das Gesundheitswesen erfährt durch die Digitalisierung einen tief greifenden Wandel, was Organisation, Prozesse und Leistung (oder ökonomisch: Input, Throughtput, Output) anbelangt. Digitalisierung ist dabei ein wichtiges Schlagwort: Die Übertragung der „gefühlten Sicherheit“ von Papierdokumenten in die digitalisierte und künftig originär elektronische Form stellt sich nach wie vor schwierig dar und ist als künftige Herausforderung in der Gesundheitswirtschaft zu sehen. Die „Gefühlte Sicherheit“ von Papier scheint dem Anwender bewährt, ist vertraut, ist Konsens der beteiligten Akteure, es liegen Erfahrungen bei allen Beteiligten vor. Parallel hat der Prozess hin zur Elektronifizierung (im Sinne einer originären elektronischen Verarbeitung von Daten und Dokumenten) in der Wirtschaft neue Dimensionen angenommen, von denen die Beteiligten in der Gesundheitswirtschaft nicht ausgenommen sind. Sie kennen sich in diesen elektronischen Dimensionen aber noch nicht so richtig aus. Die Klärung der sich hieraus entstehenden organisatorischen, technischen, qualitativen und juristischen Fragen ist sehr komplex. Ein ökonomischer Mehrwert in der digitalen Verarbeitung und elektronischen Erstellung und Archivierung von Dokumenten wird vermutet. Das soll deutlich werden durch Abb. 2, in der E-Health aus Sicht der Datenentstehung und der Datenverwendung betrachtet wird. Wird bei den künftigen Herausforderungen der Digitalisierung das Modell von der Datenentstehung bis zur Datennutzung wie in Abb. 2 betrachtet, treten die Synergien in einer interoperablen Nutzung von Daten im Versorgungsprozess (Versorgungskette) und zwischen Versorgung und Forschung besser in Erscheinung und die Prozesse werden effizienter. Die Daten werden primär an den drei Gesundheitsstandorten erhoben und unterstützen direkt das Versorgungsgeschehen (einschließlich Rehabilitation und Pflege). Die sekundäre Nutzung durch die Versorgungsforschung aber auch die parallele Datenerhebung für die klinische Forschung und die Grundlagenforschung wird derzeit praktiziert und zeigt die damit verbundenen Ineffizienzen auf. Informationstechnologie durchdringt dabei alle angesprochenen Orte der Datenentstehung und Datennutzung. E-Health wird damit zur „IT in der Gesundheitswirtschaft“. 44 Abb. 2   E-Health aus Sicht der Datenentstehung (Versorgungskette) und Datennutzung (z. B. durch Versorgungsforschung) S. Müller-Mielitz E-Health = IT in der Gesundheitswirtschaft Versorgungsforschung Häusliche Umgebung Versorgung ambulant stationär Reha Pflege Versorgungskette Klinische Forschung Grundlagenforschung 7 Evaluierung Unter Evaluation kann die Überprüfung von vorgegebenen Zielen verstanden werden, diese müssen sich nicht zwangsläufig auf ökonomische Sachverhalte beziehen, sondern können Kriterien wie Qualität oder Wirksamkeit einer Maßnahme mit einbeziehen. Der Begriff „Evaluation“ ist daher eine umfassendere Sichtweise als eine Analyse, die sich spezialisiert auf einen bestimmten Bereich eines Untersuchungsgegenstandes fokussiert. „Insbesondere die gesundheitsökonomische Evaluationsforschung hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. (…) die Nutzen und Kosten von medizinische Leistungen zu evaluieren (…)“ (Schöffski und Schulenburg 2007, S. 13). Neben ökonomischen Aspekten können weitere Aspekten durch eine Evaluation berücksichtigt werden, bei denen es auch Evaluationsstandards gibt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat dazu für Forschungsprojekte in einem Förderatlas Kriterien entwickelt. „Evaluationsstudien stellen für die DFG ein wichtiges Instrument dar, um die Dynamiken und wechselnden Prioritäten in der Forschungslandschaft zu erkennen. Sie bzw. ihre Ergebnisse • sind ein evidenzbasiertes Steuerungsinstrument für die DFG-Geschäftsstelle zum effektiven Management der Förderverfahren, • tragen zur Transparenz über das Förderhandeln der DFG und zu dessen Bewertung bei und sind Instrumente zur Kommunikation mit und Rechenschaft gegenüber Gremien, Geldgebern und Öffentlichkeit, • erlauben die Anpassung der Förderprogramme an den Bedarf der Forschenden“ (DFG 2011). Es wird damit deutlich, dass die DFG den Schwerpunkt ihrer Evaluationen auf Forschungsinhalte legt. Eine „Evaluation (…) der DFG (erfolgt) dazu, ihre Förderprogramme E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 45 und Förderpolitik zu bewerten, Dynamiken in der Forschungslandschaft zu erkennen und ihre Prozesse und Programme hieran anzupassen und zu verbessern. Infobriefe, quantitative und evaluative Studien gewährleisten die Transparenz des Fördergeschehens. Durch Evaluationsstandards wird ein Anspruch an die Qualität der Evaluationsstudien und des Evaluationsprozesses formuliert“ (DFG 2012). Neben den Standards für gesundheitsökonomischen Studien, Evaluationsstudien im Bereich von Forschungsprojekten muss es nun Aufgabe sein, die verschiedenen Ansätze der Evaluierung zunächst für den ökonomischen Bereich und dann für den Bereich des Health-Technology-Assessments zusammenzuführen. Die Tab. 1 zeigt die verwendeten primären Methoden bei Evaluierungen im Gesundheitswesen auf und listet damit eine wesentliche Fragestellung auf: Wie ist das Vorgehen bei E-Health, wenn eine Evaluierung bezogen auf eine Prozessunterstützung durch E-Health erfolgt? Alle anderen Fragestellungen werden durch entsprechende Methodenpapiere klar geregelt: Die Kosten-Nutzen-Bewertung von neuen Arzneimitteln wird durch das IQWIG-Methodenpapier erläutert. Für die Aufgabe der Kosten-Nutzen-Bewertung im Rahmen der Arzneimittelmarktneuordnung und des entsprechenden Gesetzes AMNOG wurde die Methodik entwickelt, die im IQWiG-Methodenpapier „Allgemeine Methoden zur Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten – Version 1.0“ dargelegt ist und die Fragen der frühen Nutzenbewertung behandelt (IQWiG 2009). Kern der Methodik des IQWiG ist das Konzept der Effizienzgrenze ist (vgl. Eisenberg 1993). Tab. 1  Übersicht von Methoden der Evaluierung Rechte: Eigene 46 S. Müller-Mielitz Für den Bereich des HTA gibt es aktuell Bestrebungen, das Vorgehen europaweit zu harmonisieren (EUnetHTA 2015). Fragen der Evaluierung im Bereich Medizintechnik und großer, flächendeckender Technologien werden durch das Gerüst des Health Technologie Assessments (HTA) adressiert und bilden ein bei Entscheidern akzeptiertes Vorgehen für die Bewertung von Großtechnologien. Mit der systematischen Darstellung der vorhandenen Evaluationsstandards und deren Fragestellungen wird deutlich, dass für klassische E-Health-Projekte (wie die interregionale und intersektorale Versorgung mit Unterstützung durch IT) die Frage nach Effizienz der Maßnahme und die dafür zu präferierende Methode der Kosten-Nutzen-Analyse kein detailliertes, akzeptiertes und demnach standardisiertes Vorgehen aktuell vorliegt. 8 Entscheidungsunterstützung Für öffentliche, private Geldmittelgeber- und Nachfrager, die Finanzmittel und Sponsorengelder für neue Technologien bereitstellen, muss bei der Entscheidung für oder gegen die neue Technologie eine Unterstützung durch den Analysten erfolgen. Entsprechende Finanzmittel werden für Projekte in der Forschung und der medizinischen Versorgung zur Verfügung gestellt. Die Finanzmittel sollen in die beste Verwendung und daher aus Sicht der Ökonomie „effizient“ verwendet werden. Durch eine größer werdende Zahl von Forschungswünschen der medizinischen Forscher und einer immer größer werdenden Zahl an Projekten bei gleichzeitig konstanten oder sogar sinkenden finanziellen Mitteln von fördernden Organisationen stehen die Protagonisten vor der Notwendigkeit, ihre Forschungsergebnisse effizienter zu erzielen und argumentativ den erwarteten Nutzen herauszuarbeiten. Auch von privaten Unternehmen gesponserte Studien unterliegen diesen finanziellen Restriktionen, zumindest auf das Budgetjahr im Unternehmen gesehen, und es ist für den privaten Sponsor rational, Geld in die effizienteste Studie zu geben. Die Durchführung von klinischen Studien orientiert sich an der Wirksamkeit eines Medikaments oder an der Wirksamkeit der neuen Medizintechnik am Menschen und fokussiert dabei auf die medizinische Fragestellung (Schumacher und Schulgen 2008, S. 13). Die Wirksamkeit des Medizinprodukts wird erst am Ende der Wertschöpfungskette auf dem Arzneimittelmarkt volkswirtschaftlich relevant und betrifft dann primär die medizinische Versorgung und deren Effekte, vgl. „Wertschöpfung der Versorgungskette“ (Mühlbacher et al. 2010, S. 88). Die Forscher nutzen bei ihrem Transformationsprozess durch die Forschungsaktivität verschiedene Werkzeuge, Verfahren, Faktoren und Methoden, um ihre Arbeit effizienter, qualitativ besser und sicherer durchführen zu können (vgl. Lay 2007). Wenn die Forschungsaktivität ökonomisch effizienter durchgeführt wird, hat das Auswirkungen auf den monetär messbaren Output, der beobachtet, beschrieben und auch gemessen werden soll. Dieses betrifft auch Forschungsvorhaben von E-Health. Der ökonomische Dreiklang „Input ➔ System/Transformation ➔ Output“ wird auf den Prozess der Forschungsaktivität übertragen (vgl. Abb. 3) Darin enthalten ist der E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 47 Abb. 3  Vergleich „Forschungsprozess“ und „ökonomischer Prozess“ Gedankengang der Forschung „Idee ➔ Methode ➔ Ergebnis“ und die daraus folgende Übertragung in die Sicht „Input ➔ System/Transformation ➔ Output“ wie es die Ökonomen kennen. Dadurch wird Forschung ökonomisch greifbar. Als Output wird hier die „ökonomische Verwertung der Ergebnisse“ bezeichnet. Entsprechend arbeitet das Kosten-Nutzen-Modell mit den Begriffen „Kosten ➔ Aktivität ➔ Nutzen“ und findet seine Anwendung in der Kosten-Nutzen-Analyse. 9 Fazit E-Health-Anwendungen unterstützen die Aktivitäten der beteiligten Akteure im Gesundheitswesen, der Gesundheitswirtschaft und fördern den Nutzen der direkt und indirekt Beteiligten. Die ökonomische Beschreibung und Analyse dieser Tätigkeiten und Prozesse und die Frage nach dem Output wollen wir der E-Health-Ökonomie zuschreiben. Die Evaluation von E-Health muss schlussendlich eine breite Betrachtung der zuvor genannten mindestens vier Säulen (Effizienz, Effektivität, Qualität, Risiko) haben und es sollte das erklärte Forschungsziel sein, ein Gesamtmodell für einen Gesamtnutzen der (mindestens) vier Säulen zu erarbeiten. Literatur Ammenwerth E, Keizer N (2012) Evaluation Database: a web-based inventory of evaluation studies in medical informatics. http://evaldb.umit.at/index.htm. Zugegriffen: 25. Jan. 2016 Black AD et al (2011) The impact of eHealth on the quality and safety of health care: a systematic overview. PLoS Med 8(1):e1000387 bvitg (2012a) Arbeitsgruppen – bvitg – Bundesverband Gesundheits-IT. http://www.bvitg.de/ arbeitsgruppen.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 48 S. Müller-Mielitz bvitg (2012b) bvitg-Arbeitsgruppe eGK/Telematikinfrastruktur – bvitg – Bundesverband Gesundheits-IT. http://www.bvitg.de/bvitg-arbeitsgruppe-egk-telematikinfrastruktur.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 BVMI (2014) Berufsverband Medizinischer Informatiker e. V. http://www.bvmi.de/verband. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DFG (2011) Evaluationsstandards. http://www.dfg.de/dfg_profil/foerderatlas_evaluation_statistik/ programm_evaluation/evaluationsstandards/index.html. Zugegriffen: 30. März 2013 DFG (2012) Förderatlas 2012. http://www.dfg.de/dfg_profil/foerderatlas_evaluation_statistik/foerderatlas/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DGG (2014) Deutsche Gesellschaft für Gesundheitstelematik. http://www.dgg-info.de/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DIMDI (2003) 4. Symposium Health Technology Assessment Bewertung medizinischer Verfahren 13.–14. November 2003 Krefeld. http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta081_supplement_de.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Dujat C (2010) Betriebswirtschaftliche Betrachtung der Einführung und Nutzung elektronischer Archivierungslösungen für klinische Studien – Gutachten im Rahmen des Arbeitspakets 5 im Projekt „Elektronische Archivierung in der klinischen Forschung“ V042-01 eArchivierung. www.tmf-ev.de. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Eisenberg JM (1993) Applying economics to clinical research: the challanges of cost effectiveness analysis of medical care. In: Presented at the 105 meeting of the American Clinical and Climatological Association, Williamsburg, VA October 21, 1992, S 214–227 Ekeland AG, Bowes A, Flottorp S (2010) Effectiveness of telemedicine: a systematic review of reviews. Int J Med Inform 79(11):736–771 Eslami S, Abu-Hanna A, Keizer NF de (2007) Evaluation of outpatient computerized physician medication order entry systems: a systematic review. J Am Med Inform Assoc 14(4):400–406 Eslami S, Keizer NF de, Abu-Hanna A (2008) The impact of computerized physician medication order entry in hospitalized patients – a systematic review. Int J Med Inform 77(6):365–376 EUnetHTA (2015) About. http://www.eunethta.eu/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Gersch M, Liesenfeld J (2012) AAL- und E-Health-Geschäftsmodelle: Technologie und Dienstleistungen im demografischen Wandel und in sich verändernden Wertschöpfungsarchitekturen. Gabler, Wiesbaden GI e. V. Gesellschaft für Informatik (2012) Fachbereiche – GI – Gesellschaft für Informatik e. V. http://www.gi.de/gliederungen/fachbereiche.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 GMDS, AG-Datenmanagement (2012) Datenstandards in klinischen Studien: aktuelle Projekte. http://www.ag-datenmanagement.de/Archiv/2013-02-22-Hannover/Teilnahmefax_GMDS-AGDM-Workshop_2013-02-22-final.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 IAT, Institut für Arbeit und Technik (2012) E-Health@Home Landkarte. http://www.iat.eu/ ehealth/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 IQWiG (2009) IQWiG – Kosten-Nutzen-Bewertung. https://www.iqwig.de/de/methoden/methodenpapiere/kosten_nutzen_bewertung.3022.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 KH IT Bundesverband (2015) KH IT Bundesverband der Krankenhaus-IT-Leiterinnen/Leiter e. V. https://www.kh-it.de/arbeitskreise.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Lay R (2007) Effiziente Umsetzung klinischer Studien mit modellorientierten und domänenspezifischen Methoden. https://opus4.kobv.de/opus4-fau/files/433/RainerLayDissertation.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Lux et al (2015) Gesundheitsökonomie und E-Health vernetzen. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement (20):59 Mars M (2011) eHealth Economics: the need for standardized metrics and frameworks. http:// www.medetel.eu/download/2011/parallel_sessions/presentation/day2/eHealth_Economics.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 E-Health-Ökonomie – Begriff und Abgrenzung 49 Mühlbacher AC, Langkafel P, Juhnke C (2010) Ambient Assisted Living in der Gesundheitsversorgung: Strategien und Nutzenpotenziale. In: Fachinger U, Henke KD (Hrsg) Der private Haushalt als Gesundheitsstandort, Nomos, Baden-Baden, S 87–108 Müller-Mielitz S (2012) Abschlussbericht TMF-Projekt V072-01 „Forschungseffizienz“ – TMFVorprojekt: Nutzung von Werkzeugen, Verfahren und Methoden zur kosteneffizienten Durchführung klinischer Forschungsaktivitäten am Beispiel des TMF-Produkts ‚SAS-Makros für klinische Studien‘. http://www.tmf-ev.de/Themen/Projekte/V072_01_Forschungseffizienz_I. aspx. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 O’Reilly D et al (2012) The economics of health information technology in medication management: a systematic review of economic evaluations. J Am Med Inform Assoc 19(3):423–438 Schöffski O, Schulenburg J-MG (2007) Gesundheitsökonomische Evaluationen. 3. vollst. überarb. Aufl. Springer, Berlin Schumacher M, Schulgen G (2008) Methodik klinischer Studien. Methodische Grundlagen der Planung, Durchführung und Auswertung. 2. überarb. u. erw. Aufl. Springer, Berlin Schweitzer J, Synowiec C (2012) The economics of ehealth and mhealth. J Health Commun 17(sup1):73–81 Steventon A et al (2012) Effect of telehealth on use of secondary care and mortality: findings from the whole system demonstrator cluster randomised trial. BMJ 344(jun21 3):e3874–3874 TMF (2009) Neustart mit Schwerpunktsetzung. http://www.tmf-ev.de/News/ArticleType/ArticleView/ArticleID/562/PageID/476.aspx. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Whitten PS et al (2002) Systematic review of cost effectiveness studies of telemedicine interventions. BMJ 324(7351):1434–1437 Über den Autor Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Der Nutzen von E-Health: Eine medizinische, juristische und ökonomische Reflexion Stefan Müller-Mielitz und Andreas J. W. Goldschmidt 1 Einleitung Die Frage nach dem Nutzen einer Maßnahme stellt aus Sicht aller wissenschaftlichen Disziplinen ein Problem dar. Der Nutzen kann je nach Disziplin unterschiedlich beschrieben werden. Die Juristen fragen nach dem gerechten Nutzen, der Mediziner fragt nach dem medizinischen Nutzen, der Ökonom beschäftigt sich mit dem ökonomischen Nutzen. Synonyme wie „Effekte“, „Auswirkungen“ oder englische Bezeichnungen wie „Outcome“ und „Impact“ verwirren mehr, als dass sie Klarheit in die Gedankenwelt bringen. Die Tatsache, dass die Individuen entsprechende Bedürfnisse haben, die sie zu befriedigen suchen, ist eine grundlegende und akzeptierte Sichtweise. Die Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnraum sind offensichtlich und als „Grundbedürfnisse“ vertraut und bekannt. Durchgeführte Maßnahmen, Projekte und andere Bezeichnungen für Vorhaben, die eine Nutzenveränderung bei den Individuen hervorrufen, sind die Voraussetzung für die Betrachtung der Effekte. In der ökonomischen Welt gibt es z. B. eine Möglichkeit der Betrachtung, die Kosten-Nutzen-Analyse. Betrachten Gesundheitsökonomen das Tun der Mediziner, so werden Kosten-Wirksamkeitsanalysen durchgeführt. Weitere Methoden stellen wir in nachfolgenden Abschnitten vor. S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de A. J. W. Goldschmidt  Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: goldschmidt@uni-trier.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_4 51 52 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt Es existieren viele Begriffe, die fast dasselbe meinen: Nutzen, positive Effekte, Auswirkungen. Die Benennung und die Betrachtung dieser Nutzeneffekte im Kontext des Gesundheitssystems können aus folgenden Perspektiven erfolgen: a) Persönliche b) Medizinische c) Statistische d) Gerontologische e) Ökonomische f) Juristische Die Perspektive auf Nutzen aus Sicht des Patienten und dessen Sicht des „Nutzens“ einer medizinischen Maßnahme wird streng genommen noch gar nicht bzw. in der notwendigen Tiefe untersucht. Natürlich wird die persönliche Perspektive eingenommen, etwa, wenn Lebensqualitätsbögen ausgefüllt und ausgewertet werden. Eine reine Betrachtung einer Maßnahme aus Sicht des betroffenen Individuums erfolgt in der Regel nicht. Sicherlich subsumiert der Begriff der Lebensqualität eine mögliche Sicht. Ist es genau das, was ein Patient unter Nutzen, positivem Effekt oder der Auswirkung einer medizinischen Maßnahme auf sein individuelles Nutzenkalkül versteht? 2 Nutzenaspekte Die Sichtweise von „Nutzen“ im Utilitarismus als Zeichen von Glück oder Reichtum deutet auf die immer noch bestehenden Probleme hin, ob Nutzen messbar, interpersonell vergleichbar oder wie dieser Nutzen verteilbar ist. Die mit dem Pareto-Kriterium verknüpfte Optimierung von Nutzen in Form einer Nutzenfunktion in der Ökonomie setzt dabei voraus, dass individuelle Nutzen zusammengefasst (das heißt aggregiert) worden sind und eine Pareto-optimale Zielfunktion bestimmt wurde und damit die Menschen trotz ihrer Individualität gleich macht. Nutzen ist bei medizinischen Maßnahmen für die Menschen ein entscheidender Motivator, sich auf neue Werkzeuge, Verfahren und Methoden im Rahmen der Gesundheitsleistungserbringung einzulassen, ihre Handhabung zu erlernen und damit Lernkurveneffekte zu erzeugen. Nutzen ist die Motivation für den Patienten, sich dem Verfahren anzuvertrauen. Das Verfahren führt zum Transformationsprozess, indem durch bestimmte Inputfaktoren wie Wissen, Geräte und Arbeitskraft eine Veränderung erwirkt wird, die – ökonomisch auf Effizienz, medizinisch auf Wirksamkeit und auf weitere Veränderungen – untersucht wird. In der Summe sollen diese Veränderungen im Sinne einer umfassenden Evaluation analysiert werden. Auf der Suche nach dem gemeinsamen Nutzen ist es Aufgabe jeder Disziplin, den Nutzen zu beschreiben und in einem zweiten Schritt messbar zu machen. Der Nutzen von E-Health: … 53 Der Jurist Aufgabe des Juristen ist es, dass im Falle von Rechtsstreitigkeiten im Behandlungsprozess – als eines von vielen Beispielen – der Weg zum juristischen Ergebnis dokumentiert und weit über diesen juristischen Effekt hinaus auch mit den positiven und negativen Effekten bewertet wird. Eine mögliche Bewertung wäre die mittels Geldeinheiten. Der Mediziner Aufgabe des Mediziners ist es, den Nutzen seiner medizinischen Versorgung und Beratung zu bestimmen und messbar zu machen. Die aktuelle Diskussion im Kreise der Gesundheitspolitik ist die Frage nach der Qualität der medizinischen Maßnahme. Qualität spielt sicherlich einen wichtigen Beitrag bei der Betrachtung von Nutzen. Nutzen ist aber mehr als die qualitative Betrachtung, dieses „mehr“ gilt es herauszuarbeiten. Neben der Qualität als Teilaspekt von Nutzen, sind es zeitliche Nutzen, Nutzen der Lebensqualität und viele andere Dinge. Der Ökonom Aus wirtschaftlicher Sicht ist Nutzen als positiver oder negativer monetärer Effekt zu bezeichnen. Ein negativer Nutzen kann beispielsweise die Erfahrung sein, bestohlen zu werden. Was den Gedankengang wieder zum Juristen bringt. Auch Schmerzen und Leid sind negative Erfahrungen, die als negativer Nutzen gelten, die aber schwerlich in Geldeinheiten von Nutzer auszudrücken sind. Der Ökonom denkt in Geldeinheiten, was andere Disziplinen kritisieren. Geld hat allerdings gegenüber anderen Äquivalenten von Nutzen den Vorteil, dass es einen Vergleich ermöglicht, wenn verschiedene Nutzen mit Geld bewertet (das heißt. monetarisiert) worden sind. Daher kann die ökonomische, monetaristische Sichtweise von Nutzen, den gemeinsamen Nennern und damit den Gesamtnutzen herstellen. 3 E-Health als Beispiel für die Ermittlung des Gesamtnutzen In der schweizerischen Studie „Was ist Nutzen von E-Health“ definieren die Autoren „Nutzen“ als Verbesserung von „Effektivität, Effizienz und Qualität“ durch E-Health (Fitterer et al. 2009, S. 5), was eine sehr weitgehende Definition von Nutzen durch Technologieeinsatz ist. Sinnvoller erscheint eine Aufteilung in: 1) Kosten (bzw. negative Effekte), 2) Nutzen (bzw. positive Effekte), 3) Wirksamkeit (bzw. Outcome) und 4) Auswirkungen (bzw. Impact) einer Maßnahme bzw. eines Projekts. All diese Feinheiten sollen im Einzelnen erläutert werden. E-Health wird in einer weiten Fassung als IT im Gesundheitswesen verstanden und umfasst mindestens die drei Disziplinen: juristisch, medizinisch und ökonomisch. Das Gesundheitssystem als Teilsystem der Volkswirtschaft ist in den letzten Jahren weiter aufgeteilt worden und der Begriff der „Gesundheitswirtschaft“ wurde etabliert 54 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt (Goldschmidt und Hilbert 2009, S. 1). Das Satellitenkonto (vgl. Henke et al. 2010, S. 79 ff.) ist ein erster Schritt, die Gesundheitswirtschaft als Wirtschaftsfaktor zu beschreiben. In der Vergangenheit wurde das Gesundheitswesen lange Zeit als reiner Kostenfaktor gesehen. Das ändert sich zunehmend, da auch wachsende Märkte, eine hohe Beschäftigung und eine stabilisierende Funktion der Gesundheitswirtschaft auszumachen sind. Um eine Maßnahme durchzuführen, werden Inputfaktoren benötigt. Diese Inputfaktoren sind Arbeit, Zeit, Geld, Boden, Infrastruktur. Diese Inputfaktoren verursachen Kosten. Kosten sind nichts anderes als Ressourcen (Inputfaktoren), die mit einer Menge und mit einem Preis bewertet worden sind. Wird die Maßnahme durchgeführt, entstehen in der Regel Nutzen, die auch als positive Effekte bezeichnet werden können. Nutzen sind für den Ökonomen monetär bewertete positive Effekte, während die positive Lebensqualitätsverbesserung eines Patienten nur schwer in Geldeinheiten auszudrücken ist und daher als Outcome bezeichnet werden muss. Outcome kann oft zumindest in der Menge bestimmt werden und es ist möglich, verschiedene Outcomes in eine kardinale Reihenfolge zu bringen. Demnach ist die Lebensqualität, die mit der Wertigkeit 9 von Patienten beschrieben wird höherwertig als die Lebensqualität, die mit der Wertigkeit 5 von Patienten beschrieben wird. Output hingegen, der auch aus der ökonomischen Produktionstheorie bekannt ist, stellt ein in der Menge und in monetären Einheiten messbaren Effekt dar. Eine Maßnahme hat oft auch Effekte im Sinne von Auswirkungen (Impact), die nur die Effekte beschreiben und damit keinen Bezug zu Mengen oder Preisen haben. Erläuterung der Abb. 1: Kosten, Effekte und Auswirkungen können unterschiedlich analysiert werden, indem eine Auswertung bezogen auf Output (Menge + Preis), Outcome (Menge) und Impact (allgemeine Auswirkung) erfolgt E-Health und Gesundheitswirtschaft Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit, die hinter ökonomischen Analysen steht, ist eine relevante Frage, die aber nur neben anderen Fragen, wie medizinische Wirksamkeit oder juristische Auswirkungen wie eine erfolgreiche Gerichtsverhandlung stehen kann. Die Abb. 1  Kosten/Nutzen, Effekte, Auswirkungen Der Nutzen von E-Health: … 55 Gesundheitswirtschaft ist als Teilmarkt der Volkswirtschaft zu bezeichnen, sodass die dort behandelten Fragen auch auf die Volkswirtschaft übertragen werden können. Fragen zum Thema „E-Health“ haben im Zuge der zunehmenden Digitalisierung der Volkswirtschaft und der Gesellschaft besondere Relevanz. Durch die Aufteilung in einen ersten und zweiten Gesundheitsmarkt wird das Potenzial für eine Gesundheitswirtschaft mit gesamtwirtschaftlichen Wachstumsimpulsen deutlich und tritt in der Betrachtung in den Vordergrund. Die Analyse von Maßnahmen in der Gesundheitswirtschaft kann auch auf die Volkswirtschaft übertragen werden. Dabei ist der erste Gesundheits„markt“, der Bereich des Gesundheitswesens, den wir bisher als ambulanten, stationären und rehabilitativen Bereich der Gesundheitsversorgung kannten und der vornehmlich über die gesetzlichen und privaten Krankenkassen (und andere Parafisci) bezahlt wird. Mit dem zweiten Gesundheitsmarkt sind diejenigen Leistungen verbunden, die aus dem privaten Portemonnaie bezahlt werden. Dazu gehören typischerweise IGeLLeistungen („Individuelle Gesundheitsleistungen“) bei Ärzten und anderen Gesundheitsdienstleistern, Wellness, Fitness, Schönheit und andere konsumtive Ausgaben. Es wird deutlich, dass Gesundheitswirtschaft, Gesundheitswesen und die Forschung jeweils relevante Teilbereiche des Gesundheitssystems sind, deren volkswirtschaftliche und/oder betriebswirtschaftliche Analyse von allgemeinem Interesse ist. Aus der Detailbetrachtung des „Gesundheitswesens“ und der „Gesundheitswirtschaft“ entstand durch die Arbeiten von Henke et al. im Rahmen des BMWI-Projektes „Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland“ die Unterscheidung in den 1. und 2. Gesundheitsmarkt (vgl. BMWI 2009). Konsequenterweise muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass der sogenannte „erste Gesundheitsmarkt“ kein Markt im ökonomischen Sinne ist. Grund hierfür ist, dass es viele Regulierungen gibt, und ein Auseinanderfallen von Leistungsnehmern, Leistungsträgern und Leistungserbringern vorhanden ist, was einer der vielen Gründe ist, warum das Gesundheitswesen in Deutschland nicht als markwirtschaftliches System angesehen werden kann. Damit ist der „erste Gesundheitsmarkt“ weit entfernt von der Sichtweise eines Wettbewerbsmarkts bzw. einer „Marktwirtschaft und Wettbewerb“ (Schumann 1999, S. 501). 4 Begriffsbestimmungen Während bei den gesundheitsökonomischen Analysen die Effektivität im Mittelpunkt steht, kann eine Evaluierung auch der Frage nach der „Effizienz“, nach „Qualität“, „Risiko“ oder „Sicherheit“ nachgehen. 4.1 Effizienz und Effektivität Damit stehen die „Auswirkungen“ einer Technologie und im betrachteten Beispiel von E-Health im Gesundheitswesen im Fokus dieser Untersuchungen. 56 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt Definition von Effizienz  „Eine Organisation ist effizient, wenn sie die richtigen Mittel einsetzt“ um Ziele zu erreichen („to do the things right“) (Vahs 2005, S. 13 f.). Definition von Effektivität  „Eine Organisation ist effektiv, wenn sie die richtigen Ziele anstrebt und erreicht“ („to do the right things“) (Vahs 2005, S. 13 f.). „Die Effizienz beschreibt immer irgendein Output-Input-Verhältnis und schlägt damit die Brücke zu den knappen Ressourcen, während das Effektivitätskriterium stets Aussagen über die Realisierung der (Wirkungs-)Ziele beinhaltet“ (Wille 1986, S. 106). Arbeiten zur „Effektivität“ und „Wirkungen“ im Sinne von Outcome- und ImpactBetrachtungen von E-Health auf die Gesundheitsversorgung sind in einer schier unüberschaubaren Anzahl von Artikeln das Thema in der medizinisch-fachlichen und auch ökonomisch-fachlichen wissenschaftlichen Literatur. Das betrifft die Literatur aus dem medizinischen Umfeld, dem Informatikumfeld und auch Publikationen von Gesundheitsökonomen und Versorgungsforschern. Da E-Health im Sinne eines verlängerten Armes des Arztes funktioniert (E-Health als Intervention), ist das Interesse dieser Disziplinen begründbar. Erläuterung: Die Abb. 2 zeigt den Stand der Forschung: Die Frage von Analysten nach der Effektivität wird häufig gestellt und dabei die Frage nach Outcome und Impact gestellt. Es werden Inputfaktoren und das System an sich als gegeben angenommen. Die Frage nach Effizienz betrifft Input, System und Output. Erst wenn der im System stattfindende Transformationsprozess auf Effizienz hin überprüft wird, ist ein effizienter Output möglich. Erst dann sind Fragen nach medizinischer Wirksamkeit angebracht. Es kann Ineffizienz vorliegen, die durch eine reine Outcome-Betrachtung nicht überprüft wurde. Die Frage nach der Wirkung und dem Impact einer Maßnahme entzieht sich gänzlich einer ökonomischen Betrachtung. In einer monetär geprägten Welt unter Budgetrestriktionen scheint die Überprüfung der monetären Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme angeraten. Die Analysen zur „Effektivität“ von IT im Gesundheitswesen wurden in einem „systematischen Review von Reviews“ von Ekeland untersucht: Results: In total 1593 titles/abstracts were identified. Following quality assessment, the review included 80 heterogeneous systematic reviews. Twenty-one reviews concluded that telemedicine is effective, 18 found that evidence is promising but incomplete and others that evidence is limited and inconsistent. (…) Conclusions: The emergence of new topic areas in this dynamic field is notable and reviewers are starting to explore new questions beyond those of clinical and cost-effectiveness. Reviewers point to a continuing need for larger Abb. 2   Frage nach Effizienz/ Output oder Effektivität/ Outcome? Der Nutzen von E-Health: … 57 studies of telemedicine as controlled interventions, and more focus on patients’ perspectives, economic analyses and on telemedicine innovations as complex processes and ongoing collaborative achievements. Formative assessments are emerging as an area of interest (Ekeland et al. 2010). Neben der Forderung nach größeren Studien muss die ökonomische Analyse insbesondere bei telemedizinischen Innovationen mehr Bedeutung gewinnen und die prozessualen Aspekte der Telemedizin analysiert werden. Auch neuere und größere Studien (3230 Patienten, „179 general practices in three areas in England“) zum Bereich Telemedizin fokussieren in der Evaluation weiterhin nur das medizinische Outcome (Steventon et al. 2012). In der gesundheitsökonomischen Diskussion innerhalb der Gesundheitswirtschaft müssen neben der Betrachtung der Effektivität auch Effizienz und weitere Aspekte (Qualität, Risiko, Sicherheit) bei der Herstellung von Gesundheitsgütern eine Rolle spielen. 4.2 Qualität In der Diskussion um die bessere Versorgung treten in der aktuellen Diskussion als Benchmarks qualitative Aspekte in den Vordergrund, auf die die Vertreter der einzelnen Interessengemeinschaften abheben: • „Strukturqualität beschreibt die Qualität der Leistungserstellung und umfasst die personellen Voraussetzungen, d. h. den Facharztstandard, die technische Ausstattung einer Institution, die räumlichen Gegebenheiten und die Ablauforganisation. Die Teilnahme an Qualitätssicherungsmaßnahmen, Qualitätszirkeln und Weiterbildungsveranstaltungen sind weitere Indikationen für eine Strukturqualität“ (G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss 2012). • „Prozessqualität beschreibt sämtliche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen innerhalb eines Versorgungsablaufes, die unter Berücksichtigung der individuellen Krankheitsmerkmale eines Patienten ergriffen werden oder nicht. Bei der Prozessqualität stellt sich somit die Frage nach dem ‚Wie‘ der Behandlung. Wie wird diagnostiziert/ therapiert? Wie läuft der Behandlungsprozess ab? Prozessqualität bezieht sich direkt auf medizinische Fragen“ (G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss 2012). • „Ergebnisqualität bezieht sich auf das Behandlungsergebnis. Die Beurteilung von Ergebnisqualität hängt in hohem Maße davon ab, ob deren Zielsetzung erreicht wurde. Wichtig dabei ist die Patientenzufriedenheit in Bezug auf die Behandlung und das erreichte Ergebnis“ (G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss 2012). • Der Ansatz der Sozialqualität bildet den „Einfluss der Unternehmenskultur auf die Effektivität (Zielorientierung) und Effizienz (Wirtschaftlichkeit) von Leistungsprozessen, Organisations- und Zusammenarbeitsformen transparent“ dar (Eiff 2000, S. 21 ff.). Sie bezieht den Mitarbeiter, Führungskräfte und in einer weiter 58 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt gefassten Definition auch Patienten durch Befragungen mit ein und ermöglicht die Kategorisierung verschiedener Kriterien (Fehlerkultur, Vorschlagswesen, Umgang mit Widersprüchen und Ressourcen) und kann auch zur Bewertung der medizinischen Versorgung angewendet werden. Dadurch wird die Sozialqualität zu einem wichtigen ökonomischen Faktor der Gesundheitsleistung (Baller und Schaller 2013, S. 289). Versorgungsforscher und Gesundheitsökonomen adressieren bei ihren Arbeiten zur Qualität die Fragen zur medizinischen Versorgung im direkten Bezug zum Patienten. Bei Fragen zur Sterilität von OP-Besteck oder multiresistenten Keimen im Rahmen von Qualitätsüberprüfungen werden konkret Werkzeuge für die Herstellung von Gesundheit analysiert. Konkret mit IT sind die Fragestellungen zur Arzneimitteltherapiesicherheit, bei denen es offensichtlich ist, dass bei der Vielzahl an Medikamenten, ein optimiertes IT-System positive Effekte bei Arzneimittelwechselwirkungen ermöglicht, was auch Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung hat. All diese Effekte – positive wie negative – können unter dem Begriff des positiven oder negativen Nutzens zusammengefasst werden. Wie zuvor schon angemerkt wurde, hat jede Disziplin einen anderen Blick auf diesen Nutzen. 5 Nutzen Um den medizinischen, statistischen und gerontologischen Nutzen deutlich zu machen, soll folgendes Beispiel dienen: Der Harnstrahl eines Mannes verändert sich im Laufe des Lebens, was insbesondere durch den Abstand von den Fußspitzen bis zum weitesten Punkt zu messen ist. Im ungünstigsten Fall tropft es an die Hose. Mediziner, Statistiker und Gerontologen haben jeder eine eigene Sicht auf die Veränderungen im Lebenslauf eines Mannes, die mittels medizinischer Interventionen (Medikament, Operation) korrigierbar sind. Gehen wir gedanklich von der unbefriedigenden Situation aus, dass der Harnstrahl zwischen Fußspitze und Schnürsenkel angekommen ist. Die Analyse kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen. Gesundheitsökonomische Analysen fokussieren primär auf die Effektivität einer Maßnahme und beschreiben damit den Nutzer einer Intervention bezogen auf deren Wirksamkeit und das so erzielte Ergebnis. Eine dafür genutzte Analyseform ist die Kosten-Nutzen-Bewertung (IQWiG 2009a) von Arzneimitteln (IQWiG 2009b). Neben der Effektivität stehen Qualität und die Effizienz als Standpunkte der Analyse, die mit verschiedenen Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen gemessen werden können. Erläuterung der Abb. 3: Output, Outcome, Impact stellen die Ergebnisse einer Analyse dar, die sich dann auf qualitative Aspekte, die Wirksamkeit der Maßnahmen oder deren Wirtschaftlichkeit beziehen können. Damit ist das beschrieben, was unter „Nutzen“ verstanden werden kann. Der Nutzen von E-Health: … 59 Abb. 3   Ergebnisse im Gesundheitswesen: Qualität, Effektivität und Effizienz 5.1 Medizinischer Nutzen Die Professur „Männergesundheit“ am Klinikum Eppendorf in Hamburg führt dazu aus: „In der Männergesundheit widmen wir uns der Prävention, Sexualmedizin (auch der Paarbeziehung und damit verbunden der weiblichen Sexualität), sportmedizinischen und Anti-Aging Fragestellungen in der Medizin und operativen Eingriffen am äußeren Genitale“ (Sommer 2013). Für den Mediziner ist der klinisch relevante Nutzen entscheidend. Neben der medikamentösen Gabe sind vielfältige operative Maßnahmen möglich. Beides führt zu Veränderungen beim Patienten. Welche Wirksamkeit ist dadurch gegeben? Eine Messung der Wirksamkeit erfolgt durch die vom Patienten in Lebensqualitätsbögen geäußerten Rückmeldungen. Vorhandene Schmerzen werden beispielsweise reduziert oder gar eliminiert. Zusätzliche positive oder negative Veränderungen treten durch die medizinische Intervention ein. „Bei einer klassischen randomisierten kontrollierten klinischen Studie (RCT) besteht das Ziel darin, Unterschiede zwischen zwei Behandlungen zu evaluieren (oder zwischen einer Behandlung und einem Placebo) (1). Es soll dann jeweils die Überlegenheit des neuen Behandlungsverfahrens gegenüber der Standardtherapie nachgewiesen werden. Bei Erkrankungen, für die bereits adäquate Therapien verfügbar sind, ergibt sich oft die Situation, dass ein neues Medikament entwickelt wurde, das zu geringeren Kosten erhältlich ist oder weniger Nebenwirkungen hat als existierende Präparate. In diesem Fall muss nachgewiesen werden, dass die Wirksamkeit des neuen Medikaments verglichen mit existierenden Substanzen „im Wesentlichen gleich gut“ (Äquivalenz) oder „nur unwesentlich schwächer“ ist (Nichtunterlegenheit).“ (Wellek und Blettner 2012) 5.2 Gesundheitsökonomischer Nutzen Gesundheitsökonomische Analysen verfügen über ein breites Repertoire an Werkzeugen zur Messung des Nutzens beispielsweise im Rahmen von klinischen Studien, in denen 60 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt neue Medikamente erprobt werden. In den vergangenen Jahren wurde versucht, durch folgende Instrumente hierfür eine Lösung zu finden (eigene Auflistung in Anlehnung an Schulenburg und Greiner 2000, S. 278 ff.): 1. Gesundheitsbezogene Lebensqualität 2. Zahlungsbereitschaft 3. Health-Adjusted Life Years 4. Standard-Gamble 5. Time-Trade-Off 6. Person Trade-Off Im Rahmen gesundheitsökonomischer Evaluationen werden Methoden angewandt, die für die Bearbeitung der hier formulierten Fragestellung nach der effizienten Herstellung des Werkzeugs selbst keine Bedeutung haben. Die genannten Methoden in der Auflistung zuvor zielen auf die Messung von Outcome im Sinne von Wirksamkeit und wenden das Konzept der Befragung an (vgl. Schöffski und Schulenburg 2007, S. 321 ff.), das bei gesundheitsökonomischen Analysen eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere durch Befragungen zur Lebensqualität vor, während und nach der Maßnahme (z. B. bei der Einnahme eines neuen Medikaments) werden Daten bei Probanden erhoben. Die genutzten Konzepte sind hier das QALY-/DALY-Konzept. Für die Erhebung mittels Fragenbögen zur Lebensqualität werden normierte Bögen genutzt wie der SF-36, SF-6D (vgl. Schöffski und Schulenburg 2007, S. 321 ff.), EQ5D, was sich in einem umfassenden EQ-5D-Konzept (EUROQOL 2012) wiederfindet. Weitere Methoden sind der Health Utility Index (HUI) (HUInc. 2015) und Befragung zur Zahlungsbereitschaft (Willingness to Pay (WTP)). Neben der Messung der Wirksamkeit durch entsprechende Befragungen vor, während und nach medizinischen Interventionen betrachten Gesundheitsökonomen auch die finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Sozialversicherungskassen. Die monetäre Messung von Nutzen stellt allerdings die zentrale Schwierigkeit von Wirtschaftlichkeitsanalysen dar. 5.3 Statistischer Nutzen Für Statistiker ist die Signifikanz der Analyse als Kriterium entscheidend. In unserem Beispiel ist es die positive Veränderung des Patienten, nun wieder – in Zentimetern messbar – über die Fußspitze hinaus den Harnstrahl abgeben zu können. Mediziner und Statistiker arbeiten bei der Evaluierung neuer Arzneimittel sehr eng zusammen. Deshalb ist es auch wichtig, dass die wichtigsten statistischen Tests gut verstanden werden: „Die Analyse von 1828 Publikationen aus sechs Fachjournalen (Allgemeinmedizin, Gynäkologie und Geburtshilfe, Notfallmedizin) ging der Frage nach, welche statistischen Tests in medizinischen Zeitschriften oft angewandt werden. Das Resultat ergab, dass Leser, die neben deskriptiven Verfahren zusätzlich mit Pearson’s Der Nutzen von E-Health: … 61 Chi-Quadrat- beziehungsweise dem exakten Test nach Fisher sowie dem t-Test vertraut sind, zumindest 70 Prozent der Artikel statistisch richtig interpretieren können.“ (Prel et al. 2010a) Auch im Rahmen der Kosten-Nutzen-Bewertung neuer Medikamente werden Statistiker und die statistischen Methoden herangezogen, neben der medizinischen Wirksamkeit auch die statistische Signifikanz zu zeigen: „Soll gezeigt werden, dass ein neues Medikament besser als ein altes ist, so gilt es zunächst zu beweisen, dass beide Medikamente nicht gleich sind. Die Hypothese der Gleichheit soll also abgelehnt werden. Daher wird die Nullhypothese (H0), die abgelehnt werden soll, in diesem Fall wie folgt formuliert: „Es gibt keinen Unterschied (Effekt) zwischen den beiden Behandlungen“, z. B. zeigen zwei Antihypertonika keinen Unterschied in ihrer blutdrucksenkenden Wirkung. Die Alternativhypothese (H1) besagt dann, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Therapien gibt. Dabei kann die Alternativhypothese zweiseitig (Unterschied) oder aber einseitig (positiver oder auch negativer Effekt) formuliert werden“ (Prel et al. 2009). Mit einem Vertrauensbereich (dem sogenannten Konfidenzintervall) existiert ein mit einer statistischen Methode berechneter Wertebereich, der den gesuchten, wahren Parameter (beispielsweise das arithmetische Mittel, die Differenz von zwei Mittelwerten) mit einer definierten Wahrscheinlichkeit (dem sogenannten Konfidenzniveau) überdeckt. „Meist wird ein Konfidenzniveau von 95 % gewählt. Das bedeutet, dass in 95 von 100 durchgeführten Studien das Konfidenzintervall den wahren Wert überdecken wird. Vorteil der Konfidenzintervalle im Vergleich zu p-Werten ist, dass Konfidenzintervalle die Ergebnisse auf der Ebene der Datenmessung wiedergeben“ (Prel et al. 2009). Das Studiendesign ist wiederum für die statistische Qualität von klinischen und epidemiologischen Studien relevant, was insbesondere in einer guten Fallzahlplanung deutlich wird: „Es ist aus methodischen Gründen notwendig, vor der Durchführung den Ablauf der Studie und die Fallzahl zu bestimmen, und diese vor Beginn der Rekrutierung in einem Protokoll festzulegen“. Das Studienprotokoll ist hier ein wichtiges Dokument für den guten Start einer Studie im Sinne der Good Clinical Practice (Schumacher und Schulgen 2008, S. 257) „Wird es versäumt, die Fallzahl anzugeben, kann ein unabhängiger Prüfer im Nachhinein nicht mehr feststellen, ob der Experimentator Daten oder statistische Methoden so selektiert hat, dass ein von ihm gewünschtes Resultat „nachgewiesen“ werden konnte. Zudem ist es notwendig, die Wahrscheinlichkeit zu kontrollieren, mit der ein tatsächlich vorhandener Effekt in der Studie als statistisch signifikant entdeckt werden kann“ (Prel et al. 2010b). „Beispielsweise wird ein pharmazeutisches Unternehmen zur geplanten Einführung eines neuen Medikaments sowohl aus ökonomischen als auch aus ethischen Gründen nicht riskieren, den Nachweis der Wirksamkeit oder der Nichtunterlegenheit gegenüber anderen Medikamenten wegen einer zu geringen Fallzahl nicht erbringen zu können. Ebenso kann es nicht toleriert werden, dass an zu vielen Patienten das neue Medikament untersucht wird. Sowohl Studien mit zu kleiner als auch solche mit zu großer Fallzahl sind somit ethisch und ökonomisch nicht zu rechtfertigen. Auch bei deskriptiven und retrospektiven Studien sollte vorher geplant werden, aus welchen Quellen und 62 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt in welchem Umfang Daten gesammelt werden. Die Fallzahlplanung ist in der medizinischen Forschung unumgänglich. Fehlt diese, so spricht das für einen Mangel an Qualität der entsprechenden Studie und die Resultate werden mit Skepsis betrachtet“ (Prel et al. 2010b). Die Durchführung eines statistischen Tests ist standardisiert und es fällt leicht, die Ergebnisse in einem weiteren Schritt in Nutzen zu überführen: „Ablauf eines statistischen Tests: • Aufstellung der Forschungsfrage • Formulierung von Null- und Alternativhypothese • Entscheidung für einen geeigneten statistischen Test • Festlegen des Signifikanzniveaus (z. B. 0,05) • [eigene Anmerkung: Fallzahlenschätzung, Rekrutierung, Studiendurchführung, Datenmanagement] • Durchführen der statistischen Testanalyse: Berechnung des p-Wertes • Statistische Entscheidung, z. B. – p < 0,05 => Verwerfen der Nullhypothese und Annehmen der Alternativhypothese – p ≥ 0,05 Beibehalten der Nullhypothese • Interpretation des Testergebnisses“ (Prel et al. 2010a) Durch das standardisierte Vorgehen der Statistiker bietet es sich an, künftig bei einer Zusammenführung von unterschiedlichen Nutzen, dieses systematisierte Vorgehen für andere Bereiche zu nutzen, um einen Gesamtnutzen zu bestimmen. 5.4 Gerontologischer Nutzen Der Geriater schaut indes auf die Lebensqualität und insbesondere auf die Lebenserwartung des Patienten. Die Analysegrundlage der Geriatrie ist die Empirie. Damit trägt der Geriater neben Effektivität, Signifikanz, einen weiteren Blickwinkel bei, der aus Sicht des Patienten sicherlich nicht unbedeutend ist, aber auch nur wieder einen Teilaspekt des Nutzens beleuchtet. Was nützt einem Patienten ein verlängertes Leben, das wiederum unter Schmerzen, Angstgefühlen oder Unwohlsein stattfindet und das Wasserlassen zu einer Qual werden lässt? 5.5 Juristischer Nutzen Um den juristischen Nutzen einer Maßnahme zu beschreiben, soll an dieser Stelle ein konkretes Beispiel weiterhelfen. Eine E-Health-Anwendung ist die Verfügbarmachung einer telemedizinischen Maßnahme als medizinische Intervention, indem Gewicht und Blutdruck per Telematikinfrastruktur (TI) an das Telemedizinzentrum übertragen wird. Ein mögliches zu betrachtendes Szenario wäre nun, dass durch eine falsch Der Nutzen von E-Health: … 63 implementierte IT-Umgebung und mangelhafte technische, semantische und organisatorische Interoperabilität entsprechende Messwerte in der elektronischen Patientenakte falsch angezeigt werden. Dadurch kommt es zu einem Behandlungsfehler, der juristisch geklärt werden muss. Während der Auseinandersetzung wird sicherlich das Risikomanagement bei der Umsetzung im Projekt begutachtet. Auch wird geprüft, was getan wurde, als der Betrieb regulär aufgenommen worden ist, dass solche Fehler nicht passieren. Die ständigen Qualitätssicherungsmaßnahmen werden überprüft und angemahnt werden. Im Falle einer Verurteilung wäre zu klären, welche Person bzw. Institution zu verurteilen ist und welche Auswirkung das auf die Maßnahme der telemedizinischen Betreuung im konkreten Fall und generell für telemedizinische Leistungen haben kann und welche Implikationen das Urteil für den Weiterbetrieb hat. Wenn es zur Folge hat, dass Schadensersatz zu zahlen ist, so wird sich das zumindest auf die Versicherungsprämie des Telemedizinzentrums auswirken. Auch zusätzliche Qualitätssicherungsmaßnahmen werden die laufenden Betriebskosten erhöhen. Aus der Perspektive des betroffenen Patienten ist eine Wiedergutmachung erfolgt, die er seinem individuellen Nutzenkalkül entsprechend bewerten wird. Das Ergebnis wird Einfluss auf Entscheidungen anderer Patienten haben. Insbesondere, wenn kein Schadensersatz geleistet wird, werden sich diese vielleicht von dem Telemedizinprojekt abwenden. 5.6 Ökonomische Nutzen Das Beispiel mit dem Harnstrahl des Mannes ist naturgemäß nicht in Geldeinheiten zu messen. Über das QALY-Konzept gelingt es den Gesundheitsökonomen, die durch medizinische Maßnahmen erfolgte Verbesserung der Lebensqualität in Geldeinheiten zu messen. QALY steht für Quality-adjusted Life Years und ermöglicht es, gewonnene Lebensjahre durch eine Therapie in monetäre Messeinheiten umzuwandeln. Zur Erfassung der QALY werden Lebensqualitätsbögen an Patienten ausgegeben, die als Werkzeug der Inputermittlung für die Outcome-Betrachtung angewendet werden. In einer Geldwirtschaft muss auch die monetäre Seite von Gesundheitsmaßnahmen beleuchtet werden. Ökonomische Analysen beziehen sich zunächst auf den Input, dessen Transformation durch Produkte und Dienstleistungen und einen dadurch erzielten Output – gemessen in Geldeinheiten. Ökonomische Analysen beziehen sich damit auf die Effizienz einer Maßnahme, eine gesundheitsökonomische Maßnahme betrachtet die Wirksamkeit (Effektivität) des medizinischen Handelns als Intervention. Steht für ein Produkt kein Marktpreis fest, muss die Preisermittlung ohne einen vorhandenen Markt durch sogenannte „Surrogate“ erfolgen, wie Gebühren oder Schattenpreise. Eine weitere Möglichkeit ist es, vorhandene Transaktionskosten der Beteiligten zu berechnen. Das sind z. B. die Kosten für die Anfahrt zu einem Projekt oder einer klinischen Studie durch einen Patienten. Konkret messbar sind diese Kosten mit der Reisekostenmethode, die ihren Ursprung in der Umweltökonomie hat, und bei der es 64 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt beispielsweise den Wert eines Waldbesuches (als öffentliches Gut) zu bestimmen gilt: Der Aufwand des Waldbesuchs (Fußweg, Fahrradfahrt, Auto, Bus, Bahn u. a.) kann in das Nutzenkalkül der Individuen einbezogen werden und stellt eine Art Eintrittspreis für die Erholungsleistung im Wald dar (vgl. Bergen et al. 2002, S. 162 ff.). Das Grundproblem, das durch ökonomische Methoden gelöst werden soll, ist das Vorhandensein begrenzter Ressourcen bei unbegrenzten Bedürfnissen. Ziel des Ökonomen und Analysten sollte es demnach sein, zunächst als intangible erscheinende Nutzen bei einer projektbegleitenden Analyse interdisziplinär zu identifizieren, messbar zu machen und dann zu messen – und dadurch einer Kosten-Nutzen-Rechnung zuzuführen. Damit wäre die ökonomische Methodik verbessert und der Bias zwischen monetär messbarem und monetär nicht messbarem Nutzen reduziert und dadurch ein Projekt aus monetärer Sicht objektiver bewertet. Dadurch könnte auch die Akzeptanz von ökonomischen Analysen verbessert werden. Die Messung des Inputs kann durch die Ermittlung der Zahlungsbereitschaft der beteiligten Akteure erfolgen, die einen Nutzen durch das Projekt erfahren. Oder es findet eine fiktive Bewertung einzelner Nutzenaspekte durch eine Contingent Valuation (CV) statt. Möglich ist auch die Durchführung einer Conjoint-Analyse, die ein Bündel von Alternativen durch den Nutzer bewerten lässt (vgl. Schöffski 2007, S. 370; Schulenburg et al. 1995, S. 46). Eine zentrale ökonomische Methode zur Aufgliederung von Aufwänden und Erträgen ist die Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) und damit verbunden eine Kosten-Nutzen-Rechnung (KNR). Oft erfolgt die Nennung von KNA und KNR synonym. Sinnvoll erscheint aber eine Trennung der Analyse und der Rechnung: Durch die Begrifflichkeit KNA kann der prospektive Analyseaspekt und durch die KNR der projektbegleitende bzw. retrospektive Analyseaspekt im Sinne einer konkreten Rechnung deutlich herausgestellt werden. Da die Kosten-Nutzen-Analyse als Entscheidungshilfe für eine spätere Durchführung einer Maßnahme gilt, müssen Kosten vor Beginn einer Maßnahme geschätzt werden. Hierbei ist auch das Mengengerüst zu schätzen, was eher der Bezeichnung einer Analyse gerecht wird. Erst während oder nach der Durchführung einer Maßnahme sind genaue Berechnungen möglich: die verbrauchten Mengen sind bekannt, Preise konnten für die Kosten-Nutzen-Rechnung ermittelt werden, intangible Nutzen können genau beschrieben werden. Das spricht dafür, zwischen KNA und KNR zu differenzieren. 6 Health Technology Assessment Die Technologiebewertung in Form des Health Technology Assessment (HTA) ist ein eingeübtes und erprobtes Verfahren, das im Gesundheitsbereich für die Gesundheitsbewertung Anwendung findet (DIMDI 2012), international angewendet wird und zunehmend eine internationale Vernetzung erfährt (vgl. u. a. NICE 2005). HTA ermöglicht Aussagen über Nutzen, Risiko, Kosten und Auswirkungen medizinischer Verfahren und Technologien. Mit HTA wird „die systematische wissenschaftliche Bewertung gesundheitsrelevanter Maßnahmen (Impfungen, medizinische Behandlungen, Vorsorgemaßnahmen, etc.)“ Der Nutzen von E-Health: … 65 bezeichnet. HTA „untersucht die Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit sowie soziale, ethische, juristische und organisatorische Auswirkungen einer gesundheitlichen Intervention“ und „dient als Grundlage für Entscheidungen im Gesundheitssystem: z. B. in der Politik oder bei ärztlichen Behandlungen“ (DIMDI 2014). Diese umfassendere Analyse (HTA) fasst bestehende Analysen zusammen – u. a. KNAs – und generiert damit eine systematische Übersicht über den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu einem Untersuchungsgegenstand (Amelung und Schumacher 2004). Eine Verbindung von HTA und E-Health findet sich in den Arbeiten von Ammenwerth. Sie sieht HTA in einer weitreichenden Sicht zusammen mit ökonomischen Aspekten (Ammenwerth 2003). Ökonomische Aspekte werden bei Ammenwerth gleichberechtigt neben juristischen und anderen Aspekten zum Assessment gesehen, sodass HTA als Meta-Analyse Anwendung findet. Kritisch muss festgestellt werden, dass das Thema Ökonomie im HTA-Prozess zwar festgeschrieben wird, jedoch die ökonomische Methodik im Detail aus den vorhandenen Studien entstammt. „Dabei sollen neben Informationen zur medizinischen Wirksamkeit und zur Effektivität Informationen zu den Kosten der Verfahren ermittelt werden“ (Aidelsburger et al. 2003, S. 1). Die ökonomische Evaluation wird dadurch in der Methodik und im methodischen Vorgehen sehr heterogen durchgeführt. Ein Vergleich von Projekten, die mit unterschiedlichen Methodiken und unterschiedlichen Schritten gearbeitet haben, ist problematisch. „Die Technologiefolgenabschätzung im Gesundheitswesen (HTA) ist ein multidisziplinärer Prozess, in dem Informationen zu medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Aspekten, die den Einsatz von Gesundheitstechnologie betreffen, systematisch, transparent, objektiv und zuverlässig zusammengefasst werden. Ziel der Folgenabschätzung ist es, Informationen für die Erarbeitung sicherer und wirksamer gesundheitspolitischer Strategien bereitzustellen“ (Europäische Kommission 2012). „Für gesundheitsökonomische Studien sollten Instrumente mit Ausfüllhinweisen entwickelt werden, die die Angemessenheit der Kriterien definieren. Weitere Forschung ist erforderlich, um Studiencharakteristika zu identifizieren, die die interne Validität von Studien beeinflussen“ (Dreier et al. 2010, S. 2). In neuerer Zeit fordern führende Gesundheitsökonomen, eine Form der Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) zu etablieren (vgl. Henke et al. 2011, S. 239). Dementsprechend würde der Gedanke dieser Gesundheits- und Technologie-Folgenabschätzung eine Verbreiterung in der Ausrichtung auf Untersuchungsgegenstände in der Gesundheitswirtschaft bedeuten. 7 Zusammenfassung Bei den durchgeführten unterschiedlichen Betrachtungen und Überlegungen zum Nutzen im Gesundheitswesen bleibt offen, wie Nutzenkalküle aus den verschiedenen Sichten – angefangen beim Patienten selbst – in den Gesamtnutzen einer Maßnahme einfließen können. Es müsste ein gemeinsames Maß des Nutzens bestimmt werden. Die 66 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt Geldeinheit könnte ein gemeinsames Maß sein. Neben ethischen Bedenken, Gesundheit mit Geldeinheiten zu bewerten, besteht dabei das methodische Problem, dass bei durchgeführten Projekten die Ergebnisse, die nicht in der Quantität messbar und auch nicht monetarisierbar sind – sich der Kosten-Nutzen-Rechnung entziehen. Diese können aus klassischer ökonomischer Sicht als „intangibel“ bezeichnet werden und werden daher als Outcome oder ganz generell als Auswirkung verstanden. Sie werden in der Literatur als „nicht marktliche Objekte“ (Musgrave et al. 1994, S. 192 f.) beschrieben. „Als diejenigen Bestandteile einer Kosten-Nutzen-Analyse, die am wenigsten für die Quantifizierung geeignet sind, werden of intangible Kosten und Nutzen hervorgehoben. (…) Dass eine Quantifizierung derartiger Kosten in der Regel kaum möglich ist, zumal wenn sie nur subjektive Vorstellungen wiedergeben, bedeutet jedoch nicht, dass sie bei der Entscheidung über eine Strategie vernachlässigt werden können, wenn auch vielleicht nur verbal zu beschreiben, damit auch sie in den politischen Entscheidungsprozess mit eingehen“ (Zimmermann und Henke 2005, S. 102). Das Ziel der Nutzenbestimmung für die Menschen im Gesundheitswesen ist es, über einen neutralen wissenschaftlichen Diskurs und sich daran anschließenden politischen Entscheidungsprozess die Maßnahmen zu identifizieren, die den größtmöglichen (effizienten) und wirksamsten (effektivsten) Nutzen bereitstellen. Die Untersuchungsgegenstände in der „Gesundheitswirtschaft“ sind vielfältig und vielschichtig. Jede Disziplin (Medizin, Statistik, Gerontologie, Gesundheitsökonomie, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre) betrachtet einen erzielten Nutzen aus einem anderen Blickwinkel. Für den einzelnen Akteur in diesen Disziplinen im Gesundheitssystem kann der Nutzen in folgende Nutzenkategorien aufgeteilt werden: 1. Persönlicher Nutzen 2. Medizinischer Nutzen 3. Qualitativer Nutzen 4. Gesundheitsökonomischer Nutzen (Effektivität) 5. Gerontologischer Nutzen 6. Organisatorischer Nutzen 7. Technischer Nutzen 8. Prozessualer Nutzen 9. Juristischer Nutzen 10. Ökonomischer Nutzen (Effizienz) All diese Nutzenkategorien bedürfen spezieller Methoden und Werkzeuge der Nutzenmessung. In der Abb. 1 wird der Begriff „Nutzen“ als monetär messbar und bewertbar verstanden (vgl. Bernnat 2006, S. 15). Es besteht daher ein Unterschied zu Effekten (im Sinne eines Outcomes) einer Maßnahme, die nicht zwingend messbar und monetarisierbar sind und es besteht ein Unterschied zu Auswirkungen (im Sinne eines Impacts), die überhaupt nicht messbar und monetarisierbar sind und daher nur beschreibbar sind. Es besteht demnach immer noch Handlungsbedarf, diese „Intangibles“ konkreter zu Der Nutzen von E-Health: … 67 beschreiben und aus Sicht des Ökonomen besteht die Notwendigkeit, diese Outcomes mit Geldeinheiten zu bewerten und damit zu einem Output des Projektes zu machen, der in Menge und Preis bestimmbar ist. Medizinischer, statistischer und gerontologischer Nutzen beinhalten wichtige positive Effekte bei der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen. Die Nutzung von Ressourcen im Gesundheitswesen verursacht direkte Gesundheitskosten und bedeutet Alternativkosten für entgangenen Nutzen in anderer Verwendung wie z. B. für andere soziale Leistungen, für Bildung und weitere gemeinschaftliche Aufgaben. Die Betrachtung des „ökonomischen Nutzens“ stellt den wohlfahrtspolitischen Sinn einer Maßnahme in den Vordergrund der Analyse. Nutzen befriedigt Bedürfnisse der Menschen, die über die vorhandene Zahlungsbereitschaft den Nutzen monetär bestimmen. Monetär messbarer Nutzen ist in einer Geldwirtschaft ein wichtiger Benchmark. Monetarisierter Nutzen wird damit zu einer wichtigen Kennzahl in der Gesundheitswirtschaft, wenn die methodischen Probleme gelöst worden sind. Literatur Aidelsburger P et al (2003) Gesundheitsökonomische „Kurz-HTA-Bericht“ – Eine systematische Übersichtsarbeit zur Methodik und Implementation. In: Dauben H-P, Rüther A, Warda F (Hrsg) DIMDI (Health Technology Assessment, HTA) Amelung VE, Schumacher H (2004) Managed Care: Neue Wege im Gesundheitsmanagement. 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Gabler, Wiesbaden Ammenwerth E (2003) Die Bewertung von Informationssystemen des Gesundheitswesens – Beiträge für ein umfassendes Informationsmanagement. Habilitationsschrift, Hall: Private Universität für Medizinische Informatik und Technik Tirol. http://iig.umit.at/dokumente/r17.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Baller G, Schaller B (2013) In Führung gehen: Praxishandbuch für Ärzte im Krankenhaus. Thieme, Stuttgart Bergen V, Löwenstein W, Olschewski R (2002) Forstökonomie: Volkswirtschaftliche Grundlagen, 1. Aufl. Vahlen, München Bernnat R (2006) Kosten-Nutzen-Analyse der Einrichtung einer Telematik-Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen. http://dasalte.ccc.de/crd/whistleblowerdocs/20060731-Gesundheitstelematik.pdf?language=de. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 BMWI, Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie an der Technischen Universität Berlin Innovationsimpulse der Gesundheitswirtschaft – Auswirkungen auf Krankheitskosten Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung Endbericht Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (2009) Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland. http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/Studien/satellitenkonto-gesundheitswirtschaft-kurzfassung-abschlussbericht,property=pdf, bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DIMDI (2012) DIMDI – HTA: Systematische Bewertung gesundheitsrelevanter Prozesse und Verfahren. http://www.dimdi.de/static/de/hta/basisinfo-hta.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DIMDI (2014) HTA: Systematische Bewertung gesundheitsrelevanter Prozesse und Verfahren. http://www.dimdi.de/static/de/hta/index.htm. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 68 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt Dreier M et al (2010) Vergleich von Bewertungsinstrumenten für die Studienqualität von Primärund Sekundärstudien zur Verwendung für HTA-Berichte im deutschsprachigen Raum. http:// portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta260_bericht_de.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Eiff W von (2000) Führung und Motivation in Krankenhäusern: Perspektiven und Veränderungen für Personalmanagement und Organisation. Kohlhammer, Stuttgart Ekeland AG, Bowes A, Flottorp S (2010) Effectiveness of telemedicine: a systematic review of reviews. Int J Med Inform 79(11):736–771 Europäische Kommission (2012) Bewertung der Gesundheitstechnologie – Strategie. http:// ec.europa.eu/health/technology_assessment/policy/index_de.htm. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 EUROQOL (2012) WHAT IS EQ-5D. http://www.euroqol.org/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Fitterer R, Mettler T, Rohner P (2009) Was ist der Nutzen von eHealth? http://www.e-healthsuisse.ch/nutzen/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss (2012) Strukur-, Prozess- und Ergebnisqualität. http:// www.g-ba.de/institution/themenschwerpunkte/qualitaetssicherung/ergebnisqualitaet/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Goldschmidt AJW, Hilbert J (2009) Gesundheitswirtschaft in Deutschland: Die Zukunftsbranche, 1. Aufl. Wikom, Wegscheid Henke K-D, Neumann K, Schneider M et al (2010) Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland: Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden Henke K-D, Troppens S, Braeseke G, Dreher B, Merda M (2011) Innovationsimpulse der Gesundheitswirtschaft – Auswirkungen auf Krankheitskosten, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. www.bvmed.de/download/bmwi-studie-innovationsimpulse. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 HUInc (2015) Health Utilities INC health-related quality-of-life. http://www.healthutilities.com/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 IQWiG (2009a) IQWiG – Kosten-Nutzen-Bewertung. https://www.iqwig.de/de/methoden/methodenpapiere/kosten_nutzen_bewertung.3022.html. Zugegriffen: 05. Jan. 2016 IQWiG (2009b) IQWiG legt Konzept für Methode der Kosten-Nutzen-Bewertung vor. https:// www.iqwig.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen/iqwig_legt_eine_methode_fur_ die_bewertung_von_kosten_nutzen_verhaltnissen_vor.2402.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Musgrave RA, Musgrave PB, Kullmer L (1994) Die Öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, 1. Aufl. Mohr, Tübingen NICE (2005) European network for HTA. http://www.nice.org.uk/niceMedia/pdf/smt/260705item8. pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Prel J-B et al (2009) Konfidenzintervall oder p-Wert? Teil 4 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. http://www.aerzteblatt.de/archiv/74880/Auswahl-statistischer-Testverfahren-Teil-12-der-Serie-zur-Bewertung-wissenschaftlicher-Publikationen?src=series. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Prel J-B et al (2010a) Auswahl statistischer Testverfahren: Teil 12 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. http://www.aerzteblatt.de/archiv/74880/Auswahl-statistischerTestverfahren-Teil-12-der-Serie-zur-Bewertung-wissenschaftlicher-Publikationen?src=series. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Prel, J-B et al (2010b) Fallzahlplanung in klinischen Studien: Teil 13 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. http://www.aerzteblatt.de/archiv/74880/Auswahl-statistischerTestverfahren-Teil-12-der-Serie-zur-Bewertung-wissenschaftlicher-Publikationen?src=series. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Schöffski O (2007) Die Nutzentheoretische Lebensqualitätsmessung. In: Schöffski O, Schulenburg J-MG (Hrsg) Gesundheitsökonomische Evaluationen: Herausgeber, 3., vollst. überarb. Aufl. Springer, Berlin, S 335–385. http://www.amazon.de/Gesundheits%C3%B6konomische- Der Nutzen von E-Health: … 69 Evaluationen-Oliver-Sch%C3%B6ffski/dp/3540495584/ref=sr_1_3?ie=UTF8&s=books&qid= 1257023211&sr=8-3. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Schöffski O, Schulenburg J-MG (2007) Gesundheitsökonomische Evaluationen, 3., vollst. überarb. Aufl. Springer, Berlin Schulenburg J-MG, Greiner W (2000) Gesundheitsökonomik. Mohr Siebeck, Tübingen Schulenburg J-MG et al (1995) Ökonomische Evaluation telemedizinischer Projekte und Anwendungen, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden Schumacher M, Schulgen G (2008) Methodik klinischer Studien. Methodische Grundlagen der Planung, Durchführung und Auswertung, 2., überarb. u. erw. Aufl. Springer, Berlin Schumann J (1999) Grundzüge der mikroökonomischen Theorie. Springer, Berlin Sommer F (2013) Männergesundheit. http://www.uke.de/kliniken/maennergesundheit/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Steventon A et al (2012) Effect of telehealth on use of secondary care and mortality: findings from the Whole System Demonstrator cluster randomised trial. BMJ 344(jun 21 3):e3874–3874 Vahs D (2005) Organisation. Einführung in die Organisationstheorie und -praxis, 5. Aufl. SchäfferPoeschel, Stuttgart Wellek S, Blettner M (2012) Klinische Studien zum Nachweis von Äquivalenz oder Nichtunterlegenheit: Teil 20 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. http://www. aerzteblatt.de/archiv/131629/Klinische-Studien-zum-Nachweis-von-Aequivalenz-oder-Nichtunterlegenheit-Teil-20-der-Serie-zur-Bewertung-wissenschaftlicher-Publikationen?s=Blettner. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Wille E (1986) Informations- und Planungsprobleme in öffentlichen Aufgabenbereichen: Aspekte d. Zielbildung u. Outputmessung unter bes. Berücks. d. Gesundheitswesens. Lang, Frankfurt a. M. Zimmermann H, Henke K-D (2005) Finanzwissenschaft: Eine Einführung in die Lehre von der öffentlichen Finanzwirtschaft, 9., überarb. Aufl. Vahlen, München Über die Autoren Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de 70 S. Müller-Mielitz und A.J.W. Goldschmidt Prof. Dr. Andreas J. W. Goldschmidt  Gesundheitswirtschafts- und Humanwissenschaftler. Der Gesundheitsökonom, Medizininformatiker und Biostatistiker kam aus der Industrie als Quereinsteiger in die Medizin. Seit 2003 lehrt und forscht er im Bereich Gesundheitsmanagement und Logistik an der Universität Trier, hat dort die gleichnamige Professur inne und ist geschäftsführender Leiter des Internationalen Health Care Management Instituts (IHCI) in den Informatikwissenschaften sowie Vorstandsvorsitzender des interdisziplinären Zentrums für Gesundheitsökonomie (ZfG) im Fachbereich IV (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Mathematik und Informatikwissenschaften). In seinen Forschungsprojekten geht es vor allem um die Zukunft der Gesundheitsversorgung und deren Optimierung. Er wirkt in verschiedenen nationalen und internationalen Fachgesellschaften, Gremien und Verlagen mit. Kontakt: goldschmidt@uni-trier.de Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen Maximilian C. von Eiff und Wilfried von Eiff 1 Ausgangssituation Kaum ein anderer Bereich im Gesundheitswesen besitzt so viel Potenzial zur Steigerung der Prozesseffizienz, zur Verbesserung von medizinischer Qualität sowie Patientensicherheit und letztlich zur Erreichung eines nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolgs wie der Bereich der Informationstechnologie. Allerdings ist festzustellen, dass in deutschen Krankenhäusern im Durchschnitt ca. 1,5 % der Gesamtkosten in IT-Investitionen fließen, während diese Quote in den Niederlanden, der Schweiz und in Österreich bei etwa vier Prozent bis fünf Prozent liegt. Vorreiter sind die USA: zwischen fünf Prozent und sechs Prozent der Gesamtkosten zweigen US-Krankenhäuser für IT-Investitionen ab, wobei insbesondere die Bereiche Qualitätssicherung, Wissensmanagement und OP-­ Management, aber auch integrierte Supply-Chain-Lösungen zur Direktkommunikation zwischen Lieferant und Krankenhaus auf Basis von EDI-Standards zur Prozesseffizienz beitragen. M. C. von Eiff (*)  Fachbereich Humanmedizin, Universität Pécs, Pécs, Ungarn E-Mail: voneiff4@aol.com W. von Eiff  Ludwig Fresenius Center for Health Care Management and Regulation, HHL Leipzig Graduate School of Management, Leipzig, Deutschland E-Mail: wilfried.von.eiff@hhl.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_5 71 72 M.C. von Eiff und W. von Eiff 2 Herausforderungen für das IT-Management im Krankenhaus IT-Lösungen sind umso wirkungsvoller, je konsequenter eine durchgängige IT-Infrastruktur implementiert wurde und umso besser es gelang, die Geschäftsprozesse in Klinik und Administration organisatorisch zu optimieren. Grundsätzlich gilt die Erfolgsmaxime: „Organisatorisches Fachkonzept vor IT-Technologieeinsatz“ bzw. „Zuerst vereinfachen, dann automatisieren.“ 2.1 Konsolidierung der IT Konsolidierung ist mehr als das Management von Schnittstellen oder die Kompatibilität von Hard- und Software. Unter dem Begriff der Konsolidierung der IT-Infrastruktur subsumieren wir den Prozess der Vereinheitlichung und Zusammenführung von Server- und Desktopsystemen sowie der von Anwendungen und Datenbeständen. Das Ziel einer solchen Konsolidierung ist die Flexibilität der IT-Infrastruktur, indem man physische Systeme reduziert und durch virtuelle ersetzt. Flexibilisierung bedeutet dabei, neue Anforderungen in das bestehende System so einzubauen, dass eine bestmögliche Funktionalität erhalten bleibt oder erreicht wird. Dazu zählt auch die Frage, wie Patienten mittels IT aktiver in die Diagnostik und Therapie eingebunden werden können. Hier geht es beispielsweise darum, die Verbesserung der Compliance bei einer medikamentösen Therapie durch spezielle, IT-gestützte Monitoringsysteme zu ermöglichen. Konsolidierung ist also ein zentrales strategisches Ziel des IT-Managements und umfasst die Aktionsschwerpunkte • Vereinheitlichung von Hardware • Einbindung von hoch-funktionaler Anwendersoftware • Einheitliche Verwaltung aller Bild-, Ton- und Textdaten • Sicherstellung von Herstellerneutralität • Speicherung von Daten in Standardformaten • Standardisierte Benutzeroberfläche • Hersteller-unabhängiger Datenzugriff • Begrenzung auf wenige standardisierte Formate, in denen Daten abgelegt werden • Standardschnittstellen • Einheitliche Benutzerregeln • Vereinheitlichung von Bild- und Befundsystem Eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der Konsolidierung betrifft • die Überwindung proprietärer IT-Lösungen und • des Problems nicht-standardisierter Datenhaltung. Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 73 Seit Januar 2014 ist IHE (Integrating the Healthcare Enterprise) als Implementierungsleitfaden ein anerkannter Standard nach ISO 28380. IHE zielt auf die wirkungsvolle Anwendung bestehender Standards im Gesundheitswesen und besteht aus den Elementen „Master Patient Index“, „Registry“ und „Repository“. Ziel ist es, in Zukunft IT-Beschaffungsentscheidungen auf Basis IHE-gerechter Ausschreibungsverfahren zu steuern. 2.2 Integration der IT Integration ist eine wichtige Erfolgsvoraussetzung für IT-Effektivität und bewirkt die wirkungsvolle, unaufwendige, schnelle und sichere Einbindung leistungsfähiger funktionsspezifischer Anwendungssysteme zwecks bestmöglicher Unterstützung/Effektivitätssteigerung von Prozessen. Damit wird in Zukunft die Offenheit des KIS-Systems zum zentralen Erfolgsfaktor. Proprietäre KIS-Lösungen mit ihren effizienzhemmenden Integrationsrestriktionen funktionaler Anwendungssysteme verschiedener Hersteller müssen überwunden werden. 3 Drei Herausforderungen und Trends des IT-Managements im Gesundheitssystem Medizinische Leistungen werden in arbeitsteiligen Prozessen sowie sektorübergreifenden Versorgungsnetzen erbracht. IT-Technologie ermöglicht die bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung mit präventiven, klinischen und rehabilitativen Leistungen. An drei Bereichen wird deutlich, welche Einflüsse auf Behandlungsformen, Versorgungskonzepte, medizinische Berufsbilder und die Rolle des Patienten prognostizierbar sind: Digital Health, Big Data und 3-D-Druckertechnik. 3.1 Digital Health Digital Health bezeichnet die Verschmelzung von medizinischem Wissen mit IT-Anwendungen bzw. IT-Technologien zwecks Verbesserung der medizinischen Versorgung und Überwachung von Patienten. So kann via Smartphone im 24/7-Betrieb festgestellt werden, ob ein Patient die verordneten Medikamente eingenommen hat, ebenso sind Vitaldaten (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung) überprüfbar und es kann über Körpertemperatur und Bewegungsmuster kontrolliert werden, ob ein Patient im häuslichen Bereich gestürzt ist. Digital-Health-Technologien sollen dazu beitragen, dass • ältere Menschen länger in ihrer gewohnten sozialen Umgebung verbleiben können, anstatt in ein Alten-/Pflegeheim überzusiedeln, • die Compliance, also therapietreues Verhalten von Patienten, gesteigert wird, 74 M.C. von Eiff und W. von Eiff • unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden werden und • eine präventionsorientierte Lebensführung gefördert wird. Fakt ist, dass sich in diesem Bereich ein Milliarden schwerer Markt entwickelt, in dem mittlerweile auch Spieler investieren, die bisher im Gesundheitswesen nicht präsent waren (Apple entwickelt an der Gesundheits-iWatch; Google forscht auf dem Gebiet des Glukose-Monitorings via Kontaktlinse). Dieser Markt für digitale Gesundheit revolutioniert die Geschäftsmodelle im Krankenversicherungsbereich sowie bezogen auf Organisationsformen der medizinischen Versorgung und er verändert das Rollenverständnis zwischen Arzt und Patient. Dies demonstriert die Einführung von Frühwarnsystemen für Herzpatienten nach einer Schrittmacher- oder Defibrillator-Implantation. Das Cardio-Messenger-System der Firma Biotronik zur häuslichen Fernüberwachung von Arrhythmie-Patienten trägt dazu bei, unnötige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden sowie die Behandlungskosten von Patienten um ca. zehn Prozent zu senken (s. Abb. 1). Das Einsparpotenzial durch Digital Health wird auf Milliarden geschätzt, und zwar insbesondere im Bereich des Medikations-Managements (s. Abb. 2). Digital-Health-Anwendungen (z. B. akustische Erinnerungsfunktion zur zeitgerechten Einnahme von Medikamenten) können dazu beitragen, die Therapietreue zu erhöhen sowie eine präventionsorientierte Lebensführung (z. B. durch Glukose-Monitoring, Bewegungskontrolle) zu realisieren (s. Abb. 2). Frühwarnsysteme für Herzpatienten ermöglichen schnelle Hilfe im Bedarfsfall und verhindern unnötige Einweisungen ins Krankenhaus Service Center Überwachungsstelle Cardio Messenger CM Website › Herzfunktion › Schrittmacher und Defi-Überwachung Aufbereitung der Daten Arrhytmien Behandlung im Bedarfsfall Home Monitoring System von Biotronik Das Risiko, unangemessen in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden ist um 70 % niedriger (Pilotergebnis Frankreich) Leistungskatalog der DAK Abb. 1  Patientenüberwachung am Beispiel des Cardio Messengers Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 75 Das Einsparungspotenzial von Digital Health wird auf Milliarden geschätzt. Problembereich: Medikation › › › › › 14 % der ALOS in Deutschland begründet durch UAWs 10-15% der Einweisungen von Patienten > 70 Jahren durch AmFehler verursacht Bei 15 % aller stationären Patienten ist die Liegezeit in Folge UAWs um 8,5 tage höher als nötig 5 % aller Patienten erleiden schwerwiegende UAWs UAWs mit Todesfolge › 0,08 % aller Aufnahmen › 0,015 bis 0,019 % Einsparungspotenzial durch appropriaten Medikamenten-Einsatz (weltweit in Mrd. USD) 269 Therapietreue 62 Arzneieinnahme nach Vorgabe 47 Appropriate Medikation optimales Medikationsmanagement bei Einsatz mehrerer Arzneimittel 18 Abb. 2  Therapietreue durch Digital-Health-Anwendungen. (von Eiff 2011) Eine weitere Digital-Health-Anwendung ist die elektronische Gesundheitskarte. Ihre Vorteile der elektronischen Gesundheitskarte lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Steigende Patientensicherheit durch (automatische) Reaktionskontrolle (Wechselwirkungen) neu verordneter Medikamente (Integration von Verordnungs-Software). • Reduktion der Behandlungskosten von Patienten (Vermeidung von Doppeluntersuchungen). • Zielorientierte, medizinisch appropriate Behandlung durch Verfügbarkeit von Laborbefunden, früheren Erkrankungen, bildgebenden Daten aus MRT, CT, US, OCT, etc. und Verlaufskontrollen wichtiger Parameter (HbA1c-Wert, Linksventrikel-Funktion, Blutdruck, …). • Schnelle Verfügbarkeit von Zweitmeinungen aus spezialisierten medizinischen Zentren. • Sinkende Kosten durch direkte Abrechnung zwischen Ärzten, Apothekern und Krankenkassen (Schätzung: ca. 200 Mio. EUR pro Jahr), durch Vermeidung von Versicherungsbetrug (Bild des Versicherten auf der Karte; Schätzung: eine Mrd. EUR je Jahr). Insgesamt gehen Experten davon aus, dass durch die EGK Einsparungen im Gesundheitssystem erreichbar sind, die einer Reduktion des GKV-Beitragssatzes in Höhe von 3,7 Prozentpunkten entspricht. • Die Kosten der EGK-Einführung werden mit ca. 1,5 Mrd. EUR beziffert. 3.2 Big Data Big Data, also der strukturierte Umgang mit großen Datenmengen, ermöglicht es, aus einer Vielzahl von Daten entscheidungsrelevante Informationen abzuleiten, daraus 76 M.C. von Eiff und W. von Eiff zweckorientiertes Wissen zu generieren und in kürzester Zeit problemlösungsorientiert zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der bisher vorwiegend militärisch, geheimdienstlich und ökonomisch motivierten Anwendungsbereiche ist der Begriff Big Data eher negativ besetzt. So ermöglicht Big-Data-Technologie die Entwicklung von Mustern über das Einkaufsverhalten von Hausfrauen in Supermärkten oder Buchkäufern bei Amazon. Im medizinischen Bereich zielen Big-Data-Anwendungen darauf ab, • die diagnostische Präzision zu erhöhen, • die Zeit zwischen Primärdiagnose und Therapie zu verkürzen sowie • die therapeutische Präzision zu steigern. Insbesondere im Bereich der Tumordiagnostik und Tumortherapie zeigen sich die Möglichkeiten von Big Data. Um z. B. eine Gensequenzierung zwecks Erbgutanalyse bei Tumoren innerhalb von 24 h durchführen zu können sowie den Gewebeabgleich in maximal zwei Tagen zu realisieren, ist es erforderlich, superschnelle Rechner zur Verfügung zu haben, die in Verbindung mit einer effektiven Methode der Datenkompression aus einer Vielzahl molekularbiologischer Informationen zweckorientiertes Wissen generieren. Die Möglichkeiten der personalisierten Medizin sind ohne Big-Data-Technologie nur begrenzt ausschöpfbar. 3.3 3-D-Druckertechnik Ein 3-D-Drucker ist ein Gerät zur Herstellung dreidimensionaler Werkstücke (Modelle, Körper, Organe), die computergesteuert aus flüssigen und/oder festen Werkstoffen (Kunststoffe, Kunstharze, Keramiken, Metalle) aufgebaut werden. 3-D-Drucktechnik eröffnet die Möglichkeit, komplexe Formen aufzubauen, wobei für deren Herstellung keine Formen erforderlich sind und der Herstellungsprozess erfolgt ohne Materialverlust, da keine Material abtragenden Verfahren (Drehen, Bohren, Fräsen, Schneiden) nötig sind. 3-D-Modelle sind in der Medizin hilfreich, um eine genaue Kenntnis der anatomischen Besonderheiten eines individuellen Patienten zu erhalten, mit dem Zweck, komplexe Eingriffe vorzubereiten. Die Herstellung eines Modells (z. B. Herz, Hüfte, Gefäße) erfolgt auf Basis von MRT- und CT-Daten, die mittels Spezialsoftware in ein 3-D-Modell umgesetzt und mit einem 3-D-Drucker produziert wird. Auf diese Weise lassen sich maßgeschneiderte, patientenindividuelle Herzklappen, Kiefer, Hüftimplantate, etc. herstellen. Einsatzbeispiele gibt es bereits überzeugende (s. Albrecht et al. 2014): • So wird berichtet von einer Schienung einer Tracheobronchomalazie eines 20-monatigen Kleinkindes (University of Michigan) mit Hilfe einer bioresorbierenden Schiene; • sowie von der Erstellung individueller Prothesenansätze für Beinamputierte in Uganda. Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 77 In 3D-Drucker-Technologie werden dreidimensionale Werkstücke computergesteuert aus flüssigen und / oder festen Werkstoffen aufgebaut. Originalgetreues Herzmodell Radiologie . Kardiologischer / herzchirurgischer Eingriff Hüftgelenkschaden mit porösem Beckenknochen . CT MRT Ersatz eines von Krebs befallenen Rückenwirbels (bösartiger Tumor innerhalb des Rückenmarks) 3D-DruckerSoftware Individuelles Gelenk verankert mit Stammzellen des Patienten . . . . Teilweise Entfernung des Rückenwirbels und Einsatz des Implantats . . Präzise Eingriffsplanung Detaillierte Auflösung Passgenauigkeit (geringe Infektionsgefahr) Beständigkeit durch Titan Verkürzte OP-Zeit Verzicht auf Schrauben und Zement Hochpräzise Einpassung Verwachsen von Knochen und Implantat Abb. 3  3-D-Drucker-Technologie Der Einsatz von 3-D-Drucktechnologie (s. Abb. 3) bietet in der Medizin eine Reihe qualitativer und ökonomischer Vorteile. In der Orthopädie ermöglichen individuelle Implantate aus dem 3-D-Drucker folgende Effekte: • • • • Verkürzung der OP-Zeit, Reduktion von Nachbehandlungs- und Rekonvaleszenzzeiten, wirkungsvollere Funktionserfüllung des Implantats, Verzicht auf Befestigungsmittel (Zement, Schrauben, Fixateure) bei Austausch eines krebsbefallenen Rückwirbels (vgl. apoFokus 2014, S. 13). Auch in der Herz-, Gefäß- und Neurochirurgie ermöglichen 3-D-Druckermodelle eine präzise Vorbereitung auf komplizierte Operationen. Etwa 1,5–5 % der Bevölkerung entwickelt im Lauf des Lebens ein Aneurysma, etwa als ein Ventrikelaneurysma (Herzwandaneurysma), also eine Ausbuchtung der Herzwand infolge einer Ausdünnung des Wandgewebes. Durch die sack- oder spindelförmige Ausweitung der Gefäßwand besteht die Gefahr, dass diese Aussackungen platzen, was beispielsweise bei einem Aneurysma im Kopf unmittelbar zum Tode führen kann. Deshalb ist eine Intervention erforderlich. Grundlegend für die Therapieentscheidung sind Größe und Lage des Aneurysmas. Die Interventionen sind jedoch oft alles andere als Standardeingriffe, zumal jedes Aneurysma eine andere Struktur aufweist. Eine Arbeitsgruppe aus Hamburg stellt auf der 78 M.C. von Eiff und W. von Eiff Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie e. V. eine Methode vor, um originalgetreue Modelle individueller Aneurysmen im 3-D-Drucker herzustellen. An ihnen kann vorab getestet werden, welche Therapie am Erfolg versprechendsten ist. Komplizierte Eingriffe können dann auch am Modell geübt werden. Im Forschungszentrum Medizintechnik in Hamburg sowie in der Klinik und Polyklinik für Neuroradiologische Diagnostik und Intervention am UKE Hamburg entwickelten Forscher eine Methode zur Herstellung von Modellen von Aneurysmen aus dem 3-D-Drucker. So kann die Methode zur kostengünstigen, originalgetreuen Replikation des individuellen Hirnaneurysmas eines spezifischen Patienten ermöglichen, die wesentlich zur individuellen Therapieplanung beitragen kann. Die Modelle können genutzt werden, um zu entscheiden, welche Intervention zum Einsatz kommt, zumal sie auch eine Simulation des Aneurysma-Durchflusses ermöglichen. Darüber hinaus kann die genaue Platzierung zum Beispiel der Platinspirale (Coil) simuliert und damit optimiert werden und letztendlich kann der Eingriff auch vorab durchgespielt werden. Auch für das Testen neuer Medizinprodukte könnten die Modelle geeignet sein. Bereits jetzt kommen in Hamburg die 3-D-Modelle bei schwierigen Aneurysmen zur Therapieplanung zum Einsatz. In wenigen Jahren sollen nach Ansicht der Hamburger Forscher alle Patienten mit komplizierten Aneurysmen von der Innovation profitieren. Zukunftsvision ist die Herstellung von Körpergewebe und Organen. Damit wird die 3-D-Drucktechnik eine Reihe ethischer, medizinischer und ökonomischer und rechtlicher Fragen aufwerfen. 4 IT-Management in der Versorgungslogistik mit Medikalprodukten Der Anteil der Materialkosten (medizinischer Sachbedarf) ist mit über 30 % der Gesamtkosten des Krankenhausbetriebs von einer Größenordnung, die auf Rationalisierungspotenziale untersucht werden sollte. Dabei ist davon auszugehen, dass Einsparungen in Einkauf und Logistik nicht auf Kosten von Patientenorientierung, Behandlungssicherheit und medizinischer Qualität realisiert werden dürfen. 4.1 Wandel im Logistikverständnis Einer der grundlegenden Fehler bei der strategischen Ausrichtung sowie der organisatorischen Gestaltung von Logistikprozessen im Krankenhaus besteht in der traditionellen Kunden-Lieferanten-Sicht, wonach ein Hersteller von Medikalprodukten dem „Kunden: Krankenhaus“ die bestellten Waren zum vereinbarten Preis, in der zugesicherten Qualität, in der georderten Menge, zum abgesprochenen Termin in das Krankenhaus liefert. Diese Art von Kunden-Lieferanten-Verständnis führt zu einer verbrauchsorientierten Logistiksteuerung in Verbindung mit einer BULKWARE-Strategie beim Hersteller und einer Zentrallagerorganisation im Krankenhaus. Die Konsequenzen sind bekannt: Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen • • • • • 79 Hohe Lagerbestände mit entsprechender Kapitalbindung Lagerbewirtschaftungskosten (Stauraum, Lagerpersonal, Verwaltung) Handhabungsaufwand für die Vor- und Endkommissionierung Innerbetrieblicher Transport Lagerbestandsverwaltung und Dispositionsorganisation durch Ärzte und Pflegekräfte in den patientennahen Einsatzbereichen Durch das Konzept der prozessorientierten Logistik (von Eiff 2012) wird das KundenLieferanten-Verständnis neu definiert: Kunde von Medikalprodukten ist nicht das Krankenhaus oder dessen Zentrallager, sondern das am Patienten tätige Personal in den Einsatzstellen (OP, Station, …). Das Konzept der prozessorientierten Logistik (POL) besteht darüber hinaus aus aufeinander abgestimmten Bausteinen zur Organisation, Steuerung und kontinuierlichen Verbesserung der Ver- und Entsorgungsprozesse eines Krankenhauses: • Die anforderungsgerechte und effiziente Anlieferung (Ziel: „Ready-for-Use Delivery“/Efficient Replenishment das einsatzfähige Produkt) • Die effiziente und versorgungssichere Bedarfserkennung und Disposition (Ziel: kostenminimale Bestandssicherheit und Entlastung des Personals) • Die effiziente, kunden- und kostengerechte Sortimentsgestaltung (Ziel: Medikalprodukte-Standards) • Die effiziente Administration der Versorgungsprozesse (Ziel: einfache und fehlersichere/fehlertolerante Abrechnung) • Die wirkungsvolle Organisationsentwicklung (Ziel: durch die Mitarbeiter akzeptierte, kontinuierliche Verbesserung von Produktstrukturen und Arbeitsprozessen rund um das Produkt). Entscheidende Kosten- und Organisationsvorteile lassen sich durch eine Continuous Replenishment Organization (= Wiederauffüllen der verbrauchten Medikalprodukte) in Verbindung mit einem Category Management (= Bildung von Produktkategorien nach bestimmten Einsatzgebieten wie z. B. Anästhesie, Fallstrukturen, wie z. B. Herzchirurgie, oder Einsatzorten, wie z. B. Intensivstation, Katheterlabor) erreichen. 4.2 Quick Replenishment im Rahmen eines Vollversorgungsmanagements: der elektronische Versorgungsschrank Eine ökonomische, ablauforganisatorisch und medizinisch interessante Organisationsform im Rahmen der Medikalproduktelogistik stellt das elektronische Versorgungsschranksystem dar. Für eine organisatorisch und budgetmäßig abgrenzbare Leistungseinheit (z. B. Katheterlabor) werden elektronisch gesteuerte Versorgungsschränke eingerichtet. Diese 80 M.C. von Eiff und W. von Eiff Versorgungszellen nehmen den innerhalb von 24 h benötigten Medikalproduktevorrat auf. Die Entnahme eines Medikalartikels durch die Pflege/Funktionskraft erfolgt in folgender Reihenfolge: • • • • Eingabe der User-ID der Schwester (Feststellung der Entnahmeberechtigung) Eingabe der Patientenkennung (Erfassung des Kostenträgers) Eingabe des benötigten Artikels (Erfassung des Materialverbrauchs pro Patient) Der mit dem Versorgungsschrank gekoppelte Rechner identifiziert die Lagerschublade des Artikels, entsperrt die entsprechende Schranktür und bezeichnet den Lagerort im Schrank per Lichtsignal (= Guiding lights) • Die Schwester entnimmt den Artikel, drückt einen Knopf am Fachboden und mit Schließung der Schranktür werden zwei Transaktionsroutinen ausgelöst: – Generieren einer „Restock List“ zur Fixierung des Ersatzbedarfs (Material Requirement); evtl. Auslösung einer „Bestellung“ auf Basis einer „verletzten Vereinbarung“. – Abruf des Standardpreises für den entsprechenden Artikel und Zubuchung von Artikel und Artikelpreis auf den Account des Patienten; evtl. Abruf der Daten für Zwecke der Fallpauschalen-Nachkalkulation. Das Versorgungsschrankkonzept ermöglicht • eine lagerminimale Logistiksteuerung bei nahezu vollständigem Verzicht auf ein Zentrallager, • die patientenbezogene Kostenverrechnung sowie • die Entlastung des Personals von Logistik-, Dispositions-, Bestandsüberwachungsund Verwaltungsaufgaben. Das Versorgungsschrankkonzept zwingt auch zur grundsätzlichen Überprüfung des Lagerungs- und Verbrauchsverhaltens am Verbrauchsort. Abb. 4 zeigt das Ergebnis einer CKM-Analyse in einem Herzkatheterlabor (von Eiff 2012). Als Resultat dieser Analyse konnte der Lagerbestand an Radialis-Sets (Einkaufspreis zwischen 55 und 70 EUR) um mindestens 25 % gesenkt werden (s. Abb. 5). Der traditionelle Wiederauffüllprozess bei Einsatz von Versorgungsassistenten lässt sich durch elektronische Schranksysteme erheblich vereinfachen, indem die komplette Phase der „Bedarfserkennung und Bestandsprüfung“ automatisiert wird und damit faktisch wegfällt (s. Abb. 6 und 7). Dadurch werden Kapitalbindungskosten reduziert, und bei Produkten mit Ablaufdaten wird Verfall vermieden; darüber hinaus sinkt der Platzbedarf um 25–50 % der Stellfläche. Ein weiterer Vorteil elektronischer Schranksysteme besteht in der Möglichkeit zur Verhandlung von Service Level Agreements (SLA), also Vereinbarungen über einen einzuhaltenden Versorgungsgrad, durch den kritische Out-of-Stock-Situationen (= Fehlmengen) vermieden werden (s. Abb. 8). Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 81 Direktanlieferung durch logistische Dienstleister in Verbindung mit elektronischen Versorgungsschränken ist realisiertes Supply Chain Management. Einkauf Zahlung Controlling Meldung Konsi-Verbrauch Debitoren Bestands-/Bedarfsmeldung Bestellung Direktanlieferung Lieferant Lieferung Lieferant Pay for Perfomance > Nachkalkulation > Automatische Bestandskontrolle > Bestellauslösung • Schrankbezogene Kommissionierung • Kennzeichnung Konsignations-Ware Lieferant DirektLieferant KatheterLabor Log-DL Lieferung Wiederaufbereitung Entsorgung Vorreinigung Klinisches NotfallManagement Präklinische Diagnostik > 12-Kanal-EKG > > > > Versorgung im ambulanten Sektor Troponin J/T Chest Pain Unit KurzliegerStation Abb. 4  Medikalprodukte-Logistik für ein Herzkatheterlabor Die Lagersteuerung ist durch das Ziel der Versorgungssicherheit gekennzeichnet. OrientierungsBestand: 30 Menge 30 3 6 10 RadialisSet Durchschnittlicher Lagerbestand = 24 3 > Preis pro Einheit = 60 Euro > Gebundenes Kapital = 1.440 Euro > Faktischer Mindestbestand = 24 24 24 MO > Potenziale: Raum = - 25 % Gebundenes Kapital = - 360 Euro Personal = 0,8 VZK DI MI DO Fr Zeit Erhebungstage Abb. 5  Die Prüfung der Bestell- und Verbrauchszyklen zeigt Möglichkeiten zur Senkung des Lagerbestandes Logistikkonzepte auf Basis von elektronischen Schranksystemen ermöglichen insbesondere auch externen logistischen Dienstleistern erhebliche Kostenreduktionsmöglichkeiten. Aber auch Hersteller und Lieferanten von Konsignationsware profitieren von den durchschnittlich deutlich geringeren Bestandsmengen (s. Abb. 9). 82 M.C. von Eiff und W. von Eiff Der Abruf- und Wiederauffüllprozess bei Einsatz von elektronischen Versorgungsschränken. Entnahme- und Produktgebrauch Eingabe persönlicher Zugangs-Code Eingabe Patienten-Code Eingabe Produktentnah me: . Art . Menge Entnahme Bedarfserkennung und Bestandsüberprüf -ung Automat. elektronische Information über aktuelle Bestandssituation an LDL Automat. elektronische Information über patientenbezogenen Verbrauch an Controlling Abruf und VorKommissionierung Elektron. Soll-/IstVergleich Zusammenstellung Lieferkommission im Logistik Zentrum Wiederauffüllung Effizienzcheck Direktlieferung in Schrank am Verbrauchsort ProzessSWOTAnalyse Auffüllung Regale . TAT-Zeit . TATKosten . Fehler/ Risiken Verbesserungsmaßnahmen Rückkehr in Logistik Zentrum Schließen des Schranks Abb. 6  Die Bestandsüberprüfung ist zeit- und personalaufwendig Der Abruf- und Wiederauffüllprozess bei Einsatz von elektronischen Versorgungsschränken. Entnahme- und Produktgebrauch Eingabe persönlicher Zugangs-Code Eingabe Patienten-Code Eingabe Produktentnah me: . Art . Menge Entnahme Bedarfserkennung und Bestandsüberprüf -ung Automat. elektronische Information über aktuelle Bestandssituation an LDL Automat. elektronische Information über patientenbezogenen Verbrauch an Controlling Abruf und VorKommissionierung Elektron. Soll-/IstVergleich Zusammenstellung Lieferkommission im Logistik Zentrum Wiederauffüllung Effizienzcheck Direktlieferung in Schrank am Verbrauchsort ProzessSWOTAnalyse Auffüllung Regale . TAT-Zeit . TATKosten . Fehler/ Risiken Verbesserungsmaßnahmen Rückkehr in Logistik Zentrum Schließen des Schranks Abb. 7  In der Lean-Management-Organisation fallen personalintensive Tätigkeiten weg Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 83 Der kostenoptimale Sicherheitsgrad ist nicht das Ziel der Wahl bei medizinischen Leistungsprozessen (Service Level Agreement) Vereinbarter Sicherheitsgrad SigmaLevel 3,4 Kosten Kosten für Sicherheitsmaßnahmen Minimum Sigma-Level 5,5 – 6,0 Kosten durch Risikoeintritt Kostenoptimaler MedizinischSicherheitsgrad qualitativ zu realisierender Sicherheitsgrad Sicherheitsgrad Abb. 8  Das Service Level Agreement ermöglicht eine sichere und kostengünstige Materialversorgung und ist den klassischen betriebswirtschaftlichen Optimierungsansätzen überlegen, insbesondere bei klinischen Prozessen Das eVS-System steuert die Prozesse der Bestandskontrolle, Verbrauchskontrolle, Bestellung, Konsi-Waren-Abwicklung, Wiederauffüllung und Inventur automatisch. Meldung Konsi-Verbrauch Bestands-/ Bedarfsmeldung Einkauf/Debitoren OP/ICU/Stat. • Patient.Ident. ZL/LDL Zahlung Bestellung • Persönliche Identifikation • Schrankbezogene Kommissionierung • Kennzeichnung Konsi-Waren • Eingabe Entnahme - Produkt - Menge • Entnahme Hersteller/Lieferanten Lieferung Einlagerung Transport Abb. 9  Versorgungslogistik mit eVS-System. Das eVS-System steuert die Prozesse der Bestandskontrolle, Verbrauchskontrolle, Bestellung, Konsi-Waren-Abwicklung, Wiederauffüllung und Inventur automatisch 84 M.C. von Eiff und W. von Eiff Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitseffekte sind überall dort festzustellen, wo hochwertige, teure Medikalprodukte eingesetzt werden; so z. B. in Angiografie-Abteilungen, Intensiveinheiten, Notfallaufnahmen und Herzkatheterlaboren. Der Versorgungsschrank wird idealerweise verantwortlich von einem logistischen Dienstleister (LDL) betrieben. Entscheidend ist, dass alle logistischen Versorgungsformen des Krankenhauses aufeinander abgestimmt sind. Dies trifft insbesondere zu, wenn parallel zur Vollversorgung auch eingriffsbezogene Sets zum Einsatz kommen: beide Anlieferungsformen (Set und Vollversorgung) sind keine alternativen Konzepte der Logistikorganisation, sondern sind je nach Krankenhaustyp eher als komplementäre Versorgungsform zu sehen. Darüber hinaus sollte auch der Logistikkreislauf der wiederaufbereitbaren Medikalprodukte (MPU, Multi Patient Use) beachtet werden. In Abhängigkeit vom OP-Plan werden alle im OP für einen bestimmten Eingriff benötigten Produkte eingriffsbezogen zusammengestellt. Das Schranksystem ermöglicht in idealer Weise die Anwendung des „Paid-on-Consumption“ als Abrechnungsform. Der logistische Dienstleister ist kein Outsourcing-Partner, der das krankenhauseigene Zentrallager übernimmt. Die Leistungen (das „Produkt“) eines LDL besteht aus mindestens vier Komponenten: • operative Logistiktätigkeiten (Transport, Lager), • Dienstleistungen, die den Gebrauchswert eines Produkts erhöhen, wie z. B. die verbrauchsgerechte Kommissionierung von Produktsystemen (z. B. montierte Katheter), • Organisationsleistungen zur Optimierung aller operativen und steuernden Tätigkeiten, die erforderlich sind, um benötigte Güter zeit-, verwendungs- und entsorgungsgerecht an den Verbrauchsort zu transportieren, • innovative Beratungsleistungen zur ständigen Verbesserung (KAIZEN) des Güterbeschaffungs- und Gütereinsatzprozesses (Vorschläge für Set-Stücklisten; Austausch von Komponenten gegen preiswertere und qualitätsgerechtere Einzelprodukte). Unter diesem Blickwinkel wird der LDL zum unverzichtbaren Partner in Beschaffungskommissionen und Standardkonferenzen (Bereich: Medikalprodukte und Dienstleistungen). Voraussetzung dafür sind Produktneutralität, Herstellerunabhängigkeit und Zugang zu globalen Märkten. Elektronische Versorgungsschränke eignen sich vor allem für teure und lagerungskritische Artikel (Katheter) sowie kostenintensive und anwendungskritische Medikamente (Atropin). Die Schranksysteme bieten durch den Einsatz von Kühlungsmodulen auch die Möglichkeit, kühlungspflichtige Medikamente (Impfstoffe) zu lagern. Neben der Produktkomplexität kann die Komplexität des Materialversorgungsprozess durch einen Einsatz von elektronischen Versorgungsschränken reduziert werden. Wesentliches Argument ist hier, dass das System, welches an das Krankenhausinformationssystem angebunden ist, über ein aktives Bestandsmanagement verfügt. Sobald ein Artikel entnommen wurde, erfolgt eine automatische Bestandskontrolle und gegebenenfalls Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 85 Nachbestellung. Dies bedeutet eine Reduzierung der Arbeitsbelastung des Personals und somit eine Reduzierung möglicher Fehlerquellen. Die Schranksysteme werden bereits seit Jahren in Krankenhäusern in den USA, Japan, den Niederlanden (s. Abb. 10 und 11), Israel, Spanien, Italien und Großbritannien erfolgreich eingesetzt. Sie vereinfachen nicht nur die Materialversorgung, sondern ihnen ist auch ein positiver Einfluss auf das klinische Risikomanagement zuzuschreiben. Indem bei einer Entnahme ausschließlich das Fach des angeforderten Artikels freigegeben und die genaue Position durch ein Lichtsignal gegeben wird, wird das Risiko von Fehlmedikationen durch „sound-alike“ und „look-alike“ Präparate minimiert. Elektronische Schranksysteme finden weiterhin Einsatz im Bereich der Wäscheversorgung (s. Abb. 12). Die Schranksysteme bieten eine ökonomisch, ablauforganisatorisch und medizinisch sinnvolle Organisationsform im Rahmen der Wäsche-, Arznei- und Medikalproduktelogistik. Zu beachten ist jedoch, dass die Schranksysteme ihre Qualitätssicherungs- und Wirtschaftlichkeitsaspekte erst dann realisieren können, wenn das komplette Versorgungsmanagement zielgerichtet und prozessorientiert umgesetzt ist (s. Abb. 13). Abb. 10  Elektronische Versorgungsschränke sichern die Versorgung mit Medikalprodukten und Medikamenten (einschl. Betäubungsmitteln) im Eingriffsraum der ZNA des Onze Liewe Vrouw Gasthuis (Amsterdam). (Foto: von Eiff/CKM) 86 M.C. von Eiff und W. von Eiff Abb. 11  Logistikversorgung im Schockraum (OLVG, Amsterdam). (Foto: von Eiff/CK) Der „Elektronische Wäscheschrank“ unterstützt den Logistikablauf im Hinblick auf Sicherheit, Komfort und Kosten. Freigabefunktion • Controlling • Einkauf • Kreditoren Flachwäsche Wäschedienstleister Stationswäsche Hygieneschranke Entnahme Befüllung Kommissionierung Pflegekraft Rückgabe OP-Textilien • Mitarbeiter im System • Rechtevergabe Administrationsfunktion Die Systemnutzung muss sicher, komfortabel und einfach sein. Selektionsmöglichkeiten Verfügbarkeit der Wäschestücke Mitarbeiter muss im System angelegt sein Sichtbarkeit des Lesers Verbindung mit Hygienemaßnahmen Abb. 12  Anwendung des Prinzips elektronischer Versorgungsschränke im Bereich Wäscheversorgung unter Einsatz von UHF/RFID-Technologie. (Foto: KEMAS) Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 87 Elektronische Schranksysteme können in verschiedene Logistikkreisläufe wirkungsvoll (Sicherheit, Verfügbarkeit, Verbrauchstransparenz, …) eingebunden werden. Freigabefunktion • Kreditoren Apotheke • Arzt (Verordnung) • Einkauf (Produkt) Medikamente LDL Medikalprodukte Dienstleister Wäsche Entnahme Kommissionierung Befüllung Pflegekraft Rückgabe • Rechtevergabe Administrationsfunktion Abb. 13   Anwendungsbereiche, Funktionen und logistische Grundprinzipien elektronischer Schranksysteme. (Foto: KEMAS) 5 Unterstützende Technologien für die Materialversorgung • Vereinfachung des Bestellvorgangs durch das Barcodeverfahren Aus dem Bereich der Industrie sind viele Verfahren bekannt, die die Materialversorgung elektronisch unterstützen und vereinfachen. Eine Technologie, mit der auch das Versorgungsmanagement in Notaufnahmen schrittweise vereinfacht werden kann, ist die Barcodetechnologie. Ein Barcode ist eine maschinenlesbare Schrift, welche nach einem bestimmten Verfahren verschlüsselte Informationen anzeigt. Barcodeinformationen können durch optische Lesegeräte eingelesen und mittels EDV weiterverarbeitet werden. Es wird zwischen rund 200 verschiedenen Barcodearten und Codierungstypen unterschieden. Unter anderem gibt es den aus dem Einzelhandel bekannten linearen Barcode, die aus übereinander angeordneten Strichcodes bestehende Stapelcodes, die meist viereckigen Matrix-Codes oder den kombinierten Barcode (Klaus und Krieger 2008, S. 41). Je nach Einsatzart sind einzelne Barcodearten und Codierungsformen auszuwählen. Hauptanwendungsbereiche für Barcodesysteme sind die automatische Identifikation (z. B. Kundenkarten) und Datenerfassung (z. B. Kassensysteme). Im Krankenhaus finden Barcodesysteme vor allem im Bereich der Labordiagnostik Anwendung. So werden bei der Aufnahme eines Patienten erstellte Etiketten zur Kennzeichnung von Anforderungsbelegen und Röhrchen eingesetzt. Weitere Einsatzgebiete sind u. a. die Kennzeichnung von Instrumenten, die Logistikunterstützung der Apotheke und die administrative Vereinfachung bei Patientenerfassung und -Verwaltung. 88 M.C. von Eiff und W. von Eiff Auch in Notaufnahmen bestehen zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für Barcodesysteme. Dabei eignet sich die Barcodetechnologie, um die Materialversorgung in Notaufnahmen zu vereinfachen. So können in den Materialschränken und -schubladen für die einzelnen Produktarten Etiketten mit einem Barcode angebracht werden. Nach unterschiedlichen Vorgaben und Verfahren wird dadurch der Bestellvorgang vereinfacht. Durch das Scannen der Barcodes kann sowohl der Ressourcenverbrauch zeitnah erfasst werden, als auch eine automatische Nachbestellung ausgelöst werden. Es ist möglich, nach jeder Entnahme das Etikett zu scannen oder erst bei Unterschreiten der Mindestmenge. Diese Vorgehensweise kann an die Mitarbeiter des Hol- und Bring-Dienstes delegiert und eine Inventur mittels Barcode durchgeführt werden. Auf diese Weise können Pflegekräfte vom aufwendigen Verfahren der Bestandskontrolle zumindest teilweise entlastet werden. Es ist grundsätzlich zu beachten, dass das Barcodeverfahren im Wesentlichen zu einer Vereinfachung des Bestellvorgangs führt. Eine optimale Lagerhaltung im Sinne der Reduzierung der Kapitalbindungskosten wird durch dieses Verfahren nur begrenzt erreicht, da eine geteilte Lagerhaltung erforderlich ist. An dieser Stelle bieten elektronische Versorgungsschränke eine Optimierung der Lagerhaltung. • RFID als logistische Unterstützung RFID (Radio Frequency Identification) ist ein technisches System, mit dem Daten berührungslos und ohne Sichtkontakt gelesen und übertragen werden können (von Eiff et al. 2007, S. 599; von Eiff und Lingemann 2011). Wesentliche Elemente von RFIDSystemen sind die Transponder als Funk-Kommunikationsgeräte sowie Lesegeräte. Die Technologie wird zum Zweck der Identifikation und Überwachung von Objekten genutzt (Franke et al. 2006, S. 17). Ihren Einsatz findet sie u. a. bei Zeiterfassungs- und Bestandskontrollsystemen sowie bei Zutrittskontrollen und Wegfahrsperren. Im Gegensatz zur Barcodetechnologie, bei der Informationen ausschließlich durch Sichtkontakt gelesen werden können, erfolgt die Informationsübermittlung im Bereich des RFID mittels elektromagnetischer Wellen. Dies ermöglicht eine schnelle und fehlerfreie Abwicklung bei der Erfassung von Objektdaten und kann in der Folge zu Kosteneinsparungen und Verbesserungen der Steuerung objektbezogener Prozesse führen (Wehking et al. 2006). Bislang ist die Technologie schwerpunktmäßig in den Bereichen Logistik und Warenwirtschaft zu finden. In deutschen Krankenhäusern wird ihr Einsatz bislang überwiegend in Modellvorhaben erprobt. Im Evangelischen Krankenhaus Castrop Rauxel beispielsweise erhalten Mütter und Neugeborene RFID-Armbänder. Lesegeräte an den Ausgängen der Wöchnerinnenstation lösen Alarm aus, sobald ein Neugeborenes die Station ohne seine Mutter verlässt (Witte 2008). Auch in Altenheimen und geriatrischen Abteilungen von Krankenhäusern werden bereits Lokalisierungstechnologien zum Schutz der Patienten genutzt. Dabei wird sowohl auf aktive (Positionierung) als auch passive Systeme (Nachverfolgung) zurückgegriffen. Grundsätzlich können RFID-Anwendungen im Gesundheitswesen in vier Funktionsbereiche unterteilt werden. Hierzu gehören die Messdatenüberwachung, das Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 89 Berechtigungsmanagement sowie die Prozesssteuerung und die Lokalisierung (Koch und Deiters 2007, S. 192 f.). Die Messdatenüberwachung kann für Patienten wie auch für Objekte genutzt werden. Dabei dokumentieren Transponder, welche mit Sensoren ausgestattet sind, zuvor definierte Parameter (z. B. Blutzuckerwerte, Einsatzzeiten, etc.) (Ahle 2007, S. 342) Die sogenannten Sensortags werden u. a. zur langfristigen Datenerhebung, wie z. B. der Temperaturüberwachung bei Medizinprodukten oder der Gebrauchsmessung von Geräten, eingesetzt. Systeme zur Messdatenüberwachung können erweitert werden durch die automatische Auslösung eines Alarms bei Über- und Unterschreitung bestimmter Werte. Bei der Nutzung der RFID-Technologie im Funktionsbereich des Berechtigungsmanagements übernimmt der RFID-Chip die Funktion eines Schlüssels. Mitarbeiter und/ oder Patienten erhalten Transponder (in Form eines Armbandes, einer Chipkarte oder eines Badges, etc.), welche, je nach Programmierung, den Zugang zu vorab definierten Bereichen ermöglichen oder verwehren. Die Anwendungsbereiche Lokalisierung und Prozesssteuerung greifen häufig ineinander über, da beide die Reduzierung von Suchzeiten, die Verbesserung der Informationen über Aufenthaltsorte und Bestände sowie eine Bereichsüberwachung bezwecken (Ahle 2007, S. 193). Bei der Lokalisierung wird ein zu kontrollierendes Objekt, respektive eine Person mit einem Transponder, ausgestattet, welcher seinem Träger eine eindeutige Kennung zuweist. Dabei wird zwischen aktiven und passiven Systemen unterschieden. Ein aktives System kennzeichnet sich durch ein kontinuierliches Senden von Informationen. Die genaue Position des Objekts/der Person kann auf diese Weise jederzeit nachvollzogen werden. Bei einem passiven Lokalisierungssystem sendet der Transponder erst dann Informationen, wenn er einen kritischen Punkt, in diesem Fall ein Lesegerät, passiert. Die Prozesssteuerung mittels RFID umfasst nicht nur die betriebsunterstützende Tätigkeit der Lokalisierung, sondern kann auch im Rahmen der medizinischen Leistungserbringung angewandt werden. Einem Versuch der University of Nebraska zufolge, kann durch die Nutzung von RFID das Risiko im Körper zurückgelassener OP-Schwämme reduziert werden (Rogers et al. 2007, S. 1235). Im Rahmen des Versuchs wurden OP-Schwämme mit Transpondern ausgestattet. Durch ein automatisiertes Abzählen der Schwämme vor und nach einer Operation konnten Fehlmengen schnell aufgedeckt werden. Des Weiteren konnten im Körper des Patienten zurückgebliebene Schwämme mit Hilfe eines Lesegerätes im Körper geortet und noch vor Ende der OP entfernt werden. Diese Prozedur vermindert das Risiko eines Abszesses und somit einer, unter Umständen notwendigen, weiteren OP (Rogers et al. 2007, S. 1237). Neben den genannten Einsatzmöglichkeiten wird die RFID-Technologie mittlerweile auch im Bereich von Notaufnahmen eingesetzt. Das Asklepios Future Hospital in Hamburg beispielsweise verwendet die Technologie zum Zweck der Lokalisierung und Statusüberwachung medizinischer Geräte. Auf diese Weise sollen die Auslastung der Geräte erhöht und Wartezeiten verkürzt werden. Es ist ebenfalls geplant, RFID zur Lokalisierung und Steuerung von Patienten einzusetzen (Koch und Deiters 2007, S. 8). Im Centre Hospitalier Universitaire de Nice (Universitätsklinikum Nizza) hat diese Erweiterung 90 M.C. von Eiff und W. von Eiff bereits stattgefunden. Neben dem Gerätemanagement, erhalten auch Patienten bei der Aufnahme in das CHU ein RFID-Armband, von welchem in Echtzeit Informationen zum medizinischen Zustand des Patienten sowie abgeschlossene und ausstehende Behandlungsschritte abgerufen werden können (Koch und Deiters 2007, S. 9). Die technische Beschaffenheit der RFID-Transponder (s. Abb. 14) ist mittlerweile derart robust, sodass auch Wäschestücke mit UHF/RFID-Technologie ausgestattet werden können. Professionelle Wäschedienstleister unterstützen den Krankenhausbetrieb auf dreifache Art: • sie liefern hygienesicherere Produkte (OP-Textilien, Hotelwäsche, Bekleidung), • sie unterstützen bei der Realisierung kostengünstiger und sicherer klinischer Prozesse und • sie sorgen für ökologische Nachhaltigkeit aufgrund der positiven Öko-Bilanz von Wäscherei-Dienstleistern, insbesondere gegenüber Einweg-Textilien. Durch Einsatz von RFID wird die Steuerung des Wäscheeinsatzes optimiert und das Wäscherei-Controlling präzisiert. So entfällt z. B. das aufwendige und kostenintensive Sortieren und Zählen per Hand. Weiterhin lässt sich die Anzahl gelieferter/abgeholter Wäschestücke genau erfassen, wodurch eine leistungsgerechte Abrechnung sichergestellt wird. Es ist festzustellen, dass RFID im Bereich der Materialwirtschaft bisher nur eingeschränkt genutzt wird. Eine Zunahme ist jedoch mit der Etablierung des Einsatzes der Technologie zu erwarten. Dies müsste jedoch von den Herstellern initiiert werden. Des Weiteren sind mögliche datenschutzrechtliche Risiken zu beachten. Abb. 15 zeigt den RFID-Einsatz in den Bereichen Materialsteuerung und Patientenidentifikation in einem Herzkatheterlabor. Abb. 14   Technische Beschaffenheit und niedrige Kosten von UHF-Technologie ermöglichen die Unterstützung unterschiedlicher Logistikabläufe. (Foto: KEMAS) Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 91 Elektronische Versorgungsschränke in Verbindung mit RFID-Technologie bewirken geringere Materialbestände, 30-40% weniger Raumbedarf, beschädigungsfreie Lagerung, automatische Bestandsüberprüfung und Bestellung sowie eine Patientenbezogene Nachkalkulation. Herzkatheter-Labor Katheter Automatische Bestandsprüfung und Bestellung Catheter xyy Stent Logistischer Dienstleister DirektAnlieferung Elektronischer Versorgungsschrank (Medikalprodukte) Identifikation Kommissionierung Katheter-Messplatz Patient mit RFID-Armband Abb. 15  RFID-Einsatz im Herzkatheterlabor 6 Realisierungshindernisse Eine auf Konsolidierung, Integration und Prozessorientierung ausgerichtete IT-Strategie ist in der Praxis einer Reihe von Realisierungshindernissen ausgesetzt. 6.1 Ungeklärte Finanzierung Ungeklärte Finanzierungsfragen führen dazu, dass einzelne Stakeholder-Gruppen (z. B. niedergelassene Vertragsärzte, Kostenträger) befürchten, die Finanzlast alleine stemmen zu müssen und von daher ablehnendes Verhalten – trotz sachlicher Richtigkeit eines Konzepts – zeigen. Bestes Beispiel ist die elektronische Gesundheitskarte, die in der Variante der Versichertenkarte eingeführt ist, aber weit entfernt von den Möglichkeiten ist, die sie birgt, um diagnostische und therapeutische Effektivität zu erhöhen, Patientenrisiken zu senken und Wirtschaftlichkeitseffekte zu erzeugen (z. B. Vermeidung von Doppeluntersuchungen, Behandlung chronisch Kranker). 92 M.C. von Eiff und W. von Eiff 6.2 Datensicherheit Ein weiteres Realisierungshindernis stellt die einseitige Übertonung des Datenschutzes dar. Überspitzt formuliert gilt in Deutschland der Grundsatz „Datenschutz vor medizinischer Behandlungseffektivität und klinischen Patientenrisiken“. Die Furcht vor dem Missbrauch sensibler Daten (z.  B. vergangene psychotherapeutische Behandlung; Genom-Daten; ableitbare medizinische Risikoprofile) durch Arbeitgeber oder Versicherer wiegt oft höher als der Nutzen für den individuellen Patienten im Notfall. Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zeigt, wie ideologiebeladen und unsachlich die Debatte geführt wird: Dass die Vorratsdatenspeicherung signifikant dazu beiträgt, nach Terroranschlägen Extremisten-Netzwerke aufzudecken und zukünftige Anschläge zu verhindern, ist in Ermittlerkreisen unbestritten. Auch verlangen die Vertreter der Polizei keinen freien jederzeitigen und präventiven Zugriff auf diese Daten, sondern sind bereit, dieses Zugriffsverfahren nur durch richterliche Erlaubnis zu eröffnen. Trotz eines rechtsstaatlich geregelten Verfahrensentwurfs wird ein abstraktes Grundrecht auf absolute „Datenunversehrtheit“ von zahlreichen Politikern höher eingestuft als das Recht des Bürgers vor Schutz und Unversehrtheit an Geist, Leib und Leben. 6.3 Umsetzungshindernisse Die Umsetzung innovativer IT-Strukturen verändert Arbeitsprozesse, Zusammenarbeitsformen und Berufsbildstrukturen. Solche grundlegenden Veränderungen erzeugen bei den betroffenen Mitarbeitern Ängste, die zu Realisierungswiderständen führen. Vor diesem Hintergrund ist die beste IT-Strategie wertlos, wenn sie nicht im Rahmen eines strukturierten, planvollen Change-Management-Prozesses umgesetzt wird. ChangeManagement-Interventionen werden gerade in Institutionen des Gesundheitswesens noch viel zu wenig genutzt mit der Begründung, dies sei zu zeitaufwendig und teuer. Erfahrungen aus der Industrie zeigen aber, dass gerade mit Interventionen wie Open Space, Try Out, Produktklinik, Benutzer-Service sowie Key-User-Unterstützung Prozesse grundlegenden organisatorischen Wandels beherrschbar sind. 6.4 Ergebnisse und Erkenntnisse Big Data und Digital Health eröffnen neue Möglichkeiten für die Organisation von medizinischen Veränderungsprozessen, aber es gibt Grenzen in der Anwendung. • Wirtschaftlicher Erfolg und medizinische Qualität entstehen durch optimale Prozessorganisation, und diese setzt wirkungsvolles IT-Management voraus. Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 93 • Personalisierte Medizin ist ohne effektives Big-Data-Management nur begrenzt realisierbar. • Change Management wird zum Erfolgsfaktor. • Erkenntnisse aus dem Bereich der Behavioural Medicine müssen bei der Gestaltung von Konzepten der Versorgungsorganisation zwingend berücksichtigt werden. • In Zukunft werden digitale Gesundheitsnetzwerke und telemedizinische Versorgungsformen die medizinische Qualität sowie die Wirtschaftlichkeit eines Gesundheitssystems bestimmen (s. Abb. 16). • Kern eines Krankenhaus-IT-Systems ist der „klinische Arbeitsplatz“. Dieser ist Bestandteil des klinischen Informationssystems, das klinische Patientendaten fachund funktionsübergreifend enthält und die Anbindung zu besonderen extern orientierten Serviceleistungen (z.  B. Zweitmeinungsverfahren über Teleradiologie; Überwachung von Arrhythmie-Patienten via Home Monitoring; Big-Data-Analysen zum zeitnahen Auslesen von Gensequenzen) sicherstellt (s. Abb. 17). Die Verbindung zu Patientenadministration, Archiv und betriebswirtschaftlichen sowie logistischen Daten rundet ein umfassendes Krankenhausinformationssystem ab. • Im Bereich der Krankenhauslogistik wird der Einsatz von UHF/RFID-Technologie dazu beitragen, die Arzneimittellogistik (einschließlich der „letzten Meile“ bis zur Abgabe an den Patienten) sicherer sowie die Medikalproduktelogistik wirtschaftlicher zu organisieren. Die Digitalisierung ermöglicht einen patientenzentrierten Informationsaustausch in einem Behandlungsnetzwerk von Spezialisten ohne Zeitverzug und Doppelbefundung. Patienten @ Akte Stadtteil A Poliklin. Ambulanzzentrum Stadtteil C • Patientenabrechnung • gemeinsame Positivliste • Ressourcen-Sharing • Weiterbildung • Second Opinion • gemeinsame Verwaltung • gemeinsamer Einkauf Krankenhaus Stadtteil B Reha Das Krankenhaus verfügt in Zukunft über qualifizierte „Hausarzt“-Ressourcen: ambulante, vollstationäre und rehabilitative Leistungen werden aus einer Hand (Gesundheitswesen) preisgünstig und auf hohem Qualitätsniveau angeboten. Abb. 16  Digitale Versorgungsnetzwerke sichern die qualifizierte medizinische Versorgung der Bevölkerung in der Fläche, insbesondere auch bei Ressourcenknappheit 94 M.C. von Eiff und W. von Eiff The Hospital Information System plays a pivotal role in order to ensure an integrated IT infrastructure Clinical Information System Medical Depts. • Surgery • Internal Medicine • Anaesthesiology • Orthopedics • Cardiology • Gynecology • … Outpatient Information System Emergency Dept Information System Functional Units • Intensive Care • Operating Theatre • Radiology • Nuclear Diagnostic • Labor • CathLab • Pathology • EKG, EEG, Sono • Pharmacy • … • • • • Hospital Informat ion System Admission Transfer Discharge Payment Tele-radiology Services Home Monitoring 3D Printer Big Data Applications „Clinical Workplace “ Patient Administration Tele-medicine Services Archive Electronic Central Archiving System Administration • • • • Controlling Medical Controlling HR Cost Accounting • • • • Procurement Maintenance / Repair Food Services Accountancy Abb. 17  Das umfassende Krankenhausinformationssystem und seine intern sowie extern orientierten Bestandteile Literatur Ahle U (2007) RFID im praktischen Einsatz. In: Bullinger H-J, Hompel M ten (Hrsg) Internet der Dinge. Springer, Berlin, S 331–345 (VDI Buch) Albrecht U-V, Franz S, Viering J (2014) 3-D-Druck: Organe und Implantate aus dem Drucker? Dtsch Arztebl 111(38):12–15 apoFokus (2014) 3D-Drucker – Modelle für jeden Lebensbereich. apoFokus 2014(3) Eiff W von (2011) Patientenorientierte Arzneimittelversorgung: Sicherheit und Wirtschaftlichkeit. In: von Eiff W (Hrsg) Patientenorientierte Arzneimittelversorgung. Sicherheit und Wirtschaftlichkeit des Arzneimittelmanagements. Thieme, Stuttgart, S 186–205 Eiff W von (2012) Lean Management in der Logistik. Effiziente Versorgung mit Medikalprodukten. Krankenh Umsch Gesundheitsmanagement 2012(11):43–47 Eiff W von, Lingemann M (2011) RFID-Einsatz im Klinikbetrieb. Organisationsformen für klinische Prozesse. Health Care Manag, Sonderheft Dokumentation und Datenverarbeitung, S 10–13 Eiff W von, Hagen A, Prangenberg A (2007) Radio frequency identification – Instrument des klinischen Risikomanagements. In: Eiff W von (Hrsg) Risikomanagement – Kosten/Nutzen-basierte Entscheidungen im Krankenhaus, Bd 2 der Schriftenreihe Gesundheitswirtschaft im WIKOMVerlag, 2., erw. Aufl. WIKOM, Wegscheid, S 597–614 Franke W, Dangelmeier W, Sprenger C, Wecker F (2006) RFID-Leitfaden für die Logistik: Anwendungsgebiete, Einsatzmöglichkeiten, Integration, Praxisbeispiele. Gabler, Wiesbaden Klaus P, Krieger W (Hrsg) (2008) Gabler Lexikon Logistik, 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden Koch O, Deiters W (2007) RFID im Gesundheitswesen – Nutzenpotenziale und Stolpersteine auf dem Weg zu einer erfolgreichen Anwendung. In: Bullinger H-J, Hompel M ten (Hrsg) Internet der Dinge. Springer, Berlin, S 191–201 (VDI-Buch) Perspektiven des IT-Managements im Gesundheitswesen 95 Rogers A, Jones E, Oleynikov D (2007) Radio frequency identification (RFID) applied to surgical sponges. Surg Endosc 21(7):1235–1237 Wehking K-H, Seeger F, Kummer S (2006) RFID-Technologie: Bindeglied zwischen Informationsfluss und Materialfluss. Wie zuverlässig sind die Identifikationsvorgänge. Logistics Journal, referierte Veröffentlichungen 2006 Witte C (2008) EvK. Funkchips an Krankenhausbetten sollen Effizienz steigern. http://www.ruhrnachrichten.de/lokales/crlo/Castrop-Rauxel;art934,326002. Zugegriffen: 23. Feb. 2016 Über die Autoren Maximilian C. von Eiff studierte Humanmedizin an der Universität Pécs, Ungarn (Abschluss: dr. med.). Seine Abschlussarbeit verfasste er über alternative Therapieformen bei Epilepsie. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt betrifft die Prävention von postoperativen Wundkomplikationen und ihre klinischen sowie ökonomischen Auswirkungen. Weiterhin beschäftigt er sich mit dem Einfluss des „Healing Environment Approach“ auf medizinische Qualität, Patienten Outcome, Verweildauer und Kosten des Klinikbetriebs. Er absolvierte ein Six Sigma-Training und arbeitete in diesem Bereich an verschiedenen Studien zur Prozessverbesserung unter Einsatz von innovativen IT-Technologien mit, so u. a. „Glukose-Monitoring auf Stationen“ und „Notfallmanagement von Patienten mit akutem Koronarsyndrom“. Kontakt: voneiff4@aol.com Univ.-Prof. Dr. Dr. Wilfried von Eiff  ist Leiter des Centrums für Krankenhaus-Management (Uni-Münster) sowie Professor für Health Care Management an der HHL Leipzig Graduate School of Management. In der Funktion des Verwaltungsdirektors war er Mitglied des Vorstands der Uni-Kliniken Gießen. Er promovierte an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Tübingen sowie an der medizinischen Fakultät der Uni Gießen; die Habilitation im Fach Allgemeine BWL erfolgte an der Uni Würzburg. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der Kerckhoff-Klinik (Bad Nauheim). Er leitet die Special Interest Group „Benchmarking and Best Practice Management“ der European Health Management Association (EHMA) und ist Mitbegründer der „Tour der Hoffnung“, einer seit über 30 Jahren erfolgreichen Goodwill-Veranstaltung zugunsten krebs- und leukämiekranker Kinder. Kontakt: wilfried.von.eiff@hhl.de Teil II Projekte, Evaluationen, Positionen zur E-Health-Ökonomie Telemedizin und andere E-Health-Anwendungen haben es bisher nicht in die Regelversorgung geschafft. Ein Grund dafür scheint uns zu sein, dass der monetäre Nutzen von E-Health bisher nicht bewiesen werden konnte. Auch gibt es Nutznießer der Anwendungen, die keine Kosten aufwenden müssen und Kostenträger, die keinen Nutzen davontragen. Weitere Gründe und Umsetzungsbarrieren werden in Beispielartikel aufgelistet. Die Frage nach der Nachhaltigkeit der Anwendungen steht damit zentral im Raum und wird im Beispiel diskutiert. Mit dem E-Health-Gesetz ist dem Gesetzgeber ein wichtiger Meilenstein gelungen, auf den zu erwartenden Impact geht der Artikel ein. Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten Hannes Schlieter, Martin Benedict und Martin Burwitz 1 Hintergrund Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik im Gesundheitswesen, kurz E-Health, wird schon länger als Möglichkeit gesehen, das Gesundheitswesen effektiver zu gestalten und dadurch Kosten zu sparen sowie die Qualität der Versorgung zu verbessern (Eysenbach 2001; World Health Organization 2015). Die Verstetigung innovativer, auf modernen E-Health-Technologien basierender intersektoraler medizinischer Versorgung scheitert in Deutschland heute jedoch häufig an der fehlenden Verwertungsbasis und dem Pilotcharakter durchgeführter E-Health-Projekte, die wiederum als Negativbeispiel für eine breitenwirksame Übertragung von Lösungen herangezogen werden. E-Health-Pilotprojekte sind häufig nicht in der Lage, die Erprobungsphase zu verlassen, ein Regelversorgungskonzept umzusetzen und ihren Wirkungskreis auszudehnen (Häckl 2010; Gersch und Rüsike 2011). Nicht umsonst wird dieses Phänomen mit Pilotitis bezeichnet. Stroetmann (2013) spricht hier von einem klassischem Marktversagen, da erst beim Bestehen der Infrastruktur viele Akteure durch konkrete Anwendungen auch messbaren Nutzen generieren können und somit auch für die Gesundheitspolitik der Gesamtnutzen sichtbar wird (Stroetmann 2013), sodass es im Anfangsstadium kaum ohne öffentliche Subventionierung möglich ist, E-Health-Projekte zu initiieren. H. Schlieter (*) · M. Benedict · M. Burwitz  Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbes. Systementwicklung, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: hannes.schlieter@tu-dresden.de M. Benedict E-Mail: martin.benedict@tu-dresden.de M. Burwitz E-Mail: martin.burwitz@tu-dresden.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_6 99 100 H. Schlieter et al. Dieses Instrument hat aber auch dazu geführt, dass bei erfolgreicher Verstetigung die Anwendung der Resultate oft auf einen (mit der Zeit sich reduzierenden und meist geschlossenen) Anwenderkreis beschränkt wurde, welcher auch bei der Pilotierung eines Projektes beteiligt war (de Bont und Bal 2008; Murray et al. 2011; Andreassen et al. 2015). Dies führt zu der unbefriedigenden Nachhaltigkeit und damit verbundenen gesellschaftlichen Wirkung von E-Health-Projekten sowie zum Verlust an Investitionen (z. B. Fördermittel) und volkswirtschaftlichen Schäden (z. B. investierte Arbeitszeit, Versorgungsniveau). Es kommt zum Ausbleiben von Optimierung in der Versorgungslandschaft bzw. zum Verlust an Versorgungsqualität durch die abnehmende Versorgungsstruktur, der durch den demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel bedingt wird. Gleichzeitig zerrt dies an der Wettbewerbsposition der nationalen E-Health-Anbieter und ihrer Innovationsfähigkeit und -freudigkeit. Oftmals wird die Verwertbarkeit von E-Health-Lösungen ausschließlich mit der Finanzierungsfragestellung festgemacht und dabei die Wechselwirkung zwischen Technologieentscheidung, Umweltgegebenheiten, sozialen Einfluss von Lösungen sowie deren Wirkung auf eine nachhaltige Entwicklung vernachlässigt. Ausgehend von den Dimensionen der Nachhaltigkeit wird im vorliegenden Buchkapitel die Grundvoraussetzung für die Schaffung einer technologisch nachhaltig gestalteten E-Health-Lösung dargestellt. Dazu werden anhand eines Ordnungsrahmens die zentralen Entscheidungsmomente aufgezeigt und in Form von Richtlinien technische und organisatorische Maßnahmen vorgegeben. 2 Dimensionen der Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit wird stets die Vielschichtigkeit der Wirkungsrichtung langfristig orientierten ökonomischen Handelns hervorgehoben. Nachhaltigkeit bezieht demnach gleichberechtigt den ökologischen, ökonomischen, gesamtgesellschaftlichen und sozioökonomischen sowie globalen Einflussbereich in Überlegung zum Impact von Handlungen mit ein (Costanza und Patten 1995; Brown et al. 1987). Für Nachhaltigkeit gelingt eine Definition nur, wenn man die Fragen berücksichtigt, welches System betrachtet wird, welcher Betrachtungshorizont gilt und welche Bewertungskriterien für Nachhaltigkeit zugrunde liegen (Costanza und Patten 1995). Ein nachhaltiges E-Health-Projekt fokussiert daher auf eine zuverlässige Verwertung der Projektergebnisse über das Projektende hinaus, sodass eine möglichst transparente und breitenverfügbare Lösung erreicht wird. Fanta et al. (2015) differenzieren dabei vier verschiedene Arten von Faktoren für nachhaltige E-Health-Implementierungen (s. Abb. 1). Demnach sollten bei der Umsetzung von E-Health-Projekten folgende Nachhaltigkeitsdimensionen berücksichtigt werden: Ökonomische Nachhaltigkeit: Das E-Health-Projekt ist in der Lage, eine dauerhafte und unabhängige Finanzierung sicherzustellen, wirtschaftlich effiziente Strukturen Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten • • • • • • • Rechtskonformität Lernumfeld Informationsverfügbarkeit Klinische Sicherheit Qualität der Versorgung Keine Ungleichheiten Entscheidungsunterstützung 101 Umwelt • • • Rechtlich Bestimmungen Leistungsbereitschaft Kapazitätsfördernd • • • Technologie Gesellschaft • • • Ethisch Kulturell Benutzergruppenspezifisch Verbesserte Einnahmen Reduzierte Kosten Bezahlbare Gesundheitsleistung Wirtschaft • • • • • • • • • Nutzerfreundlichkeit Interoperabilität Effizienz Angemessenheit Skalierbarkeit Flexibilität Verfügbarkeit Zuverlässigkeit Qualität • • • • Finanzausstattung ROI Kosteneffektivität Bezahlbarkeit Abb. 1  Kontext von E-Health und Erfolgsfaktoren. (Fanta et al. 2015) zu schaffen und zu erhalten sowie zu einer erschwinglichen medizinischen Versorgung beizutragen. Umgebungsnachhaltigkeit: Das Projekt ist in der Lage, sich als Bestandteil einer domänenspezifischen Teilnehmerlandschaft zu etablieren und sich an die dort vorhandene Compliance-Anforderungen fortlaufend anzupassen. Es existiert seitens der Umgebung der Konsens und das Verständnis, dass die geschaffenen Projektartefakte einen Beitrag innerhalb der Umgebung leisten. Soziale Nachhaltigkeit: Die im Projekt eingeführte E-Health-Innovation führt zu einer qualitativen Verbesserung der Versorgungslage (Verteilungsgerechtigkeit, klinische Sicherheit, etc.) und Versorgungsqualität. Ähnliche Versorgungsfälle profitieren langfristig ebenfalls von der eingeführten Innovation. Technologische Nachhaltigkeit: Das Projekt ist so gestaltet, dass es auch künftige Belange von Stakeholdern befriedigen kann und eine kontinuierliche Anpassung an neue Entwicklungen ermöglicht. Die eingeführten Technologien sind nicht auf das im Projekt umgesetzte Szenario beschränkt, sondern werden in anderen Szenarien und Situationen eingesetzt bzw. können zur Realisierung neuer Szenarien verwendet werden. Neue E-Health-Innovationen können auf die im Projekt umgesetzten Innovationen zurückgreifen. Neue Technologien können in die geschaffenen Projektstrukturen eingebracht werden. 102 H. Schlieter et al. Im Komplex der Nachhaltigkeitsüberlegung schließt sich die singuläre Betrachtung der Nachhaltigkeitsdimensionen aus. Vielmehr beschreiben die dargestellten Nachhaltigkeitsdimensionen ein System von in Wechselwirkung stehender Kriterien, sodass auch in der Ausrichtung und Entwicklung von E-Health-Lösungen eine systemische Betrachtung zwischen Technologie, sozialen Impact und ökonomischen Überlegungen erforderlich ist. 3 Das Digitale Ökosystem als Metapher Grundvoraussetzung für den Aufbau bzw. Ausbau von regional organisierten integrierten Versorgungskonzepten, den sogenannten Gesundheitsregionen, ist die gemeinsame informatorische Basis über die Leistungserbringer hinweg, die durch ein interorganisationales Informationssystem bereitgestellt wird. Interorganisationale Informationssysteme unterliegen durch das Zusammenspiel der verschiedenen Partner und durch wechselnde Rahmenbedingungen in der Zusammenarbeit einer hohen Dynamik (Kanellis und Paul 1997) und erfordern daher eine hohe Adaptions- und Wandlungsfähigkeit. Ist dies nicht gegeben, besteht die Gefahr, dass sich Organisationsstrukturen dynamisch weiterentwickeln, wogegen das Informationssystem die Geschäftsanforderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt abbildet („Frozen Information Systems“) (Kanellis und Paul 1997). Interorganisationale Informationssysteme benötigen daher, wie auch konventionelle betriebliche Informationssysteme, kontinuierliche Fortentwicklung. Klassische Methoden der strategischen Rahmenplanung und des taktischen Informationsmanagements (Gräber et al. 2002) sind jedoch auf interorganisationale Informationssysteme nur bedingt anwendbar, da aufgrund der Vielzahl von gleichberechtigten – zu großen Teilen rechtlich unabhängigen – Partnern häufig keine zentrale Entscheidungsinstanz existiert, die diese strategische Rahmenplanung vornehmen und steuernd eingreifen kann (Homburg 1999; Reimers et al. 2004). Die Zentralisierung der Entscheidungshoheit würde zudem bedeuten, dass alle Teilnehmer des interorganisationalen Informationssystems bereit sind, ihre eigene strategische Rahmenplanung nachrangig zu behandeln und Entscheidungen durch die übergeordnete Instanz stets widerspruchsfrei zu akzeptiert. Die Realisierung innovativer E-Health-Lösungen auf Basis existierender Informationssysteme wäre daher mit hohen Abstimmungsaufwänden verbunden. Gleichzeitig begünstigt das Entscheidungsmonopol einen Selektionsprozess und erschwert gleichzeitig den Zugang innovativer Lösungen. Die technologische Nachhaltigkeit kann daher nur erreicht werden, wenn dezentrale Mechanismen etabliert bzw. für alle Parteien gültige Regelprozesse definiert werden, die die Wandlungsfähigkeit unterstützen und einen definierten Zugang zulassen („Living Information Systems“) (Kanellis und Paul 1997). Aus technologischer Sicht bieten offene E-Health-Plattformen die entsprechenden infrastrukturellen Voraussetzungen, diesen Anforderungen gerecht zu werden (Tiwana et al. 2010; Ceccagnoli et al. 2012; Lusch und Nambisan 2015). Eine E-Health-Plattform ist charakterisiert durch eine Menge Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 103 zusammenhängender Komponenten, die die Interoperabilität verschiedener Module eines Softwaresystems sicherstellen und ein Basissatz von Ressourcen so zu Verfügung stellen, das die Entwicklung neuer Produkte (im Sinne von Fachanwendungen) und Services ermöglicht (in Anlehnung an Ghazawneh und Henfridsson 2011; basierend auf Baldwin und Woodard 2008; Gawer und Cusumano 2008; West 2003). Durch den Begriff der „Offenheit“ werden zudem der transparent definierte Zugangsweg sowie der gleichberechtigte Zugang zur Plattform betont. In einer offenen E-HealthPlattform gibt es keine monopolistische Entscheidungsinstanz, die interessengeleitet Anwendungen selektiert. Vielmehr finden eine Koexistenz und ein Wettbewerb zwischen Lösungen statt, sodass sich auch das gesamte Informationssystem sukzessive weiterentwickelt (Eisenmann et al. 2008). Eisenmann et al. (2008) stellen fest, dass Offenheit von Plattformen auf der Ebene der Endnutzer, der Lösungen (Supply-Side User) der Plattformanbieter (Betreiber von Instanzen) und der Plattformsponsoren (Urheber der Plattform) auftreten kann. Aus technischer Sicht belegen die Fähigkeiten zum Informationsaustausch und Nutzung von Informationen, die zwischen zwei oder mehreren Systemen (bzw. Komponenten) übermittelt wurden (kurz: Interoperabilität) (IEEE 1990) sowie die Fähigkeit zur Erweiterung eines Basissystems, um neuartige Anforderungen realisieren zu können (kurz: Erweiterbarkeit) (Galin 2004), die Qualität der Offenheit, wobei sich beide bedingen. So ist die Erweiterbarkeit eine Voraussetzung, um langfristige Interoperabilität zu erreichen (Benedict et al. 2015). Langfristige Interoperabilität trägt wiederum zur technologischen Nachhaltigkeit bei. In Praxis und Wissenschaft wurde zur Beschreibung einer offenen Informationssystemlandschaft die Metapher des „digitalen Ökosystems“ (digital ecosystems) (Dini und Nicolai 2007) und deren Varianten platform ecosystems (Ceccagnoli et al. 2012), software ecosystems (Burkard et al. 2012) in Anlehnung an ein natürliches Ökosystem geprägt. Damit soll insbesondere die Dynamik und Wandlungsfähigkeit sowie Mechanismen zur Selbstorganisation interorganisationaler Informationssystemen hervorgehoben werden (Dini und Nicolai 2007). Ein digitales Ökosystem enthält dabei Akteure und Innovationen, welche beim Aufbau interorganisationaler Handlungs- und Informationssysteme zur Verfügung stehen (Lusch und Nambisan 2015). Die Entstehung von Beziehungen zwischen diesen Akteuren ist dabei nicht vorhersagbar, was Peltoniemi (2006) durch den Begriff der Emergenz charakterisiert. Zudem steht bei digitalen Ökosystemen die gesamtheitliche Sicht auf das interorganisationale Handlungssystem im Fokus, in welchem sich Akteure unabhängig, wettbewerblich und trotz dessen koevolutionär entwickeln können (Dini und Nicolai 2007; Ceccagnoli et al. 2012). Der Erfolg im Sinne der ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit eines solchen Ökosystems hängt davon ab, eine kritische Masse an Nutzern aufzubauen und halten zu können. Eine E-Health-Plattform stellt die basalen Infrastrukturkomponenten und Services zur Verfügung und schafft so den Nährboden für ein entwicklungsfähiges digitales Ökosystem. Auf diesen Plattformen können Innovationen durch kontinuierliche Rekombination und Neueinführung von Diensten und Komponenten geschaffen werden. 104 H. Schlieter et al. Neue Infrastrukturkomponenten und Services können im Laufe der Zeit aus den Innovationen entstehen. E-Health-Plattformen bilden somit den Nukleus für die organische Entwicklung des E-Health-Ökosystems. Die fortlaufende Anpassung solcher Plattformen im Sinne von „Living Information Systems“ sichern die technologische Nachhaltigkeit und sind somit Grundvoraussetzung erfolgreicher E-Health-Lösungen, da sowohl auf neue technische Entwicklungen als auch auf neue Stakeholder und deren Belange reagiert werden kann und per se die Ungleichbehandlung von Akteuren ausgeschlossen wird. Wird häufig die Finanzierung des Aufbaus und insbesondere des Betriebs mit dem ökonomischen Erfolg und E-Health-Lösung gleichgesetzt, sollte die Bewertung der Nachhaltigkeit der Gesamtlösung alle Nachhaltigkeitsdimensionen (s. Abb. 1) berücksichtigen, wobei die technologische Dimension Grundvoraussetzung für das Erreichen langfristig wirkender Lösungen ist (s. Abschn. 2). 4 Offenheit von E-Health-Plattformen Im Kontext von E-Health-Plattformen wird technologische Nachhaltigkeit im Wesentlichen durch die Ausrichtung und Qualitätsmerkmale der Plattformen bestimmt, welche auch die Offenheit der Plattform beeinflussen. Die Qualitätsfaktoren Erweiterbarkeit und Interoperabilität sind wichtige Variablen für die Sicherstellung der Offenheit. Durch erweiterbare Technologien werden beispielsweise die künftigen Verwertungsoptionen gestärkt, was die ökonomische Nachhaltigkeit und die soziale Nachhaltigkeit fördert. Erweiterbarkeit und Interoperabilität sichern künftiges Wachstum, welches nicht zwangsläufig vom initialen Plattformgestalter abhängig ist. Der Fokus des künftigen Wachstums liegt bei der Erweiterbarkeit besonders auf dem künftigen Ausbau einer Plattform (im Sinne von intrinsischem Wachstum, Ergänzung neuer wiederverwendbarer Funktionalität) wohingegen Interoperabilität eher auf den technologischen Ausbau des plattformbasierten Ökosystems fokussiert (im Sinne von extrinsischem Wachstum, Einbindung neuer Akteure und Systeme in das Ökosystem). Interoperabilität wird dabei oftmals an den unterstützten Standards einer Plattform festgemacht. Sowohl bei Interoperabilität als auch bei Erweiterbarkeit einer Plattform ist jedoch zu beachten, dass neben den technologischen Aspekten der Einsatz von Informations- und Kommunikationssystemen in einer Organisation wie dem Krankenhaus oder interorganisationalen Versorgungsnetzwerken stets organisationale Aspekte die technologische Nachhaltigkeit beeinträchtigen können. Mit einer Technologieentscheidung wie der Verwendung eines einrichtungsübergreifenden elektronischen Case-Management-Tools geht beispielsweise die Frage der Umgestaltung der Prozesse und Organisationsstruktur einher. Insbesondere bei der Einbindung von neuen Akteuren und der Etablierung neuer Innovationen auf einer offenen E-Health-Plattform führen ungünstig gestaltete GovernanceRegeln zu einer Beeinträchtigung der Innovationsfähigkeit (Selander et al. 2010; Tiwana et al. 2010). Gleichsam kann die Nachhaltigkeit eines E-Health-Projektes an nicht rein ökonomischen Kennziffern festgemacht werden, wenn sich z. B. ein Projekt einerseits Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 105 ökonomisch betreiben lässt, andererseits jedoch eine Versorgungsungleichheit in Kauf genommen wird, ist das Nachhaltigkeitsziel verfehlt. Ebenso sollten technologische Entwurfsentscheidung nicht alleinig an ökonomischen Kenngrößen festgemacht werden. Es bedarf einer vielschichtigen Bewertung des organisationalen Rahmens (Geschäftsmodell, Teilnahmebedingung, Vermeidung von Markteintrittsbarrieren), der technologischen Zugänglichkeit, der Wiederverwendbarkeit von Services und der Sicherstellung standardbasierter Austauschschnittstellen. 5 E-Health Ordnungsrahmen Im Kontext von Interoperabilität werden häufig Ebenenmodelle genutzt, um die verschiedenen Interoperabilitätsaspekte zu systematisieren. Vertreter im Bereich des E-Health sind beispielsweise das europäische E-Health-Interoperabilitätsframework (eEIF) (European Commission und Deloitte & Touche 2013), HL7 Service-Aware Interoperability Framework (SAIF) (Health Level 7 2012) und das ALT-Modell (Coorevits et al. 2011). eEIF definiert vier Ebenen: rechtliche, organisationale, semantische und technische Interoperabilitätsaspekte. Das ALT-Modell besteht wiederum aus anwendungsseitiger, logischer und technischer sowie einer optionalen organisatorischen Ebene (HITCH 2011). Ein weiteres Modell wird durch ANTILOPE definiert, welches die Ebenen „Legal and regulatory“, „Policy“, „Care Process“, „Information“, „Applications“ und „IT-Infrastructure“ umfasst (van Pelt und Sprenger 2013). Im Kern umfassen die genannten Frameworks die in Tab. 1 dargestellten Ebenen, wobei die logische Ebene anwendungsseitige Fragestellungen und die organisationale Ebene auch rechtliche Fragestellungen zusammenfassen. Aufgrund der Wichtigkeit des Qualitätsmerkmals Erweiterbarkeit für die technologische Nachhaltigkeit wird dieses ebenfalls mit der Ebenenstruktur der Interoperabilitätsebenen betrachtet. 6 Ziele und Kriterien Auf Basis dieser Strukturierung lassen sich Ziele für die einzelnen Aspekte formulieren. Die Ziele sollten auf die technologische Nachhaltigkeit fokussieren und diesbezüglich zukünftige Einzelaspekte adressieren (z. B. spätere Zugänglichkeit für Drittanbieter). Aus den Zielen leiten sich Kriterien ab, welche den einzelnen Aspekten hinterlegt werden und in die Managementdokumentation eingearbeitet werden können, sodass bei der Initiierung eines E-Health-Projektes Zielvorgaben für die Projektsteuerung definiert sind und während der Verstetigung eines Projektes ein Managementinstrument zur Verfügung steht, dass beispielsweise hilft, abzuschätzen, inwieweit technologische Entscheidungen Folgen für die Basisinfrastruktur haben (Benedict et al. 2015). Auf der organisationalen Ebene können diese Kriterien in Governance-Regeln übernommen werden, welche sowohl die Projektinitiation als auch die Verstetigung adressieren (Benedict 106 H. Schlieter et al. Tab. 1  Schema zur Definition von Kriterien für die Offenheit von E-Health-Plattformen Offenheit Plattform Erweiterbarkeit Plattform Interoperabilität Beschreibung Organisationale Ziele/Kriterien/ Ebene Kontrollverfahren Ziele/Kriterien/ Die organisatorische Ebene beschreibt Kontrollverfahren die Notwendigkeit der vertraglichen bzw. lizenztechnischen Abstimmung zwischen Plattformbetreiber und einem Teilnehmer, d. h. einerseits den fairen Marktzugang und die geistigen Eigentumsrechte von Teilnehmern zu sichern und andererseits die qualitative Absicherung der Plattformbestandteile sicherzustellen. Durch den Betreiber der Plattform muss zudem die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für sich und alle beteiligten Drittanwender sichergestellt werden. Durch die Bereitstellung von plattformspezifischen Informationen werden dem Drittanbieter zudem die Nutzung bestehender Funktionalitäten und die Teilnahme an der Plattform erleichtert Logische Ebene Ziele/Kriterien/ Kontrollverfahren Ziele/Kriterien/ Diese Ebene adressiert die informatoKontrollverfahren rische Unterstützung von integrierten Versorgungsszenarien durch Informationssystembestandteile, welche sowohl angeschlossene Systeme als auch Komponenten der Plattform sein können. Es sollten insbesondere Kriterien definiert werden, wie diese Informationssystembestandteile gestaltet werden sollen und welche Standards sie umsetzen sollen Technische Ebene Ziele/Kriterien/ Diese Ebene adressiert den Aspekt der Kontrollverfahren Gewährleistung der physischen Interkonnektivität zwischen verschiedenen Systemen und der technischen Zugänglichkeit zu Plattformkomponenten. Hierzu sind klare Rahmenvorgaben notwendig, welche festlegen, mittels welcher Technologien und unter welchen technischen Rahmenbedingungen auf Plattformkomponenten zugegriffen werden kann. Gleiches muss für den Anschluss von anderen Systemen an die Plattform geregelt werden Ziele/Kriterien/ Kontrollverfahren Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 107 und Schlieter 2015). Bei der Instanziierung des Schemas muss zunächst geklärt werden, welche Ebene der Offenheit verfolgt wird. Dies determiniert, welche Kriterien für die einzelnen Punkte definiert werden können. Z. B. erfordert Erweiterbarkeit auf der Endanwenderebene z. B. die Erweiterung von Nutzerkreisen etc. wogegen Erweiterbarkeit auf der Ebene der Lösungen z. B. den Zugriff auf Programmierschnittstellen erfordert. 7 Kontrollverfahren Die Feststellung der Erfüllung von Kriterien erfolgt durch Mess- und Inspektionsverfahren, welche sowohl für einzelne Kriterien als auch für den entsprechenden Aspekt definiert werden können. Die Überprüfung der Erreichung einzelner Kriterien sowie der damit verbundenen Ziele ist nicht mittels einer klar definierten Bestimmungsmethode durchzuführen. Vielmehr ist hier ein Pluralismus von Bestimmungsmethoden notwendig, um den Aspekten auf den verschiedenen Ebenen gerecht zu werden. Geeignet sind sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren. Auf der logischen und technischen Ebene lassen sich die Kriterien in Testverfahren direkt als Prüfkriterien verwenden. In diesem Fall sollte darauf geachtet werden, dass die Kriterien eine eindeutige Aussage zur Erfüllung ermöglichen. Da dies bei der Betrachtung zukünftiger Entwicklungen, wie sie durch das Ziel der technologischen Nachhaltigkeit impliziert werden, jedoch nicht immer möglich ist, sind auch Schätzverfahren und argumentative Schlüsse möglich. Wird Interoperabilität unter dem Aspekt der technologischen Nachhaltigkeit betrachtet, so muss nicht nur die situative Interoperabilität berücksichtigt werden, sondern auch das Interoperabilitätspotenzial. Guédria et al. (2009) klassifizieren zwei verschiedene Typen von Bewertungsmaßnahmen: a priori und a posteriori. Diese beziehen sich auf zwei Typen von Interoperabilitätsmaßen: Interoperabilitätspotenzial und Interoperabilität zwischen bekannten Systemen (situative Interoperabilität) (Interoperabilitätssituation) (Guédria et al. 2008). Situative Interoperabilität ist auch dann gegeben, wenn Interoperabilität zu einer Klasse von Systemen z. B. durch die Implementierung von Standards und Profilen (z. B. IHE – Integrating the Healthcare Enterprise) sichergestellt ist. Das Interoperabilitätspotenzial fokussiert dagegen auf die Erweiterbarkeit der Interoperabilität mit Blick auf weitere noch nicht angebundene Klassen von Systemen. Etablierte Tests, wie sie z. B. im Rahmen des IHE-Connectathons durchgeführt werden, sind in letzteren Fällen bei der Abschätzung des Interoperabilitätspotenzials nur bedingt aussagekräftig, da sie spezifische Interoperabilitätsszenarien überprüfen. Ein Test auf der organisatorischen Ebene ist dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit kein adäquates Mittel, um die Erreichung eines organisationalen Kriteriums zu überprüfen, da organisatorische Abläufe in der Regel nur mit hohem Aufwand getestet werden können. Hier sind andere Methoden, z. B. Reviewverfahren notwendig, um Implikationen für künftige Entwicklungen abschätzen zu können. Ziel ist es, Aussagen zu den einzelnen Kriterien zu erlangen mit denen sich die Zielerreichung begründen lässt. 108 H. Schlieter et al. 8 Anwendung 8.1 Fallbeispiel Die Anwendung des Ordnungsrahmens (s. Abschn. 5) soll anhand eines Praxisbeispiels verdeutlicht werden. Zugrunde gelegt wird ein telemedizinisches Projekt, welches in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen der Informations- und Kommunikationswirtschaft (IuK), mehreren regionalen Gesundheitsnetzwerken, eines Universitätsklinikums und einer Universität durchgeführt wurde. Ziel des Projektes war es, eine Infrastruktur für telemedizinische Dienste zu schaffen, welche einen Ausgangspunkt für die Umsetzung verschiedenster Szenarien der integrierten Versorgung ermöglicht. Diese Infrastruktur sollte auf Basis einer plattformorientierten Struktur realisiert werden. Drei verschiedene prototypische E-Health-Lösungen wurden auf Basis der Plattform umgesetzt. Diese Lösungen sollten zu einer initialen Menge von Basisdiensten führen, welche in künftigen Projekten wiederverwendet werden können. Voraussagen zur Entwicklung der Projektlandschaft um die entstandene Plattform ließen sich zum Entwicklungszeitpunkt nicht verlässlich treffen. Daher sollte die Plattform alle Dienste und technischen Lösungen so bereitstellen, dass sie der Emergenzeigenschaft eines digitalen Ökosystems gerecht werden. Es sollte sowohl möglich sein, neue Dienste in die Plattform aufzunehmen als auch neue Kombinationen von bestehenden Diensten und Technologien zu verwenden. Dabei sollte es möglich sein, Projekte auch ohne die ursprünglichen Projektbeteiligten zu realisieren. Gemäß der Ökosystem-Analogie sollen also neue Akteure in das Ökosystem aufgenommen werden können und diesen kooperativ-wettbewerblich eigene und unabhängige Lösungen bereitstellen. 8.2 Zieldefinition Die Konkretisierung des in Abschn. 5 gezeigten Schemas hängt zunächst von der Fragestellung ab, welche Ebene der Offenheit adressiert wird. Im skizzierten Beispiel bildet das Unternehmen der IuK-Wirtschaft sowohl den Plattformsponsor als auch den Plattformbetreiber. Das IuK-Unternehmen stellt die Plattform jedoch auch zur Instanziierung für andere Plattformbetreiber bereit. Insofern ist der Offenheit auf der Ebene des Plattformbetreibers, der Lösungen und der Endanwender gegeben (nach Eisenmann et al. 2008). Diese Klarstellung ermöglicht es, Ziele zu formulieren, die für die einzelnen Aspekte gelten und aus denen Kriterien abgeleitet werden können (s. Tab. 2). 8.3 Kriteriendefinition In Tab. 3 sind beispielhaft ausschnittsweise aus den Zielen abgeleitete Kriterien dargestellt. Zur Kriteriendefinition der logischen und technischen Ebene für Interoperabilität Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 109 Tab. 2  Ziele des Fallbeispiels Offenheit Plattform Erweiterbarkeit Organisationale Ebene Transparenz:objektive Darstellung von Entscheidungen und organisatorischen Maßnahmen und Entwicklungsstrategien Marktzugänglichkeit: Sicherstellung der Zugänglichkeit zu anderen Lösungen, Sicherstellung der Verfügbarmachung unabhängiger neuer Lösungen Compliance: Sicherstellung der Eigentumsrechte, Berücksichtigung Gesetzgebung (BDSG, MPG, MBO-Ä), Definition von plattformspezifischer Governance-Regeln Plattform Interoperabilität Transparenz:neutrale Bereitstellung Interoperabilitätsrelevante Informationen, objektive Darstellung von Entscheidungen und Entwicklungsstrategien Compliance:Sicherstellung der Eigentumsrechte, Berücksichtigung Gesetzgebung (BDSG, MPG, MBO-Ä), Definition von plattformspezifischer Governance-Regeln Logische Ebene Wiederverwendbarkeit: Sicherstellung der wiederholten Anwendbarkeit geschaffener Komponenten Standardkonformität: Sicherstellung der Umsetzung domänenspezifischer Standards Framework-Verhalten: Sicherstellung klarer Implementierungsstrukturen, Mustereinsatz Standardkonformität:Sicherstell ung der Umsetzung domänenspezifischer Standards Usability: Sicherstellung der operativen Anwendbarkeit der Interoperabilitätsfunktionen in Versorgungsszenarien Konsistenz: Sicherstellung neutraler, einheitlicher domänenspezifischer Schnittstellenimplementierungen Technische Ebene Standardkonformität:Sicherste llung der Umsetzung technischer Standards Sicherheit:Sicherstellung eines einheitlichen technischen Sicherheitsniveaus Performance: Vermeidung von Leistungseinschränkungen bei neuen Komponenten Framework-Verhalten: Sicherstellung klarer Implementierungsstrukturen, Mustereinsatz Reaktivität:Sicherstellung sowohl von proaktivem als auch reaktiven Verhalten der technischen Komponenten Standardkonformität: Sicherstellung der Umsetzung technischer Standards Performance: Vermeidung von Leistungseinschränkungen bei spezifischen Interoperabilitätsfunktionen Konsistenz: neutrale und einheitliche technologische Zugangswege Sicherheit: Sicherstellung eines einheitlichen technischen Sicherheitsniveaus 110 H. Schlieter et al. Tab. 3  Kriterien des Fallbeispiels Offenheit Plattform Erweiterbarkeit Plattform Interoperabilität Organisationale Ebene Marktzugänglichkeit: 1. Die verwendeten Technologien müssen allen interessierten Drittanbietern bereitstehen 2. Alle Dokumentationen (insbes. API- und Schnittstellendokumentationen) müssen einem Drittanbieter ohne zusätzliche Auflagen zugänglich gemacht werden 3. Alle notwendigen Entwicklungskomponenten für die Erweiterung der Plattform müssen Drittanbietern verfügbar gemacht werden Transparenz: 4. Kriterien für die Produktivsetzung von Drittanbietersoftware sind definiert Compliance: 5. Es ist dokumentiert, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen beim Hinzufügen einer Erweiterung für den Drittanbieter relevant sind Transparenz: 1. Der organisatorische Prozess zur Herstellung von Anwendungssystemkommunikationen ist beschrieben 2. Die Dokumentation der eingesetzten Interoperabilitätsformate muss allen Interessierten grundsätzlich zur Verfügung stehen 3. Kosten für die Nutzung von technischen Spezifikationen bzw. Standards müssen transparent sein und dokumentiert werden Compliance: 4. Es existiert eine Vorlage für eine Interoperabilitätsvereinbarung (vertragliche Basis), die Rahmenbedingungen zwischen Plattformanbieter und Anbieter von Drittsoftware zur Integration regelt 5. Ein Datenschutzkonzept existiert Logische Ebene Wiederverwendbarkeit: 1. Serviceschnittstellendefinition sind von der Implementierung des Service entkoppelt Standardkonformität: 2. Die Datenstrukturen zur Kommunikation der Daten zwischen Services müssen gemäß etablierter Standards (HL7v3 RIM, ISO 13606 oder OpenEHR) gestaltet sein Framework-Verhalten: 3. Die Architektur ist in Schichten unterteilt, welche unabhängig voneinander bestimmte Klassen von Funktionalität bereitstellen 4. Systeminterne Zustandsänderungen müssen durch die Plattform aktiv mitgeteilt werden können Standardkonformität: 1. Das System stellt eine Nachrichtensyntax für den Export und die Integration von Patientendaten in ein Drittanbietersystem bereit 2. Das System unterstützt IHE ITI XDS.b. 3. Die IHE-Transaktion ITI-9 “PIX Query” wird unterstützt 4. Das System kann als IHE Akteur “Time Client” fungieren Usability: 5. Das System erlaubt es, Patientenidentitäten von spezialisierten Diensten abzufragen Konsistenz: 6. Das System unterstützt national festgelegte Codelisten 7. Das System sichert ein korrektes Mapping von proprietären Begriffslisten auf codierte Gesundheitsinformationen (Fortsetzung) Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 111 Tab. 3   (Fortsetzung) Offenheit Plattform Erweiterbarkeit Technische Ebene Standardkonformität: 1. SOAP-Webservices müssen mit WSDL beschrieben sein Sicherheit: 2. Fehler sind maschinenlesbar Framework-Verhalten: 3. Direkt nutzbare Bibliotheken sind mit einer JavaDoc-Dokumentation dokumentiert 4. Persistierte Daten sind über CRUD-Operationen der Serviceschnittstellen zugreifbar Plattform Interoperabilität Reaktivität: 1. D  as System erlaubt verschiedene Kommunikationstechnologien zum Nachrichtenaustausch (Socket, FTP, Web-Services, JMX) Sicherheit: 2. Das System erlaubt die Verschlüsselung von Kommunikationskanälen mit anderen Systemen Standardkonformität: 3. Nachrichtenstruktur zu Ereignistyp A01 – „Admission of an in-patient into a facility“ ist implementiert 4. Das System unterstützt RFC-3881 Tab. 4  Mögliche Kontrollverfahren zur Bestimmung der Kriterienerreichung Offenheit Plattform Erweiterbarkeit Plattform Interoperabilität Organisationale Ebene Szenariobasierte Inspektion Fragebogenbasierte Inspektion Inspektion der Dokumentationslage, Regelprozesse und Vertragsdokumente Szenariobasierte Inspektion Fragebogenbasierte Inspektion Maturity Model for Enterprise Interoperability (Guédria et al. 2009) Inspektion der Dokumentationslage, Regelprozesse und Vertragsdokumente Logische Ebene Architecture Tradeoff Analysis Method (Kazman et al. 2000) Prüfung auf Architekturmuster Maturity Model for Enterprise Interoperability (Guédria et al. 2009) Architecture Tradeoff Analysis Method (Kazman et al. 2000) IHE-Testverfahren (Gazelle, XDS-Toolkit) Technische Ebene WS-I-Prüfung (Web Services Interoperability Organization 2010) technische Validationsverfahren (WSDL + XSD-Konformitätstests) Inspektion der Laufzeitumgebung Inspektion der technischen Dokumentation Schnittstelleninspektion IHE-Testverfahren (Gazelle, XDS-Toolkit) Inspektion der Laufzeitumgebung Inspektion der technischen Dokumentation 112 H. Schlieter et al. wurde auf IHE-Spezifikationen und andere Profilierungsmechanismen zurückgegriffen und die darin explizierten Transaktionen, Akteure und Standardverweise in den Kriterien berücksichtigt. 8.4 Kontrollverfahren Die im Projekt angewendeten Kontrollverfahren sind in Tab. 4 dargestellt. In der Regel wird ein Kontrollverfahren für einen Satz von Kriterien angewendet. Beispielsweise lässt sich das Erweiterungskriterium 1 der logischen Ebene (siehe Tab. 3) mittels eine inspektionsorientierten Abgleich gegen Architekturmuster prüfen. Auf der organisationalen Ebene wurden zum einen szenariobasierte Methoden eingesetzt, um die organisatorischen Maßnahmen des Plattformbetreibers zu überprüfen. Die Methode wurde in Anlehnung an die Architecture Tradeoff Analysis Method (ATAM) (Kazman et al. 2000) und an ANTILOPE (Bourquard et al. 2013) durchgeführt. Hierbei wurden Realisationsszenarien formuliert und diese in einer Reviewsitzung überprüft. Hierzu wurden auf Basis bereits bekannter organisatorischer Rahmenbedingungen gezielte Detailfragen auf Basis der Szenarien formuliert. Voraussetzung für die Durchführung szenariobasierter Begutachtung war die Inspektion der Dokumentationslage und die Formulierung eines Fragebogens, der vor der Reviewsitzung ausgefüllt werden sollte. Auf der logischen Ebene ist die ATAM als Bewertungsmethode gut geeignet, um die Potenziale für Erweiterbarkeit und Interoperabilität hinsichtlich der Architektur einer E-Health-Plattform zu ermitteln, da sie als Grundlage Qualitätsattribute (Quality Attributes) verwendet. Die zwei Qualitätsfaktoren Interoperabilität und Erweiterbarkeit können direkt als maßgebliche Qualitätsattribute übernommen werden. Über die Ableitung in Unterziele ist auch bereits die zweite Ebene des in ATAM beschriebenen Utility formuliert. Als weiteres Verfahren zur Ermittlung des Interoperabilitätspotenzial wurde das Maturity Model for Enterprise Interoperability eingesetzt. Dieses Modell ermöglicht sowohl Aussagen über den aktuellen Zustand der Interoperabilität als auch Aussagen über das Interoperabilitätspotenzial. Zur Durchführung des Modells sei auf die entsprechende Literatur verwiesen (Guédria et al. 2009). Das Reifegradmodell ermöglicht zudem eine Bewertung organisationaler Aspekte, sodass es auch in Teilen in der organisatorischen Ebene angewendet werden kann. Zur Überprüfung der technischen Ebene wurde auf etablierte Testverfahren als auf Sichtprüfung mittels verschiedener Werkzeuge der Softwaretechnik zurückgegriffen (z. B. SOAPUI). Grundlage der Sichtprüfung bildete jeweils wissenschaftliche Fachliteratur (z. B. Crasso et al. 2010) und Spezifikationen (Web Services Interoperability Organization 2010). Denkbar ist auch ein Einsatz verschiedener Metriken der Softwaretechnik. Die Aufarbeitung der Kontroll- und Prüfverfahren sowie die Durchführung der Bewertung sollte zudem durch eine möglichst neutrale Projektrolle übernommen werden (Benedict et al. 2015). Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 113 9 Fazit Die zentrale Herausforderung für eine bürgerzentrierte und flächendeckende Versorgung basierend durch innovative E-Health-Lösungen ist die Überführung der Lösungen über die Pilotphase hinaus in Regelversorgung. Das Kapitel beleuchtete in diesem Zusammenhang den Begriff der Nachhaltigkeit und stellt die Nachhaltigkeitsdimensionen und deren Wirkungszusammenhänge dar. Für die Erreichung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit ist bei der Etablierung von E-Health-Lösungen die Frage nach der technologischen eine Grundvoraussetzung (Enabler) für den Erfolg einer Lösung. Der Begriff des Digitalen Ökosystems beschreibt dabei den idealtypischen Zustand eines interorganisationalen Informationssystems im Sinne einer offenen E-Health-Landschaft, die ein organisches und nachhaltiges Wachstum zulässt. Verschiedene Bewertungsansätze von E-Health-Lösungen sind in dem vorgestellten Ordnungsrahmen aufgegangen (s. Abschn. 5). Er liefert ein Instrumentarium, die Nachhaltigkeitspotenziale von E-Health-Lösungen schon frühzeitig zu analysieren und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In Abschn. 8 wurde eine beispielhafte Anwendung des Ordnungsrahmens demonstriert. Das Vorgehen sowie die Ziele lassen sich auf andere E-Health-Projekte übertragen. Je nach Schwerpunktsetzung können die Ziele und Kriterien jedoch variieren und bedürfen damit einer projektspezifischen Überprüfung. Das dargestellte Fallbeispiel fokussiert zudem stark auf die Schaffung einer Plattform und betrachtet deshalb besonders Kriterien, die auf die Softwarearchitektur und die Einbindung von neuen Lösungsanbietern abzielen. Erweiterbarkeit ist jedoch nicht auf diesen Aspekt beschränkt, sondern kann auch in anderen Projektkonfigurationen etabliert werden, z. B. indem neue Typen von Krankheitsbildern (Adaption von Patientenpfaden auf der logischen Ebene) in ein E-Health-Projekt eingebunden werden oder andere Typen von beteiligten Akteuren (technologisch-pluralistischer Ansatz zur physischen Integration von Organisationen). Hierbei ergeben sich andere Ziele, Kriterien und Kontrollverfahren. Gegenüber einer der klassischen Systementwicklung, die sich primär am Projektziel orientiert, ist vorgestellte Methodik als deutlich aufwendiger einzuschätzen. Eine langfristige Integration in die Regelversorgung ist aber nur durch eine offene technologische Basis realisierbar. Eine frühzeitige Prüfung kann dabei Fehlentwicklungen vorbeugen, die ein Absterben nach der Pilotphase nach sich ziehen. In Deutschland besteht hierzu der Bedarf, ein einfaches und konfigurierbares Werkzeug zur Verfügung zu stellen, das bereits in der Projektanbahnung eine Potenzialanalyse und Projektsteuerung ermöglicht. Literatur Andreassen HK, Kjekshus LE, Tjora A (2015) Survival of the project: a case study of ICT innovation in health care. Soc Sci Med 132:62–69. doi:10.1016/j.socscimed.2015.03.016 114 H. Schlieter et al. Baldwin CY, Woodard CJ (2008) The architecture of platforms: a unified view. SSRN Electron J. doi:10.2139/ssrn.1265155 Benedict M, Schlieter H (2015) Governance guidelines for digital healthcare ecosystems. Stud Health Technol Inform 233–240. doi:10.3233/978-1-61499-524-1-233 Benedict M, Schlieter H, Burwitz M (2015) Certification of service-oriented eHealth platforms – derivation of structured criteria for interoperability and expandability. In: Proceedings of Healthcare Informatics 2015, SCITEPRESS, Lisbon Bont A de , Bal R (2008) Telemedicine in interdisciplinary work practices: on an IT system that met the criteria for success set out by its sponsors, yet failed to become part of every-day clinical routines. BMC Med Inform Decis Mak 8:47. doi:10.1186/1472-6947-8-47 Bourquard K, Parisot C, Berler A (2013) D4.1: Interoperability label/certification processes. ANTILOPE – Adoption and take up of standards and profiles for eHealth Interoperability Brown B, Hanson M, Liverman D, Merideth R Jr (1987) Global sustainability: toward definition. Environ Manage 11:713–719. doi:10.1007/BF01867238 Burkard C, Widjaja T, Buxmann P (2012) Software ecosystems. Wirtschaftsinf 54:43–47. doi:10.1007/s11576-011-0307-x Ceccagnoli M, Forman C, Huang P, Wu DJ (2012) Cocreation of value in a platform ecosystem: the case of enterprise software. MIS Q 36:263–290 Coorevits P, De Moor G, Devlies J et al (2011) D4.2: Processing interoperability testing, semantic and functional criteria. HITCH – Healthcare Interoperability Testing and Conformance Harmonisation Costanza R, Patten BC (1995) Defining and predicting sustainability. Ecol Econ 15:193–196. doi:10.1016/0921-8009(95)00048-8 Crasso M, Rodriguez JM, Zunino A, Campo M (2010) Revising WSDL documents: why and how. IEEE Internet Comput 14:48–56 Dini P, Nicolai A (2007) A scientific foundation for digital ecosystems. In: Nachira F, Nicolai A, Dini P et al (Hrsg) Digital business ecosystems. European Commission, Bruxulles, S 24–47 Eisenmann TR, Parker G, Van Alstyne MW (2008) Opening platforms: how, when and why? SSRN Electronic Journal. doi:10.2139/ssrn.1264012 European Commission, Directorate-General for the Information Society and Media, Deloitte & Touche (2013) eHealth European Interoperability Framework first proposal technical layer. Publications Office, Luxembourg Eysenbach G (2001) What is e-health? J Med Internet Res 3:e20. doi:10.2196/jmir.3.2.e20 Fanta GB, Pretorius L, Erasmus L (2015) An evaluation of eHealth systems implementation frameworks for sustainability in resource constrained environments: a literature review. In: IAMOT 2015 Conference Proceedings, Cape Town Galin D (2004) Software quality assurance: from theory to implementation. Pearson Education Limited, Harlow, England; New York Gawer A, Cusumano MA (2008) How companies become platform leaders. MIT Sloan Manage Rev 49:28–35 Gersch M, Rüsike T (2011) Diffusionshemmnisse innovativer E-Health Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen. Berlin Ghazawneh A, Henfridsson O (2011) Micro-strategizing in platform ecosystems: a multiple case study. In: ICIS 2011 Proceedings, Shanghai Gräber S, Ammenwerth E, Brigl B et al (2002) Rahmenkonzepte für das Informationsmanagement in Krankenhäusern: Ein Leitfaden. Arbeitsgruppe „Methoden und Werkzeuge für das Management von Krankenhausinformationssystemen“ der Dt. Gesellschaft für Med. Informatik, Biometrie und Epidemiologie.(gmds) Homburg Guédria W, Naudet Y, Chen D (2008) Interoperability maturity models – Survey and comparison – . In: On the move to meaningful Internet systems: OTM 2008 Workshops. Springer, S 273–282 Nachhaltigkeit von E-Health-Projekten 115 Guédria W, Chen D, Naudet Y (2009) A maturity model for enterprise interoperability. In: On the Move to Meaningful Internet Systems: OTM 2009 Workshops. Springer, S 216–225 Häckl D (2010) Neue Technologien Im Gesundheitswesen: Rahmenbedingungen und Akteure. Gabler, Wiesbaden Health Level 7 (2012) HL7 Service-aware interoperability framework: canonical definition specification, release 2. http://www.hl7.org/implement/standards/product_brief.cfm?product_id=3. Zugegriffen: 10. Juli 2015 HITCH (2011) HITCH final report including consolidated roadmap and recommendations. http:// hitch-project.eu/sites/www.hitch-project.eu/files/HITCH-Roadmap-V1.1.pdf. Zugegriffen: 10. Juli 2015 Homburg V (1999) The political economy of information management: a theoretical and empirical analysis of decision making regarding interorganizational information systems. University of Groningen IEEE (1990) IEEE standard glossary of software engineering terminology. Office 121990:1 Kanellis P, Paul RJ (1997) On the nature of inter-organisational information systems and the issue of adaptability. IEEE Comput. Soc. Press, S 391–397 Kazman R, Klein M, Clements P (2000) ATAM: method for architecture evaluation. SEI, Carnegie Mellon University, Pittsburgh Lusch RF, Nambisan S (2015) Service innovation: a service-dominant logic perspective. MIS Q 39:155–175 Murray E, Burns J, May C et al (2011) Why is it difficult to implement e-health initiatives? A qualitative study. Implement Sci 6:6 Pelt V van, Sprenger M (2013) D1.1: Refinement definition document. ANTILOPE – Adoption and take up of standards and profiles for eHealth Interoperability Peltoniemi M (2006) Preliminary theoretical framework for the study of business ecosystems. Emergence Complex Organ 8:10–19 Reimers K, Johnston RB, Klein S (2004) The shaping of inter-organisational information systems: main design considerations of an international comparative research project. In: 17th Bled eCommerce Conference: „eGlobal“, (Y. Tan, D. Vogel, J. Gricar, G. Lenarts.), Faculty of Organizational Science, University of Maribor, Bled, Slovenia Selander L, Henfridsson O, Svahn F (2010) Transforming ecosystem relationships in digital innovation. In: ICIS, S 138 Stroetmann K (2013) eHealth: Wundermittel oder Irrweg? – Eine Spurensuche aus europäischer Perspektive. Thesenpapier zur Gesundheitstelematik – Ziele, Strategien und Impulse wichtiger Stakeholder für eine funktionelle Gesundheitstelematik in Deutschland 104–110 Tiwana A, Konsynski B, Bush AA (2010) Research commentary – platform evolution: coevolution of platform architecture, governance, and environmental dynamics. Inf Syst Res 21:675–687. doi:10.1287/isre.1100.0323 Web Services Interoperability Organization (2010) Basic profile – Version 2.0 (Final). http://www. ws-i.org/profiles/basicprofile-2.0-2010-11-09.html. Zugegriffen: 15. Sep. 2015 West J (2003) How open is open enough?: melding proprietary and open source platform strategies. Res Policy 32:1259–1285. doi:10.1016/S0048-7333(03)00052-0 World Health Organization (2015) E-health. http://www.who.int/trade/glossary/story021/en/. Zugegriffen: 10. Juli 2015 116 H. Schlieter et al. Über die Autoren Hannes Schlieter Im Jahr 2012 promovierte Dr. Hannes Schlieter mit einer Arbeit zur Überführung von Medizinischen Leitlinien in Klinische Pfade an der TU Dresden. Aktuell ist er Postdoktorand am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Systementwicklung und leitet eine Nachwuchsforschergruppe mit Ausrichtung auf die Themenfelder Gesundheitswirtschaft und E-Health. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen des Prozessmanagements im klinischen Umfeld, der Entwicklung, Gestaltung und Adaption klinischer Pfade und medizinischer Leitlinien sowie in grundsätzlichen Fragen des Informations- und Qualitätsmanagements. Kontakt: hannes.schlieter@tu-dresden.de Martin Benedict  Seit 2014 ist Martin Benedict als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Technischen Universität Dresden am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Systementwicklung tätig. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Standardisierung und Interoperabilität von Informationssystemen des Gesundheitswesens, Softwareengineering medizinischer Anwendungssysteme, der Bewertung von Softwarearchitekturen und dem Aufbau von Informationssystemen zur intersektoralen Versorgung. Er ist Mitglied der GMDS e. V. Kontakt: martin.benedict@tu-dresden.de Martin Burwitz Im Jahr 2011 erwarb Martin Burwitz sein Diplom in Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Dresden. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Systementwicklung und Mitglied einer Nachwuchsforschergruppe im Bereich Gesundheitswirtschaft und E-Health. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Informationssystemgestaltung für die Gesundheitsversorgung, der Konzeption, Entwicklung und Analyse Klinischer Pfade sowie den Bereichen Methodenentwicklung und Software Engineering. Kontakt: martin.burwitz@tu-dresden.de Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz, Implementation und Verbreitung von Telecare und Telehealth – Ergebnisse einer internationalen Literaturstudie Sebastian Merkel 1 Einleitung Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wurden und werden aktiv Möglichkeiten gesucht, um den Bürgerinnen und Bürgern einerseits ein gesundes und aktives Altern zu ermöglichen und andererseits die Gesundheits- und Pflegekosten zu senken. Zusätzlich erhöhen die Zunahme chronischer Erkrankungen und die epidemiologischen Entwicklungen in strukturschwachen Regionen den Handlungsdruck, geeignete Maßnahmen zu finden und zu implementieren. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wird in Deutschland, aber auch in Europa und darüber hinaus, verstärkt auf den Einsatz von Telemedizin zur Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation gesetzt. Allerdings mangelt es bislang an einer flächendeckenden Verbreitung solcher Anwendungen – sowohl in Deutschland wie auch in Europa; vielfach verbleiben Projekte in der Pilotphase und scheitern an einer nachhaltigen Implementation und Diffusion. Die Gründe dieses „deployment-gap“ (vgl. Hilbert et al. 2014) sind vielfältig und reichen von generellen Akzeptanzproblemen aufseiten der (professionellen) Nutzer/innen über rechtliche Rahmenbedingungen bis hin zu technischen Herausforderungen wie bspw. bei der Usability. Dieser Beitrag gibt die Ergebnisse einer internationalen Literaturstudie wider. Die zugrunde liegende Fragestellung lautete dabei: Welche wahrgenommenen Umsetzungsbarrieren existieren bei der Akzeptanz, Implementation und Diffusion von Telecare und Telehealth? Untergeordnetes Ziel war es weiterhin, die identifizierten Barrieren in einer Taxonomie zu ordnen. S. Merkel (*)  Institut Arbeit und Technik, Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen, Deutschland E-Mail: merkel@iat.eu © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_7 117 118 Tab. 1  Taxonomie für Telemedizin nach Broens et al. (2007) S. Merkel Domains Domains and determinants Technology Support Training Usability Quality Acceptance Attitude and usability Evidence based medicine Diffusion and dissemination Financial Provider and structure Organization Intramural and extramural work practices Policy and Legislation Legislation and policy Standardization Security In der Literatur finden sich viele unterschiedliche Definitionen für Telemedizin, Telecare und Telehealth, die darüber hinaus oftmals nicht trennscharf abgrenzbar sind. Dabei soll im Folgenden Telecare definiert werden als „remote monitoring of emergencies through sensor devices and personal alarms“ (vgl. Wherton et al. 2015); Telehealth als „the transmission of medical information over telecommunication“ (vgl. ebenda). Die Analyse knüpft dabei an bestehende Vorarbeiten an: So untersuchten Broens et al. in einer 2007 veröffentlichten Publikation auf Basis einer systematischen Literaturstudie mögliche Ursachen für die Umsetzungsproblematik von Telemedizin. Als Ergebnis unterscheiden die Autoren fünf übergeordnete Kategorien: 1) Technologie, 2) Akzeptanz, 3) Finanzierung, 4) Organisation und 5) Gesetzgebung. Jede dieser Kategorien enthält dabei unterschiedliche Einflussfaktoren, die sich aus dem jeweiligen nationalen Kontext ergeben (s. Tab. 1). Dieses Klassifizierungsschema wurde von Reginatto (2012) aufgegriffen und auf den Bereich Telehealth übertragen. Die Autorin bestätigt dabei einige der Kategorien, ergänzt jedoch zwei weitere: „evidence based barriers“ und „lack of incentives to healthcare professionals“ (s. Tab. 2). 2 Methode Um die möglichen Ursachen hinter der Umsetzungsproblematik systematisch erfassen zu können, wurde eine internationale Literatur- und Datenbankrecherche zwischen Juli und August 2014 durchgeführt und bis August 2015 in unregelmäßigen Abständen durch weitere Suchanfragen ergänzt. Ziel der Recherche war es, wahrgenommene Probleme und Herausforderungen bei der Akzeptanz, Implementation und Diffusion von Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz … 119 Tab. 2  Taxonomie für Telehealth nach Reginatto (2012) Domain Barrier Acceptance Poor ICT skills Lack of face-to-face contact Confidentiality Lack of familiarity with telehealth and its benefits Technology Technology usability Limited access to broadband Device incompatibility Lack of interoperability Organizational Lack of integration within the healthcare sector Low levels of trust among the stakeholders Increased professional responsibility and lack of organisational willingness to change Lack of„champions“ in the healthcare system Evidence based barriers Financial barriers Cost of establishing the required infrastructure Telehealth affordability by older people Lack of incentives to healthcare professional Absence of reimbursement arrangements Disincentives caused by existent payment system Telecare und Telehealth zu identifizieren. Hierzu wurden die folgenden Literaturdatenbanken durchsucht: Medline, Ovid, JSTOR, Web of science and Cochrane Library. Als Schlagwörter wurden Kombinationen unterschiedlicher Begriffe verwendet: Telecare, telehealth, adopt*, implement*, diffusion*, uptake, facilitate*, barrier* und challenge*. Die Suchstrategie wurde bewusst weit gefasst, da nicht nur Beiträge aus wissenschaftlichen (Fach-)Zeitschriften eingeschlossen werden sollten, sondern auch graue Literatur wie bspw. Abschlussberichte. Die Auswahl der Literatur erfolgte anhand folgender Einschlusskriterien: Die Publikation musste in deutscher oder englischer Sprache verfasst sein. Um den Zeitraum einzugrenzen, wurden nur Veröffentlichungen aus den Jahren 2010 bis 2015 berücksichtigt. Darüber hinaus musste das zugrunde liegende Forschungsoder Entwicklungsprojekt bzw. die Studie in einem der EU-28 Staaten durchgeführt worden sein. Von allen identifizierten Publikationen (N = 699) wurde eine erste Auswahl auf Basis von Titel und Abstract getroffen. Nach Bereinigung von Dopplungen und Anwendung der Einschlusskriterien blieben n = 70 Publikationen übrig. Nach Sichtung des Volltextes wurde in einem letzten Schritt n = 21 (Merkel und Ernste 2015) ausgewählt und anhand des Kategorienschemas von Broens et al. bzw. Reginatto inhaltsanalytisch ausgewertet. 120 S. Merkel 3 Ergebnisse Abb. 1 zeigt die Verteilung der Kategorien. Insbesondere im Bereich Akzeptanz wurden Umsetzungsherausforderungen genannt. Aber auch bei der Finanzierung sowie der Technologie finden sich Probleme. Technologische Herausforderungen bestehen vor allem bei der Usability. Dies umfasst sowohl die Gebrauchstauglichkeit wie auch, sofern zutreffend, die Software-Ergonomie. Die Interoperabilität wurde als weiteres dominantes Hindernis identifiziert. Viele Produkte sind entweder nicht an die Gegebenheiten vor Ort anpassbar, oder können nicht untereinander kommunizieren. So finden sich bspw. in einer Praxis für Allgemeinmedizin unterschiedliche Insellösungen, die keinen Datenaustausch untereinander erlauben (keine technische Interoperabilität). Weitere Barrieren sind mangelndes Training der Nutzer/innen bezogen auf Installation, Nutzung und Wartung von Produkten, eine unzureichende Netzabdeckung, insbesondere bei der Übertragung mobiler Daten, die unzureichende Möglichkeit Produkte zu personalisieren sowie fehlerhafte bzw. qualitativ minderwertige technische Produkte. Bei der Kategorie Akzeptanz ist zunächst zentral zwischen den unterschiedlichen Akteuren zu unterscheiden: So gelten die Barrieren nicht direkt nur für Patient/innen bzw. die Endnutzer/innen, sondern auch für Leistungserbringer/innen wie Ärzte/innen sowie weiteres medizinisches Personal. Akzeptanz umfasst dabei sehr unterschiedliche Aspekte. Zur Erklärung der Akzeptanz von technologischen Innovationen existiert zwar eine Reihe an Modellen, jedoch erweisen diese sich entweder nicht direkt übertragbar oder als zu komplex, um in den Forschungs- und Entwicklungsprozess eingebunden zu werden (vgl. Cornet 2015). So werden in der untersuchten Literatur bspw. Sicherheitsbedenken, mangelndes Vertrauen, eine generelle Ablehnung gegenüber Telecare und Telehealth, niedrige Erwartungen oder mangelnde Fähigkeiten bei der Bedienung genannt. Hinzu kommt auf Seite der professionellen Endnutzer/innen die Angst, durch die Technologie ersetzt zu werden sowie die Umstellung der Arbeitsabläufe. Ein entscheidender Punkt ist auch der vielfach beklagte Mangel an Evidenzbasierung hinsichtlich der Policy and legislation 13% Unclear 10% Technology 16% Organisational 8% Financial 16% Abb. 1  Verteilung der Kategorien Acceptance 37% Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz … 121 Wirksamkeit. Bei den Patienten/innen bzw. privaten Endnutzern/innen wird vor allem die Furcht vor einer Stigmatisierung genannt. Ein weiterer zentraler Punkt ist die mangelnde Wahrnehmung von Telecare und Telehealth und, daraus resultierend, ein bestehendes Informationsdefizit hinsichtlich existierender Produkte und wo diese bezogen werden können, sowie möglicher Vor- und Nachteile. Barrieren hinsichtlich der Finanzierung finden sich vor allem bei der langfristigen und nachhaltig gesicherten Tragfähigkeit. Viele Projekte im Bereich Telecare und Telehealth werden durch öffentliche Förderungsprogramme angestoßen, können sich jedoch häufig bereits kurz nach Ende der Förderzeit nicht selbstständig tragen. Dies resultiert vor allem aus hohen Anschaffungskosten für die Produkte, insbesondere wenn es keine finanzielle Unterstützung gibt und die Produkte und Dienstleistungen „out-of-pocket“ finanziert werden müssen. Die schwierige Integration in das Gesundheitssystem und, damit verbunden, die hohen Hürden im Zusammenhang mit der Kostenübernahme durch die Kostenträger wirken sich auch auf die Geschäftsmodelle der Anbieter/innen negativ aus. Fehlende „business cases“ werden dementsprechend häufig als zentrales Hindernis gesehen, das einer Verbreitung von entwickelten Produkten im Weg steht. Barrieren im organisationalen Kontext wurden nur in wenigen Studien genannt und beziehen sich vor allem auf strukturelle Veränderungen, die eine Implementation von Telecare oder Telehealth nach sich ziehen kann. Hierunter fällt auch die mangelnde interne Kommunikation und Koordination im Zuge der Implementation bzw. suboptimales Chance-Management und Leadership. Auch die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen werden vielfach als Barriere wahrgenommen. Dies umfasst primär fehlende technische Standards auf nationaler wie internationaler Ebene. Des Weiteren konnten Barrieren identifiziert werden, die sich keinem der Bereiche zuordnen ließen. Hierzu zählt bspw. die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Forschung und Wirtschaft bzw. die Überführung der Ergebnisse in die Praxis. Tab. 3 zeigt eine modifizierte Version der Klassifikation von Broens et al. (2007) auf Basis der Literaturrecherche. 4 Fazit Ziel der Studie war es, unterschiedliche Barrieren für die Akzeptanz, Implementation und Verbreitung von Telecare und Telehealth zu identifizieren und diese in eine Taxonomie zu überführen, die ein kontinuierliches Monitoring erlaubt und (wahrgenommene) Veränderungen der Barrieren zu erfassen. Wie die Tabellen dieses Beitrages zeigen, lassen sich bereits innerhalb des vergleichbar kurzen Zeitraums Veränderungen erkennen. Gleichzeitig kann die systematische Erfassung bestehender Herausforderungen dazu dienen, zum einen die Wahrnehmung involvierter Akteure zu schärfen und zum anderen gezielte Lösungsansätze zu entwickeln. Die aufgezeigten Barrieren lassen sich darüber hinaus auch auf andere Bereiche übertragen und gelten nicht nur für Telecare und 122 Tab. 3  Modifizierte Version der Klassifikation von Broens et al. (2007) S. Merkel Technical Support Training Usability Interoperability Quality Acceptance Awareness Attitude Evidence base Economical Incentives Reimbursement Business models Organizational Organizational culture External collaboration Outer Context Policy and Legislation Standardization Security Telehealth, sondern auch für den Bereich Active/Ambient Assisted Living oder Telemedizin. Dies ist vor allem den wenig trennscharfen Definitionen geschuldet. Ein Fokus über Europa hinaus könnte hilfreich sein, um Erfahrungen und Wahrnehmungen anderer Länder mit denen in der EU zu vergleichen und auf diese Weise von anderen Staaten zu lernen. Literatur Broens THF, Veld R in’t, Vollenbroek-Hutten MMR, Hermens HJ, Halteren AT van, Nieuwenhuis LJM (2007) Determinants of successful telemedicine implementations: a literature study. J Telemed Telecare 13(6):303–309 Cornet G (2015) Europe’s ,Silver Economy‘: a potential source for economic growth? Gerontechnology 13(3):319–321 Hilbert J, Heinze RG, Naegele G, Enste P, Merkel S, Ruddat C, Hoose F, Linnenschmidt K (2014) Deliverable 7.1: innovation prospect report. http://mopact.group.shef.ac.uk/publications/. Zugegriffen: 27. Okt. 2015 Merkel S, Enste P (2015) Barriers to the diffusion of telecare and telehealth in the EU – a literature review. Institution of Engineering and Technology: IET International Conference on Technologies for Active and Assisted Living (TecAAL), London, 5 Nov. 2015: conference proceedings. London, S 6 ff Reginatto BM (2012) Understanding barriers to wider telehealth adoption in the home environment of older people: an exploratory study in the Irish context. Int J Adv Life Sci 4(3&4):63–76 Wherton J, Sugarhood P, Procter R, Hinder S, Greenhalgh T (2015) Co-production in practice: how people with assisted living needs can help design and evolve technologies and services. Implement Sci 10(1):f653 Umsetzungsbarrieren bei der Akzeptanz … 123 Über den Autor Sebastian Merkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Technik im Forschungsschwerpunkt Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität. Er studierte Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Gesundheitssysteme und Gesundheitswirtschaft (M.A.) an der Ruhr-Universität Bochum sowie Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung an der NRW School of Governance (M.A.). Seine Forschungsschwerpunkte sind Technikbewertung, insbesondere hinsichtlich der Akzeptanz und Verbreitung. Kontakt: merkel@iat.eu E-Health-Gesetz Stefan Müller-Mielitz und Thomas Lux 1 Hintergrund Am 3. Dezember 2015 wurde das „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ vom Deutschen Bundestag beschlossen (Bundestag 2015b). Das sogenannte „E-Health-Gesetz“ unterstützt die Akteure des Gesundheitswesens u. a. dabei, eine flächendeckende IT-Infrastruktur zu etablieren (aerzteblatt.de 2015). Das Gesetz gibt einen Rechtsrahmen für die Entwicklung der GesundheitstelematikInfrastruktur (GTI) vor und fördert damit die Digitalisierung und Vernetzung der Akteure durch den Aufbau von elektronischen Services (eServices) wie eBrief, eEntlassbrief, (e) Medikationsplan und telemedizinischer Services unter Nutzung der eGK. Für den Medikationsplan ist zunächst eine papierbasierte Umsetzung im Gesetz vorgesehen. Verschiedene Fachgesellschaften und Interessengruppen äußerten sich in mehr oder weniger kritischen Stellungnahmen zum Entwurf des Gesetzes. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) e. V. reagierte in dieser Form auf den Gesetzentwurf, unterstützt durch den Ausschuss „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Die Stellungnahme der dggö ist im Verbandsblatt „Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement“ nachzulesen (dggö 2015). Aus der Stellungnahme der dggö e. V. werden einige wesentliche Aspekte erneut aufgegriffen. S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de T. Lux  Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: Thomas.Lux@hs-niederrhein.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_8 125 126 S. Müller-Mielitz und T. Lux 2 Zielsetzung des Gesetzes Das „E-Health-Gesetz“ zielt auf den Ausbau und die Verbesserung der telematischen Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen ab. Es soll insbesondere die Einführung von Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte unterstützen, telemedizinische Lösungen fördern, die Interoperabilität informationstechnischer Systeme forcieren, zur Vernetzung auf intra- und intersektoraler Ebene beitragen, die Gesundheits-Telematikinfrastruktur (GTI) etablieren und diese für weitere Anwendungen und Leistungserbringer öffnen sowie die Strukturen der Gesellschaft für Telematik verbessern und deren Kompetenz erweitern. Zu diesem Zweck sind u. a. die Etablierung einer sicheren und einheitlichen telematischen Infrastruktur mit der Öffnung für weitere Leistungserbringer sowie finanzielle Anreize für eine zeitnahe Umsetzung telemedizinischer Leistungen vorgesehen. Die neuen Passagen im Gesetzentwurf finden Eingang in das SGB V (SGB V 2016) und es sind folgende Lösungen vorgesehen (Bundestag 2015a, S. 2): 1. Notfalldatensatz. Vergütung für Aktualisierungen 2. Arzneimitteltherapiesicherheit: Medikationsplan für Patienten mit mehr als drei Medikamenten, zunächst in Papierform (§ 31a) 3. Telemedizinische Leistungen: Ausbau im EBM-Katalog (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) 4. eBriefe: Vergütung für Ärzte, die eine sichere Übermittlung durchführen 5. Nutzung der Versichertenstammdaten durch Ärzte (Fristen) 6. Verbindliche Termine für die Gesellschaft für Telematik Die Neuordnung des § 291a umfasst die vorgegebene Zielrichtung des neuen Gesetzes: „(1) Die elektronische Gesundheitskarte dient mit den in den Absätzen 2 und 3 genannten Anwendungen der Verbesserung von Wirtschaftlichkeit, Qualität und Transparenz der Behandlung.“ I. Stammdatenmanagement (Onlineprüfung und Aktualisierung von Versichertenstammdaten). Diese erste Onlineanwendung der elektronischen Gesundheitskarte wird bis Mitte 2018 flächendeckend eingeführt. Ab 1. Juli 2018 sind pauschale Kürzungen der Vergütung der Ärzte und Zahnärzte vorgesehen, die nicht an der Onlineprüfung der Versichertenstammdaten teilnehmen. II. Medizinische Notfalldaten können ab 2018 auf Wunsch des Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden. Notfalldaten werden mit einem Leserecht auch von nichtakademischen Heilberufen ausgelesen werden können. III. Ab Oktober 2016 haben die Versicherten (bei Einnahme von mehr als drei Medikamenten) einen Anspruch auf einen Medikationsplan in Papierform. Der Arzt muss den Versicherten über seinen Anspruch informieren. Apotheker werden bei Änderungen der Medikation auf Wunsch des Versicherten zur Aktualisierung verpflichtet. Ab 2018 soll der Medikationsplan auch elektronisch von der Gesundheitskarte abrufbar sein. E-Health-Gesetz 127 3 Wirtschaftlichkeit, Qualität und Transparenz der Behandlung Um die Transparenz zu stärken, ist ein „Patientenfach“ vorgesehen. Im neuen § 291a wird eingefügt: „Abweichend von Satz 5 können die Versicherten auf Daten nach Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 auch zugreifen, wenn sie sich für den Zugriff durch ein geeignetes technisches Verfahren authentifizieren.“ Damit kann (z. B. über den neuen Personalausweis, denkbar ist auch ein Portalzugriff mit vorheriger eindeutiger persönlicher Authentifizierung) ein Zugriff auf medizinische Daten durch den Versicherten selbst erfolgen. „Er kann dort eigenständig Daten einstellen oder sich von Leistungserbringern einstellen lassen. Das Patientenfach bietet damit den Versicherten die Möglichkeit, für sie bestimmte Datensammlungen, wie beispielsweise Daten über durchgeführte Impfungen im Sinne eines elektronischen Impfpasses oder Daten eines elektronischen Mutterpasses, dort einstellen zu lassen“ (Bundestag 2015a, S. 45). Qualitative Aspekte werden u. a. durch den Medikationsplan (§ 31a) eingebracht. „(1) Versicherte, die gleichzeitig mindestens drei verordnete Arzneimittel anwenden, haben ab dem 1. Oktober 2016 Anspruch auf Erstellung und Aushändigung eines Medikationsplans in Papierform durch einen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt.“ Das geplante Informationsportal ist Bestandteil des Interoperabilitätsverzeichnisses und beinhaltet Informationen, insbesondere über Inhalte, Verwendungszwecke, Wirtschaftlichkeit, durchgeführte und laufende wissenschaftliche Evaluationen und gegebenenfalls weitere vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu elektronischen Anwendungen im Gesundheitswesen. In das Portal können Anwendungen aufgenommen werden, die im Rahmen der Regelversorgung, aber auch im Rahmen von befristeten Maßnahmen, wie öffentlich geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojekten, Modellvorhaben, oder im Rahmen von Besonderen Versorgungsformen angeboten werden. Projektträger und Anbieter einer elektronischen Anwendung, die aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung ganz oder teilweise finanziert wird, haben einen Antrag auf Aufnahme in das Informationsportal zu stellen. Beim Aufbau des Portals sollte das vom Bundesministerium für Gesundheit unter Mitarbeit der Organisationen der Selbstverwaltung im Rahmen eines befristeten Forschungsprojekts betriebene Telemedizinportal einbezogen werden (Bundestag 2015a, S. 56). 4 Vernetzung und Interoperabilität Für eine bessere Vernetzung der bestehenden IT-Anwendungen und eine schnellere Ausweitung der telematischen Infrastruktur im Gesundheitswesen bedarf es der Verbesserung der Interoperabilität. Um dies zu fördern, ist die Einrichtung eines Interoperabilitätsverzeichnisses vorgesehen (§ 291e), in welchem verbindliche technische und semantische Standards, Profile und Leitfäden festgelegt werden. Hierdurch wird eine erhöhte Transparenz geschaffen. Ferner ist es angesichts der Relevanz von Standards im Rahmen der fortschreitenden Internationalisierung und zur Stärkung der 128 S. Müller-Mielitz und T. Lux Gesundheitswirtschaft und deren Exportpotenzials wünschenswert, zumindest die im europäischen Ausland bestehenden Standards sowie mögliche Vernetzungspunkte zur Nutzung von Synergieeffekten zu berücksichtigen. Um die Schaffung von Interoperabilität zu fördern, ist zudem die Festlegung von offenen, standardisierten Schnittstellen zum uneingeschränkten Datenaustausch geplant. Diese sollen durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft in Abstimmung mit der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (im Folgenden Gematik) und durch die beratende Unterstützung der für die Industrie maßgeblichen Bundesverbände festgelegt werden. Diese, die Interoperabilität unterstützende Maßnahme, ist grundsätzlich als positiv zu bewerten. Eine rechtsverbindliche Frist für die Festlegung besteht allerdings nicht. Auch fokussiert das Gesetz lediglich die Anwendungsfälle „Archivierung von Patientendaten“ und „Systemwechsel“ (§ 291d Abs. 1). Die Sicherstellung der Interoperabilität in allen anwendungsrelevanten Bereichen würde die Marktöffnung für IT-Systeme in diesen Bereichen verbessern. Laut Gesetz soll die Gematik ein Interoperabilitätsverzeichnis aufbauen und verwalten, definiert hierfür aber keine verbindlichen Qualitätskriterien und/oder Kontrollen. „Hierbei gilt es weiterhin, wie es auch die Interoperabilitäts-Studie von 2012 besagt, an Verbindlichkeit und Transparenz zu arbeiten. Die Industrie ist dabei weiterhin offen und bereit sich dieses Themas anzunehmen“, so Ekkehard Mittelstaedt, Geschäftsführer des bvitg (E-Health-Com 2015). 5 Intersektorale Zusammenarbeit und Ersatz papiergebundener Verfahren Neben einer Förderung der intrasektoralen Vernetzung der Gesundheitsprofessionen durch das Interoperabilitätsverzeichnis wird mit dem elektronischen Entlassbrief (§ 291f) eine mögliche Maßnahme für eine stärkere intersektorale Vernetzung aufgegriffen. Auch die Standards für den elektronischen Entlassbrief und den Medikationsplan könnten zur erleichterten Vernetzung mit dem Interoperabilitätsverzeichnis verknüpft werden. Allerdings ist zu bedenken, dass sich der Anspruch der Patienten auf einen Medikationsplan in Papierform bezieht – obwohl ein elektronischer Medikationsplan vorgesehen ist (§ 291a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 b SGB V). Der geplante Einbezug der weiteren nichtakademischen Heilberufe in die Nutzung der telematischen Infrastruktur neben Vertragsärzten, Vertragszahnärzten und Krankenhäusern, ermöglicht weitere Vorteile der Vernetzung. So hätte der Einbezug von Apotheken positive Auswirkungen, z. B. auf die Arzneimitteltherapiesicherheit der Patienten, und würde damit den elektronischen Medikationsplan unterstützen. Unter anderem zur besseren Planbarkeit aller Akteure wäre es hier wünschenswert, verbindliche Angaben festzulegen, wann und für welche Professionen diese Öffnung erfolgen soll. Die ökonomischen Potenziale telematischer Anwendungen würden sich hierdurch schneller, effizienter und effektiver nutzen lassen. E-Health-Gesetz 129 Der Gesetzesentwurf sieht eine Prüfung vor, welche papiergebundenen Kommunikationswege durch digitale ersetzt werden können (§ 87 Abs. 1 Satz 6). Grundsätzlich ist eine derartige Änderung angesichts der Entwicklungen im IKT-Bereich begrüßenswert, es stellt sich aber die Frage, ob eine parallele Existenz papiergebundener und digitaler Dokumente notwendig sein wird. Für eine Übergangszeit wäre eine Regelung, wie sie für konsiliarische Befundbeurteilungen von Röntgenaufnahmen vorgesehen ist, gegebenenfalls sinnvoll, da sie einen schnelleren Umbau bewirken könnte. 6 Monetäre Anreize und Finanzierung Um die zeitnahe Vernetzung und Nutzung der telematischen Anwendungen zu unterstützen, sind zeitlich begrenzte finanzielle Anreizsysteme vorgesehen. Hier sind die Vergütung für Krankenhäuser und Ärzte bei der Erstellung und Entgegennahme elektronischer Entlassbriefe (§ 291h) sowie die Vergütung für Ärzte bei Erstellung eines Medikationsplans zu nennen. Neben den monetären Anreizen sind auch Sanktionen vorgesehen mit dem Ziel, die Umsetzung voranzutreiben. So sieht § 291 Absatz 2b Satz 14 SGB V vor, die Vergütung vertragsärztlicher Leistungen pauschal um ein Prozent bei den Ärzten, Zahnärzten und Einrichtungen zu kürzen, die ihrer Prüfungspflicht (§ 291 Absatz 2b Satz 3 SGB V) ab dem 1. Juli 2018 nicht nachkommen. Es „besteht für die Ärzte, Zahnärzte und Einrichtungen der vertragsärztlichen Versorgung eine ausreichende Übergangsfrist, sich mit der erforderlichen Technik für die Versichertenstammdatenprüfung auszustatten“ (Bundestag 2015a, S. 43). Die wesentlichen Elemente und ihre finanziellen Plangrößen werden nachfolgend kurz vorgestellt. 6.1 eEntlassbrief (§ 219f und § 291g) (nicht im Gesetz umgesetzt) Die Idee des eEntlassbriefes hat den Weg vom Gesetzentwurf NICHT in das Gesetz gefunden. (§ 291f § Elektronischer Entlassbrief: entfällt) (Vgl. Drucksache 18/6905 vom 02.12.2015, S. 47). Geplant war: Der eEntlassbrief gibt Aufschluss über Diagnosen, Befunde, Therapiemaßnahmen, Medikamente, Entlassungsgrund und angezeigte Rehabilitationsmaßnahmen. Ein Beispiel findet sich auf der HL7-Wiki-Seite (HL7-Deutschlund 2015, S. 7). Veranschlagte Aufwände: • Zuschlag in Höhe von 1 EUR pro voll- und teilstationärem Behandlungsfall, Patient und Vertragsarzt erhält elektronischen Entlassbrief zum Zwecke der Weiterverarbeitung • Mehrkosten durch die Anreizregelung circa 31 Mio. EUR jährlich 130 S. Müller-Mielitz und T. Lux • 20,5 Mio. EUR Erstellung im Krankenhaus • 10,5 Mio. EUR Einlesen beim Arzt • Vereinbarung zur Abrechnung des Zuschlags (Spitzenverband des Bundes der Krankenkassen/Kassenärztliche Bundesvereinigung) circa 2500 EUR • Vereinbarungen zu Inhalt, Struktur und Sicherheitsmaßnahmen (Deutsche Krankenhausgesellschaft/Kassenärztliche Bundesvereinigung/Gesellschaft für Telematik/Spitzenverband der Krankenkassen) circa 10.000 EUR 6.2 eBrief (§ 291h) Hierbei handelt es sich um die „Übermittlung elektronischer Briefe in der vertragsärztlichen Versorgung“. In Absatz 2 heißt es „Das Nähere, insbesondere über Inhalt und Struktur des elektronischen Briefs, zur Abrechnung, zu Regelungen, die eine nicht bedarfsgerechte Mengenausweitung vermeiden, und Einzelheiten zu den Sicherheitsmaßnahmen, regelt die Kassenärztliche Bundesvereinigung im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Gesellschaft für Telematik in einer Richtlinie.“ Veranschlagte Aufwände: • wenn die „Übermittlung durch sichere elektronische Verfahren erfolgt und dadurch der Versand durch Post-, Boten- oder Kurierdienste entfällt“ • Anreiz: max. 31 Mio. EUR • Anpassung des EBM: 20.000 EUR • Bereitstellung von zusätzlichem Personal sowie Sachkosten: 240.000 EUR • Regelungen zur Überwachung: 10.000 EUR • Einrichtung einer Schlichtungsstelle: 15.000 EUR • Erstellung einer Richtlinie über Inhalt, Struktur, Abrechnung und Sicherheitsmaßnahmen: 10.000 EUR 6.3 Medikationsplan (§ 31a) Für die Entwicklung der neuen Anwendung „Medikationsplan“ nach § 291a Absatz 3 Satz 1 Nr. 3b entsteht einmaliger Erfüllungsaufwand für die Gesellschaft für Telematik in Höhe von rund einer Mio. EUR. 6.4 Konsiliarische Befundbeurteilung (§ 291i) Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen vereinbaren im Benehmen mit der Gesellschaft für Telematik die „Anforderungen an E-Health-Gesetz 131 die technischen Verfahren zur telemedizinischen Erbringung der konsiliarischen Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen in der vertragsärztlichen Versorgung (…)“. „Telemedizinische Leistungen gewinnen vor dem Hintergrund der Stärkung der inter- und intrasektoralen Kooperation von Ärzten und der Versorgung der Versicherten insbesondere in unterversorgten Regionen weiter an Bedeutung. Telemedizinische Leistungen sollen daher im EBM ausgebaut und mit Zuschlägen gefördert werden können.“ (Bundestag 2015a, S. 27) (Abb. 1). 6.5 Übersicht Grundsätzlich sind finanzielle Anreize ein probates wirtschaftspolitisches Instrument u. a. zur Etablierung bzw. gezielten Förderung struktureller Änderungen. Ob überhaupt und in welchem Umfang derartige Subventionen sinnvoll sind, wäre allerdings mit geeigneten, begleitenden gesundheitsökonomischen Evaluationsstudien zu prüfen. So erfolgt die finanzielle Unterstützung zur Implementierung telematischer Anwendungen bereits durch Entrichtung des Telematikzuschlags (§ 291f, bislang § 291a Abs. 7 Satz 6 SGB V). Es ist davon auszugehen, dass die teilnehmenden Einrichtungen langfristig auch aus ökonomischer Sicht von der Einführung telematischer Anwendungen profitieren, etwa durch einen geringeren Verwaltungsaufwand. Zu hinterfragen wäre hier auch die Finanzierung aus dem Beitragsaufkommen. So profitieren von der Telematikinfrastruktur nicht nur die Leistungsanbieter und -empfänger der GKV, sondern – angesichts der geplanten Ausdehnung – weitere Leistungsanbieter sowie die privaten Krankenversicherungsunternehmen und deren Versicherte. Elektronische Entlassbriefe, eBriefe und Medikationspläne müssten für alle Patienten eingeführt werden, womit dann u. a. die privat abgesicherten Personen von derartigen Systemen profitieren ohne zu deren Finanzierung beigetragen zu haben. In diesem Zusammenhang wäre auch über den Nutzen einer verpflichtenden Einführung der Direkter Nutzer Monetärer Anreiz Direkt Nutznießer Indirekte Nutznießer KH zu Arzt 1 Euro KH und Versorger Patient eBrief Arzt zu Arzt 0,55 Euro Ärzte Patient Notfalldatensatz Versorger EBM Versorger Patient Medikationsplan Patient EBM Patient Versorger Telemedizin Versorger EBM Versorger Patient Interop.-Verz. Gematik Investition Alle eEntlassbrief (nicht umgesetzt) Abb. 1  Direkte und indirekter Nutznießer des E-Health-Gesetzes 132 S. Müller-Mielitz und T. Lux elektronischen Gesundheitskarte für alle Krankenversicherten, das heißt auch für die privat Abgesicherten, nachzudenken, damit Anwendungen wie die Bereitstellung des Notfalldatensatzes für alle Patienten bereitstehen würden. 7 Neutralität der Gematik Wichtig für das Erreichen der mit dem E-Health-Gesetz angestrebten Ziele ist zudem die Wahrung der Neutralität führender Instanzen. Das Gesetz zielt auf eine Stärkung der Strukturen und Kompetenzen der Gematik. So legt diese z. B. abschließend die Standards für das Interoperabilitätsverzeichnis fest und überprüft diese auf ihre korrekte Umsetzung in der Praxis. Kritisch zu hinterfragen ist, ob die Gematik eine neutrale Position aufgrund ihrer Zusammensetzung einnehmen kann. Daher ist die im Gesetzesentwurf vorgesehene Ernennung eines Beirats aus verschiedenen Akteuren und Interessengruppen, der die Gematik in grundlegenden Angelegenheiten berät, ein wichtiger Aspekt. 8 Interdependenzen rechtlicher Regelungen und Datenschutz Eine weitere Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung einer einheitlichen telematischen Infrastruktur ist die Berücksichtigung bestehender gesetzlicher Regelungen und deren Interdependenzen. So können sich z. B. rechtliche Probleme bezüglich der Zugriffsberechtigungen auf den Notfalldatensatz der elektronischen Gesundheitskarte ergeben und diese Informationen unter Umständen in Notfallsituationen nicht zur Verfügung stehen. Auch das sogenannte Fernbehandlungsverbot wäre hierzu zu zählen, das einer umfassenderen Nutzung der Telematikinfrastruktur entgegenstehen könnte. Über den Ausbau einer einheitlichen telematischen Infrastruktur und den Einbezug aktueller Sicherheitsbestimmungen ist ein verbesserter Datenschutz zu erwarten, der für die Nutzung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen unabdingbar ist. Gleichwohl wäre zu überlegen, durch die Einrichtung einer unabhängigen Stelle die Wahrung der aktuellen Sicherheitsbestimmungen sicherzustellen. 9 Mehrausgaben Insgesamt gesehen kommt es durch das E-Health-Gesetz zu Mehrausgaben, deren Höhe allerdings im Entwurf nicht vollständig ausgewiesen wird (Bundestag 2015a). • Der Gematik entstehen einmalig Ausgaben in Höhe von rund 2,45 Mio. EUR für die Entwicklung des Medikationsplans nach § 291a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3b, für Maßnahmen im Zusammenhang mit der Öffnung der Telematikinfrastruktur, für Datenschutz E-Health-Gesetz 133 sowie die Einrichtung des Interoperabilitätsverzeichnisses. Dazu kommen jährliche Ausgaben in Höhe von rund 800.000 EUR insbesondere für die Wahrnehmung von Aufgaben auf EU-Ebene und den Betrieb des Interoperabilitätsverzeichnisses. • Die monetären Anreize zur Erstellung von elektronischen Entlassbriefen können zu Mehrausgaben von bis zu ca. 31 Mio. EUR jährlich führen. Davon entfallen jährlich auf die gesetzliche Krankenversicherung für die Erstellung von elektronischen Entlassbriefen im Krankenhaus ca. 20,5 Mio. EUR und für das Einlesen in der vertragsärztlichen Versorgung ca. 10,5 Mio. EUR. • Um die gesetzlichen Aufgaben umsetzen zu können, entsteht beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ein Personalkostenaufwand in Höhe von 321.000 EUR pro Jahr. Andere Ausgaben für die GKV werden für bestimmte Aspekte als nicht quantifizierbar dargelegt. Hierzu gehören laut Gesetzentwurf (Abb. 2): Gegenstand Zuständig Tätigkeit Grund Kosten/Entgelt Wann Notfalldatensa tz Ärzte Erstellen/ Ändern Versorgung akut erkrankter oder auch pflegebedürftiger Patienten zu verbessern (Anpassung des EBM-Kataloges erforderlich) 30.09.2017 Ärzte einlesen Entgegennahme 0,50 Euro 01.07.201630.06.2018 eBrief Ärzte/ Übermittlung von eBriefen es entfallen Schneckendienste (§ 291h) Ärzte Medikationspl an 0,55 Euro pro Übermittlung Ärzte Papierbogen Fünf verordnete Arzneimittel Ärzte konsiliarischen Befundbeurteilu ng und zur Videosprechstu nde Telemedizinische Leistungen EBM anpassen Gematik Aufbau und Pflege „Insellösungen“ vermeiden 2,5 Mio. Euro, laufende Kosten 770.000 Euro p.a. KH Erstellen Zum Zwecke der Weiterverarbeitung für Patient oder Vertragsarzt 1 Euro pro voll/teilstationärem Behandlungsfall 2016/2017 Richtlinie (§31a) Telemedizin (291g) Interoperabilitä ts-Verzeichnis (§ 291e) eEntlassbrief (§ 291f) (ist entfallen) Zuschläge öffentlicher Zugang Abb. 2  Auflistung der initialen Vergütungen = Aufwände der GKV und weiterer Beteiligter 134 S. Müller-Mielitz und T. Lux • mit der Erstellung und Aktualisierung des elektronischen Notfalldatensatzes verbundene ärztliche Dokumentationsleistung, • zusätzliche Möglichkeit, regionale Zuschläge für förderungswürdige vertragsärztliche und telemedizinisch erbringbare Leistungen zur Verbesserung der Versorgung zu zahlen (§ 87a SGB V). 10 Evaluation Von außerordentlicher volkswirtschaftlicher, betriebswirtschaftlicher und gesundheitsökonomischer Relevanz ist die Evaluation von E-Health-Anwendungen, welche allerdings im E-Health-Gesetz keine Berücksichtigung findet. Es ist zwar in § 291e Absatz 11 eine sogenannte Evaluationsklausel enthalten, welche sich auf das Interoperabilitätsverzeichnis bezieht, wonach ein Informationsportal eingerichtet wird, in dem wissenschaftliche Evaluationen von elektronischen Anwendungen im Gesundheitswesen abgerufen werden können. „Der von der Gematik zu erstellende Bericht über den Aufbau, die Nutzung und Weiterentwicklung des Interoperabilitätsverzeichnisses nach § 291e Absatz 12 dient der Erfolgskontrolle und Evaluation der Regelung zum Interoperabilitätsverzeichnis“ (Bundestag 2015a, S. 36). Wie wissenschaftliche Evaluationen von elektronischen Anwendungen durchzuführen sind, wird nicht weiter ausgeführt. Hier ergibt sich dringender Handlungsbedarf, ein geeignetes methodisches Rüstzeug zu entwickeln bzw. die bestehenden Evaluationsmethoden auf diesen Anwendungsbereich anzupassen. Eine Konkretisierung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wäre wünschenswert, mangelt es derzeit doch allein schon an verbindlichen Vorgaben zu einheitlichen Standards für E-Health-Anwendungen, die bei entsprechenden Studien eingehalten werden sollten. Neben einer Qualitätskontrolle der Studien wäre so auch eine bessere Vergleichbarkeit des Nutzens der Anwendungen untereinander gegeben, wenn Abstimmungen zu Mengen- und Preisgerüsten erfolgen, die damit eine auf Standards basierende Analyse ermöglicht. Es fehlt an einem auf E-Health-Anwendungen abgestimmten Studiendesign, wie es beispielsweise durch den Hannoveraner Konsens für Arzneimittelstudien bereits gegeben ist (Schulenburg et al. 2007). 11 Fazit Mit dem E-Health-Gesetz ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung eines Ausbaus und einer Verbesserung der telematischen Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen unternommen (vgl. BMG 2015). Um telemedizinische Anwendungen flächendeckend zu etablieren und um die bekannten Hürden zur Umsetzung zu überwinden, erscheinen die im Gesetzentwurf vorgesehen Maßnahmen jedoch noch nicht umfassend genug. E-Health-Gesetz 135 Es wäre daher zu überlegen, welche weiteren monetären und nicht-monetären Förderungen auf den Weg zu bringen sind. Es wäre hierbei an die Gestaltung adäquater Rahmenbedingungen zu denken, wie den Ausbau der telemedizinischen Infrastruktur vor allem im ländlichen Raum sowie die Schaffung von technischen und terminologischen bzw. semantischen Standards für den interoperablen, elektronischen und datenschutzkonformen Datenaustausch. Die vorliegende Gesetzesänderung im Geltungsbereich des SGB V wurde am 3.12.2015 mit den Stimmen der großen Koalition beschlossen (Bundestag 2015b, min. 31:30; Bundestag 2015a). Literatur aerzteblatt.de (2015) E-Health-Gesetz: Die wichtigsten Inhalte des Referentenentwurfs. http:// www.aerzteblatt.de/nachrichten/61448/E-Health-Gesetz-Die-wichtigsten-Inhalte-des-Referentenentwurfs. Zugegriffen: 15. Jan. 2015 BMG, Bundesministerium für Gesundheit (2015) E-Health-Gesetz verabschiedet. http://bmg.bund. de/ministerium/meldungen/2015/e-health.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Bundestag (2015a) Drucksache 18/5293 Entwurf eines Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen. http://dip.bundestag.de/btd/18/052/1805293.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Bundestag (2015b) Entwurf eines Gesetzes für die sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen, Berlin. http://dbtg.tv/fvid/6246724. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 dggö, Dt. Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (2015) E-Health-Gesetzentwurf der Bundesregierung. 20(5):189–191 E-Health-Com (2015) Bundesverband Gesundheits-IT begrüßt Verabschiedung des „eHealthGesetzes“. http://www.e-health-com.eu/details-news/bundesverband-gesundheits-it-begruesstverabschiedung-des-ehealth-gesetzes/c69a9935a6bfc1d377679a219b1241ee/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 HL7-Deutschland (2015) Arztbrief 2014. http://wiki.hl7.de/index.php/Arztbrief_2014_%28Proj ekt%29. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Schulenburg JM et al (Hrsg) (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen ­Evaluation – Dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. http://www.dgrwonline.de/files/hannoveraner_konsens_2007.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 SGB V (2016) Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung. http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/sgb_5/gesamt.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 136 S. Müller-Mielitz und T. Lux Über die Autoren Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Thomas Lux  Seit 2013 ist Thomas Lux Inhaber der Professur „Prozessmanagement im Gesundheitswesen“ am Fachbereich Gesundheitswesen der Hochschule Niederrhein, Gründer und Leitender Direktor des Competence Center eHealth an der Hochschule Niederrhein. 2012/2013 vertrat er die Professur „Wirtschaftsinformatik I: Geschäftsprozessmanagement und Informationsmanagement“ an der Technischen Universität Chemnitz. Er gründete und leitete das Competence Center eHealth Ruhr (CCeHR) (2009–2013) an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum folgte 2005 die Promotion zum Dr. rer. oec. an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Thomas Lux war weiterhin von 1999–2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik (Ruhr-Universität Bochum), von 2005–2007 Wissenschaftlicher Assistent (Habilitand) und von 2007–2012 Geschäftsführender Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der Ruhr-Universität Bochum. Weiterhin leitete er zahlreiche wissenschaftliche und praxisorientierte Projekte im Gesundheitswesen. Kontakt: Thomas.Lux@hs-niederrhein.de Teil III E-Health in der Gesundheitswirtschaft Stefan Müller-Mielitz Es entstehen zunehmend regionale und nationale Gesundheitsnetzwerke in vielfältigster Ausprägung, mit denen die bisherige Starrheit der Institutionen und die sektorale Trennung innerhalb des alten Gesundheitswesens aufgebrochen werden. Das „Netzwerken“ erfährt zunehmend Akzeptanz und wird von den Akteuren im Gesundheitswesen unterschiedlich genutzt. Ein Netzwerk kann aus mindestens zwei Perspektiven beschrieben werden: der organisatorischen und der technischen Perspektive. Die organisatorischen Ärzte- oder Krankenhausnetzwerke und die technischen IT-Netzwerke weisen dabei folgende Parallele auf: Ihnen gemein ist das „Schnittstellenmanagement“, das Zeitaufwand und Kosten verursacht und oft nur wenig standardisiert ist (KBV 2012). Weitere Perspektiven auf Netzwerke im Gesundheitswesen sind die ökonomischen, ethischen, sozialen und juristischen. Insbesondere die modernen, vernetzten, IT-gestützten Versorgungsformen bedürfen einer ökonomischen Analyse und der Überprüfung ihrer Wirtschaftlichkeit, wenn sie in Zukunft am Gesundheitsmarkt bestehen wollen und einen positiven Nutzen- und Wertbeitrag für das Gesundheitssystem liefern sollen. Der Wechsel der Perspektive von den einzelnen Akteuren der Gesundheitswirtschaft und ihrer Mikro-Sichtweise hin zu einer makroökonomischen Sicht, auf die Gesundheitswirtschaft die als Ganzes betrachtet wird, vollzieht sich durch die Methoden der Volkswirtschaftslehre (VWL). Das Gesundheitssatellitenkonto ist ein erster Schritt, die Gesundheitswirtschaft als Wirtschaftsfaktor zu beschreiben (vgl. Henke et al. 2010). In der Vergangenheit wurde das Gesundheitswesen als reiner Kostenfaktor gesehen. Das ändert sich zunehmend. Durch die Aufteilung in einen ersten und zweiten Gesundheitsmarkt wird das Potenzial für eine Gesundheitswirtschaft mit gesamtwirtschaftlichen Wachstumsimpulsen deutlich und tritt in der Betrachtung in den Vordergrund. Der erste Gesundheitsmarkt entspricht dabei dem bekannten Begriff 138 Teil III  E-Health in der Gesundheitswirtschaft „Gesundheitswesen“. Das ist der ambulante, stationäre, pflegerische und rehabilitative Bereich der Gesundheitsversorgung, der vornehmlich über die gesetzlichen und privaten Krankenkassen (und andere Parafisci) bezahlt wird. Mit dem zweiten Gesundheitsmarkt sind diejenigen Leistungen verbunden, die privat finanziert werden. Dazu gehören typischerweise IGeL-Leistungen („Individuelle Gesundheitsleistungen“) bei Ärzten und weiteren Gesundheitsdienstleistern, Wellness-, Fitness-, Schönheits-Ausgaben und andere konsumtive Ausgaben (vgl. Henke et al. 2011, S. 36). Die Begriffe „Volkswirtschaft“ und „Betriebswirtschaft“ stellen aus ökonomischer Sicht den Makroökonomischen (Top down) und den Mikroökonomischen Pol (Bottom up) in der Betrachtung dar. In der makroökonomischen Sichtweise können die Bereiche folgendermaßen gesehen werden (vgl. Abb. 1): •  Gesundheitssystem: Die Interaktion aller Akteure. Schaffung von Werten, Dienstleistungen, Bauten, politische Rahmenbedingungen. • Gesundheitswirtschaft: Greift das Thema „System“ auf. Zusammen mit der Nutzung von entsprechenden Steuerungsinstrumenten und der Beschreibung der Auswirkungen auf den 2. Gesundheitsmarkt. •  Gesundheitswesen: Das Wesen ist die Krankenversorgung evtl. auch mit Krankenversicherung und den Effekten im 1. Gesundheitsmarkt. •  Forschung: Die Forschung innerhalb des Gesundheitssystems steht bei der öffentlichen Förderung als parallele Welt zum Gesundheitswesen (Versorgung) und bei der privatwirtschaftlichen Forschung im Kontext der Gesundheitswirtschaft als ein Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten von Unternehmen. • Die Betriebswirtschaft steht für alle mikroökonomisch agierenden Akteure in der betrachteten Volkswirtschaft. Es wird deutlich, dass Gesundheitswirtschaft, Gesundheitswesen und Forschung jeweils relevante Teilbereiche des Gesundheitssystems sind, bei denen volkswirtschaftliche und/ oder betriebswirtschaftliche Analysemethoden zur Anwendung kommen. Die 1 zeigt eine Systematik zur Einordnung der relevanten Begriffe innerhalb des Gesundheitssystems. Grundlage für die Abbildung waren die Ausführungen von Andreas J. W. Goldschmidt während des B.-Braun-Mentoring-Programms am 12.05.2012 in der Aesculap Akademie, Berlin. Aus der Detailbetrachtung des „Gesundheitswesens“ und der „Gesundheitswirtschaft“ entstand durch die Arbeiten von Henke et al. im Rahmen des BMWI-Projektes „Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland“ die Unterscheidung in den 1. und 2. Gesundheitsmarkt (vgl. BMWI 2009). Der „erste Gesundheitsmarkt“ ist kein Markt im ökonomischen Sinne. Der Grund dafür sind die vielen Regulierungen und das Auseinanderfallen von Leistungsnehmern, Leistungsträgern und Leistungserbringern. Das sind die hauptsächlichen Gründe, warum das Gesundheitswesen in Deutschland nicht als markwirtschaftliches System angesehen werden kann. Damit ist der „erste Gesundheitsmarkt“ weit entfernt von der Sichtweise eines Wettbewerbsmarkts bzw. einer „Marktwirtschaft und Wettbewerb“ (Schumann Teil III  E-Health in der Gesundheitswirtschaft 139 Abb. 1  Gesundheitssystem, -wirtschaft, -wesen und Forschung 1999. S. 501), dessen Charakterisierung auf den „zweiten Gesundheitsmarkt“ eher zutrifft, da hier Angebot und Nachfrage direkt aufeinandertreffen. Die Relevanz von IT, Kommunikation und Technologie in der Gesundheitswirtschaft, verstanden als Fortschrittsmotor und technische Diagnose- und Therapieunterstützung schreitet im Zuge der Digitalisierung weiter voran. Der „digitale Patient“, dessen Erkrankung das „digitale ich“ simuliert und digital therapiert werden kann, hält Einzug und wird konkret auch in der Bezeichnung der personalisierten Medizin. Literatur BMWI (2009) Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland. http:// www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/Studien/satellitenkonto-gesundheitswirtschaft-kurzfassung-abschlussbericht,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2015 Henke, K-D et al. (2010) Erstellung eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland: Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. 1. Baden-Baden: Nomos Henke, K-D et al. (2011) Volkswirtschaftliche Bedeutung der Gesundheitswirtschaft: Innovationen, Arbeitsmarkt, Branchenverflechtung. Nomos, Baden-Baden KBV, Kassenärztliche Bundesvereinigung (2012) Checklisten für das ärztliche Schnittstellenmanagement zwischen den Versorgungssektoren. http://www.aezq.de/mdb/edocs/pdf/info/checklistenschnittstellenmanagement.pdf. Zugegriffen: 5.Jan. 2015 Schumann, J (1999) Grundzüge der mikroökonomischen Theorie. Springer, Berlin Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive von Public Health Florian Fischer 1 Einleitung Technische Geräte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem ständigen Begleiter in unserem Alltagsleben entwickelt. Technologien unterstützen die Bevölkerung vor dem Hintergrund des demografischen (Alterung der Bevölkerung) und epidemiologischen (Zunahme chronischer Erkrankungen) Wandels in den täglichen Aktivitäten. Digitalisierung und Vernetzung ermöglichen neue Dimensionen der Lebensgestaltung, die auch Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und die Gesundheitsversorgung haben. Bei Betrachtung von E-Health-Anwendungen wird deutlich, dass diese u. a. in der häuslichen Umgebung, am Körper oder implantiert im Körper immer stärker in die Lebenswelt von Nutzer/innen eingreifen. Durch teilweise kontinuierliches Monitoring von Vitalparametern ergeben sich moralische Fragen, welchen Einfluss E-Health auf die Freiheit, Selbstbestimmung und das Selbstverständnis von Patient/innen haben kann (Korhonen et al. 2014). Die sich durch den Einsatz von E-Health verändernden Gegebenheiten nehmen auch Einfluss auf die Bereitstellung und Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen sowie die Interaktion zwischen behandelnden Personen und Patient/innen (Clark et al. 2010). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Technisierung im Rahmen der Medizin nehmen ethische Fragestellungen eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung, Implementierung und Evaluation von E-Health-Anwendungen ein, welche insbesondere aus einer Public-Health-Perspektive betrachtet werden müssen. Aus diesem Grund sollen im F. Fischer (*)  Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: f.fischer@uni-bielefeld.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_9 141 142 F. Fischer folgenden Beitrag die zentralen Prinzipien und Herausforderungen aufgezeigt und für ethische Implikationen im Zusammenhang mit E-Health sensibilisiert werden. 2 Begriffsbestimmung: Ethik im Gesundheitswesen Ethik stellt einen Teilbereich der Philosophie dar, welcher sich mit den Voraussetzungen menschlichen Handelns und seiner Bewertung befasst. Dabei wird unter Moral (Ethos) die Gesamtheit aller Normen, Verhaltensregeln, Werte und Überzeugungen, die von einer Person oder (Sub-)Population als verbindlich anerkannt werden, bezeichnet. Demgegenüber stellt Ethik die Theorie der Moral in Form einer philosophisch-systematischen Reflexion der Moral dar (Düwell et al. 2011; Schröder-Bäck 2014). Ethik als Theorie der Moral lässt sich hinsichtlich ihrer zentralen Funktion und Fragestellung in verschiedene Teilbereiche differenzieren. So besteht zunächst eine Unterscheidung der deskriptiven Ethik von der philosophischen Ethik. In der deskriptiven Ethik geht es um die Beschreibung bestehender Moralvorstellungen auf Basis sozial-, geschichts- oder naturwissenschaftlicher Methoden. Die philosophische Ethik unterteilt sich des Weiteren in eine Metaethik und eine normative Ethik. Während die Metaethik der Reflexion von Methoden und Begriffsklärung dient, besteht die Zielsetzung der normativen Ethik darin, Begründungen für moralische Normen und Urteile zu finden und diese zu überprüfen (Steigleder 2006; Schröder-Bäck 2010; Kettner 2011; SchröderBäck 2014). Ethik stellt eine Integrations- und Orientierungswissenschaft mit interdisziplinärer Ausrichtung dar. Aus diesem Grund lässt sich die normative Ethik auch in weitere Bereichsethiken unterscheiden, welche sich an normativen und praxisnahen Ethikdiskursen über konkrete Sachdimensionen bzw. Themengebiete orientieren. Für das Themengebiet E-Health ist dabei grundlegend die Bioethik von Bedeutung, zu welcher u. a. auch die Medizinethik gehört, die sich durch die Anwendungen ethischer Theorien auf Fragen im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit auszeichnet. Medizinethik, welches die wohl am meisten betrachtete Bereichsethik darstellt (Schöne-Seifert 2005), befasst sich zentral und ursprünglich mit dem Arzt-Patienten-Verhältnis und ist somit vor allem als Individualethik zu verstehen (Schröder-Bäck 2014). In einem weiteren Verständnis stehen aber auch die Verbesserung der Lebensqualität und Selbstbestimmung der Patient/innen, ein gleicher sowie gerechter Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Zufriedenheit und Motivation der Behandelnden, volkswirtschaftlicher Nutzen, Effektivität und Effizienz sowie die Entwicklung der Medizin als zentrale Leitlinien einer ethischen Betrachtung von medizinischen bzw. gesundheitsbezogenen Themenfeldern im Vordergrund. Die letztgenannten Zielsetzungen resultieren jedoch aus einer Betrachtungsweise aus dem Blickwinkel von Public Health. Die Public-Health-Ethik stellt ein vergleichsweise neues Feld der angewandten Ethik dar, in welcher die ethischen Implikationen vielfältiger Aktivitäten zur Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung betrachtet werden. Der Unterschied zur Medizinethik besteht darin, dass nicht die Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive … 143 Gesundheit von Individuen, sondern von (Sub-)Populationen betrachtet wird. Die zentrale Zielsetzung besteht in der Förderung und des Schutzes von Gesundheit sowie der Prävention von Krankheit (Kass 2001; Dawson 2011; Marckmann et al. 2015). Bislang hat sich die Medizinethik allerdings nur zögerlich der Public-Health-Thematik zugewandt. Weiterhin stehen in der Medizinethik vor allem jene Themen im Vordergrund, die entweder das körperliche und psychische Wohlbefinden einzelner Individuen betreffen oder die aus der Entwicklung innovativer Technologien entstehen (Buyx und Huster 2010). Da gemeinsame Schnittmengen zwischen Medizin und Public Health bestehen, werden die etablierten Moralprinzipien hinsichtlich der Achtung der Selbstbestimmung (Autonomie) der Patient/innen, des Wohltuns/Nutzens, Nichtschadens und der Gerechtigkeit (Beauchamp und Childress 2009) sowohl in der Medizinethik als auch in der Public-Health-Ethik genutzt. Darüber hinaus findet in der Public-Health-Ethik eine Erweiterung um die Aspekte der Effizienz und Legitimität statt (Marckmann und Strech 2010; Marckmann et al. 2015). 3 Voraussetzungen und Herausforderungen in der ethischen Auseinandersetzung mit E-Health Wie alle anderen medizinischen bzw. gesundheitsbezogenen Themen ist eine Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten der Entwicklung, des Einsatzes und der Evaluation von E-Health-Anwendungen erforderlich. Viele moralische Grundregeln gelten sowohl für den Bereich der Medizin im Allgemeinen, andere beziehen sich hingegen speziell auf das Themenfeld E-Health (Sarhan 2009; Mehta 2014). Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität des Themenfeldes werden im Folgenden zentrale ethische Voraussetzungen aufgezeigt. Die Formulierung der zentralen Normen für eine E-Health-Ethik berücksichtigen dabei bereits bestehende ethische Voraussetzungen und Herausforderungen aus den Bereichen von Medizin, Public Health und weiteren naheliegenden Bereichsethiken. Somit stellt die im Folgenden beschriebene E-Health-Ethik eine Erweiterung zu medizinischen Standesethiken dar, die sich z. B. in dem Vorschlag eines TelemedizinEides (Iserson 2000) zeigt. Zweifellos bestehen vielfältige Potenziale durch den Einsatz von E-Health. Dazu gehören neben der Überbrückung einer zeitlichen und/oder räumlichen Distanz auch die Reduktion von (Informations-)Asymmetrien, sowie die Bereitstellung aktuellen Wissens und handlungsleitender Werkzeuge für die Entscheidungsfindung (Groß und Schäfer 2007; Kluge 2011). Dennoch sind insbesondere die Herausforderungen aus ethischer Perspektive zu betrachten. Jene Herausforderungen aber auch Nutzenerwägungen können sich aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive durchaus unterscheiden, sodass eine multiperspektivische Betrachtung erforderlich ist. Während einige moralische Normen für jegliche medizinische bzw. gesundheitsbezogene Interventionen von Bedeutung sind, wird im Folgenden auf jene ethischen Aspekte eingegangen, die für das Themenfeld E-Health von besonderer Relevanz sind. 144 F. Fischer Die genannten Voraussetzungen und Herausforderungen sind teilweise nicht trennscharf und bedingen sich vielfach wechselseitig. Die Dimensionen der ethischen Betrachtung beziehen sich auf E-Health als Produkt bzw. Dienstleistung sowie auf den prozessualen Charakter solcher Anwendungen (Korhonen et al. 2014). Dabei wird insbesondere Telemedizin, als ein Teilbereich von E-Health, fokussiert, da in diesem Kontext aufgrund der unmittelbaren Beteiligung von Patient/innen an dem (Behandlungs-)Prozess eine Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten von besonderer Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz gelten die genannten Aspekte – zumindest in Teilen – auch für andere Anwendungen, die sich durch Digitalisierung im Gesundheitswesen kennzeichnen, und somit dem Themenbereich E-Health zuzuordnen sind, analog. Dazu gehören auch E-Health-Anwendungen aus dem Bereich der onlinebasierten Gesundheitskommunikation, welche über die Informationsbereitstellung im Internet das Empowerment der Nutzer/innen hinsichtlich gesundheitsbezogener Themen fördern wollen. Diese Kommunikationsstrukturen bieten teilweise ein hohes Maß an Interaktivität aber auch Intimität durch Anonymität. Dennoch sind auch in diesem Zusammenhang ethische Gesichtspunkte zu betrachten. Hier stehen vor allem die Fragen nach dem Verantwortungsbewusstsein über die Wirkungspotenziale und Konsequenzen solcher Anwendungen im Fokus (Breitenborn 2004). Darüber hinaus ist die Informationsbereitstellung aus ethischer Perspektive kritisch zu reflektieren. So besteht mittlerweile ein Überfluss an Gesundheitsinformationen im Internet, deren Evidenz zum Teil strittig oder nicht belegt ist, die vielfach missverständlich oder unstrukturiert präsentiert werden und gegebenenfalls auf veraltete Informationsquellen zurückgreifen. Somit besteht das Risiko einer Überforderung der Rezipient/innen (Bauer 2001). Grundsätzlich ist die ethische Angemessenheit von einer Vielzahl kontextspezifischer Faktoren abhängig. Dazu gehören die Art und Komplexität der genutzten E-HealthAnwendung, ebenso wie die Unterstützung durch das soziale Umfeld (Bauer 2001). Dass eine qualitativ hochwertige Versorgung die Zielsetzung jeglicher Dienstleistungen im Gesundheitswesen sein sollte, steht außer Frage. Die Qualität der Versorgung durch E-Health ergibt sich dabei u. a. auch aus der Berücksichtigung der im Folgenden beschriebenen ethischen Voraussetzungen und Herausforderungen. 3.1 Nutzen- und Schadenpotenziale für die Zielpopulation Als Zielsetzung von Public Health ist die Gesundheitsmaximierung der Bevölkerung zu sehen (Schröder-Bäck 2014). Daher ist die Abwägung von Nutzen- und Schadenpotenzialen von E-Health auch ein zentraler moralischer Auftrag. Während aus PublicHealth-Perspektive die Verbesserung des Gesundheitszustandes auf aggregierter Ebene betrachtet wird (z. B. Risikogruppen), entspricht dies auch den individualethischen Prinzipien der Nutzenmaximierung, des Wohltuns und des Nichtschadens. Die Betrachtung und ethische Bewertung der Effekte des Nutzens und Schadens ist abhängig von der jeweiligen E-Health-Anwendung. Grundsätzlich sind aber die Ziele einer Intervention Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive … 145 sowie im Rahmen der Evaluation der entsprechende Zielerreichungsgrad zu berücksichtigen. Die erwarteten gesundheitlichen Endpunkte für die Zielpopulation hinsichtlich Morbidität, Lebensqualität und Mortalität sind den gesundheitlichen Belastungen und Risiken auf individueller sowie gruppenbezogener Ebene entgegenzustellen. Sowohl für die Bestimmung des Nutzens als auch des Schadens ist die Validität in Form der Stärke und Wahrscheinlichkeit des Auftretens unter Verwendung der Methoden der Evidenzbasierung zu betrachten. Darüber hinaus bedarf es im Rahmen der ethischen Betrachtung auch eines Vergleichs der E-Health-Anwendung mit einer alternativen Intervention, um den inkrementellen Nutzen sowie Schaden zu ermitteln (Marckmann und Strech 2010; Marckmann et al. 2015). 3.2 Arzt-Patienten-Beziehung Als grundlegende Kritik an dem Einsatz von Telemedizin werden, bedingt durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien – zumindest als Übertragungsmedium –, vor allem die Distanzierung und Entfremdung zwischen Personen genannt. Dies betrifft insbesondere die Arzt-Patienten-Interaktion, jedoch auch die Interaktion zwischen (informellen) Pflegenden und Pflegebedürftigen. Letztlich ist diese Tatsache nicht nur als Herausforderung des Einsatzes von Technik selbst zu sehen, sondern auch Effekt der sozialen Dynamik (Manzeschke 2004). Eine elektronische Vernetzung des Gesundheitswesens wird einen wesentlichen Einfluss auf die zukünftige Rolle der Patient/innen und insofern auch die Interaktion mit den Professionellen im Gesundheitswesen nehmen (Groß und Schäfer 2007). In der Behandlungssituation ist die Entwicklung einer emotionalen und empathischen Verbindung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/in in vielen Fällen von hoher Bedeutung, da sie eine Voraussetzung für eine angemessene Kommunikation ist (Balas et al. 1997) und auch in bestimmten Fachdisziplinen – wie der Psychiatrie – einen zentralen Bestandteil der Therapie darstellt (van Wynsberghe und Gastmans 2009). In einer ethischen Betrachtung sollten die Auswirkungen von E-Health auf die ArztPatienten-Beziehung berücksichtigt werden. Anstatt aber ausschließlich die Gegenwart oder Anwesenheit eines solchen Faktors zu betrachten, sollte stattdessen betrachtet werden, inwieweit E-Health die für die Arzt-Patienten-Beziehung relevanten Elemente zu ersetzen bzw. aufzufangen vermag (Berg 2002). 3.3 Selbstbestimmung Das geänderte Rollenverständnis in der Arzt-Patienten-Beziehung, welches auch durch E-Health direkt beeinflusst wird, steht in direktem Zusammenhang mit Faktoren der Selbstbestimmung. So führt der Einsatz von E-Health-Anwendungen z. B. im Bereich des Telemonitoring zu einer Verlagerung der medizinischen und pflegerischen 146 F. Fischer Versorgung in die Häuslichkeit. Dies vermag, trotz potenzieller Gewöhnungseffekte, zu einem Verlust an Privatsphäre und Intimität führen (Manzeschke 2004). In diesem Zusammenhang sind die moralischen Werte der Selbstbestimmung und der Menschenwürde (z. B. Recht auf Selbstbestimmung) zu betrachten (Beauchamp und Childress 2009). Eine ethische Betrachtung der Anwendbarkeit von E-Health muss somit der Frage nachgehen, ob z. B. telemedizinische Anwendungen den Patient/innen und gegebenenfalls pflegenden Angehörigen mehr Autonomie und Freiheit ermöglichen, oder diese durch den Einsatz der Technologie eingeschränkt werden (Bauer 2000; Bauer 2001). Vielfach sind technische Unterstützungssysteme für vulnerable Personengruppen gedacht, die, teilweise aufgrund ihres Alter oder der (psychischen sowie physischen) Einschränkungen bedingt durch die Erkrankung, die Komplexität des sozio-technischen Arrangements und dessen Implikationen nicht mehr zu überblicken imstande sind. Somit besteht das Risiko, dass die eigentlich als Unterstützung gedachten Systeme das Gegenteil bewirken: Die Kontrolle und Isolation durch die Technik sowie die Bestimmung durch Normwerte und Standardprozeduren kann zu einem Verlust an Selbstbestimmung und Autonomie der Patient/innen führen (Manzeschke 2004; Manzeschke et al. 2013a). Daher muss auch bei dem Einsatz von E-Health die Förderung der Gesundheitskompetenz (Empowerment, Health Literacy) berücksichtigt werden (Marckmann et al. 2015). 3.4 Informiertes Einverständnis Vor dem Hintergrund der Wahrung der Selbstbestimmung müssen Nutzer/innen selbst entscheiden und kontrollieren können, wie mit den persönlichen Daten verfahren wird. Dafür ist ein informiertes Einverständnis in alle für die E-Health-Anwendung zentralen Bereiche erforderlich (Bauer 2001; Demiris et al. 2006). Zur Sicherung des informierten Einverständnisses ist eine zuverlässige Information und persönliche Beratung notwendig. Eine Voraussetzung stellt dabei die wahrheitsgemäße und vollständige Aufklärung über das E-Health-Angebot und der Verzicht auf irreführende Beschreibungen seitens des Leistungserbringers dar. Darüber hinaus sind unkomplizierte Möglichkeiten zu einem umgehenden (persönlichen) Kontakt sicherzustellen, um Rückmeldungen zu ermöglichen und unverzüglich reagieren zu können (Bauer 2002; Clark et al. 2010). 3.5 Datenschutz Bei der Erhebung und Weiterleitung von Daten im Rahmen von E-Health-Anwendungen besteht immer das Risiko des Datenmissbrauchs, welches auch eine der schwerwiegendsten ethischen Herausforderungen im Kontext von E-Health darstellt (Marckmann 1999; Manzeschke 2004). Mit zunehmender Komplexität der Technik steigt auch die Anfälligkeit des Gesamtsystems. Zum Schutz der Privatsphäre müssen daher neben Aspekten des Datenschutzes auch die personelle Integrität und Vertraulichkeit Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive … 147 berücksichtigt werden (Marckmann et al. 2015). Insbesondere bei E-Health-Anwendungen nimmt der Datenschutz eine besondere Bedeutung ein, da Patient/innen vielfach z. B. im Zuge onlinebasierter Angebote und asynchroner Kommunikation nicht wissen, wer auf Anfragen antwortet und wie die personen- und gesundheitsbezogenen Informationen weiterverarbeitet werden. Der unberechtigte Zugriff auf vertrauliche (Gesundheits-) Daten ist durch die digitale Vernetzung von Systemen ohne ausreichende Sicherheitsmaßnahmen einfach möglich, jedoch umso schwerer zu verfolgen (Marckmann 1999). Daher wurde den datenschutzrechtlichen Notwendigkeiten verstärkt Rechnung getragen. Bedingt durch die bestehenden Sicherungsmöglichkeiten und Verschlüsselungstechnologien sind diese datenschutzrechtlichen Aspekte besser greifbar als die ethischen Gesichtspunkte. Um das Vertrauen der Patient/innen zu erhalten, sind daher Konzepte zur Sicherung der Privatsphäre und des Datenschutzes zu erstellen und den Patient/innen transparent darzustellen (Mehta 2014). 3.6 Verantwortlichkeit und Haftung Eine zumeist wenig betrachtete aber zentrale Herausforderung stellen haftungsrechtliche Fragen dar. Zum einen beziehen sich die Haftungsfragen auf die Frage der Verantwortlichkeit der Leistungserbringer oder der Hersteller bzw. technischen Dienstleister bei Fehlern in der Produktion und Datenübertragung. Zum anderen werden Patient/innen und gegebenenfalls deren Angehörige durch telemedizinische Angebote, auch vor dem Hintergrund eines sich verändernden Rollenverständnisses in der Arzt-Patienten-Interaktion, zu aktiven Teilnehmer/innen in der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen. Daraus ergibt sich eine Verantwortungsdiffusion. Daher stellt sich aus ethischer Perspektive auch die Frage, inwieweit Patient/innen Verantwortung übernehmen können oder müssen, wenn sie selbst Fehler in der Erfassung oder Weiterleitung von Daten machen (Marckmann 1999; Kluge 2011). 3.7 Gerechtigkeit Die Auseinandersetzung mit gesundheitlicher Ungleichheit stellt ein wesentliches Aufgabenfeld von Public Health dar (Schröder-Bäck 2014). Daher ist auch bei der ethischen Betrachtung von E-Health von Bedeutung, inwiefern der Zugang zu diesen Anwendungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gerecht erfolgt und ob gesundheitliche Ungleichheit durch die Nutzung solcher Technologien nicht verstärkt – sondern bestenfalls verringert – wird. Es ist ein gerechter Zugang zu den begrenzten (medizinischen) Ressourcen zu schaffen. Dazu sind die Dienstleistungen sowohl verfügbar als auch zugänglich zu machen. Durch E-Health-Anwendungen dürfen keine Personen stigmatisiert, diskriminiert oder exkludiert werden (Marckmann und Strech 2010; Schröder-Bäck 2010; Marckmann et al. 2015). Dabei ist bei E-Health darauf zu achten, dass sich die 148 F. Fischer digitale Kluft nicht verstärkt, indem Menschen, die mit den neuen Techniken nicht oder nicht ausreichend vertraut sind, nicht benachteiligt werden. Wenn sich die Anwendung an bestimmte (Risiko-)Gruppen richtet, ist auf den besonderen Bedarf vulnerabler Populationen Rücksicht zu nehmen. Darüber hinaus darf der allgemeine Zugang zum Gesundheitswesen für die anvisierte Population nicht gefährdet werden (Schröder-Bäck 2010). 3.8 Effizienz Ethische Herausforderungen umfassen auch ökonomische Dimensionen, da die begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen möglichst effizient genutzt werden müssen (Kolmar 2011). Es hat sich gezeigt, dass ein fragmentiertes Gesundheitssystem und schlecht zugängliche Gesundheitsinformationen sowohl die Kosten als auch die Qualität der Gesundheitsversorgung und Patientensicherheit negativ beeinflussen. Die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen kann daher zu einer Lösung dieser Problematik beitragen (Anderson 2007). Aus diesem Grund ist die Betrachtung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses ebenso wie die Berücksichtigung der Validität der Effizienzmessung von Bedeutung (Marckmann und Strech 2010; Marckmann et al. 2015), damit E-Health-Anwendungen sowohl aus ökonomischer als auch ethischer Perspektive den Mindeststandards entsprechen. 4 Berücksichtigung ethischer Aspekte in der Evaluation von E-Health Neben der Betrachtung der technischen Eigenschaften und Auswirkungen einer E-Health-Anwendung auf individueller Ebene (Morbidität, Lebensqualität, Mortalität), sind auch weitere Aspekte auf einer Meso- und Makroebene im Rahmen der Evaluation von E-Health-Anwendungen zu betrachten. Dazu gehören neben ökonomischen, rechtlichen und sozialen Aspekten auch die aufgezeigten ethischen Voraussetzungen und Herausforderungen, da sie ebenfalls zentrale Einflussfaktoren auf die Qualität einer solchen Intervention darstellen. Um diese ethischen Fragen strukturiert zu erfassen und zu reflektieren, sei an dieser Stelle exemplarisch auf das „Modell zur Ethischen Evaluation Sozio-TechnischerArrangements“ (MEESTAR) verwiesen. Mit diesem Instrument soll herausgearbeitet werden, welche ethischen Herausforderungen sich durch den Einsatz von E-Health ergeben und inwiefern der Einsatz ethisch unbedenklich ist. Dabei werden unterschiedliche Dimensionen der ethischen Bewertung, vergleichbar mit den in diesem Kapitel dargestellten ethischen Voraussetzungen und Herausforderungen, betrachtet. Es erfolgt eine ethische Bewertung über vier Stufen, mit welchen der Grad der ethischen Bedenklichkeit festgestellt wird. Dabei weist das Instrument eine neutrale und drei negative Einstufungen auf. Es werden die Mindestanforderungen an die ethischen Bedingungen Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive … 149 für die Anwendungen formuliert. Positive Effekte einer Dimension können und sollen dabei jedoch nicht als Ausgleich für andere Dimensionen dienen, um die E-HealthAnwendungen „nach unten“ abzusichern. Da die Bewertung der einzelnen Dimensionen abhängig von der im Rahmen der Evaluation eingenommenen Perspektive ist, werden in dem Modell drei Beobachtungsebenen (individuell, organisational und gesellschaftlich) genutzt (Manzeschke et al. 2013b). 5 Fazit Die zu betrachtenden ethischen Dimensionen einschließlich ihrer Herausforderungen sollen nicht den Eindruck erwecken, dass technische Innovationen im Gesundheitswesen abzulehnen seien. Es ist aber von Bedeutung, das Augenmerk nicht nur auf die Potenziale von E-Health zu richten, sondern auch für mögliche Nachteile und Risiken sensibilisiert zu sein. Daher ist eine bewusste und verantwortbare Gestaltung von E-Health auch aus ethischer Perspektive erforderlich (Manzeschke 2004; Manzeschke et al. 2013a). Dabei müssen all jene Aspekte berücksichtigt werden, die für jegliche Intervention im Gesundheitswesen gelten. Dazu zählt die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Behandelnden und Patient/innen, die Auseinandersetzung mit Fragen hinsichtlich moralischer Werte und der Ausgestaltung einer angemessenen und qualitativ hochwertigen Versorgung, sowie die Berücksichtigung von Gerechtigkeitsfragen. Um dies zu erreichen, sind eine kontinuierliche Reflexion der Akteure sowie eine partizipative Entwicklung der Anwendungen erforderlich. Darüber hinaus müssen bei der Evaluation neben medizinischen und technischen Aspekten auch die ökonomische, rechtliche, soziale und ethische Perspektive Berücksichtigung finden (Manzeschke 2004). Es gilt daher, ethische Voraussetzungen weiter zu konkretisieren (Krohs 2004). Da E-Health nicht nur das Individuum betrifft, sondern die Implementierung und Nutzung von Digitalisierung im Gesundheitswesen auch die Bevölkerungsgesundheit direkt beeinflusst, ist eine Public-Health-Perspektive – im Sinne eines E-Public-Health-Ansatzes – von Bedeutung. Literatur Anderson JG (2007) Social, ethical and legal barriers to e-health. Int J Med Inform 76(5–6):480–483 Balas EA, Jaffrey F, Kuperman GJ, Boren SA, Brown GD, Pinciroli F, Mitchell JA (1997) Electronic communication with patients: evaluation of distance medicine technology. JAMA 278(2):152–159 Bauer KA (2000) The ethical and social dimensions of home-based telemedicine. Crit Rev Biomed Eng 28(3–4):541–544 Bauer KA (2001) Home-based telemedicine: a survey of ethical issues. Camb Q Healthc Ethics 10(2):137–146 150 F. Fischer Bauer KA (2002) The ethical implications of telemedicine and the Internet for home healthcare. Doctoral Dissertation, University of Tennessee Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of biomedical ethics. Oxford University Press, Oxford Berg JW (2002) Ethics and E-Medicine. St Louis Univ Law J 46(61):61–83 Breitenborn U (2004) Medienethik und Gesundheitsinformation. Jähn K, Nagel E (Hrsg) e-Health. Springer, Berlin, S 285–288 Buyx A, Huster S (2010) Ethische Aspekte von Public Health. Ethik Med 21(3):175–177 Clark PA, Capuzzi K, Harrison J (2010) Telemedicine: medical, legal and ethical perspectives. Med Sci Monit 16(12):RA261–272 Dawson A (2011) Resetting the parameters. Public health as the foundation for public health ethics. In: Dawson A (Hrsg) Public health ethics. Cambridge University Press, Cambridge, S 1–19 Demiris G, Oliver DP, Courtney KL (2006) Ethical considerations for the utilization of tele-health technologies in home and hospice care by the nursing profession. Nurs Adm Q 30(1):56–66 Düwell M, Hübenthal C, Werner MH (2011) Einleitung. In: Düwell M, Hübenthal C, Werner MH (Hrsg) Handbuch Ethik. Metzler, Stuttgart, S 1–23 Groß D, Schäfer G (2007) Die Auswirkungen von E-Health auf die Arzt-Patient-Beziehung – Medizinethische Überlegungen zu einem ungeklärten Verhältnis. In: Groß D, Jakobs EM (Hrsg) E-Health und technisierte Medizin – Neue Herausforderungen im Gesundheitswesen. Lit, Berlin, S 13–28 Iserson KV (2000) Telemedicine: a proposal for an ethical code. Camb Q Healthc Ethics 9(3):404–406 Kass NE (2001) An ethics framework for public health. Am J Public Health 91(11):1776–1782 Kettner M, (2011) Moral. In: Düwell M, Hübenthal C, Werner MH (Hrsg) Handbuch Ethik. Metzler, Stuttgart, S 426–430 Kluge EH (2011) Ethical and legal challenges for health telematics in a global world: telehealth and the technological imperative. Int J Med Inform 80(2):1–5 Kolmar M (2011) Ökonomie und Medizinethik – Theoretische Überlegungen. In: GethmannSiefert A, Thiele F (Hrsg) Ökonomie und Medizinethik. Fink, München, S 49–108 Korhonen ES, Nordman T, Eriksson K (2014) Technology and its ethics in nursing and caring journals: an integrative literature review. Nurs Ethics 22(5):561–576 Krohs U (2004) Angewandte Ethik e-Health. In: Jähn K, Nagel E (Hrsg) e-Health. Springer, Berlin. S 331–336 Manzeschke A (2004) Telemedizin und Ambient Assisted Living aus ethischer Perspektive. Bayer Arztebl 9:2–4 Manzeschke A, Weber K, Fangerau H, Rother E, Quack F, Dengler K (2013a) An ethical evaluation of telemedicine applications must consider four major aspects – a comment on Kidholm et al. Int J Technol Assess Health Care 29(1):110–111 Manzeschke AK, Weber E, Rother, Fangerau H (2013b) Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme. http://www.mtidw.de/service-und-termine/publikationen/ethische-fragenim-bereich-altersgerechter-assistenzsysteme. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Marckmann G (1999) Telemedicine and ethics. Biomed Ethics 4(2):59–62 Marckmann G, Strech D (2010) Konzeptionelle Grundlagen Einer Public Health Ethik. In: Strech D, Marckmann G (Hrsg) Public Health Ethik. Lit, Münster, S 43–65 Marckmann G, Schmidt H, Sofaer N, Strech D (2015) Putting public health ethics into practice: a systematic framework. Front Public Health 3:1–8 Mehta SJ (2014) Telemedicine’s potential ethical pitfalls. Virtual Mentor 16(12):1014–1017 Ethische Aspekte von E-Health aus der Perspektive … 151 Sarhan F (2009) Telemedicine in healthcare. 2: The legal and ethical aspects of using new technology. Nurs Times 105(43):18–20 Schöne-Seifert B (2005) Medizinethik. In: Nida Rümelin J (Hrsg) Angewandte Ethik. Beck, Stuttgart, S 688–802 Schröder-Bäck P (2010) Evidence-based Public Health aus ethischer Perspektive. In: Gerhardus A, Breckenkamp J, Razum O, Schmacke N, Wenzel H (Hrsg) Evidence-based public health. Huber, Bern. S 93–101 Schröder-Bäck P (2014) Ethische Prinzipien für die Public-Health-Praxis – Grundlagen und Anwendungen. Campus, Frankfurt a. M. Steigleder K (2006) Moral, Ethik, Medizinethik. In: Schulz S, Steigleder K, Fangerau H, Paul NW (Hrsg) Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 15–45 van Wynsberghe A, Gastmans C (2009) Telepsychiatry and the meaning of in-person contact: a preliminary ethical appraisal. Med Health Care Philos 12(4):469–476 Über den Autor Florian Fischer  promoviert derzeit und ist an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, in Forschung und Lehre als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Themenfeld der Bevölkerungsmedizin involviert. Das Themenfeld E-Health stellt dabei einen inhaltlichen Schwerpunkt dar. Kontakt: f.fischer@uni-bielefeld.de E-Health in der eGK und HBAInfrastruktur Kurt Becker 1 Die Entwicklung von E-Health in Deutschland Erste E-Health-Anwendungen wurden bereits in den 1980er-Jahren erprobt, wobei damals zunächst der Begriff der Telemedizin verwendet wurde. Er bezeichnete die gemeinsame Anwendung der Telekommunikationstechnik und der Informatik zur Übertragung von Daten. Auch heute werden im Rahmen von E-Health noch telemedizinische Anwendungen implementiert, jedoch geht E‐Health heute weit über rein medizinische Anwendungen hinaus. So sind z. B. auch die Gesundheitsvorsorge oder die telematische Betreuung von pflegebedürftigen Menschen Anwendungsgebiete von E-Health. E-Health-Anwendungen ermöglichen einen sektor- und einrichtungsübergreifenden Informationsaustausch und damit die ganzheitliche Betrachtung des medizinischen Behandlungsprozesses vom Hausarzt über Fachambulanz und stationäre Behandlung bis hin zur Pflegeeinrichtung oder Hauspflege. E-Health sorgt damit für eine bessere Verzahnung unseres sektoral geprägten Gesundheitswesens und stellt einen entscheidenden Erfolgsfaktor für neue Versorgungsmodelle und Organisationsformen zur integrierten Gesundheitsbetreuung dar. Folgende Organisationen und Gremien haben den Begriff E-Health in Deutschland nachhaltig geprägt: • Fachtagung Telemed – Nationales Forum zur Telematik für die Gesundheit • Aktionsforum Telematik im Gesundheitswesen (ATG) K. Becker (*)  APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen, Deutschland E-Mail: Kurt.Becker@Apollon-Hochschule.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_10 153 154 K. Becker • Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen (ZTG) GmbH • Telematikplattform für Medizinische Forschungsnetze (TMF) e. V. • Gematik – Gesellschaft für die Telematikanwendungen der elektronischen Gesundheitskarte mbH • Protego.net (Planungsbüro der Selbstverwaltung) • Fraunhofer-IuK-Verbund • bit4health Konsortium. Als Wissenschaftsdisziplin ist E-Health auch ein Teilgebiet der medizinischen Informatik. Im Zentrum des Forschungs- und Entwicklungsinteresses der Gesundheitstelematik stehen vor allem E-Health-Anwendungen unter Nutzung der durch die Informatik und Telematik zur Verfügung gestellten Technologien. E-Health wird von allen Zielgruppen als wesentlich für den Standort Deutschland bezeichnet. Darüber hinaus sehen alle Beteiligten E-Health-Anwendungen als Erfolgsfaktoren im wachsenden Gesundheitsmarkt. Dadurch ergibt sich ein Motor hin zu mehr Anwendungen, was allerdings eine Erhöhung des Investitionsbudgets aller Beteiligten notwendig macht. Bei den Bürgern und Patienten besteht eine weitgehende Akzeptanz von E‐HealthAnwendungen bei gleichzeitigem Informationsdefizit, beispielsweise mit Blick auf die elektronische Gesundheitskarte und die elektronische Patientenakte. Dabei gibt es große Unterschiede in den verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung. Die jüngere Bevölkerung (unter 40 Jahren) ist wesentlich besser informiert als die Gruppe der über 60-jährigen Bürger und Patienten. Die Infrastrukturen zum Nutzen weiterer mobiler und stationärer Anwendungen sind bei den Bürgern und Patienten weitgehend vorhanden. Auch die Ärzteschaft steht den Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz von Gesundheitstelematik, einer elektronischen Patientenakte und Telemonitoring bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ergeben, aufgeschlossen gegenüber. Aus Sicht der Ärzte sind jedoch noch nicht alle Themen der E-Health-Einführung abschließend geklärt, was jedoch auch in vielen Fällen einem Informationsdefizit bei diesen sicherlich nicht unkomplexen Zusammenhängen geschuldet ist. Auch im Bereich der medizinischen Grundlagenforschung macht der Einsatz von E-Health Sinn. Damit lassen sich erstmals ausreichende Patientenzahlen auch für Studien zu seltenen Erkrankungen akkumulieren und anonymisiert auswerten. Jedoch scheinen auch in diesem Zusammenhang noch nicht alle operativen und rechtlichen Fragestellungen geklärt zu sein. Im juristischen Bereich haben die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um im Bereich des elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehrs und hier insbesondere der E-Health-Anwendungen verbindliche rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen und so die Rechtssicherheit für E-Health-Anwendungen und Anwender zu erhöhen. E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 155 2 Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und der Heilberufeausweise (HBA) Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde im Jahr 2003 verabschiedet (GMG 2003). Es schreibt die stufenweise Einführung einer E-Health-Plattform für den Einsatz aller in § 291 a SGB V festgelegten Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte verbindlich vor. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verbindet mit der Einführung der Gesundheitstelematik das Ziel, die Wirtschaftlichkeit und die Qualität des Gesundheitswesens in Deutschland nachhaltig zu steigern. Die E-Health-Plattform mit einheitlichen, standardisierten Schnittstellen und Diensten ermöglicht eine bundesweite Kommunikation zwischen den vorhandenen Systemen in Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und Krankenkassen. Die neue E-Health-Plattform und die eGK sollen maßgeblich dazu beitragen, unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden, die Verordnung ungeeigneter Arzneimittel zu reduzieren und Arbeitsabläufe zu optimieren. Die Karte sollte eigentlich bis zum Jahr 2006 eingeführt sein, im Laufe der Implementierungsprojekte zeigte sich jedoch schnell, dass die Prozesse des deutschen selbstverwalteten Gesundheitswesens wesentlich komplexer waren, als zunächst angenommen. Zudem war und ist die Interessenlage der Beteiligten sehr unterschiedlich. Mit der Verabschiedung des E-Health-Gesetzes im Jahr 2015 hat die Politik klargestellt, dass an dem Einsatz moderner digitaler Technologien auch in der Gesundheitswirtschaft kein Weg vorbei führt. Für die Gesundheitstelematik gelten besondere Sicherheitsanforderungen bei der Speicherung von Patientendaten, die bei der Auswahl bzw. Spezifikation der E-HealthPlattform beachtet bzw. realisiert werden müssen. Die Einführung von E-Health in Deutschland (und Europa) soll auch zur Verbesserung der patientenorientierten Dienstleistungen und zu einer stärkeren Eigenverantwortung der Patienten führen. Der Zugang zur E-Health-Plattform soll über sogenannte Schlüsselkarten erfolgen: Der Patient verwendet eine elektronische Gesundheitskarte (eGK) und der Leistungserbringer (Arzt, Apotheker, etc.) einen elektronischen Heilberufeausweis (HBA). Wie bei einer Bank lässt sich der Datentresor nur öffnen, wenn beide Schlüsselkarten gesteckt und mittels eines Pin-Codes autorisiert werden. Damit ist die E-Health-Plattform eine der sichersten IT-Systeme weltweit. Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) in der Hand des Patienten ist sozusagen der Schlüssel für die Nutzung der E-Health-Dienste. Üblicherweise autorisiert sich der Patient über seinen persönlichen Code, einer sechsstelligen Pin, ähnlich wie bei einem Bankautomaten. Um mit dem Einverständnis des Patienten auf die Daten zuzugreifen, muss sich auch der Arzt bzw. der Heilberufler ausweisen. Dafür verfügt dieser Personenkreis über einen sogenannten Heilberufeausweis (HBA). Der schreibende Zugriff auf die E-Health-Plattform ist nur durch eine gemeinsame Autorisierung beider Karten möglich. 156 K. Becker 3 Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) Im Jahr 2005 wurde von der Selbstverwaltung im Auftrag der Bundesregierung eine eigene Gesellschaft gegründet, die für Deutschland den Aufbau einer sicheren E-HealthPlattform konzipieren und deren Implementierung vorangetrieben hat. Die gematik entwickelt die übergreifenden IT-Standards für den Aufbau und den Betrieb der gemeinsamen Kommunikationsinfrastruktur aller Beteiligten im Gesundheitswesen. Die gematik soll dabei auf bereits erarbeitete IT-Lösungen aus Industrie, Wissenschaft, Selbstverwaltung und aus Forschungsprojekten des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zurückgreifen. Im Folgenden sind die Strukturen und die Anwendungen der eGK kurz dargestellt. 3.1 Ursprünglich geplante Anwendungen der eGK Die ursprünglich geplanten Anwendungen der eGK lassen sich in Pflichtanwendungen und freiwillige Anwendungen unterteilen. Die Pflichtanwendungen sind für alle Versicherten gleich. Dazu zählen: • die Übermittlung/Prüfung der Versichertendaten, • das elektronische Empfangen und Einlösen eines Rezeptes, • die Verwendung der Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC). Ursprünglich geplante, freiwillige Anwendungen der eGK sind: • Speicherung und Bereitstellung von Notfalldaten, • Arzneimitteldokumentation (inkl. Unverträglichkeiten), • elektronischer Arztbrief, • Patientenquittung, • elektronische Patientenakte. Sowohl die Pflichtanwendungen als auch Notfalldaten und Arzneimitteldokumentation sollten unmittelbar nach der flächendeckenden Einführung der eGK, dem sogenannten Basis-Rollout, verfügbar sein. Weitere medizinische Anwendungen wie der elektronische Arztbrief, die Patientenquittung und die elektronische Patientenakte sollten dann schrittweise implementiert werden. Über die Nutzung der freiwilligen, medizinischen Anwendungen entscheidet der Versicherte ganz allein. Nur mit seiner Zustimmung können Notfalldaten auf der Karte hinterlegt oder eine Arzneimitteldokumentation durch behandelnde Ärzte oder Apotheker angelegt werden. E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 157 Die eGK ist seit dem Jahr 2014 in Deutschland flächendeckend im Einsatz, also ganze acht Jahre später als ursprünglich geplant. Sie hat damit die seit 1994 im Einsatz befindliche erste Generation der Krankenversichertenkarte abgelöst. Allerdings hatte auch diese Karte in den Jahren 2014 und 2015 zunächst noch keine der Funktionen freigeschaltet, die eine sichere und effiziente Datenkommunikation zwischen Versicherten, Leistungsund Kostenträgern ermöglichen sollen. 3.2 Änderungen durch das E-Health-Gesetz Das E-Health-Gesetz konkretisiert die ursprünglichen Zielsetzungen, indem insbesondere eine standardisierte Interoperabilität der Anwendungen eingefordert wird. Dabei soll der Patienten-Nutzen im Mittelpunkt stehen. So informiert das Bundesministerium für Gesundheit am 27.05.2015 mit einer Pressemitteilung über die Verabschiedung des E-Health-Gesetzes (BMG 2015): • Ein modernes Stammdatenmanagement (Prüfung und Aktualisierung von Versichertenstammdaten) soll nach einer bundesweiten Erprobung in Testregionen ab dem 1. Juli 2016 innerhalb von zwei Jahren flächendeckend eingeführt werden. Damit werden die Voraussetzungen für medizinische Anwendungen wie z. B. eine elektronische Patientenakte geschaffen. Sobald die Anwendung zur Verfügung steht, erhalten Ärzte und Zahnärzte, die diese Anwendung nutzen, einen Vergütungszuschlag. Ab 1. Juli 2018 sind pauschale Kürzungen der Vergütung der Ärzte und Zahnärzte vorgesehen, die nicht an der Online-Prüfung der Versichertenstammdaten teilnehmen. • Mit Notfalldaten eines Patienten ist ein Arzt sofort über alle wichtigen Daten, wie z. B. Allergien oder Vorerkrankungen informiert. Ab 2018 sollen diese Notfalldaten auf der Gesundheitskarte gespeichert werden können, wenn der Patient dies wünscht. Ärzte, die diese Datensätze erstellen, sollen eine Vergütung erhalten. • Noch immer sterben mehr Menschen an unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen als im Straßenverkehr. Ein Medikationsplan, der alle Informationen über die vom Patienten angewendeten Arzneimittel enthält, sorgt für mehr Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie. Versicherte, denen mindestens drei Medikamente gleichzeitig verordnet werden, sollen ab Oktober 2016 einen Anspruch auf einen Medikationsplan haben. Mittelfristig soll der Medikationsplan dann über die elektronische Gesundheitskarte abrufbar sein. • Bislang geht noch immer wertvolle Zeit verloren, weil Arztbriefe per Post versendet werden und somit wichtige Informationen nicht rechtzeitig vorliegen. Ärzte, die Arztbriefe sicher elektronisch übermitteln, sollen 2016 und 2017 eine Vergütung von 55 Cent pro Brief erhalten. Krankenhäuser, die ab dem 1. Juli 2016 Entlassbriefe elektronisch verschicken, sollen eine Vergütung von 1 EUR pro Brief erhalten. Ärzten soll das Einlesen des elektronischen Entlassbriefes mit 50 Cent vergütet werden. Spätestens ab 2018 werden elektronische Briefe nur noch vergütet, wenn für die Übermittlung die Telematikinfrastruktur genutzt wird. • Um die Nutzung der Telemedizin voranzutreiben, sollen ab 1. April 2017 Telekonsile bei der Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen vergütet werden. Die Selbstverwaltung hat weiterhin den Auftrag, zu prüfen, welche weiteren Leistungen telemedizinisch erbracht und vergütet werden können. 158 K. Becker • Ein Interoperabilitätsverzeichnis soll die von den verschiedenen IT-Systemen im Gesundheitswesen verwendeten Standards transparent machen und auf freiwilliger Basis für mehr Standardisierung sorgen. Das Verzeichnis soll auch ein Informationsportal für telemedizinische Anwendungen enthalten. 4 Entstehung der Architektur Ausgehend von den ersten Machbarkeitsstudien des Aktionsforums Telematik im Gesundheitswesen (ATG) wurden verschiedene Projekte zur Erarbeitung eines Realisierungskonzepts für die eGK erarbeitet. Bereits im Jahr 1999 hatte sich das ATG darauf geeinigt, als erste Schlüsselanwendung einer neuen elektronischen Karte das elektronische Rezept zu verwenden. Im Rahmen der verschiedenen Projekte wurden Architektur- und Realisierungskonzepte erarbeitet. Zum besseren Verständnis der bestehenden Rahmenbedingungen werden im Folgenden die bisher verfügbaren veröffentlichten und zum größten Teil auch schon kommentierten Konzepte aufgeführt und erläutert. Im Planungsauftrag der Selbstverwaltung wurden zunächst verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit der technischen Infrastruktur zur Abbildung des elektronischen Rezepts und des elektronischen Arztbriefs untersucht. Vorgabe des Ministeriums war die Verwendung interoperabler Standards für die Systemmodellierung. 4.1 Die Rahmenarchitektur Die Projektgruppe bIT4health erarbeitete im Jahr 2004 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung eine Strategie zur Einführung der Gesundheitskarte mit dem Arbeitstitel „Rahmenarchitektur für die Telematikinfrastruktur des Gesundheitswesens“. Die Projektgruppe bestand aus der IBM Deutschland GmbH, dem Fraunhofer-lnstitut für Arbeitswirtschaft und Organisation, der SAP Deutschland AG & Co. KG, der InterComponentWare AG und der ORGA Kartensysteme GmbH. Zur fachlichen Modellierung verteilter Informationssysteme wurde in den letzten Jahren von Systemanalytikern ein Referenzmodell für offene verteilte Systeme (RM-ODP – Reference Model for Open Distributed Processing) entwickelt (ISO 10746-1 1998). Mit RM-ODP können komplexe, verteilte Anwendungen fassbarer und verständlicher beschrieben werden. Dies geschieht durch die Definition verschiedener Sichten. Mittels einer Nutzung des RM-ODP können komplexe, verteilte Anwendungen fassbarer und verständlicher beschrieben werden. Dies geschieht durch die Definition verschiedener Sichtweisen. Diese Sichtweisen beschreiben verschiedene Aspekte eines Systems, z. B. aus Sicht der Benutzer oder aus Sicht der Daten- und Informationsobjekte. In der Rahmenarchitektur werden fünf Sichtweisen oder Viewpoints genutzt (bIT4health 2004, S. 18): E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 159 Der Enterprise Viewpoint beschreibt die Anforderungen eines Unternehmens an die verteilte Anwendung und den Verwendungszweck. Die besondere Herausforderung besteht bei dem blT4health-Projekt darin, dass hier nicht nur der Blickwinkel einer Organisation oder eines Unternehmens berücksichtigt werden muss, sondern mehrere Sektoren einer ganzen Branche zu betrachten sind. Der Information Viewpoint beschreibt die Semantik der verarbeiteten Daten, sowie den Informationsfluss in der verteilten Anwendung. Der Computational Viewpoint stellt die Zerlegung einer Anwendung in Objekte und deren Dienste, die sie anderen Objekten zur Verfügung stellen, dar. Der Engineering Viewpoint stellt die Verteilung der einzelnen Komponenten des Systems auf die physikalische Infrastruktur dar und beschreibt deren Verbindung. Der Technology Viewpoint beschreibt die technischen Realisierungs- und lmplementierungsmöglichkeiten (Hard- und Software) des Systems. Mithilfe der fünf Sichtweisen können sowohl existierende Systeme wie z. B. Krankenhausinformations-, Praxissoftware- oder Apothekensoftware-Systeme beschrieben, als auch neue Systeme und Anwendungen sowie deren Zusammenspiel modelliert werden. Mit dem RM-ODP-Ansatz können folgende Ziele erreicht werden: • Erleichterung der Kommunikation zwischen den Beteiligten, • gemeinsames Verständnis aktueller IT-Architekturen, IT-Technologien E-Health-Strukturen, • einheitliche Erfassung und Bewertung von IT-Strukturen, • Nutzung einheitlicher Standards. und Auf der Grundlage von RM-ODP sind von der Projektgruppe bIT4health insgesamt zwölf Spezifikationen, eine Management-Summary und verschiedenen Anhänge bereitgestellt worden. Die erste Version der Rahmenarchitektur wurde bereits Anfang 2004 zur Kommentierung freigegeben. Die Dokumente der Rahmenarchitektur in der Version 1.1 umfassten insgesamt mehr als 1000 Seiten. 4.2 Die Lösungsarchitektur Wie der Name schon sagt, wurde mit der Rahmenarchitektur ein Rahmenkonzept erstellt, mit dem jedoch aufgrund der großen Granularität noch kein System implementiert werden konnte. Daher wurde im nächsten Schritt auf der Grundlage der Rahmenarchitektur eine sogenannte Lösungsarchitektur erarbeitet. Diese enthält die Grobspezifikationen der Komponenten und eine Spezifikation der Schnittstellen: 1. In der Solution Outline (vgl. Solution Outline 2004) wurden die Konzepte der bIT4health Projektgruppe konkretisiert und eine konkrete Lösungsarchitektur auf der Basis von bestehenden Technologien aufgezeigt. 160 K. Becker 2. Das Projektbüro der Selbstverwaltung, protego.net, erweiterte die Lösungsarchitektur um ein weiteres Konzept für das E-Rezept und den Versichertenstammdatendienst. Des Weiteren wurden Konzepte für den direkten Zugriff von Patienten auf die eigenen Gesundheitsdaten (Patienten-PC und Patienten-Kiosk) eingeführt (vgl. Protego 2004). 3. Die Fraunhofer Institute erarbeiteten gemeinsam mit der TU Wien ein Lösungskonzept, in dem im Wesentlichen die Kartenspezifika und die Netzwerkkomponenten konzipiert wurden. Des Weiteren wurden die Pflichtanwendungen und die freiwilligen Anwendungen spezifiziert (vgl. FSIT 2005). Auch bei der Erstellung der Lösungsarchitektur wurde nicht mit Papier gespart. Die drei an der Erstellung der Lösungsarchitektur beteiligten Konsortien erstellten wiederum knapp 1000 Seiten Konzept. In der Lösungsarchitektur wurde bereits das heute noch verwendete Sicherheitszonenkonzept für die eGK definiert und veröffentlicht (s. Abb. 1). Dieses Sicherheitszonenkonzept sieht drei Zonen vor: • Primärzone mit den Primärsystemen • Access-Zone • Telematik-Zone Für jede dieser Zonen gibt es ein spezifisches Sicherheitskonzept, wobei sich die gematik nur um die Gewährleistung der Sicherheit in der Access- und der Telematikzone kümmert. Für die Gewährleistung der Sicherheit in den Primärzonen sind die Betreiber der Primärsysteme (KIS, APIS, Apothekensystem etc.) verantwortlich. Abb. 1  Sicherheitszonenkonzept für die eGK. (Adaptiert nach Fraunhofer 2005, S. 77) E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 161 4.3 Die Gesamtarchitektur Die gematik hat Ende 2006 die Spezifikation der elektronischen Gesundheitskarte abgeschlossen und teilweise fortgeschrieben (vgl. gematik 2015a). Auf Basis der Rahmenund Lösungsarchitektur – wurde mit der Erstellung der Gesamtarchitektur begonnen. Die Gesamtarchitektur ist die Grundlage für die Testvorhaben der eGK und den späteren sicheren Betrieb der E-Health-Plattform (s. Abb. 2). Diese Gesamtarchitektur führt die bisher entstandenen Konzepte für die technische Architektur der elektronischen Gesundheitskarte und ihrer Telematikinfrastruktur nach § 291 a SGB V zusammen. Der Gesamtarchitektur liegt ein methodischer Ansatz zugrunde, der zunächst eine Beschreibung aus logischer Architektursicht erlaubt und diese dann zu einer konkreten physischen Architektur ausbaut. Der Gesamtarchitektur liegt eine erweiterbare, modulare, serviceorientierte Architektur zugrunde, die „horizontal“ (d. h. zwischen Tiers) strikt zwischen Service-Consumern, vermittelnder Infrastruktur und Service-Providern trennt und die „vertikal“ (d. h. zwischen Layern) generell zwischen anwendungsspezifischen und anwendungsübergreifenden Basisservices in den jeweiligen OSI-Schichten unterscheidet. Die fünf Tier (Telematikschichten) der Gesamtarchitektur sind: • Primärsysteme • dezentrale Konnektoren • Netzwerkgateway Abb. 2  Übersicht Gesamtarchitektur. (gematik 2012, S. 7) 162 K. Becker • Anwendungsgateway • Fachdienste. Die Primärsysteme der Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser, Apotheke) sowie der Bürger und Patienten (E-Kiosk, Versicherten-PC) sind über sogenannte Konnektoren an die E-Health-Plattform angebunden. Für die Informationssicherheit ihrer Systeme sind die Betreiber der Primärsysteme selbst verantwortlich. Der Konnektor-Tier trennt die Primärsysteme von dem hoch gesicherten E‐HealthNetzwerk. Aus Sicht des Primärsystems beginnt hinter oder besser „in der Mitte“ des Konnektors der Netzwerk-Tier, in dem speziell abgesicherte virtuelle private Netzwerke (VPN) geschaltet werden, damit die Informationssicherheit der Kommunikation in der E-Health-Plattform gewährleistet ist. Im vierten Tier, dem Anwendungs-Gateway, sorgt innerhalb der sicheren Zone eine komplexe Struktur von Brokerdiensten dafür, dass die verteilten Dienste und Services dem richtigen Fachdienstsystem zugeordnet werden. Die Fachdienste (fünfter Tier – Versichertenstammdatendienst (VSDD), Kartenmanagementdienst (CAMS), Verordnungsdatendienst (VODD), Arzneimitteldokumentation und elektronische Patientenakte) werden wiederum von den Kostenträgerrechenzentren oder den Apothekerrechenzentren bereitgestellt und sind speziell abgesichert. Die Gesamtarchitektur sieht auch die Möglichkeit weiterer Mehrwertanwendungen vor, jedoch müssen diese sehr hohe Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit erfüllen. Weitere Erläuterungen finden sich in dem von der gematik bereitgestellten Dokument zur Gesamtarchitektur (vgl. gematik 2008). Das Dokument trifft u. a. normative Festlegungen bezüglich der innerhalb der technischen Architektur anzuwendenden Normen und Standards, speziell der unterliegenden Webservice- und Sicherheitsstandards (gematik 2008): Im Rahmen der Erweiterbarkeit muss die vorgestellte Architektur – nicht in der zunächst vorgesehenen Ausprägung, aber in deren Folgeversionen – eine große Bandbreite von ITAnwendungen des Gesundheitswesens unterstützen können. Diese Erweiterungen werden jedoch zunächst nur vorbereitet. Funktional beschränkt sich die in dieser Version des Dokuments beschriebene konkrete Ausprägung der Architektur auf die Offline-Anwendungsfälle des sog. Basis-Rollout (Teil von Release 0) und Release 1 sowie die ersten fachlichen Anwendungen mit zentralen Komponenten in Release 2. In Abschn. 4.5 sind die einzelnen Releases für die Teststufen der eGK ausführlich beschrieben. 4.4 Webservices und serviceorientierte Architektur für die E-Health-Plattform Für das Verständnis der Gesamtarchitektur ist es wichtig, die Unterschiede zwischen Webservices und serviceorientierten Architekturen zu kennen: E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 163 Die Begriffe Webservice (WS) und serviceorientierte Architektur (SOA) sind komplementär: • Mit Webservices wird eine Menge von Standards • mit SOA ein Architekturprinzip bezeichnet. Mit Webservices werden vereinfacht gesagt alle IT-Applikationen bezeichnet, die auf den Standards Webservices Description Language (Christensen et al. 2001), Simple Object Access Protocol (Box et al. 2000) und Universal Description, Discovery and Integration (UDDI-V2 2002) aufbauen. Als serviceorientierte Architekturen werden Architekturen bezeichnet, die komplexe Geschäftsprozesse durch Aneinanderreihung von einzelnen Services realisieren. Serviceorientierte Architekturen beschreiben und orchestrieren (steuern) die Beziehungen zwischen einer Menge voneinander unabhängiger, lose gekoppelter Geschäftsprozesse und Services. Ein Service wird von einem Service-Provider angeboten. Ein Service-Consumer stellt eine Anfrage (einen Service Request) an einen Service und bekommt daraufhin eine Antwort (eine Service Response) vom Provider. Das Verhältnis von Webservices und serviceorientierten Architekturen lässt sich wie folgt beschreiben: • Eine serviceorientierte Architektur ist ein Konzept für eine Systemarchitektur, in welcher Funktionen in Form von wieder verwendbaren, technisch voneinander unabhängigen und fachlich lose gekoppelten Services implementiert werden. • Webservices implementieren ein auf offenen Standards basierendes Modell, um plattformunabhängig Serviceschnittstellen zu beschreiben und Services aufzurufen und zu lokalisieren. Webservices unterstützen über lokationstransparente und interoperable Kommunikation die Abbildung lose gekoppelter Geschäftsprozesse. (…). Damit kann die Implementierung einer serviceorientierten Architektur die durch Webservices angebotenen standardisierten Schnittstellen zu lose gekoppelten Geschäftsprozessen verknüpfen, um Gestaltungsziele wie: • Geschäftsprozessorientierung • Wiederverwendbarkeit und die • Unterstützung verteilter Systeme zu erreichen (gematik 2008, S. 48). Die Abb. 3 zeigt das Diensteschema der serviceorientierten Architektur der gematikE‐Health-Plattform für die intermediäre Interaktion der Systeme und Dienste der eGK. Auch hier ist wieder die strikte Trennung zwischen Anwender-(Primärsystemen), Telematik- und Diensteanbietern zu beobachten. Die gematik ist im Wesentlichen für die Konzeption und den sicheren Betrieb der Telematik-Schicht (Tier) zuständig. Eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Schichten und der gematik-Dienste finden sich in der gematik-Gesamtarchitektur (vgl. gematik 2008). 164 K. Becker Abb. 3  Die serviceorientierte Architektur für die E-Health-Plattform. (Adaptiert nach gematik 2008, S. 50) 4.5 Release-Planung für die eGK Die Spezifikationen für die eGK werden kontinuierlich weiter entwickelt, fortgeschrieben und an den Stand der Technik angepasst. Das erfordert ein sehr klares methodisches Vorgehen bei der Versionierung der Dokumente. Die gematik versioniert ihre Festlegungen in einem mehrstufigen Verfahren (gematik 2015b). • Release mit Releasenummer Ein Release umfasst die Gesamtmenge aller zu einem Zeitpunkt interoperablen und kompatiblen Produkttypen. Die ersten beiden Stellen der Releasenummer identifizieren eindeutig einen funktionalen Leistungsumfang, die erste Stelle kennzeichnet dabei die Stufe 1 des Online-Rollout. Ein Wechsel der dritten Stelle dient zur Kennzeichnung von Fehlerkorrekturen in einzelnen, jeweils gekennzeichneten Dokumenten. Jede Änderung einer darin enthaltenen Produkttypversion führt zu einer neuen Releasenummer. • Produkttyp mit Produkttypversionsnummer Die Produkttypversionsnummer (PTV) identifiziert eindeutig einen definierten Stand der Anforderungen, die ein Hersteller oder Anbieter eines Produktes zum Erhalt einer Zulassung, Zertifizierung oder Bestätigung gemäß Zulassungsverfahren der gematik umsetzen muss. Jede Änderung des Anforderungshaushaltes führt zu einer neuen Produkttypversion. • Dokumentenversion Jede Dokumentenversion kennzeichnet eindeutig einen redaktionellen Stand des Dokumentes. Die Dokumentenversion ist abhängig von der Bezeichnung des Dokumentes. E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 165 Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des E-Health-Gesetzes befand sich die eGK immer noch im sogenannten Basis-Rollout (gematik_ORS1 2015): Release 1.4 ORS1 mit Basis-Rollout – Erprobung und Produktivbetrieb Aktueller Releasestand: Release 1.4.6 – Stand 04.06.2015 Die Dokumentenlandkarte Download (PDF) des Releases enthält das Verzeichnis der gültigen • Produkttypsteckbriefe, • Konzepte und Spezifikationen • sowie Schemata, WSDL- und andere Dateien. Der Releasestand beschreibt den Umfang der Festlegungen zur Erprobung für den OnlineRollout (Stufe 1) zur elektronischen Gesundheitskarte einschließlich der im Kontext von G2-Karten für Hersteller und Kartenherausgeber geltenden zulassungsrelevanten Festlegungen zum Smartcard-Betriebssystem (Card Operating System COS), zur elektronischen Gesundheitskarte (eGK), zum Heilberufsausweis (HBA), zur Sicherheitsmodulkarte Typ B (SMC-B) sowie den Gerätekarten gSMC-K und gSMC-KT. 4.6 eGK – Testregionen In bundesweit sieben Regionen fanden von 2007 bis 2009 die ersten Tests der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) mit insgesamt vier Teststufen statt. In diesen Regionen werden seitdem auch weitere Erprobungen neuer Funktionen der eGK durchgeführt (ZTG 2015): • • • • • • • Region Löbau-Zittau (Sachsen) Region Flensburg (Schleswig-Holstein) Region Bochum-Essen (Nordrhein-Westfalen) Region Ingolstadt (Bayern) Region Heilbronn (Baden-Württemberg) Region Trier (Rheinland-Pfalz) Region Wolfsburg (Niedersachsen). Die gematik hat die zu erprobenden Funktionalitäten der Gesundheitskarte in vier sogenannte Releases aufgeteilt. Nachdem in den ersten beiden Stufen Testdaten unter Laborbedingungen in einem Offlineszenario erprobt wurden, sah die dritte Stufe Onlinetests mit bis zu 10.000 Versicherten unter realen Einsatzbedingungen mit den Echtdaten der Versicherten und der Leistungserbringer vor. Die Rückmeldungen aus den Praxen und Apotheken zu den im ersten Testzeitraum durchgeführten Tests bestätigten die ersten Eindrücke aus den Anwendertests. Entscheidend für die individuelle Zufriedenheit ist zumeist, wie die jeweiligen Softwarehersteller die Rahmenvorgaben der gematik in ihrem System umgesetzt hatten. 166 K. Becker Es hat sich gezeigt, dass vor allem die Bedienerfreundlichkeit der eingesetzten Software über Akzeptanz oder Ablehnung der Technik entscheidet. Die Feldtests sind ein intensiver Lernprozess für alle Beteiligten. Natürlich sind Ärzte, Helferinnen und Patienten unsicher im Umgang mit der neuen Technik und müssen etwa den Einsatz der Pin zunächst üben. Schwierigere und noch zu klärende Rechtsfragen betreffen vor allem datenschutzrechtlich geschützte Interessen. Nachdem im Jahr 2014 die eGK flächendeckend an alle Bürger ausgegeben wurde, finden weitere Tests im Zeitraum von 01. Juli 2016 bis 30. Juni 2018 statt, bei denen vor allem der elektronische Datenabgleich der Versichertenstammdaten erprobt werden soll. Dieser Zeitraum ist auch im E-Health-Gesetz verbindlich verankert. Um danach in eine flächendeckende Nutzung des Systems einzusteigen, sind ab dem 01. Juli 2018 pauschale Kürzungen der Vergütung der Ärzte und Zahnärzte vorgesehen, die nicht an der Onlineprüfung der Versichertenstammdaten teilnehmen. Die datenschutzrechtlichen Fragen sind bei den einzelnen Anwendungen weitgehend ähnlich und betreffen zentral die Fragestellungen (vgl. Hanika 2008, S. 179 f.), ob der Einsatz der Telematik einer gesonderten Einwilligung des Patienten bedarf, welche Anforderungen an die Einwilligung aus informeller und inhaltlicher Sicht zu stellen sind und welche technischen und organisatorischen Vorkehrungen zum Schutz von Patientendaten gefordert sind. Bei der Konzeption, dem Aufbau und dem sicheren Betrieb der Telematikinfrastruktur wird die gematik bei den datenschutzrechtlichen Fragen vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) unterstützt. Das E-Health-Gesetz nennt nun für die Erprobung des Versichertenstammdatenmanagements in den Testregionen den Zeitraum von 01. Juli 2016 bis 30. Juni 2018. Um danach in eine flächendeckende Nutzung des Systems einzusteigen, sind ab dem 01. Juli 2018 pauschale Kürzungen der Vergütung der Ärzte und Zahnärzte vorgesehen, die nicht an der Onlineprüfung der Versichertenstammdaten teilnehmen (BMG 2015). 5 Integration von E-Health-Mehrwertanwendungen Die Gesamtarchitektur und die ergänzenden Dokumente der gematik definieren den Rahmen für Zugriffe auf alle Pflichtanwendungen nach § 291 a. Neben den in § 291 a (SGB V) genannten Anwendungen soll die E-Health-Plattform genutzt werden, um weitere sogenannte Mehrwertanwendungen anzubinden: Die Zugriffe auf Mehrwertanwendungen unterliegen nicht in derselben Weise den einheitlichen, durch das Sicherheitskonzept die Gesamtarchitektur und die Facharchitektur beschriebenen Regeln. Aus rechtlichen und technischen Gründen muss deshalb eine informationstechnische Trennung zwischen Telematikanwendungen (§ 291 a SGB V und weitere gesetzliche Anwendungen) und Mehrwertanwendungen stattfinden können. Dieses Dokument beschreibt als Mehrwertanwendungen nur solche Anwendungen, die einerseits Teile der Telematikinfrastruktur nutzen und andererseits von den Anwendungen nach § 291 a (SGB V) informationstechnisch zu trennen sind. (…) E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 167 Es ist sicherzustellen, dass durch zusätzliche Mehrwertanwendungen die Sicherheit der §-291-a-Anwendungen und der medizinischen Daten der Versicherten nicht gefährdet werden. Dies ist im spezifischen Sicherheitskonzept für die Anbindung der Mehrwertanwendungen zu zeigen und die Wirksamkeit der sicherheitstechnischen Maßnahmen ist nachzuweisen (siehe § 63 Abs. 3 a SGB V). Gleichzeitig soll aus technischen und wirtschaftlichen Gründen ein möglichst großer Anteil der zunächst für die Telematikanwendungen bereitgestellten oder bereits vorhandenen Infrastruktur für Mehrwertanwendungen gemeinsam genutzt werden. Die Optimierung ergibt sich aus der ‚frühestmöglichen‘ Trennung beider Anwendungstypen und der gemeinsamen Nutzung möglichst vieler Komponenten. ‚Frühestmögliche‘ Trennung würde eine Trennung so nahe wie möglich an den Primärsystemen und somit ‚für alle Architektur-Tiers‘ bedeuten, während gemeinsame Nutzung eine Trennung so spät wie möglich, das bedeutet so nahe wie möglich bei den Fachdiensten und somit ‚nur für die Provider Tier‘ bedeuten würde (gematik 2008, S. 216 f.). Das E-Health-Gesetz konkretisiert die Einbeziehung weiterer Mehrwertanwendungen (E-Health-Gesetz 2015, S. 12): Über Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte hinaus kann die Telematikinfrastruktur für weitere elektronische Anwendungen des Gesundheitswesens sowie für die Gesundheitsforschung verwendet werden, wenn 1. die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit sowie die Verfügbarkeit und Nutzbarkeit der Telematikinfrastruktur nicht beeinträchtigt werden, 2. im Falle des Erhebens, Verarbeitens und Nutzens personenbezogener Daten die dafür geltenden Vorschriften zum Datenschutz eingehalten und die erforderlichen technischen Maßnahmen getroffen werden, um die Anforderungen an die Sicherheit der Anwendung im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit der Daten zu gewährleisten, und 3. bei den dafür erforderlichen technischen Systemen und Verfahren Barrierefreiheit für den Versicherten gewährleistet ist. Weiter heißt es in dem Kommentar zum E-Health-Gesetz (E-Health-Gesetz 2015, S. 57 f.): Der neue Absatz 1b macht Vorgaben zur Umsetzung von § 291a Absatz 7 Satz 3, wonach die Telematikinfrastruktur auch für elektronische Anwendungen im Gesundheitswesen geöffnet wird, für die die elektronische Gesundheitskarte nicht verwendet wird. Elektronische Anwendungen, die der Erfüllung von gesetzlichen Aufgaben der Kranken- und Pflegeversicherung dienen, haben bei der Öffnung der Telematikinfrastruktur Vorrang vor anderen Anwendungen, z. B. im Falle begrenzter Leitungskapazitäten der Telematikinfrastruktur. Zu den in § 291a Absatz 7 Satz 3 geregelten Anforderungen hat die Gesellschaft für Telematik die erforderlichen Voraussetzungen festzulegen und zu veröffentlichen, nach denen Anbieter dieser Anwendungen die Telematikinfrastruktur nutzen können. Dies beinhaltet gegebenenfalls auch technische Vorgaben. Dabei ist es nicht Aufgabe der Gesellschaft für Telematik, für Anwendungen nach § 291a Absatz 7 Satz 3 funktionale Vorgaben zu erlassen. Dies ist Sache des Anbieters. Die Festlegung der Nutzungsvoraussetzungen erfolgt in Abstimmung mit dem Bundesamt für 168 K. Becker Sicherheit in der Informationstechnik und der oder dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. In Abstimmung im Sinne der Vorschriften dieses Gesetzes bedeutet dabei, dass über ein Stellungnahmerecht hinaus ein Diskussionsprozess mit dem Ziel einer einvernehmlichen Lösung stattfindet. In Abstimmung meint damit mehr als ein bloßes Benehmen. Die Einigung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik stellt vielmehr den Regelfall dar. Im Falle einer Entscheidung gegen die Auffassung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik durch die Gesellschaft für Telematik ist dies gesondert und nachvollziehbar zu dokumentieren und zu begründen. Voraussetzung für die Nutzung der Telematikinfrastruktur durch Anwendungen nach § 291a Absatz 7 Satz 3 ist eine Bestätigung der Gesellschaft für Telematik, die auf Antrag eines Anbieters einer Anwendung erteilt wird und die bescheinigt, dass die Anwendung die von der Gesellschaft für Telematik festgelegten Nutzungsvoraussetzungen erfüllt. Soweit es sich um Anwendungen handelt, die personenbezogene Daten verarbeiten, müssen darüber hinaus die sicherheitstechnischen und organisatorischen Voraussetzungen sowie die datenschutzrechtlichen Anforderungen erfüllt sein. Die Kriterien, die zur Erlangung der erforderlichen Bestätigung geprüft werden, sind von der Gesellschaft für Telematik in Abstimmung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik festzulegen (zum Begriff der Abstimmung siehe oben) und zu veröffentlichen. Bei der Prüfung der Einhaltung der Kriterien kann sich die Gesellschaft für Telematik Dritter bedienen. Die Bestätigung kann mit Nebenbestimmungen nach § 32 SGB X versehen werden. Als Folge der Öffnung der Telematikinfrastruktur für Anwendungen ohne Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte werden weitere Leistungserbringer in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung die Telematikinfrastruktur für mögliche zusätzliche Anwendungen nutzen. Die Gesellschaft für Telematik wird verpflichtet, für diejenigen Leistungserbringer, die die Telematikinfrastruktur nutzen wollen und für die sie nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 noch keine sicheren Authentisierungsverfahren festgelegt hat, diese in Abstimmung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik festzulegen (zum Begriff der Abstimmung siehe oben). Satz 10 enthält eine Kostenerstattungsregelung für Aufwände nach diesem Absatz, die beim Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik sowie bei der oder dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit entstehen. 6 Zusammenfassung der eGK-Anwendungen Die von der gematik betriebene E-Health-Plattform mit einheitlichen, standardisierten Schnittstellen und Diensten ermöglicht eine bundesweite Kommunikation zwischen den vorhandenen Systemen in Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und Krankenkassen. Die elektronische Gesundheitskarte (eGK), die sich seit 2014 in der Hand des Patienten befindet, ist sozusagen der Schlüssel für die Nutzung der E-Health-Dienste. Wenn die Online-Datenübertragung freigeschaltet ist, autorisiert sich der Patient über seinen persönlichen Code, eine geheim zu haltende Pin, ähnlich wie bei einem Bankautomaten. Um mit dem Einverständnis des Patienten auf die Daten zuzugreifen, muss auch der Arzt bzw. der Heilberufler sich ausweisen. Dafür verfügt dieser Personenkreis über einen sogenannten Heilberufeausweis (HBA). Der schreibende Zugriff auf die E-Health-Plattform der gematik ist nur durch eine gemeinsame Autorisierung beider Karten möglich. E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 169 Über die Nutzung der freiwilligen medizinischen Anwendungen entscheidet der Versicherte, sodass nur mit seiner Zustimmung Notfalldaten auf der Karte hinterlegt oder eine Arzneimitteldokumentation durch behandelnde Ärzte oder Apotheker angelegt werden können. Pflichtanwendungen sowie Notfalldaten und Arzneimitteldokumentation werden unmittelbar nach der flächendeckenden Einführung der elektronischen Gesundheitskarte verfügbar sein. Weitere medizinische Anwendungen wie der elektronische Arztbrief, die Speicherung von Notfalldaten, ein elektronischer Medikationsplan, Telekonsile und die elektronische Patientenakte sollen schrittweise entwickelt werden. Zur fachlichen Modellierung verteilter Informationssysteme wurde ein Referenzmodell für offene verteilte Systeme (RM-ODP – Reference Model for Open Distributed Processing) entwickelt. Diese Standards lassen sich auch für das Gesundheitswesen und E-Health-Anwendungen hervorragend nutzen. RM-ODP ist die Grundlage der Modellierung der verschiedenen Architekturen der E‐Health-Plattform der gematik. Diese sind: • Rahmenarchitektur (bIT4health 2004) • Lösungsarchitektur (Fraunhofer 2005) • Gesamtarchitektur (gematik 2008). Die Gesamtarchitektur führte die bisher entstandenen Konzepte für die technische Architektur der elektronischen Gesundheitskarte und ihrer Telematikinfrastruktur nach § 291 a SGB V zusammen. Ihr liegt eine erweiterbare, modulare, serviceorientierte Architektur zugrunde, die zunächst eine Beschreibung aus logischer Architektursicht definierte und diese dann zu einer konkreten physischen Architektur ausgebaut wurde. Dabei sind die Begriffe Webservice (WS) und serviceorientierte Architektur (SOA) komplementär. Mit Webservices wird eine Menge von Standards und mit SOA ein Architekturprinzip bezeichnet. Eine der Hauptforderungen der Ärzte und Patienten an die Sicherheitsziele der E‐ Health-Plattform ist, dass das Erheben, Verarbeiten und Nutzen von Daten mittels der elektronischen Gesundheitskarte für alle §-291a-Anwendungen nur mit dem Einverständnis des Versicherten zulässig ist. Daher müssen in der E-Health-Plattform dedizierte Rollen und Rechte für die Datenzugriffe definiert werden können. Im konkreten Fall einer Datenübertragung über die E-Health-Plattform müssen zunächst die Authentisierungsinformationen für Datenbearbeiter und Datenautorität an die Fachdienste übermittelt werden. Diese Information kann nachrichtenbasiert (Nachrichten-/Message-Authentisierung) oder sessionbasiert (Sessionauthentisierung) übermittelt werden. Zusätzliche Mehrwertanwendungen dürfen die Sicherheit der §-291a-Anwendungen und der medizinischen Daten der Versicherten jedoch nicht gefährden. Dies ist im spezifischen Sicherheitskonzept für die Anbindung der Mehrwertanwendungen zu zeigen und die Wirksamkeit der sicherheitstechnischen Maßnahmen ist nachzuweisen (s. § 63 Abs. 3 a SGB V). 170 K. Becker Gleichzeitig soll aus technischen und wirtschaftlichen Gründen ein möglichst großer Anteil der zunächst für die Telematikanwendungen bereitgestellten oder bereits vorhandenen Infrastruktur für Mehrwertanwendungen gemeinsam genutzt werden. Neben technischen Änderungen wird die Einführung der eGK aber auch eine Reihe von arbeitsorganisatorischen Änderungen mit sich bringen. So erfordert das Datenschutzkonzept der eGK, dass Patientendaten signiert und verschlüsselt werden. Da das Signieren und Verschlüsseln von elektronischen Patientendaten bis dato kaum zum Tätigkeitsspektrum der beteiligten Berufsgruppen gehört, müssen diese zusätzlichen Tätigkeiten in die Geschäftsprozesse integriert werden. Das Gleiche gilt für das Nutzen der über die eGK verfügbar gemachten Gesundheitsdaten. Derzeit besteht der Datenschutz der intersektoral übermittelten Patientendaten in der Regel aus einem verschlossenen Umschlag, welche nur von den berechtigen Personen geöffnet werden darf. Erfüllungsgehilfen des Arztes oder der Ärztin können jedoch diese Umschläge öffnen und die Daten in das im Hause übliche Format konvertieren (beispielsweise durch Einscannen von Röntgenbildern). Über die eGK verfügbar gemachte Gesundheitsdaten können jedoch nur vom berechtigten Arzt entschlüsselt werden, wodurch auch Änderungen der Geschäftsprozesse notwendig werden. 7 Ausblick: E-Health in der Physiotherapie und Prävention Stand bei den ursprünglichen Planungen und bei den ersten Tests die Leistungserbringer im ambulanten und stationären Sektor im Hauptfokus der Betrachtung, beschäftigen sich seit einiger Zeit auch andere Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen mit E-Health (Becker und Jacobs 2015, S. 198): E-Health Anwendungen haben sich in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung etabliert, z. B. im Bereich der Teleradiologie und Telekardiologie. Es gibt es bisher nur sehr wenige Ansätze im Umfeld von patientenorientierten Tätigkeiten im Bereich der Physiotherapie und der Prävention. Erste Arbeiten und internationale Studien, z. B. im Bereich der Telerehabilitation zeigen auf, dass auch in diesem Umfeld der Einsatz von E-Health sinnvoll sein kann und durch die richtige Prozessgestaltung in verschiedenen Bereichen die Effektivität und die Effizienz durch E-Health gesteigert werden kann. Zukünftig werden sich neben der klassischen Erbringung physiotherapeutischer Leistungen auch Angebote der Telephysiotherapie entwickeln. Aufgrund der Studienlage zur Telerehabilitation kann festgestellt werden, dass Patienten im Allgemeinen zufrieden sind mit physiotherapeutischen Dienstleistungen, die über Telematik erbracht werden (Becker und Jacobs 2015, S. 204): Die Gründe dafür können in einer Reduzierung von investierter Zeit und Kosten sowie in einer Erhöhung der Compliance gesehen werden. Auch der bessere Zugang zu und ein verlängerter Zeitraum für telematisch erbrachte Betreuung gehört zu den Vorteilen. Die Zufriedenheit der Leistungserbringer bleibt etwas zurück im Vergleich mit den E-Health in der eGK und HBA-Infrastruktur 171 Leistungsempfängern. Hier sind die Ursachen zu suchen in einer veränderten und ungewohnten Hands-off-Form der Leistungserbringung. Es scheint wichtig zu sein, dass Leistungserbringer und -empfänger die gleiche Einstellung zu telematisch erbrachten Dienstleistungen haben müssen. Diese Voraussetzungen gelten als Basis für eine gute Zusammenarbeit, welche sich positiv auf die Zufriedenheit auswirken kann. Zu beachten ist noch, das die Durchführung von telephysiotherapeutischen Leistungen im ersten Gesundheitsmarkt in Deutschland erst möglich ist wenn die Telephysiotherapie eine ärztliche Verordnungs- und Abrechnungsposition im Leistungskatalog der GKV wird, oder ein direkter Zugang zum Physiotherapeuten (direct access) gestattet wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich in den nächsten Jahren weitere Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen dem Thema E-Health öffnen. Bisher sind weder die Transaktionskosten für solche Ansätze gesetzlich geregelt, noch ist die Telephysiotherapie im Leistungskatalog aufgenommen. Dazu sind noch Pilotprojekte und begleitende Studien notwendig, die den Nutzen der Behandlungsform belegen. Als präventive Maßnahme im zweiten Gesundheitsmarkt wäre die Telephysiotherapie als umsatzsteuerpflichtige Leistung bereits heute möglich. Literatur Becker K, Jacobs H (2015) E-health in der Physiotherapie und Prävention. In: Duesberg F (Hrsg) E-health 2015. medical future verlag, Solingen, S 198–204 bIT4health (2004) Rahmenarchitektur der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen, bIT4health. http://www.dkgev.de/pdf/467.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 BMG (2015) Pressemitteilung Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: „Patienten-Nutzen gehört in den Mittelpunkt“ – Bundeskabinett beschließt den E-Health Gesetzentwurf. http:// www.bmg.bund.de/presse/pressemitteilungen/2015-02/E-Health-gesetzentwurf-im-kabinett. html. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 Box D, Ehnebuske D, Kakivaya G, Layman A, Mendelsohn N, Nielsen HF, Thatte S, Winer D (2000) Simple Object Access Protocol (SOAP) 1.1, W3C Note 08, May 2000. http://www. w3.org/TR/soap11/. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 Christensen E, Curbera F, Meredith G, Weerawarana S (2001) Web Services Description Language (WSDL) 1.1, World Wide Web Consortium, Note NOTE-wsdl-20010315, March 2001. http:// www.w3.org/TR/wsdl. Zugegriffen: 20. Juni 2008 E-Health Gesetz (2015) Deutscher Bundestag Drucksache 18/5293 – 18. Wahlperiode – Entwurf eines Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen. www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/E/eHealth/150622_Gesetzentwurf_E-Health. pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 Fraunhofer (2005) Spezifikation der Lösungsarchitektur zur Umsetzung der Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte. Erste Fassung der Spezifikation 1.0 vom 14. März 2005. www.netlimit.de/net/Spez-Loesarch.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 FSIT (2005) Die Spezifikation der Lösungsarchitektur zur Umsetzung der Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte – Management Summary. Fraunhofer Institut Sichere Informationstechnologie. www.dkgev.de/pdf/693.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 gematik (2008) Gesamtarchitektur – Version 1.3.0 vom 18.03.2008 gültig für Release 2.3.3 und 0.5.2. www.gematik.de/cms/media/dokumente/release_0_5_2/release_0_5_2_architektur/gematik_GA_Gesamtarchitektur_V1_3_0.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 172 K. Becker gematik (2012) www.gematik.de/cms/media/dokumente/ausschreibungen/gematik_infobroschre_ onlinerollout_stufe1_v1_0_0.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 gematik (2015a) Alle Dokumente der Spezifikation der elektronischen Gesundheitskarte. https:// www.gematik.de/cms/de/spezifikation/wirkbetrieb/release_0_5_2/release_0_5_2_egk/ release_0_5_2_dokumentezuregk.jsp. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 gematik (2015b) Methodische Festlegungen und Erläuterungen – Versionierung – Methodendokumente. http://www.gematik.de/cms/de/spezifikation/erlaeuterungen_nutzer/methodische_festlegungen_und_erlaeuterungen.jsp. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 gematik_ORS1 (2015) Release 1.4 ORS1 mit Basis-Rollout – Erprobung und Produktivbetrieb – Aktueller Releasestand: Release 1.4.6 – Stand 04.06.2015. http://www.gematik.de/cms/de/spezifikation/release_1_4_ors1/release_1_4.jsp. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 GMG (2003) Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung GKV Modernisierungsgesetz – GMG. http://www.bmg.bund.de/SharedDocs/Gesetzestexte/GKV/19-Gesetzentwurf-der-Fraktionen–.pdf. Zugegriffen: 20. Juni 2008 Hanika H (2008) Telematische Kooperationen für regionale Vernetzungen im Lichte des europäischen und deutschen Rechts. In: Schug S, Engelmann U (Hrsg) Telemed 2008 – Nationales Forum zur Telematik für die Gesundheit. Akademische Verlagsgesellschaft AKA, Berlin, S 169–181 ISO 10746-1 (1998) http://www.iso.org/iso/iso_catalogue/catalogue_tc/catalogue_detail. htm?csnumber=20696. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 Protego (2004) Einführung der Telematik Infrastruktur. Version 2.8, Projektbüro protego.net,13. www.dkgev.de/file/242.zip. Zugegriffen: 20. Juni 2008 Solution Outline (2004) Skizzierung der Lösungsarchitektur und Planung der Umsetzung (Solution Outline), bIT4health. Vers. 1.1 vom Dez. 2004. www.dkgev.de/pdf/468.pdf. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 UDDI-V2 (2002) OASIS Open (2001–2002). UDDI Version 2 Specifications. http://www.oasisopen.org/committees/uddi-spec/doc/tcspecs.htm. Zugegriffen: 20. Juni 2008 ZTG (2015) Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen. www.ztg-nrw.de. Zugegriffen: 29. Feb. 2016 Über den Autor Prof. Dr. Kurt Becker  lehrt als Professor und Studiengangsleiter für Gesundheitstechnologiemanagement an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen. Ehrenamtliche Tätigkeiten übt er als Yogalehrer, Fachjournalist, sowie als Mitglied verschiedener Fachverbände: VDE DGBMT (Beirat, FA GIAS), GMDS (AG MMM Leitung), BVMI (LV NRW), dfjv, IEEE aus. Kontakt: Kurt.Becker@Apollon-Hochschule.de Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft Stefan Müller-Mielitz 1 Einleitung Die Übertragung der „gefühlten Sicherheit“ von Papierdokumenten in die digitalisierte und künftig originär elektronische Form stellt sich nach wie vor schwierig dar und ist als künftige Herausforderung in der Gesundheitswirtschaft zu sehen. Die „Gefühlte Sicherheit“ scheint bewährt, ist vertraut, ist Konsens, es liegt jahrelange Erfahrung bei allen Beteiligten vor. Der Prozess hin zur Elektronisierung in der Wirtschaft hat neue Dimensionen angenommen, von denen die Beteiligten in der Gesundheitswirtschaft nicht ausgenommen sind. Sie kennen sich in diesen elektronischen Dimensionen aber noch nicht so richtig aus. Die Klärung der sich hieraus entstehenden organisatorischen, technischen, qualitativen und juristischen Fragen ist sehr komplex. Ausgehend von der Neuordnung zu den Rechten und Pflichten in Bezug auf die medizinische Versorgung von Patienten (§ 630 BGB) und den Veränderungen im Falle der Überprüfung der Abrechnung stationärer Aufenthalte durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (§ 275 1c SGB V) werden zwei aktuelle Diskussionsfelder vorgestellt, in denen die Digitalisierung der Papierdokumente in der Patientenakte signifikante Vorteile bringt. Die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft – konkretisiert an den Inhalten der Patientenakte – kann dabei auf zwei Wegen geschehen: Der erste Weg ist die Überführung von Papierbelegen in die IT-Welt, indem das Papier gescannt wird. Der zweite Weg ist die originär elektronische Erzeugung von Daten im Krankenhaus durch S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_11 173 174 S. Müller-Mielitz Informationssysteme wie Patientenmanagement-, Labor-, Pathologie-, Radiologieinformations-, Bildmanagementsystem und weitere IT-Subsysteme. 2 Gegenstand Originär elektronische und digitalisierte Daten unterscheiden sich dadurch, dass gescannte (digitalisierte), gegebenenfalls ursprünglich handschriftlich erfasste Informationen ohne einen weiteren technischen Schritt zunächst nur visualisiert werden und vormals gemessene und dokumentierte Werte nur betrachtet werden können. Sollen diese wieder ausgewertet bzw. einer weiteren Nutzung zugeführt werden, müssen OCR-Verfahren oder das manuelle Abtippen zum Einsatz kommen. Dieser Medienbruch entsteht in der aktuell vorherrschenden hybriden Dokumentationswelt, wenn analoge Medien digitalisiert werden. Er bewirkt Risiken und Kosten. Ebenso liegt ein Medienbruch vor, wenn Daten etwa in einem Laborsystem oder einem eFormular elektronisch erzeugt, am Bildschirm präsentiert und dann wieder ausgedruckt werden, um sie in die Papierakte zu legen – etwa mit dem Ziel einer konventionellen Unterschrift. 3 Aktuelle Entwicklungen Zwischen dem „Digitalisieren“ von Papierbelegen und „elektronischen Daten“ ist für den Laien kein großer Unterschied wahrnehmbar. Technisch und für die weitere Nutzung von Daten ist es jedoch wichtig, ob die Daten digitalisiert oder elektronisch erzeugt wurden. Letzteres sollte als „originär elektronisch“ bezeichnet werden, dann wird der Unterschied auch für Laien deutlich. Mit der Vorstellung einer elektronischen Patientenakte (ePA) ergänzt sich diese Sprachfestlegung ebenfalls gut. Elektronisch erzeugte Daten sind technisch austauschbar und strukturiert und werden in Zukunft auch semantisch codiert sein. Das ist notwendig, damit fachlich-inhaltliche Auswertungen der Dokumente sinnvoll betrieben werden können. Wenn dies konsequent umgesetzt wird, kann die ePA den Nutzen erzeugen, den man von ihr immer erwartet. Es können dann die Daten, die durch unterschiedliche IT-Systeme erzeugt worden sind, durch andere IT-Systeme gelesen, verarbeitet und ausgewertet werden. Der beschriebene Medienbruch entfällt. In den vergangenen zwei Jahren haben insbesondere zwei gesetzliche Festlegungen die Dokumentation im Krankenhaus und die damit verbundenen Prozesse maßgeblich beeinflusst: 4 Patientenrechte Durch die Novellierung des „Patientenrechtegesetzes“ – § 630g BGB (Einsichtnahme in die Patientenakte) – stehen die Krankenhäuser vor der Herausforderung, dass der Patient seine Patientenakteninhalte einfordern kann. Diese Möglichkeit – sie war bereits vor Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 175 Inkrafttreten des § 630g BGB möglich – führt nun bei den Verantwortlichen in den Krankenhäusern zu einer Diskussion, wie diese Einsichtnahme zu realisieren sei. In diesem Zusammenhang wurde ebenso die Möglichkeit der elektronischen Patienteneinwilligung intensiv diskutiert, die in § 630e BGB (Aufklärungspflichten) geregelt wird: Dem „Patienten sind Abschriften von Unterlagen, die er im Zusammenhang mit der Aufklärung oder Einwilligung unterzeichnet hat, auszuhändigen“. Es erfolgt die dafür notwendige Festschreibung und Konkretisierung bereits vorhandener Rechte und Pflichten im Kontext der medizinischen Behandlung und in der Festschreibung im „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ (Bundesgesetzblatt 2012). Für die organisatorisch-technische Umsetzung hat die Arbeitsgemeinschaft der Kommunalen Großkrankenhäuser zusammen mit dem Competence Center für die Elektronische Signatur im Gesundheitswesen (CCESigG) einen Leitfaden erstellt, der Überblick über die verschiedenen Varianten zur Ausgabe der Patienteneinwilligung an den Patienten und eine Einschätzung zum Beweiswerterhalt gibt (CCESigG 2013, S. 17 f.). 5 MDK-Prüfverfahren Im Rahmen der neuen MDK-Prüfverfahrensvereinbarung zum 1. Januar 2015 (§ 275 1c SGB V) müssen die Kliniken innerhalb von vier Wochen nach Einleitung des MDKVerfahrens die abrechnungsrelevanten Belege zur Verfügung stellen. Näheres dazu regelt eine Vereinbarung der Spitzenverbände (GKV-Spitzenverband 2014). Dazu ist es in den Krankenhäusern notwendig, dass ein schneller zeit- und ortsunabhängiger Zugriff auf abrechnungsrelevante Belege möglich ist. Als zweiter Schritt zur Verbesserung der Effizienz ist es notwendig, die digitalisierten bzw. elektronischen Dokumente strukturiert und semantisch analysiert mit Annotation darzustellen. Unter Annotation wird die Kennzeichnung relevanter Textpassagen verstanden; strukturiert bedeutet, dass die Dokumente nach Klassen geordnet angezeigt werden. Die semantische Analyse bedeutet den aufwendigen IT-gestützten Abgleich mit dem DRG-Codesystem, um die abgerechneten ICD10/OPS-Schlüssel farblich hervorgehoben zu sehen und mit der Abrechnung zu vergleichen, damit vor der MDK-Prüfung Schwachstellen in der Argumentation erkennbar werden. Ziel ist es, die Erlössicherung der Krankenhäuser zu stärken. Es ist auch offensichtlich, dass IT-gestützte Verfahren die Transparenz des Prozesses erhöhen, was für Leistungserbringer und Kostenträger gleichermaßen Vorteile bringt. In der Vereinbarung der Spitzenverbände ist die elektronische Übermittlung thematisiert: „Das Krankenhaus soll mit dem MDK den Versand der Unterlagen in geeigneter elektronischer Form organisieren und vereinbaren“ (§ 7 Abs. 3). Um dieses umsetzen zu können, lässt sich in der noch stark papiergetriebenen Dokumentationswelt ein Digitalisierungsschritt einfügen. Die Formate zum Austausch zwischen Krankenhaus und MDK-Stelle sind noch in der Diskussion. 176 S. Müller-Mielitz Zur effektiven Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen sind die zusätzliche Bereitstellung des § 21-Datensatzes sowie die Angabe des Prüfgrunds notwendig. Der § 21-Datensatz enthält laut KHEntgG alle abgerechneten Diagnosen und Prozeduren pro Fall. Wenn die Bereitstellung bereits zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der MDKPrüffälle erfolgt – also vor der eigentlichen Prüfung – kann der Medizincontroller im Krankenhaus mit dem Eingang der Prüfanzeige die Akte auf Vollzähligkeit bezogen auf die vorhandenen Dokumente und auf Vollständigkeit bezüglich der bereits abgerechneten Diagnosen und OPS-Codes prüfen (inhaltliche Prüfung). 6 Mehrwerte durch Digitalisierung Derzeit findet in vielen Krankenhäusern ein Transformationsprozess von der papiergebundenen Dokumentation und der konventionellen Archivierung der Patientenakte hin zum Aufbau digitaler Archive statt. Diese werden durch den Scanprozess ermöglicht. Zukünftig wird aber eine Kernfunktion digitaler Archive in der Aufnahme originär elektronischer Dokumente bestehen. Diese werden im Medizingerät oder am klinischen Arbeitsplatz elektronisch erzeugt und sollten aus Effizienz- und Effektivitätsgründen auch elektronisch weiterverarbeitet werden. Das aktuelle Verfahren der Digitalisierung von Papier durch einen Scanprozess ist dafür ein wichtiger erster Schritt, der nun ergänzt werden muss durch die Archivierung von Daten, die bereits originär elektronisch vorliegen (eDaten). Die Arbeitsgruppe des Arbeitskreises der Kommunalen Krankenhäuser und des CCESigG erarbeitete einen Handlungsleitfaden, der es den Verantwortlichen ermöglicht, zu entscheiden, welche Variante der Patienteneinwilligung für ihr Haus die beste ist. Im Zuge einer möglichen digitalen Bereitstellung von Patientenakten für den Patienten gewinnt die Digitalisierung der Patientenakte zunehmend an Bedeutung. Die Archivierung einer Patientenakte ermöglicht nicht nur die Aufbewahrung, sondern auch das gezielte, schnelle Wiederfinden des archivierten Materials. Durch die Scan-Prozesse können Digitalisierungsdienstleister ihren Kunden erfolgreich einen ersten Mehrwert verschaffen. Ein noch höherer Mehrwert wird erzielt, wenn originär elektronische Daten bei der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung gemeinsam mit gescannten Dokumenten archiviert und diese zusammengeführt (konsolidiert) wieder zur Verfügung gestellt werden würden. 6.1 Dokumentieren, digitalisieren, archivieren Die primäre Motivation der Krankenhäuser für die Digitalisierung von Patientenakten sind der mangelnde Platz in den Häusern oder räumliche Umstrukturierungen. Mindestens 80 % der Dokumentation erfolgen durchschnittlich nach wie vor originär auf Papier; eine größere Zahl an Krankenhäusern digitalisiert diese Akten intern oder über Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 177 einen Dienstleister. Demgegenüber erfahren originär elektronisch erzeugte Dokumente einen Medienbruch, wenn sie ausgedruckt werden. Elektronische Dokumente werden beispielsweise in Laborsystemen erzeugt (Laborbefund). Die Prozessvorteile der elektronischen Erstellung verpuffen dann, wenn der Laborbefund ausgedruckt wird, um eine händische Notiz anzubringen. Dieses Beispiel zeigt die Komplexität bei einer gewünschten „Elektronisierung“ in den Krankenhäusern, wenn die eingeübten und erprobten Wege der papierbasierten Dokumentation in die elektronische Welt anwendergerecht übertragen werden sollen. Ein viel größeres Problem der papiergebundenen und parallel erzeugten elektronischen Dokumentation ist dabei vielen Verantwortlichen in den Krankenhäusern noch gar nicht bewusst: Die Patientenakte besteht in den Krankenhäusern aus der Papierakte und einzelnen Datenelementen in den Datenbanken der IT-Systeme (eDaten). Eine sinnvoll zusammengeführte Patientenakte – bestehend aus digitalisierten und elektronischen Dokumenten sowie solchen Datenobjekten – ist derzeit in keinem Krankenhaus in Deutschland anzutreffen. Das birgt die Gefahr bezüglich der Beweissicherheit der Akte, wenn in einem Streitfall deutlich wird, dass bestimmte Dokumente oder Daten nicht zur Verfügung standen, als Entscheidungen getroffen wurden, für die diese Informationen aber wichtig gewesen wären. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass der wesentliche Vorteil der digitalen und originär elektronischen Nutzung von Daten bisher überhaupt nicht zum Einsatz kommt: die Verbesserung bestehender und künftiger Prozesse und die Möglichkeit des ProzessReengineerings, also der konsequenten Überarbeitung von Prozessen im Krankenhaus durch die Digitalisierung. Dieser Punkt führt uns wieder zurück an den Anfang, als wir feststellten, dass es schwierig ist, sich ohne Papier an neue Gegebenheiten – also auch Prozesse – zu gewöhnen. Das Thema hat etwas von einem gordischen Knoten: Nur ganz langsam kommt Bewegung in das Thema, u. a. bei den Standardisierungen im Kontext elektronischer Dokumente durch IHE, HL7 und DICOM. IHE fasst bestehende Standards in Nutzungsprofilen zusammen und legt fest, wie HL7 für Daten und DICOM für Bildmaterial zusammen mit weiteren Standards sinnvoll für bestimmte Szenarien im Krankenhaus und darüber hinaus eingesetzt werden sollen. Das spart Abstimmungsbedarf im einzelnen Projekt, setzt aber auch voraus, dass die Projekte die IHE-Profile nutzen und diese weiter vorangetrieben und verbreitet werden, um technische Interoperabilität zu erreichen. 6.2 Strukturieren Die Papierakte wurde in der Vergangenheit durch Register und Unterregister strukturiert. Belege wurden durch das Personal mit unterschiedlicher Sorgfalt in die Akte eingelegt. Aufgabe der Strukturierung ist es, diese Akteninhalte in einen sinnvollen Zusammenhang 178 S. Müller-Mielitz zu bringen. Was sinnvoll ist, entscheidet jedes Krankenhaus für sich, sodass sich 5er bis 12er, ja auch 20er Register herausgebildet haben. Problematisch ist, dass bei allen neuen eDokument-Projekten die Fehler der Papierdokumentation in ähnlicher Form wiederholt werden: Die Übergrößen in der Papierform, sodass wieder ein spezieller Aktenordner benötigt wird und man mehrfach falten muss, das rote Blatt Papier, das nicht kopierbar ist, Freitextfelder für Ärzte und Pflegekräfte. All das gibt es auch in der elektronischen Welt. 6.3 Indexieren, klassifizieren, qualifizieren Notwendig zur Systematisierung und Strukturierung ist ein einheitlicher und in der Community gefundener Konsens von Klassen, Dokumententypen und Dokumentennamen. Eine konsolidierte Liste von Namen und Typen – die immer in einem Krankenhaus vorkommen – ist ein erster Schritt zu einer Harmonisierung. Das bedeutet nicht, dass der Kreativität bezüglich der Bezeichnung von Dokumenten (sogenannte Belege) Einhalt geboten werden muss. Die Dokumentenbezeichnung ist der Name eines Belegs, der mindestens aus zwei Seiten (Vorder- und Rückseite) besteht. Jeder Belegname ist auf einen Kern von Typen zurückzuführen. Dieser Kern – die konsolidierte Dokumentenliste – stellt damit das Rückgrat der medizinischen Dokumentation dar. Diese Liste muss im Konsens und innerhalb der Community-Plattform offen bereitgestellt und gepflegt werden. In diesem Kontext erarbeiteten CCESigG, Deutsches Mikrofilm Institut (DMI) und weitere Community-Partner im Jahr 2015 eine Lösung für eine konsolidierte Dokumenten Liste und an Lösungen für die Fragestellungen der elektronischen Signatur für die zunehmend relevanteren eDokumente. 6.4 Repräsentieren Die Präsentation der dAkte unabhängig – und damit auch mobil – am Arbeitsplatz gleichzeitig für mehrere berechtigte Personen ist eine wesentliche Triebfeder für mögliche Prozessverbesserungen bei der Patientenversorgung, die damit unabhängig gemacht wird von Zugriffen auf das Papierarchiv. In naher Zukunft wird es auch noch besser möglich sein, die Inhalte digitalisierter Akten zu analysieren, indem die OCR-Container, die bereits für die Klassifizierung der Dokumente angelegt werden, weiter Verwendung finden – etwa, indem ein Arztbrief auf semantische Hinweise hin untersucht wird und Abrechnungscodes herausgefiltert und dem Medizincontroller für die Abrechnung vorgeschlagen werden. Dadurch ist das Erlösmanagement der Krankenhäuser adressiert, und ein weiterer essenzieller Nutzen der digitalen Patientenakte ist beschrieben. Mit der genauen Analyse von OCR-Containern und medizinisch-fachlichem Wissen können Dokumente mehr sein als nur eine Dokumentation für den Augenblick und die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 179 Abrechnung der Leistung. Der nächste Schritt ist die Verfügbarmachung der Inhalte für eine noch bessere Patientenversorgung und auch die pseudonymisierte Bereitstellung von Inhalten für die Forschung. Hierfür muss es einen intensiven Dialog zwischen Dokumentenverwaltern, medizinischen Forschern und Versorgern geben. Die zunehmende Elektronisierung im Gesundheitswesen vollzieht sich in zwei großen Schritten: Der erste Schritt ist die Überführung der Papierwelt durch Digitalisate in die elektronische Computerwelt. Der dafür notwendige Schritt ist das Scannen der Papierbelege. Der zweite Schritt ist die vermehrte Erzeugung und Nutzung originär elektronischer Daten, die keinen Medienbruch erfahren, weil sie nicht mehr ausgedruckt werden. Diese Daten werden elektronisch von einem Quellsystem zu einem Zielsystem hin überführt. 7 Funktionen eines Archivs Die primäre Aufgabe eines Archivs in einem Krankenhaus ist die Bereitstellung der Patientenakte auf Anforderung. Mit der Digitalisierung verschiebt sich das Angebot der Archivierung hin in den Behandlungsprozess, indem das Digitalisat sofort im Dokumentenmanagementsystem (DMS) zur Verfügung steht. Ausgehend von den Kernaufgaben eines Archivs: 1. Bewerten 2. Erschließen 3. Bereitstellen und Auswerten 4. Bewahren und 5. Beratung ist die Ordnungsgemäßheit des Archivguts – wie sie im Steuerrecht eine feststehende Bedeutung hat – eine wichtige Aufgabe des Archivars. Folgende Grundsätze sind damit verbunden (vgl. Odenthal 2010, S. 78): • Vollständigkeit • Zeitgerechtheit • Richtigkeit • Ordnung und Wahrheit • Transparenz • Unveränderbarkeit Diese Grundsätze in die digitale Welt zu überführen, zu beachten und umzusetzen wurden in den Braunschweiger Regeln konkretisiert. 180 S. Müller-Mielitz 7.1 Braunschweiger Regeln zur Archivierung Der Punkt der Digitalisierung und der Umgang mit elektronischen Dokumenten werden in den „Braunschweiger Regeln zur Archivierung mit elektronischen Signaturen im Gesundheitswesen“ beschrieben, die im Rahmen einer Arbeitsgruppe des CCESiggG erarbeitet worden ist (CCESigG 2009): 1. Generelle Verwendung archivgeeigneter Dateiformate (z. B. PDF/A) sowie qualifizierter elektronischer Signaturen und Zeitstempel mit Anbieterakkreditierung durch die Bundesnetzagentur (nachfolgend als akkreditierte Signatur bzw. akkreditierter Zeitstempel bezeichnet). 2. Akkreditierte Signatur originär elektronischer Dokumente, für die gesetzliche Regelungen die Schriftform fordern (grundsätzlich kann die Schriftform – unterschriebenes Papierdokument – gemäß § 126a Abs. 1 BGB durch die elektronische Form ersetzt werden). 3. Akkreditierte Signatur für Dokumente zur externen Verwendung und für interne Dokumente, die einen besonders hohen Stellenwert (z. B. Beweisinteresse) haben. 4. Akkreditierter („Eingangs-“)Zeitstempel für Dokumente externer Einsender. (Kann auch durch Regel Nr. 6 umgesetzt werden.) 5. Geeignetes Authentifizierungsverfahren für alle sonstigen Dokumente. 6. Zeitnahe Archivierung der Dokumente, Protokoll- und Verifikationsdaten in einem revisionssicheren Archiv mit akkreditiertem („Archiv-“)Zeitstempel, in jedem Fall innerhalb von maximal 24 h nach Erstellung oder Erhalt. 7. Absicherung des Betriebes des elektronischen Archivs nach dem Stand der Technik durch Umsetzung allgemein anerkannter Regelungen und Normen (z. B. ISO 27001, BSI) – im Idealfall Nachweis durch ein Zertifikat. 8.  Hash- und Signaturerneuerungen gemäß den Vorgaben der Bundesnetzagentur; Datei- und Medienkonvertierungen gemäß den Empfehlungen der BMWi-Studie TransiDoc. 9.  Generelle Vermeidung von Medienbrüchen. Falls dennoch ersetzendes Scannen erforderlich ist: 1.  Aufbewahrung der Originaldokumente, für die gesetzliche Regelungen, die Schriftform fordern und keine Erlaubnisvorschrift zum ersetzenden Scannen besteht. 2. Verwendung eines abgesicherten Scanverfahrens nach dem Stand der Technik mit akkreditierter Signatur und/oder akkreditiertem Zeitstempel durch qualifiziertes eigenes Personal oder einen geeigneten externen Dienstleister. 3. Sicherstellung des uneingeschränkten Fortbestands des Versicherungsschutzes. 10.  Dokumentation und Handlungsanweisungen hinsichtlich der Verfahren, des Einsatzes der Signatur und weitergehender Regelungen (Verantwortlichkeiten, Datenschutz, Aktenstruktur etc.) in einer Archivordnung. Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 181 Inwieweit die Braunschweiger Vorschläge in der Realität des Krankenhausalltags umgesetzt worden sind, ist noch nicht evaluiert worden. Alle Punkte werden aber umgesetzt, wenn das Krankenhaus mit entsprechend zertifizierten Archivierungsdienstleistern zusammenarbeitet. Kernaufgabe eines externen Dienstleisters ist es, die zuvor genannten Grundsätze exakt umzusetzen, Verfahrensbeschreibungen vorliegen zu haben, diese zu befolgen und auch die Compliance zu Gesetz und Regelungen herzustellen und umzusetzen. Dieses gilt insbesondere bei der Digitalisierung von Papier. 7.2 Digitalisierung von Papier: dDokumente Für die informationstechnische Betrachtung des Prozesses der digitalen Archivierung haben sich folgende Prozessschritte etabliert: 1. Erfassung (Capture) 2. Verwaltung (Manage) 3. Speicherung (Store) 4. Bewahrung (Preserve) 5. Ausgabe (Deliver) Mit diesen fünf Punkten ist klar beschrieben, dass das digitale Archiv keine Einbahnstraße ist, sondern direkt oder auf Anforderung die Digitalisate ausgibt und wieder bereitstellt. Das geschieht digital und damit wesentlich schneller als in Papierform und ist auch sicherer. Die Sicherheit in der Ausgabe von Akten erfolgt aufgrund der in den IT-Programmen gesetzten Rechte wesentlich kontrollierter als in der Papierwelt, wenn hierfür beispielsweise keine Regelungen in der Archivordnung vorgesehen sind oder eine Archivordnung gänzlich fehlt. Dafür muss ein entsprechendes Identitätsmanagement aufgebaut werden, um diesen Sicherheitsaspekt erfüllen zu können. Mit der Digitalisierung von Papier und der Zunahme originär elektronischer Dokumente ist auch die Forderung der Krankenhäuser verbunden, Papier zu vermeiden. Ein Ansatz zur Umsetzung dieser Forderung ist ein Papiervermeidungskonzept: Papierakte prüfen, ausgedruckte elektronische Dokumente identifizieren. Dann eine Detailanalyse zwischen dem Papierausdruck und dem eFormular durchführen. Ergebnis sind Handlungsempfehlungen für den Ersatz des Ausdrucks. Dabei müssen die vorhandenen organisatorischen Rahmenbedingungen beachtet werden, die Mitarbeiter/innen mitgenommen werden. Die Rückmeldung durch Reports, die aus der Verarbeitung der qualifizierten und digitalisierten Akte entstehen, schafft Transparenz für die Behandlungsprozesse in einem Krankenhaus. Eine digitale Akte unterstützt damit aktiv die Kernprozesse. Demnach sollte in einem Krankenhaus ein Prozessstärkungskonzept erarbeitet werden, das sicherlich von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedliche Varianten aufweist. Kern dieses Konzeptes sollte eine entsprechende Vor-Ort-Analyse des Archivierungsdienstleisters 182 S. Müller-Mielitz sein, der damit sicherstellen kann, dass von der Entstehung der Dokumente bis hin zur Archivierung der notwendige Überblick entsteht. Ziel wäre es, in Zukunft die digitalen und elektronischen Dokumente so prozessual zu beschreiben, dass eine digitale Verfolgung und Optimierung (Vollzähligkeit und Vollständigkeit) erreicht wird. Über die durch Analyse erarbeiteten Datenbankinhalte wird eine Deltaanalyse zu vorhandenen Papierdokumenten und notwendigen Daten erstellt. Ergebnis sind konkrete Handlungsempfehlungen über fehlende Dokumente und Datenfelder. Die Nutzung dieser Erfahrung aus der digitalisierten Welt auch für originär elektronische Dokumente muss das Ziel der beteiligten Akteure sein. 7.3 Entstehung von eDokumenten Bei der Analyse der Entstehung und der Erstellung von Dokumenten sind zwei Situationen zu unterscheiden: Zum einen die Entstehung eines (neuen) Dokuments, das neue Daten und Informationen aufnimmt, und zum anderen die Bearbeitung eines Dokuments – damit ist das Befüllen eines bestehenden Dokuments mit Daten gemeint – das dann als eDokument elektronisch vorliegt. Während ein Papierdokument durch Ausfüllen eines bestehenden Papierformulars erstellt wird, wird ein elektronisches Dokument durch eDaten befüllt. Eigentlich stellt dies einen ähnlichen Prozess dar, der aber durch die Menschen, die im elektronischen Formularwesen arbeiten, noch zu wenig berücksichtigt wird. Zunächst geht es um dieses Befüllen eines bestehenden elektronischen Dokuments als eDokument. Nach dem Befüllen steht dieses Dokument als eDokument zur Verfügung. Wird ein eDokument manuell gefüllt, so sollte es als „eFormular“ bezeichnet werden. Teilweise werden eFormulare auch automatisch gefüllt, wenn diese aus den IT-Subsystemen eDaten übernehmen und in neuer Sichtweise als eFormular zur Verfügung stellen. Rein automatisch gefüllte eFormulare sollten dann als unveränderbare standardisierte eDokumente transformiert werden. Es ist also ein Unterschied, ob ein Formular manuell durch den Menschen (eFormular) oder automatisch (eDokument) gefüllt wird. Liegen eDaten vor, muss gewährleistet sein, dass durch die strukturierten und technisch validierten Prozesse die relevanten Daten aus der KIS-Datenbank identifiziert und beschrieben werden und durch den technischen Prozess in dem entsprechenden ITSystem die Daten auch als eDokument gespeichert werden. Dieser Schritt ist technisch herausfordernd und erfordert ein enges Zusammenwirken zwischen IT-Hersteller, Dokumentenanalyst und Krankenhauskunde. Der Kunde muss in diesem Prozess klar definieren, welche Daten in das eDokument überführt werden sollen, und es muss geklärt werden, was mit eDaten geschieht, die nur in der Datenbank liegen und im günstigsten Fall als eFormular am Bildschirm angezeigt werden können. Die Überführung von eDaten in revisionssicher zu archivierende Dokumente muss das Ziel sein. Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 183 8 Die digitale Patientenakte Die Dichotomie zwischen Papier/Digitalisat und elektronischem Dokument kann über eine konsolidierte Patientenakte aufgelöst werden. Diese hybride Akte, die Digitalisate als dDokumente und originär elektronische Dokumente als eDokumente in einem ersten Schritt zusammenführt, ist ein Zwischenschritt auf dem Weg hin zu einer reinen elektronischen Patientenakte. Eine konsolidierte Patientenakte – bestehend aus digitalisierten und elektronischen Dokumenten, die zusätzlich noch qualifiziert wurde und in der beispielsweise doppelte Belege identifiziert worden sind, gibt es derzeit nicht. Eine Qualifizierung aller einzelnen Belege z. B. mit einer Überprüfung einer minimalen Vollständigkeit oder im Abgleich mit dem §-21-SGB-V-Datensatz ist derzeit in keinem Krankenhaus in Deutschland anzutreffen. Aktuell vorhanden ist in den Krankenhäusern die repräsentierte und aus digitalisierten und elektronisch vorhandenen Dokumenten zusammengeführte dAkte in den Dokumentenmanagementsystemen (DMS). Nicht immer ist bei dieser zusammengeführten Akte klar, ob alle vorhandenen Daten, Informationen und Dokumente in der Visualisierung zu sehen sind, oder ob nicht einzelne Datenelemente in den Subsystemen weiterhin verborgen sind. Ein Problem für eine vollständige Akte. Eine konsolidierte und qualifizierte Patientenakte umfasst alle Dokumente der einzelnen IT-Systeme und den dokumentrelevanten Zusammenhang zwischen KIS, RIS, PACS, LIS und weiteren IT-Subsystemen im Detail. Die Qualifizierung überprüft die Akte nach bestimmten Merkmalen, die vom Krankenhaus vorgegeben wurden oder durch gesetzliche oder regulatorische Anforderungen notwendig sind. Konsolidieren bedeutet hierbei die strukturierte Zusammenführung von dDokument und eDokument. Für die eDokument muss – wie zuvor beschrieben – die Konsolidierung von eDaten zu eDokumenten durchgeführt werden. Diese führt strukturiert und technisch mit einem Code versehen die eDaten zu eDokumenten zusammen und ermöglicht damit eine elektronische Weiterverarbeitung der Daten in unterschiedlichen IT-Systemen. Dieser letzte Schritt – die unkomplizierte Verarbeitung von eDokumenten – wird aber noch eine unbestimmte Zeit auf sich warten lassen. Perspektivisch müssen die erzeugten eDaten und die erzeugten eBilder zu einer echten konsolidierten eAkte zusammengeführt werden. Bilder fehlen noch in dieser Akte. Derzeit werden das Material aus der bildgebenden Diagnostik und das Datenmaterial aus dem KIS in separaten Datenbanken und Archiven vorgehalten. 8.1 Erstes Nutzenversprechen Die Entkoppelung der Papierakte vom physikalischen Arbeitsplatz durch die Digitalisierung und die damit verbundene Überführung von pDokumenten in dDokumente stellt den primären Nutzen durch das Scannen der Papierakte dar. Weitere Vorteile sind die 184 S. Müller-Mielitz Reduktion des Papiers in den Archiven und die Möglichkeit eines Redesigns von Prozessen innerhalb eines Krankenhauses, wenn die papiergebundenen Patientenakte für die digitalisierte Verarbeitung und Präsentation analysiert wird. Eine Lösung für den bevorstehenden Transformationsprozess kann sein: „vom Papier lernen“. Durch die Digitalisierung der Papierakte wird diese im ersten Schritt in die digitalisierte Welt überführt, indem ein dDokument erzeugt wird und zu einer dAkte wird. Diese steht dann arbeitsplatzunabhängig an den Bildschirmplätzen zur Verfügung – ein erster Nutzen der Digitalisierung. Durch den Einsatz von Webtechnologie ist es auch möglich, diese dDokumente am Point of Care anzuzeigen: der Arbeitsplatz im Krankenhaus wird mobil. 8.2 Zweites Nutzenversprechen Mit der feingranularen Verfügbarmachung digitalisierter Informationen auf Dokumententypebene steht eine wesentlich effizientere Form der Datenbereitstellung zur Verfügung als es jemals durch eine ordentlich geführte Papierakte möglich wäre. Um diese Klassifizierung auch effektiv zu erreichen, sind zwei Zwischenschritte notwendig: die Indexierung der Dokumente und die Typisierung. 8.2.1 Indexierung Die richtige Bezeichnung von dDokumenten zu einem Dokumententypen wird als Indexierung bezeichnet. Sie ermöglicht es, die Belegbezeichnung aus der Papierwelt in die Dokumentenbezeichnung der digitalen Welt zu überführen. In der einfachen Variante geschieht dies dadurch, dass aus dem Papierbelegname der digitale Dokumentenname wird. Das geschieht automatisiert. 8.2.2 Typisierung Der Wunsch der Nutzer in den Krankenhäusern nach einer Zuordnung der Dokumente in das digitale Register (als Baumstruktur) wird in der Digitalisierungstechnik durch Überführung von Dokumenten zu Dokumententypen und Dokumentenklassen umgesetzt. In modernen Digitalisierungszentren ist das durch eine automatische Typisierung möglich, indem nach dem Scannen das Dokument indexiert und durch die Typisierung einem Klassentyp zugeordnet wird. 8.2.3 Klassifizierung Diese Dokumententypen werden dann den Registerklassen und Unterregisterklassen automatisiert zugeordnet, was als Klassifizierung bezeichnet wird. Die automatische Klassifikation im Massenscanprozess stellt für die Krankenhäuser einen wesentlichen Nutzen im Rahmen der Digitalisierung dar. Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 185 8.3 Drittes Nutzenversprechen Die Suche von Dokumenten auf Dokumententypebene ist ein zusätzlicher Nutzen der Indexierung, stößt aber bei der detaillierten Suche innerhalb der digitalisierten Patientenakte an Grenzen. Mit der Erstellung von OCR-Containern ist dabei der nächste Schritt der Granularität erreicht. Hierdurch wird es möglich, auch in der digitalisierten Akte Inhalte zu suchen. Es ist aber auch offensichtlich, dass dies nicht in der Güte erfolgen kann, wie es in einem originär erzeugten eDokument der Fall ist, da durch das Scannen der OCR-Container nicht in der Güte erstellt werden kann, wie es bei einem elektronischen Dokument vorliegen würde. Die OCR-Qualität ist dennoch bemerkenswert und bietet vielfältige Möglichkeiten des Suchens und der Weiterverarbeitung von Daten, was aber derzeit noch nicht intensiv genutzt wird. 8.4 Viertes Nutzenversprechen Das Zusammenführen von dDokumenten und eDokumenten zu einer digitalen Akte in einem standardisierten Repository ist der nächste wichtige Schritt bei der effizienten und effektiven Verarbeitung von medizinischer Dokumentation und wird aktuell in den Krankenhäusern umgesetzt, die bereits digitalisieren. Das Ergebnis ist, dass dDokumente und eDokumente an einem Arbeitsplatz am Bildschirm aufzufinden sind. 8.5 Fünftes Nutzenversprechen 8.5.1 Strukturieren Um den Weg der Konsolidierung mit einem relevanten Mehrwert für Krankenhäuser zu versehen, ist die genaue Strukturierung der einzelnen digitalisierten Belege der Papierwelt (dDokumente) und die Überführung von eDaten zu echten eDokumenten mit klaren Metadaten notwendig. Hierfür muss die Heterogenität der Belegbezeichnungen auf einen minimalen Konsens herunter gebrochen werden. Hierfür wurde bei DMI das Konzept der Konsolidierten Dokumenten Liste (KDL) entwickelt, das es ermöglicht, jede beliebige Belegbezeichnung aus der Papierwelt und aus der elektronischen Welt in diese Liste einzusortieren. Diese Liste umfasst derzeit 250 Dokumente, stellt damit den Kern an Dokumenten in einem Krankenhaus und wird ständig überprüft, indem neue Kundenbelege auf die Liste gematcht werden. 8.5.2 Qualifizieren Die Reduktion von mehreren tausend Belegen auf die KDL schafft die Voraussetzung, diese Dokumenten mit Merkmalen zu versehen, die eine Qualifizierung der Dokumente nach sich ziehen und damit einen essenziellen Mehrwert für Krankenhauskunden ermöglichen und verschiedenste Formen der Qualifizierung in Zukunft denkbar machen: 186 S. Müller-Mielitz Stufe 1: Herausfiltern von Dokumenten: Ein weiterer Nutzen der Qualifizierung ist es, dass bestimmte Dokumente gezielt gefiltert werden und in speziellen Repositories bereitgestellt werden können. So ist es denkbar, dass bestimmte Inhalte von Dokumenten für die Qualitätssicherung genutzt werden. Auch die Nutzung von Werten in Dokumenten für die Rekrutierung von Patienten und Probanden für klinische Studien ist mit der Methode der Qualifizierung denkbar. Wenn es gelingt, den Qualifizierungsschritt durch Fachgremien zukünftig valide abzustimmen und ebenso Raum für individuelle Anforderungen der Krankenhauskunden zu gewinnen, steht in Zukunft mit der Qualifizierung von Dokumenten ein sehr mächtiges Werkzeug zur Verfügung, die digitale Patientenakte effizienter und wesentlich effektiver zu nutzen. Stufe 2: Überprüfung der Vollzähligkeit und Vollständigkeit der Akte: Die Frage nach der Vollzähligkeit und Vollständigkeit kann aus verschiedenen Sichten erfolgen: medizinisch, juristisch, pflegerisch oder aus Sicht des Medizinischen Controllers und vielem mehr. Für das Erlösmanagement ist es denkbar, dass überprüft wird, dass bestimmte Dokumente vorhanden sein müssen, wenn bestimmte DRG-Codes abgerechnet werden. Neben der Überprüfung der Vollzähligkeit und Vollständigkeit sind weitere Qualifizierungsschritte denkbar, wie die Selektion bestimmter Dokumente für separate Auswertungen, die gezielte Zeitstempelung und Signierung von Dokumenten. Auch kann jeder Nutzer „seine“ Sicht angezeigt bekommen, und Register- und Unterregister-Sichten entfallen, da die Pflegekräfte, die Ärzte und die Medizincontroller jeweils ihre Sicht auf die Akte erhalten. Stufe 3: Abgleich mit §-21-SGB-V-Datensatz: Die dritte Stufe, ein Abgleich vorhandener OPS- und ICD-Codes mit in der Akte vorliegenden Dokumenten, stellt den dritten Schritt dar. Ist dieser Schritt der Qualifizierung erfolgreich erprobt und praxistauglich, können über fallbezogene Reports oder auch regelmäßige Berichte an den Medizincontroller relevante Informationen zum Fall und bei einer MDK-Prüfung konkrete Informationen über nicht vorhandene Dokumente, obwohl eine Leistung abgerechnet wurde. Grundsätzlich sind über diese Form der Qualifizierung allgemeine Verbesserungen für die Behandlungsprozesse zu erwarten. 8.6 Sechstes Nutzenversprechen In den vorangegangenen Abschnitten konnte gezeigt werden, dass die aktuelle Situation in den Krankenhäusern eine zusammengeführte Akte aus Digitalisaten und originär elektronisch erzeugten Dokumenten ist, deren qualitative Zusammensetzung in Zukunft weiter verbessert werden kann, wenn die Akte bezüglich unterschiedlicher Qualifizierungsaspekte untersucht wird. Wird dieses umgesetzt, kann von einer konsolidierten Akte gesprochen werden: Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 187 8.7 Ergebnis: Konsolidierte Akte Die beschriebene Situation der zusammengeführten Akte zeigt auf, dass es in einem weiteren Schritt notwendig ist, die vorhandenen dDokumente und eDokumente in einer Akte zu konsolidieren und beispielsweise doppelte Dokumente zu identifizieren und auszublenden. Die Situation in vielen Krankenhäusern ist die, dass im Krankenhausinformationssystem die elektronischen Daten im Datenbanksystem liegen und im Dokumentenmanagementsystem (DMS) die gescannten Akteninhalte vorgehalten werden. Das sind zwei IT-Systeme, die die Arbeit mit der digitalisierten Akte nicht einfacher macht. Die Konsolidierung bedeutet nun, dass zumindest nach Entlassung des Patienten auf dem Weg in das Archiv diese beiden Dokumentenstränge zusammengeführt werden und eine konsolidierte Akte entsteht, die zum einen rechtskonform und revisionssicher aufbewahrt wird, die aber auch zum anderen wieder konsolidiert an das Krankenhaus geliefert werden kann und dann in einem IT-System zur Verfügung steht. Dazu ist der Schritt der Qualifizierung zu durchlaufen, um die beschriebene doppelt vorhandenen Belege zu identifizieren und Aspekte wie Vollzähligkeit und Vollständigkeit aus verschiedenen Sichten zu prüfen. Die Konsolidierung bedeutet hierbei eine inhaltliche Überprüfung (z. B. auf Duplikate) und technische Konsolidierung (z. B. Auslieferung der Digitalisate an das Krankenhaus im standardisierten IHE-Format). 8.8 Beweiswertsicherheit Der Übergang vom Papierbeleg zu einem digitalisierten Dokument wird nicht von allen Beteiligten als positiver Schritt wahrgenommen. Der Begriff des „ersetzenden Scannens“ hat sich hierfür eingebürgert. Ersetzendes Scannen deswegen, da nach der Digitalisierung und der Überprüfung, ob das Digitalisat dem Original entspricht, das Papier vernichtet wird. Das pDokument wird als dDokument digitalisiert weitergeführt. Die vom BSI vorgegebene Technische Richtlinie dazu (TR-03138) verfolgt verschiedene Ziele (BSI 2012): • Die TR-03138 (RESISCAN) des BSI zielt auf eine Steigerung der Rechtssicherheit im Bereich des „Ersetzenden Scannens“ ab. • Die TR ist ein Handlungsleitfaden und soll als Entscheidungshilfe dienen, Papierdokumente nicht nur zu digitalisieren, sondern im Anschluss auch zu vernichten. Die Richtlinie hat empfehlenden Charakter und ist keine gesetzliche Bestimmung. Die Richtlinie betrachtet einen generischen Scanprozess: Die Abb. 1 (BSI 2012:14) zeigt den Prozess des Übergangs vom Papier zu einem Digitalisat (ersetzendes Scannen). Durch das anschließende Vernichten des Papiers werden Kostenvorteile u. a. dadurch erzielt, dass eine mehrjährige Lagerung des Papiers entfallen kann. 188 S. Müller-Mielitz Abb. 1  Ersetzendes Scannen. (BS TR-03138I) 8.9 Archivierungsfristen Eine Auflistung von Aufbewahrungsfristen von Dokumenten findet sich bei im Bundesgesetzblatt (2012, S. 68–69). Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat einen aktualisierten Leitfaden zu Aufbewahrungspflichten und -fristen von Dokumenten im Krankenhaus (Stand: Mai 2011) herausgegeben: „Unter Zugrundelegung der berufsrechtlichen Regelung (§ 10 Abs. 3 MBOÄ 1997 Stand 2006) sind ärztliche Aufzeichnungen mindestens 10 Jahre nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren. Aus Beweissicherungsgründen empfiehlt sich jedoch unter Berücksichtigung der Verjährungsfristen des Bürgerlichen Gesetzbuches grundsätzlich eine Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren.“ (DKG 2011, S. 3 ff.). Grundsätzliche Arbeiten zum Thema der elektronischen Signatur und zu Archivierungsschritten werden durch Rossnagel und Schmücker (2005, S. 51 f.) im Detail dargestellt. 8.10 Konsolidierte Dokumenten Liste (KDL) Die KDL stellt den Kern von Dokumenten in einem Krankenhaus dar. Basis für die Liste sind die von 450 Krankenhäusern vorhandenen Bezeichnungen von Dokumenten (Papierbelegen). Die KDL wird ständig gegenüber Akten von Neukunden geprüft und stellt derzeit mit 250 Dokumentennamen eine überschaubare Liste dar. Diese Liste stellt den Kern der Dokumentation in deutschen Krankenhäusern, auf die jeder vorhandene Beleg sortiert werden kann. Die Erstellung der Liste ist eine aktuelle Forschungsarbeit bei DMI und bedeutet die Standardisierung der sehr heterogen vergebenen Dokumente. Diese Standardisierung wird im Diskurs mit Kunden und der Industrie sowie innerhalb der Community konsentiert. Ergebnis wird die offene Bereitstellung der Liste sein. Durch ein systematisches Matching der Belege in einem Krankenhaus mit der KDL wird die Reduktion auf Kerntypen erreicht, wobei durch entsprechende Codes keine Informationen verloren gehen. Die KDL ist ein Instrument, um weitere Mehrwerte für Krankenhäuser zu ermöglichen: Die standardisierte Strukturierung von Akten ist dafür zwingende Voraussetzung von Akten. Es werden dann zu jedem erfassten Dokument Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 189 in der KDL entsprechend erprobte Register- und Unterregistervorschläge durch DMI bereitgestellt. Damit ist die Klassifizierung in sehr strukturierter Form umgesetzt. Mit diesen Vorarbeiten ist die Qualifizierung von Dokumenten möglich, indem nach Vorgaben (durch Verbände oder das Krankenhaus selbst) entsprechende Merkmale an die standardisierten Dokumente vergeben werden wie „Signatur notwendig“, „Notwendig für Erlöse“ oder „für Vollzähligkeit aus juristischer Sicht erforderlich“. Mit der Strukturierung und Qualifizierung stellt DMI seinen Kunden jahrelang erworbenes Fachwissen in einer Qualifizierungsmatrix zur Verfügung. Die KDL ist frei verfügbar und wird in Standardisierungsgremien wie HL7, IHE-Deutschland und im Interoperabilitätsforum begutachtet, besprochen und mit den Fachleuten weiterentwickelt. Dieser Dialog soll auch anhand der KDL erfolgen. Verbände verhelfen ihren Mitgliedern zu einer Stimme mit Gewicht; sie spielen in der Vielfalt der Meinungen und Kompetenzen eine wichtige fachliche und oft auch politische Rolle. In Arbeitsgruppen werden Leitfäden und Handlungshilfen erarbeitet, die den Markt direkt beeinflussen – etwa durch Standards und Leitlinien. Statements der Verbandsvorstände wirken auf die politischen Entscheidungsträger und unterstützen dabei Ziele der beteiligten Organisationen. 8.11 Medizinische Dokumentationslandkarte (MDL®) Die von DMI entwickelte Medizinische Dokumentationslandkarte (MDL®) beinhaltet konkrete Werkzeuge und Verfahrensbeschreibungen, um die bei einem Kunden vorhandenen Dokumente zu identifizieren, zu strukturieren und zu qualifizieren. Die entwickelten Werkzeuge sind die Dokumenten- und die Qualifizierungsmatrix für die Dokumente in einem Krankenhaus. Die Dokumentenmatrix enthält alle relevanten Informationen aus den Strukturanalysen, die den Capture- und Deliver-Prozess der Dokumente betreffen und damit für die Verarbeitung der Dokumententypen für den Kunden wichtig sind. Die Qualifizierungsmatrix enthält alle relevanten Informationen für die Qualifizierung der Dokumente. Damit kann das Erlösmanagement und das Qualitätsmanagement unterstützt werden. Über Einzelreports pro Fall können kumulierte Auswertungen erfolgen oder die Auslieferung von Patientenakten an die Patienten geregelt werden und es können im Rahmen einer Qualifizierung der Patientenakte eine Dublettenprüfung durchgeführt werden (doppelte Belege aus der e-Welt und der Papier-Welt). Ergebnis ist die qualifizierte und konsolidierte archivierte Patientenakte. Es sind damit folgende aktuelle Kernprobleme der Krankenhäuser lösbar: • Vollständigkeitsprüfung • Erlösmanagement • Interne Prozessverbesserung • Internes Controlling • Interne Qualitätssicherung 190 S. Müller-Mielitz Zukünftig könnten auch Fragestellungen aus folgenden Bereichen durch eine Qualifizierung der Patientenakte gelöst werden: • Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie • Forschungsfragen in pseudonymisierter/anonymisierter Form • Effiziente Weitergabe von Akteninhalten an den Patienten Die von DMI in der Entwicklung befindliche umfassende Medizinische Dokumentationslandkarte gibt einen Überblick der in einem Haus verwendeten Dokumente von der Entstehung bis zur Archivierung. Dieses Wissen wird künftig für alle Krankenhäuser zusammengefasst. Dadurch können bereits heute die Vorteile einer digitalen Verarbeitung von Informationen intensiv genutzt werden. Die MDL® ermöglicht die Reduktion von Papier und bereitet Krankenhäuser auf die Erzeugung und den sicheren Austausch von digitalen Dokumenten und die revisionssichere Archivierung von digitalen Akten vor. Die MDL® führt damit das Wissen von DMI aus über 50 Jahren Papierarchivierung fort in die digitalisierte und zukünftige originär elektronische Welt der modernen Patientenakte und stellt dieses Wissen als Dienstleistung den Krankenhäusern zur Verfügung, um effiziente und effektive eAkten aufzubauen. 9 Übersicht von eAktenkonzepten Bei der Analyse moderner Aktenkonzepte fällt auf, dass es keine umfassende Übersicht der bereits verfügbaren Aktenkonzepte gibt: Die EEPA, PEPA, ePA und EFA sind derzeit nur für Fachleute zu unterscheiden. Es macht daher Sinn, die Akten kurz vorzustellen und ihre Unterschiede herauszuarbeiten. Die aktuelle Situation in deutschen Krankenhäusern ist durch eine hybride Situation in der Dokumentation gekennzeichnet: Neben der Papierakte existiert eine elektronische Akte, die meistens durch das Krankenhaus-Informations-System (KIS) gekennzeichnet ist. Das KIS wird verstanden als die Summe der soziotechnischen Teilsysteme im Krankenhaus. Streng genommen handelt es sich somit nicht um eine Akte (verstanden als die durch Dokumente zusammengefasste medizinische Dokumentation eines Patienten). Genau genommen finden sich im heutigen KIS verteilte elektronische Datenschnipsel und entsprechende Datenfelder einer Datenbank, die in der Papierwelt einen Haufen von sorgsam zerschnittenen DIN-A4-Blättern bedeuten würden. Der Albtraum eines Archivars. Die elektronisch erzeugten Daten müssen daher in einem Prozessschritt zu eDokumenten zusammengefasst werden, die dann fachlich-inhaltlich sauber getrennt sind und revisionssicher archiviert werden können. Diese Dokumente müssen so strukturiert und codiert sein, dass eine anschließende Analyse durch ein IT-Fremdsystem durchführbar ist. Erst dann ist das Ziel der Interoperabilität von Dokumenten auf inhaltlicher, semantischer und technischer Ebene erreicht. Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 191 Demgegenüber wird viel von der digitalen Patientenakte gesprochen, die derzeit nichts anderes ist, als gescannte Papierbelege zu digitalisieren und zusammen mit elektronischen Datenschnipseln an einem Arbeitsplatz anzuzeigen. Digitalisierte Dokumente bieten aber allein schon einen enormen Mehrwert, bereits dadurch, dass sie arbeitsplatzunabhängig vorhanden sind und betrachtet werden können – Digitalisate haben sich der physischen Abhängigkeit entbunden und sind virtualisiert. Sind diese dDokumente auf Dokumententypebene zusätzlich klassifiziert, ergeben sich durch moderne OCR-Verfahren vielfältige Möglichkeiten der semantischen Analyse, die mit digitalisierten (nicht digitalen!) Akten möglich sind: 9.1 dPA Derzeit werden in der Regel noch 80 % der Dokumentation in den Krankenhäusern auf Papier erzeugt. Mit Ausnahmen nach oben und unten. Nach den Erkenntnissen im Deutschen Mikrofilm Institut (DMI) kann derzeit nicht – wie der Hübner-Bericht gezeigt hat – von einer steten Zunahme der elektronischen Dokumentation gesprochen werden (vgl. Hübner et al. 2012). In der aktuell vorherrschenden hybriden Dokumentationswelt von Papier, das digitalisiert wird und der parallelen Welt von elektronischen Daten in den IT-Systemen müssen wir von einer digitalen Patientenakte sprechen. Die elektronische Dokumentation wird allerdings zunehmend als archivierungswürdig erkannt. Die dPA wird in der Regel durch ein Dokumentenmanagementsystem (DMS) angezeigt und enthält viele digitalisierte (gescannte) und elektronische Dokumente (z. B. Befunde als PDF-Dateien). DMI Kunden weisen nach einer durchgeführten Belegstrukturanalyse (BSA) ein Potenzial von mindestens zehn bis 30 % teilweise von über 50 % der Papierbelege aus, die augenscheinlich elektronischen Ursprungs sind und originär elektronisch in das digitale Langzeitarchiv übernommen werden könnten. Diese Potenziale werden in Krankenhäusern nicht genutzt. Die dPA stellt an die Form ihrer Verarbeitung und die direkte und sekundäre Nutzung andere Anforderungen als dies bei der ePA der Fall wäre. Konkret sind hier OCR-Mechanismen gemeint, die es erst ermöglichen, Inhalte auszulesen und weiter zu verarbeiten. Aktuelle Lösungsansätze sind hier die Indexierung des digitalisierten Dokuments (Zuweisung zu einem Dokumententyp) und die Klassifizierung der Dokumententypen (Zuordnung der Dokumente zu Registern/Unterregistern), die damit die Struktur der Papierakte in die digitale Welt überführen. Zusätzlich können dann durch eine Digitalisierung OCR-Container bereitgestellt werden, die eine Analyse der Dokumente auf Dokumentenfeldebene ermöglichen. Erste Pilotprojekte mit OCR-Arztbriefen für das Erlösmanagement sind sehr vielversprechend, was die Erkennungsraten und den Nutzen für das DRG-Coding anbelangt. 192 S. Müller-Mielitz 9.2 ePA Elektronisch erzeugte Daten (eDaten) füllen die elektronische Patientenakte (ePA). Dabei besteht die ePA aus eDatenschnipseln in einer oder mehrere Datenbanken und Datenschnipseln, die in eDokumenten zusammengeführt worden sind. eDokumente sind – wie auch das Papier – eine Zusammenstellung mehrerer eDaten in einer strukturierten Datei, dem eDokument, das aktuell sehr häufig ein PDF-Dokument ist. Der Übergang von eDaten zu eDokumenten geschieht derzeit oft analog zum Papierausdruck, indem die Daten als PDF-Datei „gedruckt“ werden und dann elektronisch zur Verfügung stehen. Es erfolgt der Einsatz sogenannter „MDM-Printer“. Diese originär erzeugten eFormulare aus dem Krankenhaus-Informationssystem und eDokumente aus IT-Subsystemen sehen ähnlich heterogen aus, wie es aus der Papierwelt bekannt ist. Die elektronische Patientenakte wird in der Literatur in Anlehnung an die 3. Stufe des Medical Records Institute folgendermaßen beschrieben: Unter einer elektronischen Patientenakte (EPA) wird eine elektronisch generierte und basierte Sammlung patientenzentrierter klinischer Informationen, aller Abteilungen/-Stationen einer Einrichtung (einrichtungsgebunden) des Gesundheitswesen über den aktuellen Gesundheitsstatus und über vorangegangene Einrichtungsaufenthalte (Patientenhistorie) eines Patienten verstanden. Die EPA wird durch klinische Entscheidungssysteme unterstützt und ersetzt die medizinisch-pflegerische Papierdokumentation als primäre Informationsquelle (Hübner et al. 2008, S. 41). Es fehlt derzeit aber die technische Interoperabilität und damit der einheitliche Rahmen wie das DIN-A4-Format der Papierwelt, weil neben PDF-Dateien, HL7-Nachrichten und DICOM-Bilder weitere Dateitypen wie CDA die ePA heterogen füllen. Zusätzlich fehlt die semantische Interoperabilität der genutzten Fachausdrücke in den eDokumenten. Diese eDokumente sind in der Regel nur die zuvor erwähnte PDF-Datei ohne Signaturfunktionalität und ohne jegliche technische und semantische Struktur. In dieser Situation stehen eDokumente der heutigen Zeit ähnlich unstrukturiert dar, wie es der OCR-Container des gescannten Dokuments ist. Hier ist ohne Strukturierung und Klassifizierung kein Mehrwert möglich. Ganz im Gegenteil: Während für digitalisierte Dokumente klare Archivregeln und eine revisionssichere Langzeitarchivierung aufgebaut worden sind, fehlt dieses aus unserer Beobachtung in der elektronischen Welt sehr häufig. Ein wichtiger Schritt ist der Übergang zu strukturierten CDA-Dokumenten (Clinical Document Architecture). Dies geschieht derzeit aber ähnlich konfus, wie es auch aus den letzten Jahrzehnten in der Papierwelt offensichtlich wurde. Konkret: Jedes Institut und Krankenhaus erstellt seine eigenen CDA-Dokumente mit entsprechenden heterogenen Metadaten. Ein Austausch dieser CDA-Dokumente über Institutsgrenzen hinweg scheint dadurch schwierig. Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 193 9.3 eFA Mit einer elektronischen Fallakte wird eine fallbezogene und strukturierte Sicht auf alle vorhandenen eDokumente und eDaten in verschiedenen Institutionen gegeben, die zu einem medizinischen Fall eines Patienten erzeugt worden sind. Das eFA-Modell findet Anwendung in regionalen Verbünden oder in Medizinischen Versorgungszentren und ist sehr gut geeignet für eine Einführung in Krankenhauskonzernen oder Krankenhausverbünden. Die beteiligten Ärzte können sich immer aktuell einen Überblick über den bisherigen Behandlungsverlauf verschaffen. Die inhaltliche Verantwortung der Dokumente in der EFA und deren Vollständigkeit obliegt den behandelnden Ärzten. Die Zugriffsrechte erteilt der Patient. Es handelt sich um einen webbasierte Plattform (vgl. eFA Verein 2014). Durch den temporalen Charakter der Akte als Fall, sind Datenschutzthemen elegant gelöst worden (temporäre und zweckorientierte Datenhaltung). Der Ansatz birgt aber bei der Archivierung der Dokumente eine potenzielle Lücke, da für die Archivierung jeder an der eFA beteiligten Akteuren verantwortlich ist. Eine erneute Zusammenführung eines abgeschlossenen Falls ist derzeit schwerlich möglich, da die eFA einen temporären Charakter hat. 9.4 EEPA Die technische Spezifikation der Einrichtungsübergreifenden Elektronischen Patientenakte (EEPA) definiert, wie Primärsysteme Patienteninformationen über die IHE XDS Schnittstellen einrichtungsübergreifend austauschen können. IHE steht für „Integrating the Healthcare Enperprise“ und ist eine international tätige Vereinigung von Anwendern und Industrie. IHE unterstützt die technische Interoperabilität von Leistungserbringern und gibt Herstellern klare Spezifikationen für die IT-Produkte vor. Die Patienteninformationen können dabei in unterschiedlichen Formaten und Granularitäten vorliegen (HL7Deutschland 2015). Die EEPA scheint derzeit nur als Konzept vorzuliegen. 9.5 PEPA Die Persönliche Elektronische Patientenakte verfolgt mit dem patientenorientierten Ansatz die Forderung nach der Selbstbestimmung des Patienten über seine Daten. Anders als die EEPA, die arztzentriert und leistungsträgerbezogen die Zugriffe auf die Akte regelt, setzen die Bauer der PEPA in Heidelberg und in der Rhein-Neckar-Region auf Rechtevergabe durch den Patienten. Damit soll eine optimale Unterstützung der Gesundheitsversorgung mit Fokus auf dem Patienten liegen und einen einfachen Dokumentenaustausch zwischen den Kooperationspartnern ohne Medienbrüche ermöglichen. Der Datenschutzkonforme Ansatz über die Rechtevergabe durch den Patienten scheint für die Autoren ein sicherer Ansatz zu sein. Ob die Gebrauchstauglichkeit für Patienten 194 S. Müller-Mielitz jeden Alters und jeden Erkrankungsgrades praktikabel ist, soll das Projekt „infopat“ ermitteln. In der prototypischen Umsetzung erhoffen sich die Initiatoren eine „Qualitätssteigerung in der Patientenbehandlung“ und eine „Kostensenkung“ (vgl. Heinze et al. 2013). 10 Ausblick Die frei verfügbare KDL von DMI umfasst zusätzlich im Konzept die systematische Darstellung der in einem Krankenhaus vorhandenen Dokumente in einer Dokumentenmatrix (DoM). Als Werkzeuge wurden dazu die Belegstrukturanalyse weiterentwickelt und die Aktenstrukturanalyse als neue Analyseform entworfen. Mithilfe der in Abschn. 8.10 beschriebenen Qualifizierungsmatrix (QaM) werden an die Dokumente Merkmale geknüpft, die beispielsweise zum Thema Vollzähligkeit und Vollständigkeit einen Überblick geben, inwieweit nach den Kriterien eine Patientenakte vollzählig/vollständig ist. Dieses kann als fallbezogener oder kumulierter Report ausgegeben werden. Damit lassen sich bestehende Prozesse verschlanken und verbessern und das Erlösmanagement unterstützen. Für Archivierungsdienstleister ist auch klar, dass in einer digitalen (hybriden) und späteren vollelektronischen Welt die archivierungsrelevanten Merkmale hinterlegt werden müssen. In der dafür aufzubauenden Archivierungsmatrix (ArM) werden die Merkmale für elektronische Signatur, Zeitstempel, Rechtevergabe pro Objekt hinterlegt werden können, was im Archivierungsprozess für die revisionssichere Langzeitarchivierung überprüft werden kann. Damit unterscheiden sich diese Lösungsansätze stark von einer reinen Archivierung, bei der auf Hardware-Komponenten archivierungswürdiges Dokumentenmaterial abgelegt wird und lediglich wiedergefunden werden kann. Die Lösungen sind als echte Unterstützung und als konkrete Prozessverbesserung zu sehen. Die dafür aufzubauende umfassende Medizinische Dokumentenlandkarte (MDL®) wird auf Dokumentenebene alle in den Krankenhäusern vorhandenen Belege durch die konsolidierte Dokumenten Liste verknüpfen und dadurch interoperabel machen. Das ermöglicht Krankenhäusern in Zukunft, Dokumente über die konsolidierte Liste auszutauschen. Basierend auf internationalen Standards wie IHE, LOINC und SNOMED CT kann dann der Austausch strukturiert und zielgerichtet in einer Region innerhalb einer intersektoralen Kooperation erfolgen. Diese Vorarbeiten sind auch relevant für die Nutzung der Instrumente in der Telematikinfrastruktur (TI). Dafür sind der zuvor beschriebene Dialog und Konsens notwendig. Die zu lösende Detailfrage wird bei einer umfassenden konsolidierten Lösung die sein, welche eBilder zur Akte hinzugefügt werden müssen. Erst eine konsolidierte Akte mit Dokumenten und Bildern kann als umfassende konsolidierte Akte angesehen werden. Die moderne bildgebende Diagnostik produziert große Mengen an Daten, was einen massiven Einfluss auf die Performance in der Bereitstellung der Bilder und auch negative Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft 195 Auswirkungen auf das Volumen der zu archivierenden Datenmengen hat. Ein Lösungsansatz für die Archivierung kann die Umsetzung von Compliance-Richtlinien sein, die festlegen, welches Material archiviert werden soll (als organisatorischer Ansatz), eine andere Lösung wird in der qualifizierten Langzeitarchivierung zu sehen sein, bei der nachvollziehbare Regeln erstellt werden (Umsetzung der Compliance), auf deren Basis eine automatische Selektion der Daten erfolgt. Sinnvoll wäre ein Ansatz, der strukturiert und nachvollziehbar die Menge an Daten (Messwerte und Bilder) regelt. Dieser Ansatz führt am Anfang der Behandlungskette zur Umsetzung von Behandlungsleitlinien und der ständigen Überprüfung an Stellen im Behandlungs- und im Archivierungsprozess. Derzeit ist eine Umsetzung kaum möglich, da die bestehende technische Heterogenität von eDaten im Krankenhaus eine systematisierte Zusammenführung in eDokumenten unmöglich macht. Dadurch bleibt die Patientenakte lückenhaft. Als erster Lösungsansatz können Archivierungsdienstleister die Übernahme vorhandener eDokumente anbieten, die dann zu den digitalisierten Dokumenten im Langzeitarchiv hinzugefügt werden. Die Transformation von eDaten in eDokumente wird eine Herausforderung bleiben. Literatur BSI, Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (2012) BSI Technische Richtlinie 03138 – Ersetzendes Scannen. http://www.authentidate.de/fileadmin/pdf/BSI_TR_RESISCAN_03138.pdf. Zugegriffen: 25. Jan. 2016 Bundesgesetzblatt (2012) Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. http://www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/Laufende_Verfahren/P/Patientenrechte/Entwurf_eines_Gesetzes_zur_Verbesserung_ der_Rechte_von_Patientinnen_und_Patienten_Drucksache_1710488.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 CCESigG (2009) Braunschweiger Regeln zur Archivierung mit elektronischen Signaturen im Gesundheitswesen. http://www.ccesigg.de/arbeitsgruppen/dokumente.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 CCESigG (2013) Handlungsleitfaden AKG/CCESigG Patienteneinwilligung zur Datenverarbeitung und Behandlungseinwilligung. http://www.ccesigg.de/index.php?eID=tx_ nawsecuredl&u=0&file=fileadmin/Dokumente/Veranstaltungen/EISS/Ergebnisse/ Handlungsleitfaden_WS_AKG_CCESigG_V1.0.pdf&t=1422790513&hash=4e32ca8dd45e69 fdea68bc0a04953b91. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 DKG, Deutsche Krankenhausgesellschaft (2011) Aktualisierter DKG-Leitfaden Aufbewahrungspflichten und -fristen von Dokumenten im Krankenhaus. http://www.dmi.de/fileadmin/user_ upload/PDF2012/Wissen/DKG_2011.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 eFA Verein (2014) Die Elektronische FallAkte. http://www.fallakte.de/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 GKV-Spitzenverband (2014) Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Absatz 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV) gemäß § 17c Absatz 2 KHG zwischen dem GKV-Spitzenverband, Berlin und der Deutschen Krankenhausgesellschaft e.V., Berlin. http:// www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/krankenhaeuser/abrechnung/abrechnungspruefung/KH_2014_08_04_PruefvV.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 196 S. Müller-Mielitz Heinze O, Brandner R, Bergh B (2013) Aufbau einer einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakte in der Rhein-Neckar-Region. In: Jäckel A (Hrsg) Telemedizinführer Deutschland, 2009. Medinzin Forum AG, Bad Nauheim, S 154–156 HL7-Deutschland (2015) Integrationsstufen. http://wiki.hl7.de/index.php/cdaab2:Integrationsstufen. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Hübner U et al (2008) IT-Report Gesundheitswesen Schwerpunkt eBusiness Schwerpunkt Pflegeinformationssysteme Schriftenreihe des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr Befragung der bundesdeutschen Krankenhäuser. http://xcnet.de/projekte/xnetcreate.de_v2/pics/kunden/dateimanager/5539/FH_Osnabrueck_IT-Report_08_Finalansicht-low. pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Hübner U et al (2012) IT-Report Gesundheitswesen – Schwerpunkt Informationstechnologie im Krankenhaus. Hannover, Schriftenreihe des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr Odenthal R (2010) Digitale Archivierung: Grundlagen, Techniken, Vorgehen in Projekten. 2. überarb. u. erw. Aufl. 2011. Datakontext Rossnagel A, Schmücker P (2005) Beweiskräftige elektronische Archivierung – Bieten elektronische Signaturen Rechtssicherheit?: Ergebnisse des Forschungsprojekts „ArchiSig – … digital signierter Dokumente“, Aufl. 1. Economica, Heidelberg Über den Autor Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Erschließung von Patientendaten – ein Überblick Stefan Müller-Mielitz, Beatrice Moreno und Mathias Petri 1 Hintergrund Wie eine aktuelle BARC-Studie (BARC-Institut 2014) zeigt, ist „Datenvisualisierung das am häufigsten eingesetzte Analyseverfahren für Big Data, gefolgt von Real-Time Reporting und Dashboards.“ Standardwerkzeuge für BI (Business Intelligence) und Datenmanagement werden durch spezielle Big-Data-Datenmanagement- und Big-DataAnalytics-Lösungen ergänzt. Derzeit werden überwiegend Standardwerkzeuge, etwa Standard-Relationale-Datenbank oder Standard-BI-Werkzeuge für Big-Data-Analysen verwendet. 2 Motivation Für Fragestellungen im medizinischen Kontext mit Big-Data-Relevanz stehen derzeit noch keine geeigneten Werkzeuge bereit. Komplexe Versorgungsfelder im Gesundheitswesen sind dadurch charakterisiert, dass eine große Menge von strukturierten und unstrukturierten medizinisch-pflegerischen Daten erzeugt wird. Diese Daten sind nur mit S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de B. Moreno  Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin, Deutschland E-Mail: moreno@htw-berlin.de M. Petri  StoneOne AG, Berlin, Deutschland E-Mail: Mathias.Petri@stoneone.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_12 197 198 S. Müller-Mielitz et al. erheblichem Aufwand zu verbinden, um sie dann als Basis für medizinische Entscheidungen zu nutzen. Vor diesem Hintergrund können die folgenden vier Kernanforderungen für das Management von Big Data abgeleitet werden: 1. Umgang mit großen, heterogenen Datenmengen 2. Komplexe Datenanalysealgorithmen 3. Interaktive, oftmals visuell unterstützte Datenanalyse 4. Nachvollziehbare Datenanalyse Um diese Herausforderungen aufzulösen, müssen skalierbare, einfach zu bedienende Datenanalysesysteme und neue Algorithmen bzw. Paradigmen zur Datenanalyse entwickelt werden, die die verschiedenen Aspekte und Anforderungen gleichzeitig adressieren. Diese Herausforderungen werden von existierenden Datenmanagementsystemen bisher nicht in ausreichendem Maße erreicht. Die neue Art der Datenkomplexität wird durch Anforderungen an Datenvolumen (Volume), Datenrate (Velocity), Datenheterogenität (Variety) und Datenqualität (Veracity) charakterisiert. Diese Anforderungen können von bisherigen und im Handel befindlichen Datenbanksystemen nicht abgedeckt werden. So erfordert die Analyse von Big Data die Speicherung und Verarbeitung von riesigen Datenmengen im Terabyte- oder Petabyte-Bereich. Der interaktive und iterative Datenanalyseprozess erfordert die Bewältigung von drei technischen Herausforderungen: 1. Anwender müssen das gewünschte Ergebnis der Anfragen in einer Hochsprache beschreiben können, 2. die Technologie muss iterative Datenströme verarbeiten und 3. die Technologie muss unbekannte Programme dritter Anbieter, sogenannte benutzerdefinierte Funktionen (user-defined functions, UDFs) ausreichend schnell verarbeiten können. Diese neuen Herausforderungen durch Big Data werden durch etablierte Systeme aktuell nicht abgedeckt. Durch entsprechende Neuentwicklungen im deutschsprachigen Raum besteht die Chance, durch innovative Technologien das im klassischen Datenbankbereich vorhandene De-facto-Monopol US-amerikanischer Anbieter zu durchbrechen. 3 Gegenstand Die Überführung von Big Data zu Smart Data spiegelt sicherlich einen aktuellen Trend wider (Smart Cities, Smart Home). Beim Smart-Data-Ansatz treten die qualitativen Aspekte der Big-Data-Analyse in den Vordergrund. Das gilt insbesondere für Patientendaten, deren Entstehung, Verarbeitung, Aggregierung und spätere Analyse eine Erschließung von Patientendaten – ein Überblick 199 besondere Herausforderung für Daten- und Dokumentenprofis, Semantiker und technische Plattformbetreiber ist. 4 Erste Anwendungen Big Data im Gesundheitswesen ist kein neues Thema. Unter diesem Namen werden auch frühere Forschungsprojekte die sogenannten „Grid-Projekte“ durchgeführt, die bereits um 2005 gefördert wurden (vgl. http://www.medigrid.de) (Sax et al. 2007). Spätere Projekte wie „Cloud4Health“, gehen nun in die Endphase (vgl. http://cloud4health. de/). Es gibt erste Ansätze zum „Secondary Use“ von elektronischen Patientendaten aus dem KIS und Data-Warehouse. Es wird versucht originär elektronische Daten aufzuarbeiten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dazu wird ein Data-Warehouse-Ansatz genutzt (Prokosch und Ganslandt 2009). 5 Anwendung Patientenrekrutierung Die Patientenrekrutierung für klinische Studien aus dem KIS heraus ist eine wichtige Nutzungsmöglichkeit der skizzierten Methoden im Feld „Secondary Use“. Die Idee hierbei ist, die aufwendige Suche nach Patienten für klinische Studien zu begrenzen und auch bei der Vorhersage der Größe von möglichen Patientenkohorten für bestimmte Studien genauere Ergebnisse zu erzielen (Dugas 2012). Die gewonnenen Ergebnisse zeigen folgende ungelöste Probleme auf: Erstens sind aktuell verwendete Einschlusskriterien zu komplex und teilweise widersprüchlich, als dass sie in einer Logik für eine Suchroutine im KIS eingesetzt werden können. Zweitens sind die vorhandenen Items für bestimmte Werte in den KIS-Datenbanken nicht oder nicht vollständig vorhanden. Und drittens scheitern Überlegungen, KIS-Daten aus der Versorgung für klinische Studien nutzen zu können, daran, dass die erforderlichen Werte aus der Versorgung für klinische Studien in der benötigten Tiefe nicht erhoben werden und fehlen (Dugas 2010). 6 Anwendung Versorgungsforschung Für die Versorgungsforschung ist der Nutzen von Smart Data evident. Die Versorgungsforschung in Deutschland bezieht ihr Datengerüst für die Beantwortung zentraler Versorgungsfragen zu einem großen Teil aus den Daten der gesetzlichen Krankenversicherung. Seit Februar 2014 ist der Bezug von Daten für Versorgungsforscher durch das DIMDI sehr einfach gelöst. Bei der Nutzung dieser Datensätze werden jedoch schnell die Grenzen für die Auswertung offenbar. Es handelt sich bei den vorliegenden Daten um die Abrechnungsdaten der Krankenhäuser für ihre stationäre Versorgung (nach § 301 SGB V 200 S. Müller-Mielitz et al. und § 21 Datensatz des Krankenhausentgeltgesetzes). Demgegenüber stehen die Potenziale in der Nutzung von Smart Medical Data und die Gewinnung von Erkenntnissen, und deren Implementierung in Leitlinien wäre die sich anschließende Konsequenz (Moreno und Harder 2013) zur Verbesserung der Qualität in der Versorgung. Eine durch Smart-Data-Technologien breiter angelegte Versorgungsforschung muss auf den in den Krankenhäusern und auch bei anderen Gesundheitsleistungsanbietern vorhandenen Primärdaten aufgebaut werden. Allerdings werden in den Krankenhäusern die Patientendaten noch immer überwiegend papierbasiert dokumentiert, das heißt, die Dokumentation erfolgt durch die unstrukturierte Ablage handschriftlicher Belege. Diese Form der Dokumentation entzieht sich einer effektiven und effizienten Auswertung gänzlich. Sind Papierformulare strukturiert vorhanden, ist mittels moderner OCR-Erkennung eine Auswertung und Weiterverarbeitung gut möglich. Ein weiteres Problem in deutschen Krankenhäusern entsteht dadurch, dass neben papierbasierten Dokumenten auch elektronische Dokumente vorhanden sind, die eine vollständige und inhaltlich konsolidierte Akte derzeit noch nicht ermöglichen. Diese beiden Aktenteile – bestehend aus pDokumenten und eDokumenten – müssen durch die Digitalisierung von Papierbelegen und die Zusammenführung von originär elektronischen Dokumenten in einer konsolidierten digitalen Akte zusammengeführt werden (Müller-Mielitz 2013). Eine technisch konsolidierte Akte kann nun inhaltlich erschlossen werden und dient als Datenlieferant für einen Smart-Medical-Datenpool im Krankenhaus. So können anonymisierte Daten auch für externe Datennutzer bereitgestellt werden. 7 Zwischenfazit Die sekundäre Nutzung von Primär-Daten aus dem Krankenhausumfeld steht erst am Anfang einer breiten Anwendung. Die Potenziale werden noch nicht erkannt. Aktuell bestimmt die Diskussion zum Datenschutz von primär erhobenen Daten die sekundäre Nutzung von Daten, die sogenannte „Zweckbestimmung“ der Datenerhebung. Eine weitere Problemstellung ist, dass Akten vornehmlich in Papierform vorhanden sind und eine intelligente Digitalisierung (Klassifizierung, Indexierung, OCR-Erkennung) notwendig ist. Der Aufbau elektronischer und semantisch strukturierter Aktenteile ist erst in der Anfangsphase. Der Prozess ist bisher nur teilweise elektronisch technisch strukturiert, kaum semantisch erschlossen und ist daher lediglich unvollständig umgesetzt. Werden nun die Fehler aus der Papierwelt übernommen? Die fehlende Strukturierung der Textbausteine und Heterogenität der Papierformulare sind hier die bekanntesten Fehler. Dieser Punkt führt die Diskussion zu den Fragen, ob strukturierte „Auswahlfelder“ den medizinerfreundlichen „Freitextfeldern“ vorzuziehen sind und wie strukturiert Patientendaten künftig erfasst werden müssen. Dies vor dem Hintergrund, dass künstliche Intelligenz und semantische Analysewerkzeuge weiter verbessert werden müssen. Erschließung von Patientendaten – ein Überblick 201 8 Wissensschatz Patientenakte Aus heutiger Sicht lässt sich dieser vorhandene „Wissensschatz“ der dokumentierten, archivierten Patientendaten nicht ausreichend nutzen, denn es bestehen nur unzureichende Möglichkeiten, um auf diese vielfältigen Daten zurückzugreifen und Informationen zu generieren, diese recherchierbar zu machen und effizient in unterschiedlichen Medien zu präsentieren. Ein Grund dafür sind die parallel existierenden analogen Papierdokumente (pDok) und elektronischen Informationen in Krankenhaus-Informationssystemen (eDat). Im Verlauf der Dokumentation müssen diese hybriden Bereiche (analog/ elektronisch) zusammengeführt werden. Das konnte bisher im Behandlungskontext nicht realisiert werden, aktuell ist die Zusammenführung lediglich im Rahmen der Dokumentenarchivierung realisierbar. Es ist allerdings aus praktischer und wissenschaftlicher Sicht wünschenswert, diese Informationen konsolidiert und strukturiert aufbereitet zur Erkenntnisgewinnung für die Versorgungspraxis heranzuziehen und einen Rückfluss von Daten und Wissen in die Organisation zu ermöglichen. Dadurch können verschiedene Bereiche leichter analysiert und verbessert werden, wie z. B. die medizinische Arbeit, die Standardisierung und Zertifizierung von Maßnahmen sowie die Qualitätssicherung, aber auch die klinische Forschung und weitere Aspekte (Risiko, Sicherheit, technische Verbesserung). Die strukturelle Auszeichnung der inhaltlichen (semantischen) Bedeutung von Informationseinheiten ist ein wichtiger Bestandteil semantischer Beschreibung von Informationen. Ebenso wichtig ist die Erstellung von Klassifikationsschemata (Taxonomien), in die die einzelnen Informationen eingeordnet werden können. Unter Anwendung der beschriebenen Basistechnologie muss zunächst eine feldspezifische Informationsextraktion durchgeführt werden. In Abhängigkeit der, in den Dokumenten vorgefundenen Domäne (spezifische Versorgungskonstellationen), wird das semantische Netz erweitert. Optional findet sich auch eine Bestätigung der abgebildeten Relationen. In einem weiteren Schritt findet der automatisierte bzw. semiformalisierte Extraktionsprozess statt. Zur Informationsextraktion könnte man sicher einiges sagen: Die Linguistik liefert bereits eine recht gute Satzerkennung, diese muss in einen medizinischen Kontext (Ontologie) eingebettet werden. Auf diese Art lassen sich aus Patientenakten auch komplexe verteilte Informationen extrahieren. Stehen die darin enthaltenen Informationen weitgehend (>90–95 %) zur Verfügung, so können nun übergreifende Analysen auch auf große Datenbestände beispielsweise mit Hilfe von schemafreien Datenbanken in Verbindung mit Hadoop (Skalierungstechnik auf multiple Rechner) implementiert werden, um auch Fragestellungen auf größere Patientengruppen mit entsprechend neuen Erkenntnissen umsetzen zu können. Durch diesen strukturierten Prozess kann abschließend die Datenqualität, insbesondere die Qualitätsdimension der inhaltlichen Validität, abgeprüft werden. Das heißt, es werden die korrekten Sinnzusammenhänge im analysierten Text ermittelt. Einen wesentlichen Beitrag leisten hier Methoden aus der Computerlinguistik. Die hierbei 202 S. Müller-Mielitz et al. verwendeten Methoden sind auf der Grundlage von Expertenwissen in der Lage, mittels der Methoden der Informationsextraktion diese auf die neuen Anwendungsfelder anzupassen. Die fachlichen Anforderungen zur semantischen Analyse können ebenfalls erfüllt werden. Zusätzlich sollten die interdisziplinären Teams – die Daten zu Informationen aufbereiten – auch medizinische Fachexpertise vorhalten, um Kontextzusammenhänge der ermittelten Inhalte zu jedem Zeitpunkt bis zur Bildung von Informationsobjekten bzw. von Wissensunits validieren zu können und auch inhaltliche Korrekturen durchzuführen. Die semantische Darstellung der Analyseergebnisse und die Bereitstellung von intelligenten Templates sind für die effektive Analyse von medizinischem Content notwendig (Eickhoff et al. 2013). 9 Zwischenfazit Die Überlegungen und erste Pilot-Anwendungen zwischen OCR-Text und semantischer Wissenserschließung lassen vermuten, dass durch die technischen Verfahren und zusätzliche manuellen Dienstleistung die Potenziale aus den Patientendaten genutzt werden können. Wie effizient und auch wie effektiv die Datenextraktionen sind, müssen Wirtschaftlichkeitsanalysen zeigen, die derzeit in einem ersten Rahmenwerk für E-Health-Ökonomie entwickelt werden. Fragen zur Qualität der genutzten Daten würden sich anschließen. 10 Datenschutzaspekte Die Aspekte des Datenschutzes sind für die krankenhausinterne Nutzung, wenn also das Krankenhaus Datenlieferant und Datennutzer gleichzeitig ist, zu klären. Wenn auch externe Datennutzer Zugriff auf Teile der anonymisierten Daten der Patientenakten haben, werden die bestehenden Konzepte erneut zu überdenken und zu erweitern sein, mit dem Ziel, die Datenerfassung zukünftig technisch automatisiert umzusetzen. Diese organisatorisch und technisch anspruchsvollen Konzepte müssen mit Datenschützern auf nationaler Ebene geklärt werden. Es sollte berücksichtigt werden, Daten Regionen übergreifend und über Ländergrenzen hinaus auswertbar zu machen, um diese für Fragen der Public Health zu nutzen. Der hierfür notwendige Konvergenzprozess von Technik, Organisation und Willensbildung wird noch länger andauern. 11 Ausblick Die dargestellte Grundidee ist, aus digitalisierten Patientenakten einen Mehrwert für die zuvor beschriebenen Anwendungsfälle zu generieren. Dabei spielen der Datenschutz, der sichere Zugang und Transfer, die Datenverfügbarkeit, Heterogenität der Daten, Erschließung von Patientendaten – ein Überblick 203 Skalierbarkeit und intelligente OCR-Erkennung eine wichtige Rolle. Die Einbeziehung des Themas der „Langzeitarchivierung“ ist ebenfalls relevant für Patientenakten und trägt dem Gedanken eines „Dokumentenlebenszyklus“ Rechnung. Aus dieser Perspektive sind fragmentierte Patientendaten in elektronischer Form oder in Papierform eines der Grundprobleme im Gesundheitswesen. Die Überführung papiergebundener Dokumente allein durch einen Scanprozess in die digitalisierte Form ist im Behandlungsprozess suboptimal, denn dadurch entstehen nicht nur Verluste in der Effektivität der Behandlung, sondern auch in der Effizienz insbesondere in der Behandlung (Prozesseffizienz). Das bedeutet, dass eine zunehmende Elektronisierung den Krankenhäusern prozessorale Einsparungspotenziale bieten kann, nach der Behandlung und nach der Entlassung durch ein effektives und effizientes Erlösmanagement vielfältige Möglichkeiten entstehen. Voraussetzung dafür ist die Digitalisierung der Patientenakten. Viele Akteure (vgl. Abb. 1) können dann an der digitalisierten Patientenakte teilhaben. Das sind die Medizincontroller, MDK-Dienste im Erlösprozess und Ärzte und Pfleger bei Wiederkehrern, die auf digitalisierte Akten zugreifen. Bisherige Ansätze aus der Consumer-Welt werden derzeit realisiert (z. B. iHealth, runtastic). Die Problematik bei der Datenerhebung durch diese Verfahren ist die „Qualität der Daten“. Dieses ist in Forschungsprojekten meist ein offener Punkt und steht einer intensiven Nutzung durch Versorgungsspezialisten derzeit noch entgegen. Dieses Problem der Validierung der Daten muss gelöst werden. Weiterhin müssen innovative Mehrwerte einer elektronischen und digitalisierten Patientenakte Die konsolidierte Patientenakte als Datenlieferant für Mehrwertdienste (Smart Data) eDat ca. 30 % elektronisch erzeugte Dokumente (eDok) ca. 70 % papiergebundene Dokumente (pDok) werden digitalisiert (dDok) und in das Langzeitarchiv überführt Krankenhausinterne Nutzer: Medizincontroller, IT-Leitung, KH-Leitung, Qualitätsmanagement, Risikomanagement, klinische Forscher, Versorgungs-forscher Krankenhausexterne Nutzer: Gesundheitsämter, Statistiker, Epidemiologen, Aufbau von Registern, Medizintechnik-Hersteller, Pharmaindustrie Nutzer Patient? Abb. 1  Nutzer einer digitalisierten und elektronischen Patientenakte (DMI) 204 S. Müller-Mielitz et al. Geschäftsmodelle für die Sekundärnutzung von Daten gefunden werden. Auch hier sollte weiterhin an klaren und realisierbaren Lösungen in neuen Forschungsprojekten gearbeitet werden und die erarbeiteten Ansätze erprobt werden. Literatur BARC-Institut (2014) BARC research study: big data analytics. http://de.slideshare.net/BlueYonderAnalytics/barc-studie-big-data-analytics-2014. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Dugas, M (2010) Patientenrekrutierung und Studiendokumentation im zentralen KrankenhausInformationssystem. http://zks.uni-koeln.de/files/Vortrag_DugasMuenster_2010-05-25.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Dugas, M (2012) KIS-basierte Unterstützung der Patientenrekrutierung in klinischen Studien. http://www.tmf-ev.de/Desktopmodules/Bring2Mind/DMX/Download.aspx?EntryId=15802&P ortalId=0. Zugegriffen: 5. Jan. 2015 Eickhoff F et al. (2013) Automatische Codierung zusatzentgeltrelevanter Leistungen aus klinischen Freitexten. Lübeck – GMDS Jahrestagung. German Medical Science GMS Publishing House, Düsseldorf Moreno B, Harder E (2013) Neue Wege der IT-gestützten Implementierung Klinischer Leitlinien. Prof Process 2013(01):38–39 Müller-Mielitz S (2013) Die eBelegstrukturanalyse als Basis eines Papiervermeidungskonzeptes. Forum Medizin_Dokumentation Medizin_Informatik 2013(4):135–136 Prokosch HU, Ganslandt T (2009) Perspectives for medical informatics. Methods Inf Med 2009(1):38–44 Sax U et al. (2007) Auf dem Weg zur individualisierten Medizin – Grid-basierte Services für die EPA der Zukunft. Telemed Telematik im Gesundheitswesen (Internet-Ausgabe). http://repub. eur.nl/pub/17904/. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Über die Autoren Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Erschließung von Patientendaten – ein Überblick 205 Beatrice Moreno  Dr. med. Beatrice Moreno MPH, M.Sc. ist in der Forschung und Entwicklung tätig und zählt bei der semantischen Analyse von medizinischen Texten zu einer Expertin im Gesundheitswesen. Sie engagiert sich für die die Verbesserung der transnationalen Mobilität und versucht, diese in Workshops praxisnah darzustellen. Sie ist Ärztin und Gesundheitsökonomin mit langjähriger Erfahrung in der Medizinischen Informatik. Seit 2004 Akademische Lehrtätigkeit im Zusatzstudiengang Public Health an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt Health Technology Assessment sowie verschiedene Lehraufträge im Themenfeld der Gesundheitsökonomie und Datenmanagement an der BSPH der Charité, Apollon-Hochschule, Universität von Sevilla und an der Université Paris Nord. Kontakt: moreno@htw-berlin.de Dr. Mathias Petri Vorstand/CSO der StoneOne AG. Im Siemens-Konzern verantwortete er den Bereich Vertrieb und Marketing der Product Unit DMS (Document Management Systems). Er ist Sprecher des Forums „Cloud Computing & Big Data“ im SIBB Verband der Software-, Informationsund Kommunikations-Industrie in Berlin und Brandenburg. Seit Februar 2010 ist er stellvertretender Vorstandsvorsitzender des SIBB e. V. und Mit-Gründer und Vorstand des Cloud-EcoSystem e. V. – einem überregionalen Netzwerk für Cloud Business. Kontakt: Mathias.Petri@stoneone.de Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? Josef Schepers und Sebastian Semler 1 Einleitung Die zunehmende Digitalisierung des Gesundheitssystems, große verfügbare Datenmengen je Fall und für viele Fälle, eine ungeheure Vielfalt an Datenformen sowie immer höhere Verarbeitungsgeschwindigkeiten wirken sich auch auf die medizinische Forschung aus und eröffnen neue Möglichkeiten. Dies lässt eine glückliche Allianz von Fortschritten in der Informationstechnologie, die teilweise unter dem Schlagwort Big Data firmieren, mit der medizinischen Forschung erwarten, die diese Technologien gut einsetzen kann. Nachvollziehbar ist aber auch die Beobachtung des Direktors des Cochrane-Zentrums am Universitätsklinikum Freiburg, Gerd Antes, der einen Widerspruch zwischen der neuen Welt von Big Data mit dem unkontrollierten Zugriff auf beliebige, zufällig vorhandene Daten und der alten Welt der Wissenschaftlichkeit mit sorgfältig geplantem, strukturiertem Datenmanagement wahrnimmt. Er hat beobachtet, dass in der neuen Welt der Daten nur nach Korrelationen gesucht werde, ohne die Ursächlichkeit, die Kausalität, zu hinterfragen und zu prüfen. Diese andere Gegenüberstellung medizinischer Forschung und „Big Data“ zeigt auf, dass eine Synthese aus neuen und alten Methoden nicht von alleine zur Erfolgsgeschichte wird. Und sie lässt erahnen, dass das Abwägen von Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken der neuen Technologien und Methoden in J. Schepers (*) · S. Semler  TMF — Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland E-Mail: josef.schepers@hcmb.org S. Semler E-Mail: Sebastian.Semler@tmf-ev.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_13 207 208 J. Schepers und S. Semler unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses und bei unterschiedlichen Fragestellungen durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Wegscheider und Koch-Gromus haben in ihrem Beitrag für das Big-Data-Heft des Bundesgesundheitsblattes im August 2015 für die Versorgungsforschung herausgestellt, „dass Big Data durchaus das Potenzial hat, der Versorgungsforschung bei klassischen Aufgaben wie Datenverknüpfung, Abbildung von Versorgungspfaden, schnellem Zugriff auf aktuelle Versorgungsdaten oder auf Daten zum Inanspruchnahmeverhalten sowie zur Prädiktion und zur Hypothesengenerierung hilfreich zur Seite zu stehen.“ Daher trägt ihr Beitrag auch den Titel: „Die Versorgungsforschung als möglicher Profiteur von Big Data“. Voraussetzung dafür sei „die auf vertrauensvoller Gegenseitigkeit beruhende Vernetzung von unterschiedlichen medizinischen und nichtmedizinischen Datenquellen auf der Basis gesetzlicher Regelungen des Datenzugangs und Datenschutzes“ (Wegscheider und Koch-Gromus 2015). Die Nutzung von Big-Data-Technologien und -Methoden in der medizinischen Forschung erfordert in diesem Sinne die Würdigung der besonderen Sensibilität der Daten und die angemessene Einbettung in das für verschiedene Fragestellungen auf einem soliden theoretischen Fundament aufbauend entwickelte, breite methodische Instrumentarium. Antes betont: „Kurzfristig mögen […] leicht gewonnene Erkenntnisse und ‚Innovationen‘ beeindrucken, langfristig gibt es jedoch zu rigiden, wissenschaftlich gewonnenen Grundlagen – sowohl aus der Qualitäts- wie auch aus der Ökonomieperspektive – keine Alternative“ (Antes 2015). Beim Blick auf die konkrete Forschung stellt Antes dann fest: „Wo Beispiele genannt werden, sind es meistens sehr große Datenkörper (wie etwa von der Nationalen Kohorte). Diese sind jedoch in der Regel gut strukturiert und damit zwar aufwändig, aber klassisch erfasst und auswertbar – womit sie nicht unter Big Data fallen“ (Antes 2015). Es scheint also sinnvoll zu sein, ein krudes Big-Data-Processing im engeren Sinne von einem domestizierten Big Data im weiteren Sinne für die medizinische Forschung zu unterscheiden. Im kruden Big Data genügt es, Korrelationen zu finden, um darauf Umsatzerfolge aufzubauen. In den Branchen, in denen Big Data seine schöpferischen Zerstörungskräfte entfaltet hat, werden nicht besonders geschützte Daten genutzt und es werden keine hohen Ansprüche an Präzision und Prädiktionswert gestellt, solange sie für eine Steigerung des Umsatzes genügen: „Andere, die dieses Buch gekauft haben, haben auch folgendes gekauft…“ Im vorliegenden Beitrag über „domestiziertes Big Data“ in der medizinischen Forschung unterscheiden wir Projekte und Fragestellungen, in denen einfache Häufigkeitsbeschreibungen und das Aufzeigen von Korrelationen hinreichend sind, von solchen, in denen mit Blick auf zukünftige Interventionen tatsächlich Kausalitäten ermittelt werden müssen. Damit wollen wir die Forderung von Antes nach einem seriösen Umgang mit den Erwartungen an die Auswertungen von großen Datenmengen unterstützen. Unter anderem angesichts der Annahmen über jährlich etwa 20.000 vermeidbare Arzneimittel-Todesfälle (Süddeutsche Zeitung 2010) und über 10.000 Sterbefälle durch Krankenhausinfektionen (Charité Portal − Institut für Hygiene und Umweltmedizin 2015) sowie großer Hoffnungen im noch immer andauernden Kampf gegen den Krebs Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 209 kann nicht unterlassen werden zu prüfen, welche Beiträge zur Risikominderung große Datenmengen leisten können. In Abschn. 2 stellen wir daher unter dem Titel „Volume, Variety, Velocity, Veracity, Viability, Value” das Big-Data-Paradigma und den Streit darüber beziehungsweise die Notwendigkeit der Abwägung in der medizinischen Forschung näher vor. Abschn. 3 stellt mit Blick auf die Big-Data-Kriterien Beispiele vor, in denen medizinische Forschung auf der Basis von vorhandenen Daten durchgeführt wird. Abschn. 4. nennt große Datensammlungen, die extra für die Forschung aufgebaut werden. Abschn. 5 unterstreicht die Notwendigkeit der Vielfalt und der Differenzierung. 2 Volume, Variety, Velocity, Veracity, Viability, Value 2.1 Die große Vermessung und Verwertung der Welt Big Data bezeichnet den Einsatz großer Datenmengen aus vielfältigen Quellen mit einer hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit zur Erzeugung wirtschaftlichen Nutzens. Big-Data-Technologien werden in sehr vielen Bereichen eingesetzt und können zu einem hohen Nutzen führen – für Unternehmen, für Verbraucher und die Gesellschaft insgesamt. Diese Definition im Positionspapier „Leitlinien für den Big-Data-Einsatz“ des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitkom) enthält die mittlerweile klassischen drei V von Big Data: Volume (V1), Variety (V2) und Velocity (V3). Nach den ersten Publikationen der Gartner-Group mit diesen drei V zu Beginn des Millenniums wurden weitere Vs bei der Preisung der Vermessung und Verwertung der Welt durch Big Data ins Spiel gebracht. Durch die Einbeziehung des wirtschaftlichen Nutzens wird auch in der Bitkom-Definition der Bezug zu ergänzenden Vs wie Viability/Brauchbarkeit (V4), Veracity/Wirklichkeit (V5) und Value/Wertschöpfung (V6) berücksichtigt. Die quasi-definitorischen „3 Vs“ zu Big Data wurden von Doug Laney, Analyst bei META Group (später von Gartner übernommen), 2001 eingeführt. Anfang dieses Jahrzehnts wurden die Konzepte von verschiedenen Analysten und Autoren ausgedehnt und weitere „Vs“ hinzugefügt: neben den sechs häufigst genannten (siehe Haupttext) weiterhin „Volatility“, „Variability“, „Validity“, „Virality“, „Vagueness“, „Visualization“, „Vocabulary“ und „Venue“. Diese Erweiterungen sind sehr umstritten, als sie zwar Herausforderungen an Datenverarbeitungsinfrastrukturen adressieren, aber nicht mehr spezifisch auf Big-Data-Technologie zutreffen. Auch sind diese weiteren „V“-Kategorien zunehmend schwer untereinander abzugrenzen, weswegen zuweilen die Suche nach weiteren „Vs“ abgelehnt und eine Rückbesinnung auf die originären „3 Vs“ gefordert wird (Grimes 2013). 210 J. Schepers und S. Semler Gleichwohl wichtiger als die ersten „drei großen Vs“ von Big Data – namentlich V1 für Volume, V2 für Variety und V3 für Velocity – sind in der Medizin und im Gesundheitssystem das vierte und fünfte V – V4 für Veracity (Richtigkeit, Wahrhaftigkeit, auch Validität) und V5 für Viability (Brauchbarkeit). V6 steht für Value – Wertschöpfung, wobei dies in der Gesundheitsökonomie immer eine Medaille mit zwei Seiten ist. Die eine Seite der Medaille, die Vergütung, sollte zur anderen, dem Nutzen, passen und diesem folgen. Deswegen bedürfen die Erwartungen an Big-Data-Processing und Data Mining beim Einsatz von Ressourcen für Gesundheit des genaueren Hinsehens. Die Deutung, dass die Welt derzeit eine „Digitale Revolution“ (Oettinger 2015) erlebt, die mit den großen Veränderungen verglichen werden kann, die durch den Buchdruck im 16. Jahrhundert, die Dampfmaschine und Eisenbahn im 18. und 19. Jahrhundert sowie Auto und Computer im 20. Jahrhundert ausgelöst wurden, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Es ist imposant, dass ein paar Firmen aus dem kalifornischen Silicon Valley, die es erst seit wenigen Jahren gibt, einzeln einen höheren Börsenwert ausweisen als die dreißig größten deutschen, im DAX notierten Unternehmen zusammen. Dabei spielen die Kursstürze, die der VW- (Spiegel Online 2002); und der Bayer-Konzern (Hulverscheidt 2015) wegen im Labor ungenau erfasster Nebenwirkungsangaben (hier Stickoxide, da Herzinfarkte) in Verbindung mit fehlender Vigilanz in der Feldüberwachung verkraften mussten, noch gar keine Rolle. Bemerkenswert ist, dass die digital revolutionären Unternehmen Google, Amazon, Yahoo und wohl auch Apple ihre Marktwerte (Value) nicht durch kontinuierliche Verbesserungen ihrer Prozesse mittels IT-Unterstützung erreicht haben, sondern – wie Antes bemerkt – durch Big-Data-Processing mit für den Umsatz richtigen Entscheidungen. Tatsächlich spielt das Wissen über Kundeninteressen für den Big-Data-Erfolg eine große Rolle: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“ Dass die Präzision dieses Wissens eher einer Schrotflinte als einem Skalpell gleicht, hat dem (monetären) Erfolg der Unternehmen in ihren Branchen keinen Abbruch getan. Eine Studie von McKinsey sieht das Gesundheitssystem in den USA als eine der fünf Branchen mit dem größten Potenzial für Big-Data-Processing. Sie kommt zu dem Ergebnis „Although the health-care industry has lagged behind […] in the use of big data […] it could soon catch up. First movers […] are already achieving positive results, which is prompting other stakeholders to take action, lest they be left behind” (McKinsey 2013). Diese Studie zum Big-Data-Potenzial bezog sich auf die USA. Inwieweit McKinsey die Aussage auch für das deutsche sozialwirtschaftliche Gesundheitswesen getroffen hat, ist den Autoren nicht bekannt. Immerhin stellt dieses „Wesen“ in Deutschland je nach Berechnungsmethode und Abgrenzung mit mindestens zwölf Prozent Anteil an der Wertschöpfung und mit 15 % Anteil an der Beschäftigung eine der größten Branchen dar – es befindet sich in der gleichen Größenordnung wie die Automobilindustrie. Auch der Krankenhausunternehmer Eugen Münch (Rhön Klinikum AG) geht davon aus, dass durch Digitalisierung der „Flussmedizin“ (oder „Netzwerkmedizin“) in mehreren privaten Krankenhauskonzernen eine weitere Optimierung der Prozesse in qualitativer und ökonomischer Hinsicht möglich ist. Eine zentrale Rolle sollen dabei das Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 211 landesweite Angebot einer vernetzten privaten elektronischen Patientenakte mit Daten von Mio. Patienten und dadurch ermöglichte digital unterstützte diagnostische und therapeutische Entscheidungen in den beteiligten Einrichtungen spielen. Dadurch trete eine schöpferische Zerstörung im Sinne von Joseph Schumpeter ein, bei der der eine oder andere konkurrierende Krankenhaus- und Praxisbetreiber zurückfallen könnte – wie in den vorangegangenen technischen Revolutionen bei Webern, Pferdekutschern, Druckern und Einzelhändlern (Münch und Scheytt 2014). Ob Herr Münch die von ihm angestrebten Veränderungen bewirken wird und welchen Anteil dabei Big-Data-Processing spielt, darf mit Spannung beobachtet, begleitet und/oder entgegengewirkt werden. Das Beratungsunternehmen Gartner warnt vor zu großen Erwartungen und legt nahe, die Möglichkeiten des Big-Data-Processing differenziert zu betrachten. Während eines Hype Cycles um Big Data seien in der Anfangsdekade des Jahrhunderts falsche Erwartungen geweckt worden, die aber angesichts der immer noch wachsenden Datenmengen und ihrer Möglichkeiten nicht ins Gegenteil umschlagen müssen. Die Wissensentdeckung in großen Datenmengen werde nun zum „business as usual“ und müsse konstruktiv gestaltet werden (Sicular 2013; Buytendijk 2014). 2.2 Paradigmenstreit in der medizinischen Forschung Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess Das genauere Hinsehen erfordert zunächst eine Definition für medizinische Forschung und eine Auswahl der Themengebiete. Unter medizinischer Forschung verstehen wir die meist systematische, oft aber auch zufällige Suche nach neuen Erkenntnissen zur Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen bei Menschen. Die „Forschung“ (vgl. Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik 2015) trägt zur Erweiterung menschlichen Wissens bei und stützt sich dabei auf Altbekanntes oder versucht, bisherige Systeme, Regeln oder Theorien zu widerlegen, um ein neues Verständnis für die Phänomene der Welt zu erlangen. Aus der Perspektive der Datennutzung kann dieser Erkenntnisprozess grob in vier Schritte unterteilt werden (s. Abb. 1): 1. Die Beobachtung und Beschreibung von Gesundheits-, Krankheits- und Versorgungsstrukturen (Deskription), 2. die Generierung von Hypothesen über Zusammenhänge (Induktion) aus der Beobachtung, 3. die Entwicklung von Methoden zur Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen auf der Basis der generierten Hypothesen sowie 4. die Überprüfung der Wirksamkeit der so entwickelten Methoden in Studien. Wenn als fünfter Schritt die Übernahme der Methoden in die Prävention und Versorgung ergänzt wird, können diese Schritte als Regelkreis gelesen werden, weil danach wieder die Beobachtung einsetzt bzw. fortgeführt wird. 212 J. Schepers und S. Semler Abb. 1  Das digitale Abbild der Empirie als Basis neuen Wissens Während wir hier auf die Erläuterung der ersten drei Schritte verzichten, ist es für einen Teil der Leserschaft des vorliegenden Buches vermutlich hilfreich, zum zentralen Paradigma und Verfahren der Methodenüberprüfung in der Medizin, insbesondere der Arzneimittelprüfung, eine kurze Erklärung zu lesen. Nach langen Vorarbeiten und Auswahlschritten, auf die hier nicht eingegangen werden kann, finden sich in der Arzneimittelforschung einige Wirkstoffe, für die eine qualifizierte Hypothese eine positive Wirkung bei vertretbaren Nebenwirkungen erwarten lässt. Damit solche Wirkstoffe zur Therapie von Krankheiten bei Menschen eingesetzt werden dürfen, muss zuvor eine Arzneimittelprüfung mit der Erprobung am Menschen nach strengen Regeln erfolgen. Diese gliedert sich in westlichen Ländern, die der Deklaration von Helsinki beigetreten sind und Mindeststandards in ihren nationalen Gesetzen (in Deutschland beispielsweise im Arzneimittelgesetz) festgeschrieben haben, in vier Phasen, in deren Mittelpunkt die dritte Phase mit der Überprüfung der Wirksamkeit in klinischen Studien steht. Kein Big Data: Randomized Clinical Trials als Goldstandard der klinischen Forschung Den Goldstandard bei dieser Überprüfung stellt die randomisierte (doppelt-blinde) klinische Studie (Randomized Clinical Trial RCT) dar. Ihre Durchführung ist im Prinzip für alle Arzneimittel erforderlich, für die ein Einsatz beim Menschen zugelassen werden soll. Für die Durchführung ist regelmäßig die Teilnahme von wenigen Dutzend bis einigen hundert Probanden bzw. Patienten erforderlich und hinreichend. Dieser Studientyp hat es in den siebziger Jahren unter den Schlagworten Menschenversuche und Kasino-Methoden noch auf die Titelseite des Magazins Spiegel geschafft. Die Autoren hatten damals nicht verstanden, dass auch die Aufarbeitung der dunklen Phase Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 213 der deutschen Medizingeschichte in den Nürnberger Prozessen und in der Deklaration von Helsinki wesentliche Argumente für diese Methode geliefert hatten. Im Mittelpunkt der Argumentation für RCTs steht der Begriff der Kausalität, des Nachweises einer Ursache-Wirkungsbeziehung. Der Nachweis wird auch Evidenzbasierung genannt. Ziel einer medizinischen Studie in der Therapieforschung ist in diesem Sinne praktisch immer, die bessere Wirksamkeit von neuen Therapien zu belegen. Dazu wird eine überschaubar große Untersuchungspatientengruppe, die mit der (neuen) Therapie behandelt wird, hinsichtlich der Ergebnisse mit einer in etwa gleichgroßen Kontrollgruppe verglichen, die mit einer anderen (bewährten oder einer Placebo-) Therapie versorgt wird. Dabei sollen sich Untersuchungs- und Kontrollgruppe nach bestem Wissen und Gewissen nur hinsichtlich der Therapie und nicht hinsichtlich anderer Merkmale unterscheiden. Nur dann kann bei unterschiedlichen Ergebnissen zwischen den Gruppen mit klaren Wahrscheinlichkeitsaussagen auf eine Ursächlichkeit des Therapieverfahrens für einen Erfolg geschlossen werden. Erfahrungen und logische Überlegungen haben zu der Erkenntnis geführt, dass die zufällige (randomized) Zuordnung zu den Untersuchungs- und Kontrollgruppen vor Therapiebeginn das zuverlässigste Verfahren für die Vergleichbarkeit der Gruppen darstellt. Die Fallzahlen in Untersuchungsgruppe und Kontrollgruppe dürfen wegen möglicher Zufallseffekte nicht zu klein sein; Zufallseffekte gelten bei hinreichend großen Gruppen als berechenbar mit einer genauen Angabe zum Irrtumsrisiko. In der Wertschätzung dieser Methode besteht Einigkeit unter Fachleuten, in der Einschätzung alternativer Methoden – insbesondere solcher mit großen Datenmengen besteht eine solche Einigkeit nicht. In alternativen Methoden werden beispielsweise im Nachhinein möglichst ähnliche Pärchen für Untersuchungsgruppe und Kontrollgruppe gebildet, Zeitreihen beobachtet, Regionen verglichen oder mit multivariaten Verfahren nach Korrelationen gesucht. Die Neue Welt von Big Data gegen die Alte Welt der mühsamen Wissenschaftlichkeit Laut Gerd Antes treffen in einer scheinbaren „Phase des Übergangs“, in der „wir ganz generell zu leben scheinen“, zwei verschiedene Schulen aufeinander, die er in seinem Essay „Eine neue Wissenschaft-(lichkeit)?“ zwecks rhetorischer Unterscheidung die „Alte Welt“ und die „Neue Welt“ nennt (Antes 2015). Die „Alte Welt“ setzt er mit aufwendiger, systematischer Wissenschaft gleich, die „Neue Welt“ dagegen mit der Nutzung immer größer werdender Datenmengen. Vordergründig sei die „Alte Welt“ der Wissenschaft dadurch geprägt, „dass sie sich geradezu lustvoll mit den eigenen Qualitätsmängeln beschäftigt.“ In der „Neuen Welt“ bliebe „uns die selbstquälerische Auseinandersetzung mit Mängeln des Wissenschaftsprozesses erspart.“ (Antes 2015). Antes steht dem Anspruch der „Neuen Welt“ kritisch gegenüber: Während auf technologischer Seite der Fortschritt durch die Weiterentwicklung hin zu immer höherer Verarbeitungsgeschwindigkeit nicht überraschend ist, kann man den methodischen Aussagen nur mit Erstaunen folgen. Das alles dominierende Credo ist der Glaube an die Korrelation als alleinigen Träger von Information. Das Zeitalter der Kausalität ist 214 J. Schepers und S. Semler vorüber, wir sind nun im Zeitalter der Korrelation. Jede Suche nach Begründungen ist überflüssig und Ressourcenverschwendung – vertrauen wir einfach auf die Macht der Daten und die Korrelationen, die daraus entspringen. Dass Korrelationen zwar Zusammenhänge zeigen, hinsichtlich Kausalität jedoch auch extrem irreführend sein können, wird zwar am Rande erwähnt, jedoch nur als Problem angesehen, wenn man nicht genug Daten hat. ‚Mehr Daten‘ löst also jedes Problem. […] Dass aber gleichzeitig rückläufige Storchenpopulationen und Geburtenraten nicht den Schluss auf den Storch als Babybringer zulassen, dürfte weithin bekannt sein. Was Scharen von Dozenten anhand dieses Beispiels Generationen von Studenten in Anfänger-Vorlesungen mit auf den Weg gegeben haben, wird von den Vertretern von Big Data im Handstreich einkassiert. Notwendig dafür ist nur der Hinweis auf die neue Philosophie, dass Daten alles sind (Antes 2015). Die Vertreter des Paradigmas der großen Datenmengen halten dagegen, dass in einem großen Datensatz mit Babys und Störchen (V1 Volume) eben auch viele weitere Merkmale – darunter Bildung, Bebauung, verfügbares Einkommen, Pendelwege, Umweltverschmutzung, Elektrifizierung und so weiter – enthalten sein müssten (V2 Variety). Dann verschwände bei manuellen und bei automatisierten Auswertungen die Scheinkausalität und die wahren Zusammenhänge träten zutage. Aus der Sicht der Autoren muss die Kritik von Antes sehr ernst genommen werden. Die „Alte Welt“ der sorgfältigen, selbstkritischen Wissenschaft und die „Neue Welt“ der Daten sollten sich aber nicht feindlich gegenüberstehen, sondern müssen sich sinnvoll ergänzen – was auch tatsächlich über weite Strecken gelingt. In der Einleitung haben wir bereits den Hinweis von Wegscheider und Koch-Gromus zum Potenzial von Big Data für die Versorgungsforschung zitiert. Nachfolgend benennen wir Beispiele für den Einsatz in der Hypothesengenerierung in der Molekularonkologie und in der Pharmakovigilanz. Wenden wir uns also den im deutschen Gesundheitssystem real verfügbaren Daten zu und schauen, wo es „große Datenbestände“ gibt und wie diese für die Forschung genutzt werden. 3 Nutzung vorhandener Daten in der medizinischen Forschung 3.1 Datenmengen in den Informationssystemen von Universitätskliniken Die meisten Gesundheitsdaten der Bürger liegen in den Informationssystemen der Leistungserbringer vor – allerdings insbesondere verteilt auf etwa 2000 Krankenhäuser und 150.000 Arztpraxen. Die größten Einzeleinrichtungen sind die Universitätskrankenhäuser; davon die größte ist die Charité – Universitätsmedizin Berlin auf vier Standorten mit zusammen etwa 100.000 stationären und 600.000 ambulanten Fällen pro Jahr. Über alle Krankenhäuser verteilt nähert sich die stationäre Fallzahl der Größenordnung von 19 Mio. Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 215 Trotz der hohen Zahlen führt das Versorgungsaufkommen in den Klinikinformationssystemen nicht zu Datenmengen, die im Jahre 2015 noch als „big“ oder „voluminös“ im Sinne von Big Data gelten, solange dort nur Basisinformationen über die Patienten einschließlich Arztbriefen und Befundberichten gespeichert werden. Die Größe bleibt im Sinne der mittlerweile verfügbaren Informationstechnik auch überschaubar, wenn man die zahlreicheren ambulanten Fälle in den Polikliniken hinzunimmt und ein paar Jahre lang tabellarische und textuelle Behandlungsdaten über alle Patienten sammelt. Erste Ansätze von merklicher Größe werden bei Ergänzung der Daten aus maschinell ausgeführten Laboranalysen erreicht, namentlich durch die Befundparameter (Elektrolyte, Säure-Basen-Status, Eiweiße, Zellen, Scores) für die medizinischen Entscheidungen und durch die Leistungsangaben (Minutenwerte, Gebührenziffern, Punkte) für die Organisationsprozesse. Voluminöse Größen im Sinne von Big-Data-Processing entstehen aber erst durch digitale Bild- und Signalverarbeitung sowie Genomsequenzierung und weitere molekulare Analysen. Die beiden Letzteren – mit Datenmengen pro Patient bis in den Terabytebereich hinein – zählen in einigen Forschungsbereichen bereits zur Routine und halten nach und nach Einzug in die Versorgung. Nun darf man sich ein Klinikinformationssystem aber nicht als ein kompaktes System vorstellen, das alle Daten, Logiken, Berechtigungsprofile und Benutzeroberflächen ausschließlich in einem abgeschlossenen Programmpaket vorhält und das ab einem bestimmten Zeitpunkt nach der Installation für lange Zeit in unveränderter Form genutzt wird – etwa wie ein Haus mit fertigen Strom- und Wasserleitungen. Prokosch hat in 2001 hierzu prägnant bemerkt: „Ein Krankenhausinformationssystem kann man nicht kaufen.“ (Prokosch 2001) Vielleicht ist der Vergleich mit dem Knochenskelett und Nervensystem von bestimmten Reptilien angemessen – bis hin zu dem Merkmal, dass die Organe sich ständig an Anforderungen anpassen, dabei schrumpfen und wachsen und sich unter Umständen auch komplett erneuern. Und das im laufenden Betrieb. Bei Nutzung, Pflege, kontinuierlicher Anpassung und Weiterentwicklung der Informationssysteme muss zudem die Mischdokumentation auf Papier und auf elektronischen Medien berücksichtigt werden, die auch im Jahre 2016 noch in fast allen deutschen Krankenhäusern und Universitätsklinika bewusst betrieben wird. Entsprechend der Vielfalt von Anforderungen und Erwartungen liegen insbesondere die digitalen Dokumentationsbestände und die digitalen Informationsflüsse in sehr vielen Varianten vor. Dabei darf „digitaler Bestand“ nicht generell mit „leicht auswertbar“ gleichgesetzt werden. Es bestehen hinsichtlich Auswertbarkeit große Unterschiede zwischen einer strukturierten Tabelle, einer Arztbrieftextdatei und einem digitalen Röntgenbild. Auf der anderen Seite bedeutet „nicht-digital“ aber auch nicht mehr zwangsläufig, dass Informationen aus Biomaterialien und Papierakten mühsam und nur kostenintensiv von Laboranten und Dokumentaren extrahiert werden können. Mittels Analyseapparaten können schon seit Längerem aus einigen Biomaterialien die klinisch-chemischen Werte (Natrium, Kalium, Harnsäure etc.) und Zellzahlen (Leukozyten, Erys etc.) automatisiert ermittelt und als Zeichenketten gespeichert werden. Inzwischen ist es bei rasant sinkenden Kosten durch Hochdurchsatzsequenzierung auch möglich, quasi aus allen denkbaren 216 J. Schepers und S. Semler Körperproben strukturierte Informationen über Genom, Transkriptom, Proteom und selbst Mikrobiom in echten Big-Data-Dimensionen automatisiert zu gewinnen und zu speichern. Das Auslesen von Informationen und Daten aus geschriebenem Text – sei es direkt aus digitalen Textdateien oder aus eingescannten und mit OCR1-Methoden umgewandelten Papierakten – hat sich nicht genauso rasant entwickelt und verbilligt wie die Hochdurchsatzsequenzierung aus Biomaterial, bewegt sich aber nach und nach in die gleiche Richtung (vgl. TMF-Workshop 2015; Schepers et al. 2013; Schepers und Peuker 2014). Für das Verständnis der Datenbestände in Universitätsklinika – als einer wichtigen Grundlage der medizinischen Forschung – ist es daher unerlässlich, eine Differenzierung der bereits digitalisierten Bestände vorzunehmen sowie auch nicht-digitale Informationsträger einzubeziehen. Die folgende Gliederung orientiert sich in absteigender Reihenfolge von /a/ bis /g/ grob an der technischen Zugänglichkeit der Daten für Auswertungsmethoden. Während es an dem einen Ende für die gesetzlich standardisierten Datensätze der Kategorie /a/ sehr viel Auswertungssoftware mit fertigen Importschnittstellen, auch von kommerziellen Anbietern, gibt, ist die digitale Auswertung von Bilddateien (/ f4/) und Papierdokumenten (/g/) am anderen Ende der Skala – sei es durch Aufbereitung von Menschenhand, sei es durch Maschinen – mit erheblich höheren Kosten verbunden und findet daher meistens nur in ausgewählten Situationen statt (vgl. Tab. 1). In fast allen deutschen Krankenhäusern existiert ein Nebeneinander von papierbasierter oder elektronischer Patientenakte; sogenannte papierlose Häuser können an einer Hand abgezählt werden. Für die Prozesse in Krankenhäusern ist der Verzicht auf die (führende) Papierakte neben der tatsächlich immer umfangreicher werdenden elektronischen Dokumentensammlung als quasi finalem Schritt der Digitalisierung ein sehr bedeutender; für die Auswertung der Datenbestände ist dieser Schritt angesichts des inzwischen erreichten Umfangs der elektronischen Dokumentation beinahe vernachlässigbar. Wir müssen uns an dieser Stelle leider darauf beschränken, wenige Hinweise zu den Kategorien /a/, den Basisdaten, und /b/, weiteren standardisierten Meldepflichten, zu geben. Wir verwenden in diesem Beitrag die Begriffe Basisdaten, Abrechnungsdaten, Routinedaten, Sozialdaten und Mikrodaten nebeneinander: • Basisdaten nimmt Bezug auf historische Überlegungen zu einem MinimumBasic-Data-Set für viele verschiedene Verwendungszwecke. Wir benutzen den Begriff in erster Linie für die Daten im KIS, aus denen verschiedene Routinedaten extrahiert werden. • Sozialdaten ist eine legale Begriffsbestimmung im § 67 SGB X und § 284 SGB V für die Versichertendaten bei den Einrichtungen der gesetzlichen Sozialversicherungen – insbesondere den GKV-Kassen. „SGB X § 67 (1) Sozialdaten sind Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen 1OCR: optical character recognition, Identifizierung von Buchstaben und anderen Zeichen. Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 217 Tab. 1  Gliederung der klinischen Informationsträger nach Zugänglichkeit für Auswertungen Kategorie Bezeichnung /a/ Gesetzlich definierte digitale Basisdatensätze für alle Fälle (,§ 21‘, ‚§ 301‘) /b/ Gesetzlich definierte digitale Basisdatensätze für besondere Fälle /c/ Kooperativ standardisierte Datenbanken /c1/ Lokal geführte, aber standardisierte Register und Data-Warehouse-Systeme /c2/ IHE-kompatible Datenhaltung (z, B. Arztbriefe und Befunde im Format HL7 CDA) /d/ Hausspezifisch strukturierte Datenbanken (z. B. KIS und Abteilungsinformationssysteme, nicht standardisierte Data-Warehouse-Systeme) /d1/ Stammdaten, Verlegungsketten, Basisdatengrundformen /d2/ Medizinische Daten wie Laborwerte /d3/ Leistungserfassung für die Betriebssteuerung /e/ Digitale Textdateien /e1/ Digitale Textdateien in Word- oder RTF-Format /e2/ Digitale Textdateien in PDF-Format /f/ Bild-, Signal- und Sequenzdateien /f1/ Digitale Bilddateien /f2/ Daten zu digitalen Signalen (z. B. EKG) /f3/ Omics-Daten [/f4/] [Biomaterialbanken] /g/ Dokumente auf Papier, Film und Mikrofiche Person (Betroffener), die von einer in § 35 des Ersten Buches genannten Stelle im Hinblick auf ihre Aufgaben nach diesem Gesetzbuch erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind alle betriebs- oder geschäftsbezogenen Daten, auch von juristischen Personen, die Geheimnischarakter haben.“ • Abrechnungsdaten gemäß § 301 SGB V dienen der Abrechnung von Krankenhausleistungen durch Krankenkassen. Für den ambulanten Sektor finden sich entsprechende Vorschriften insbesondere in den §§ 295, 299, 300, 301a und 302 für ambulante Leistungen, Arzneimittel, Heilmittel und Hilfsmittel. • Routinedaten ist Oberbegriff für Abrechnungsdaten, § 21-Daten, Meldedaten, externe QS-Daten und Sozialdaten. • Mikrodaten beziehen sich im Gegensatz zu aggregierten Daten auf einzelne Fälle und Vorgänge. Kategorie /a/ umfasst für jeden ins Krankenhaus aufgenommenen Fall persönliche Merkmale wie Name, Geburtsdatum und Geschlecht, Aufnahmedaten, Aufnahmefachrichtung und gegebenenfalls Fachrichtungswechsel mit Zeitstempeln, dazu klassifizierte Diagnosen und Operationsangaben. Wir erlauben uns hier an dieser Stelle nur verkürzt darauf 218 J. Schepers und S. Semler hinzuweisen, dass es von Jahr zu Jahr kleine Anpassungen an den Daten gibt, aber seit längerer Zeit keine wesentlichen. Diagnosen werden nach der im jeweiligen Jahr gültigen, vom DIMDI herausgegebenen ICD-10-GM klassifiziert und codiert, Operationen anhand des DIMDI-OPS. Nach der Entlassung werden entsprechend der bundesweit gültigen Deutschen Codierrichtlinien des DIMDI Haupt- und Nebendiagnosen unterschieden. Ergänzend werden Entlassungsangaben erfasst; darunter gegebenenfalls die Entlassungsart „verstorben“ mit exaktem Sterbezeitpunkt. ICD-10-GM: Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. Seit dem 1. Januar 2016 ist die ICD-10-GM in der Version 2016 anzuwenden. DIMDI-OPS: Der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) ist die amtliche Klassifikation zum Verschlüsseln von Operationen, Prozeduren und allgemein medizinischen Maßnahmen im stationären Bereich und beim ambulanten Operieren. Seit dem 1. Januar 2016 ist der OPS in der Version 2016 anzuwenden. Wir nehmen hier für das Kap. 20 „Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data?“ vorweg, dass diese Basisangaben über jeden Fall in Form von Routinedatensätzen neben der Abrechnung für viele verschiedene Zwecke von Systemsteuerung, Controlling und Qualitätssicherung an verschiedenen Stellen im Gesundheitssystem genutzt werden. So werden sie Teil der Sozialdaten bei Krankenkassen mit verschiedenen Nachfolgenutzungen und bilden die Basis der DRG-Daten in der alljährlichen Bestimmung des Entgeltkataloges für den stationären Sektor im Institut für die Entgelte im Krankenhaus (InEK). Daten der Kategorie /b/ werden wie Daten der Kategorie /a/ in allen Häusern weitgehend gleich zusammengestellt, aber nicht für jeden Fall. Infektionsangaben werden naturgemäß nur für infizierte Patienten aufbereitet, um – mit definierter Deidentifizierung – an die Gesundheitsämter auf kommunaler, Landes- und Bundesebene (RKI) gemeldet zu werden. Explizit weisen wir daraufhin, dass in den Daten der Kategorien /a/ und /b/ im stationären Sektor fast keine Medikationsangaben enthalten sind. Nur spezielle teure Therapeutika haben in Form von OPS-Codes und Zusatzentgelten Einzug in die Abrechnung und dadurch auch in Basis- und Abrechnungsdaten gefunden. Bei der Nachfolgenutzung der Routinedaten werden wir dies als Schwäche vermerken. Auf eine Erläuterung der Datenkategorien /c/ bis /g/ müssen wir an dieser Stelle verzichten. In Abschn. 3.3 kommen wir dahin, dass die Auswertung der vielen vorhandenen Daten, auch der meisten digitalen, noch lange kein Selbstläufer ist und eine aufwendige Aufbereitung erfordert. 3.2 Weitere Datenmengen bei anderen Leistungserbringern Neben den Universitätskliniken gibt es weitere große Schwerpunktkrankenhäuser, die viele Patienten versorgen und auch Beiträge für die Forschung leisten. Auch im Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 219 ambulanten Sektor werden unterstützt durch Informationstechnologie viele Patienten versorgt und bei einzelnen Fällen ein relativ großer Datensatz erzeugt. Hier können ebenfalls die in Abschn. 3.1 und in Tab. 1 für die Universitätskliniken vorgestellten Datenformen /a/ bis /g/ beobachtet werden. Signifikant große Datenmengen kommen aber im ambulanten Sektor nur durch Zusammenführung von Datensätzen der Kategorie /a/ im Rahmen der vierteljährlichen Abrechnung zustande. Sowohl in den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) auf Länderebene als auch durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie im Zentralinstitut der Kassenärztlichen Vereinigung (ZI) werden dadurch großen Datenmengen bewegt, die auch für die Versorgungsforschung genutzt werden. Deren Ergebnisse werden beispielsweise im „Versorgungsatlas“ des ZI publiziert. Des Weiteren führt auch die elektronische Verarbeitung von Rezepten in Apothekenrechenzentren zu Datenbeständen mit vielen Elementen. Das Auswertungsspektrum ist allerdings begrenzt und wird hier nicht näher vorgestellt. Bedeutsamer ist, dass die Abrechnungsdaten der stationären Fallpauschalfälle, der ambulanten Quartalsfälle und Abrechnungsinformationen über Arzneimittel, Heilmittel und Hilfsmittel bei den Krankenkassen für deren Versicherte zusammenlaufen. 3.3 Klinisches Data-Warehouse für Molekular- und Systemmedizin Datenbanken, in denen Daten aus verschiedenen Quellen für Analysezwecke zusammengeführt werden, werden Data-Warehouse-Systeme genannt. Auch für diese kann man letztlich nur Grundbausteine erwerben oder Open-Source-Module wie i2b2 und/oder tranSMART einsetzen. Erheblicher Projekt- und Betriebsaufwand ist bei ihrer Einführung und bei ihrem Einsatz nicht zu vermeiden. Die Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen erfolgt in der Regel über sogenannte E-T-L-Prozesse: 1. Extraktion aus den Quellsystemen 2. Transformation auf einer Staging-Ebene („Sammelplatz“) 3. Laden in eine oder mehrere Zieldatenbanken („Data-Marts“) im Data-Warehouse Besondere Aufmerksamkeit erfahren zurzeit Data-Warehouse-Systeme, in denen patientenbezogene molekulare und klinische Daten zusammengeführt werden. Dabei entstehen tatsächlich die größten Datenmengen, mit denen derzeit in der medizinischen Forschung umgegangen wird. Bereits für einzelne Patienten geht die Datenmenge über den Gigabyte-Bereich (10003 Byte) hinaus und reicht in den Terabyte-Bereich (10004 Byte) hinein. Die molekularen Daten beschreiben systematisch insbesondere Molekülstrukturen von DNA-Strängen, RNA-Ketten und anderen Eiweißstrukturen, werden inzwischen 220 J. Schepers und S. Semler mittels Hochdurchsatzgenerierung (Next Generation Sequencing NGS) maschinell gewonnen und sind in der Tab. 1 als Kategorie /f2/ „Omik-Daten aus Sequenzierungsprozessen“ in der Auflistung berücksichtigt worden. Die klinischen Daten umfassen Diagnosen, Symptome, Laborwerte, Medikationen, Signal- und Bildinterpretationen und werden aus Dateien der Kategorien /a/ bis /d/ extrahiert. Am einfachsten sind die ETL-Prozesse bei Datensätzen der Kategorien /a/ und /b/, da sie eindeutig formatiert sind. Datenbestände der Kategorien /c/ und /d/ erfordern meistens spezielle Schnittstellenentwicklungen. Textdateien der Kategorie /e/ müssen per Text-Mining erschlossen werden, was wegen des damit verbundenen Aufwandes oft noch am Anfang steht. Zur Überraschung manches Bioinformatikers weisen die klinischen Daten in der Regel einen niedrigeren Strukturierungs- und Präzisionsgrad auf als die meist maschinell erzeugten molekularen Daten. Variationen der einzelnen Kettenglieder in DNA und RNA, den Nukleotiden, können die Bioinformatiker exakt darstellen. Wie krank die Patienten sind, lässt sich nicht so genau abbilden. Trotz überschaubarer Fallzahlen entstehen hierbei insbesondere durch den Merkmalsumfang der molekularen Daten durchaus große Datenmengen bis in Peta-(10005) und Exabyte-(10006)-Dimensionen hinein, aber nicht in jedem Sinne „Big Data“. Von Big-Data-Processing wird nämlich gesprochen, wenn sowohl Volume (V1) als auch Variety (V2) der Daten vorliegt und trotzdem eine hohe Auswertungsgeschwindigkeit (Velocity V3) erreicht wird. Ein wesentlicher Aspekt beim Aufbau von Data-WarehouseSystemen, auf den auch Antes hinweist, ist jedoch die Strukturierung der Daten. Beim Transformieren und Laden der Daten wird zwar Volumen (V1) aufgebaut; die Datenvielfalt (V2) aber wird in beherrschbare Formen gegossen. Wir reden hier daher wegen der großen Datenmengen nur von Big Data im weiteren Sinne. Hier erlauben wir uns einen kleinen Schwenk zur inhaltlichen Bedeutung: Für die Weiterentwicklung der Diagnostik ist die Identifikation molekularer Ursachen von Krankheiten das große Ziel. In einem ersten Schritt wird dazu in einschlägigen DataMarts bei Patienten mit gleichen Krankheiten (gleichem Phänotyp) nach gemeinsamen genetischen, proteomischen oder anderen Auffälligkeiten im Vergleich zu Gesunden oder zu Patienten mit anderen Krankheiten gesucht: Diese Suchen werden allgemein FallKontroll-Studien oder speziell bei der Verwendung des vollen Genoms „Genome Wide Association Studies (GWAS)“ genannt. Oder Patienten mit gleichen Abweichungen vom „Standardgenom“, also gleichem Genotyp mit übereinstimmenden Einzelnukleotidvariationen (Single Nucleotid Variations SNV), werden auf ähnliche Krankheiten hin analysiert. Gedanklich zielt dies auf ursächliche (kausale) Variationen, obwohl sowohl in den phänotypischen als auch in genotypischen Assoziationsstudien zunächst einmal nur Korrelationen zwischen Genvariationen und Krankheiten beschrieben werden können. (Die Genvarianten könnten auch Folge von Krankheiten sein oder über einen Confounder mit einer Krankheit verknüpft sein, s. Störche und Babys – Abschn. 2.2). Es soll hier aber nicht grundsätzlich an der Relevanz molekularer Ursachen von Krankheiten gezweifelt werden. Molekulare Abweichungen von gesunder DNA und RNA können angeboren sein und früh im Leben Krankheiten auslösen, vor allem Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 221 Stoffwechselstörungen. Oder Mutationen entstehen später und manifestieren sich z. B. besonders durch unkontrollierte, bösartige Zellvermehrung. Dies passiert insbesondere in sich häufig teilenden Zellen und in durch Karzinogene von außen geschädigten Zellen. Beobachtete Assoziationen führen in diesem Sinne zu ernst zu nehmenden Hypothesen, die aber weiter erhärtet werden müssen, um eine therapeutische Relevanz entfalten zu können. Im therapeutischen Bereich besteht das Ziel, Wirkstoffe zu finden oder inzwischen auch Designer-Moleküle zu konstruieren, die die schädlichen molekularen Variationen (angeboren oder per Mutation erworben) so weit wie möglich neutralisieren oder kompensieren. Dabei wurden in Einzelfällen spektakuläre Erfolge wie die Rückbildung von bis dato unheilbaren Tumoren, das Einschleusen von Faktor-IX-Kompetenz in Leberzellen von Hämophilie-B-Patienten mittels Viren (Gould 2014) und die Veränderung einzelner Sequenzabschnitte bei Sichelzellanämie (vgl. Gammon 2014) erzielt. Es greift aber auch die Erkenntnis Raum, dass es neben wenigen deterministischen Beziehungen zwischen genetischen Einzelvariationen und definierten Krankheiten eine unendliche Vielfalt von seltenen Kombinationen gibt, bei denen nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten erkennbar wird, wie sie zusammenhängen, und wo der therapeutische oder präventive Ansatz zu finden sein wird. Wenn ein therapeutischer Angriffspunkt gefunden ist, gibt es noch keine Garantie für Effektstärke und die Freiheit von Nebenwirkungen. Für die klinische Diagnostikforschung besteht die Herausforderung, zu erkennen, wann auffällige Merkmale und Laborwerte mit hinreichender Spezifität und Sensitivität als Marker für Krankheiten und Therapieoptionen dienen können. In der Therapieforschung muss bestätigt werden, dass Wirkungen, die nach der Ausführung therapeutischer Maßnahmen (einschließlich der Anwendung von Wirkstoffen) in Einzelfällen beobachtet werden, wegen dieser Maßnahmen eingetreten sind und sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch bei den nächsten Patienten reproduzieren lassen. An dieser Stelle setzt die Warnung von Antes an: Selbst wenn in großen Datenmengen ad 1) Korrelationen zwischen (diagnostischen) Merkmalen und Krankheiten und/oder ad 2) Korrelationen zwischen (therapeutischen) Maßnahmen und Heilung oder Linderung gefunden werden, muss immer noch geklärt werden, ob die Zusammenhänge tatsächlich kausal sind, wie groß die Effektstärke ist und wie schwerwiegend die Nebenwirkungen sind. Nur dann dürfen nämlich im ersten Glied der Entscheidungskette bei Vorliegen eines Merkmals bei einem neuen Patienten (oder Noch-Gesunden) eine bestehende oder künftige Krankheit angenommen werden und im zweiten Glied der Kette die hinreichend positiv bewerteten Maßnahmen oder Mittel als Therapeutikum eingesetzt werden. Gemäß weit verbreiteter Einschätzung sind Data-Warehouse-Systeme mit differenzierten Daten aus Kliniken hervorragend geeignet, Korrelationen zu identifizieren und darauf aufbauend Hypothesen für die weitere Forschung zu generieren. Im Prinzip müssen Hypothesen im therapeutischen Bereich im Anschluss aber immer durch klinische Studien belegt werden – idealerweise durch RCT-Studien. Ein Dilemma entsteht, wenn dem Anscheine nach hervorragend passende Modelle nur auf wenige Patienten bezogen 222 J. Schepers und S. Semler werden können. Dann müssen Ethikkommissionen – oder im Falle von onkologischen Erkrankungen, die hier im Vordergrund stehen, sogenannte Tumorboards – verantwortungsvolle Einzelfallentscheidungen treffen. Für die Ökonomie der klinischen Forschung bedeutet dies, dass es sich bei der Vorstellung von den „leicht gewonnenen Erkenntnissen“ durch Big-Data-Processing um eine Fiktion handelt, worauf wir im Fazit wieder zurückkommen. 3.4 DWS-Einsatz zur Identifikation von Therapieoptionen Im Alltag der klinischen Forschung dienen Data-Warehouse-Systeme (DWS) noch anderen Aufgaben. In Abschn. 2.2 hatten wir auf den Goldstandard der klinischen Forschung, die RCT-Studien, hingewiesen. Diese können – abweichend von der Vorstellung der „leicht gewonnenen Erkenntnisse“ eben nicht mithilfe von Data-Warehouse-Systemen realisiert werden, sondern benötigen die Einhaltung der in Abschn. 2.2 skizzierten Vorgehensweise und im Rahmen der Guten Klinischen Praxis eine nachprüfbare, unveränderliche Studiendokumentation. Ein Anwendungsfall von Data-Warehouse-Systemen ist aber die Unterstützung der forschenden Kliniker bei der Identifizierung geeignete Studien mit verbesserten Therapieerwartungen für ihre Patienten. Aus einer anderen Perspektive betrachtet erfolgt dadurch eine verbesserte Rekrutierung von Patienten für die laufenden Studien. Es sind immer der Patient und der behandelnde Arzt gemeinsam, die über den Einschluss eines Patienten in eine Studie entscheiden müssen – immer in Erwartung eines besseren Ergebnisses gegenüber der Standardtherapie oder dem Placebo. Die Teilnahme an der Studie – egal ob in der Untersuchungs- oder der Kontrollgruppe, über deren Auswahl Patient und Arzt nicht entscheiden – muss immer mit einem positiven Erwartungswert für den Patienten verbunden sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Deklaration von Helsinki und das deutsche Arzneimittelgesetz Studien nur zulassen, wenn unverantwortbare Risiken mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen und eine therapeutische Verbesserung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Die Zuordnung zu einer geeigneten Studie nicht zu verpassen, stellt allerdings angesichts der Vielzahl der Patienten und der Vielzahl der in einem Universitätsklinikum laufenden Studien intellektuell und logistisch keine einfache Aufgabe dar. Schätzungen gehen davon aus, dass bei etwa der Hälfte aller begonnenen Studien die notwendige Patienten- oder Probandenzahl nicht in einer angemessenen Zeit erreicht wird und sie deswegen abgebrochen werden müssen. Medizinisch wird dadurch möglicherweise die Chance einer verbesserten Methode verpasst oder verzögert. Ethisch bedenklich ist es, Patienten in eine Studie eingeschlossen zu haben, die dann nicht ausgewertet wird. Ökonomisch können sowohl Wohlfahrt auf der Seite der Patienten verpasst werden als auch Gewinne auf der Seite der Principal Investigators und Sponsoren – also auf beiden Seiten der ökonomischen Wertemedaille (Einklang von Nutzen und Gewinn). Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 223 Ein wesentlicher Ansatz, dem zu begegnen, ist die vernetzte medizinische Forschung mit der Kooperation mehrerer Kliniken. Gleichwohl muss auch in Verbünden jede Klinik eine merkliche Zahl von Probanden einschließen. Das kann selbst in großen Kliniken eine Herausforderung darstellen, wenn eine seltene Krankheit beforscht wird oder es wegen komplexer Studienkriterien schwierig und aufwendig ist, Patienten zu identifizieren, die von einer Studie profitieren könnten. Ein Data-Warehouse kann helfen, vor der Aufnahme einer Studie realistisch zu schätzen, wie viele Patienten mit den Eigenschaften gemäß Studienprotokoll in einem definierten Zeitraum erwartet werden dürfen. Es kann auch helfen, während einer laufenden Studie durch Data-Warehouse-Abfragen Fälle zu identifizieren, mit denen der jeweils behandelnde Arzt über eine Studienteilnahme sprechen kann. 3.5 Klinikinterner DWS-Einsatz für die Pharmakovigilanz Eine weitere Überlegung zur Nutzung von klinischen Datenbanken bezieht sich auf die Analyse von seltenen, unerwünschten Nebenwirkungen, die bei Medikamenten nach deren Zulassung auftreten. Serious Adverse Events (SAE), ernste unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), die bei einigen Arzneimitteln nur mit sehr geringer Häufigkeit auftreten, können in Phase-3-Studien nicht immer erkannt werden. Wenn aber UAW zu Krankenhausaufnahmen führen, besteht die Chance mittels Informationen aus der Medikamentenanamnese (Patientengeschichte) auf Arzneimittel als Krankheitsursache zu schließen und deren Nebenwirkungsrisiko zu identifizieren. Die Überwachung nach der vorläufigen Zulassung auf der Basis der Phase-3-Studien wird auch Phase 4 oder Pharmakovigilanz genannt. Die Strukturen von Krankenhausinformationssystemen sind für entsprechende Abfragen allerdings nur bedingt geeignet – insbesondere wenn die Anamnese nicht in strukturierten Tabellen, sondern nur in Textdokumenten erfasst wird. Hier kommt die Eigenschaft von Data-Warehouse-Systemen zum Tragen, dass es sich um Datenbanken handelt, die für Analysezwecke optimiert sind. Voraussetzung für die Erkennung der Risiken ist bei seltenen Nebenwirkungen eine große Fallzahl mit der Erfassung vieler Merkmale je Fall. Ein klassisches Beispiel für die Entdeckung eines Arzneimittelrisikos mithilfe einer klinischen Analysedatenbank ist der sogenannte Vioxx®-Skandal. Bei der Klärung des Herzinfarkt- und Schlaganfallrisikos des Wirkstoffs Rofecoxib, der einige Jahre lang als Schmerzmittel genutzt wurde, spielte die Datensammlung in der US-amerikanischen Health Maintenance Organisation Kaiser Permanente eine zentrale Rolle. Als HMO tritt Kaiser Permanente ähnlich wie eine Knappschaft oder die Unfallversicherung in Deutschland sowohl in der Rolle des Versicherers als auch in der Rolle des Klinikbetreibers auf und verfügt über ein entsprechend breites Datenspektrum. Der Skandalcharakter der Vioxx®-Anwendung ergab sich aus dem Eindruck, dass das Risiko bereits bei der klinischen Prüfung vor der Zulassung hätte erkannt werden können. 224 J. Schepers und S. Semler Die Suche nach Arzneimittelnebenwirkungen in klinischen Data-Warehouse-Systemen kann nicht Big-Data-Processing genannt werden. Zum einen weisen Systeme nach dem Stand der Technik überschaubare Größen auf und zum anderen sind die Daten dort strukturiert abgelegt. Größere Datenmengen kommen bei Zusammenführung der Daten von vielen Krankenhäusern oder mehreren Krankenkassen zusammen, was dem Beispiel der Health Maintenance Organisation Permanente dann schon näherkommt. Das größte einschlägige Projekt in Deutschland wird durch die Bremer GePaRDDatenbank des Leibniz-Institutes für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS repräsentiert, die wir wegen ihres Umfangs von 17 Mio. Versicherten etwas ausführlicher vorstellen. 3.6 GePaRD: Pharmakovigilanz mit Routinedaten2 Wie im Abschn. 2.2 berichtet, stellen „Randomized Clinical Trials“ (RCT) die wichtigste Methode der klinischen Forschung dar – insbesondere im Bereich der Arzneimittelforschung. Die randomisierten klinischen Studien mit einigen Dutzend bis mehreren Hundert Teilnehmern bilden in mehrphasigen Verfahren der Prüfung eines Arzneimittels die dritte Phase. Die in ihnen gewonnene Evidenz ist die Voraussetzung dafür, dass Arzneimittel vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Zusammenarbeit mit der europäischen Behörde EMA zugelassen werden. Daraufhin können sie bei hinreichendem Nutzen durch Empfehlungen des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in den Leistungskatalog des ambulanten Sektors aufgenommen sowie im stationären Sektor regulär benutzt werden. Allerdings erfolgt nach der Phase III gewissermaßen nur eine Zulassung auf Bewährung, die in der vierten Phase der Feldüberwachung, Pharmakovigilanz genannt, auch wieder entzogen werden kann. Basierend auf den Zahlen einer Metaanalyse wurde geschätzt, dass 1994 Arzneimittelnebenwirkungen zu den 4–6 häufigsten Todesursachen in den USA zählen (Lazarou et al. 1998): Immer wieder kommt es zu Marktrücknahmen auch häufig verwendeter Arzneimittel aus Sicherheitsgründen, da schwerwiegende seltene Nebenwirkungen in den klinischen Studien vor Zulassung nicht erkannt wurden. Seit 2004 wurden die folgenden Arzneimittel in verschiedenen Ländern bzw. weltweit aus den folgenden Sicherheitsgründen vom Markt genommen3: Rosigliatzon (2010 – schwere kardiovaskuläre Nebenwirkungen), Sibutramin (2010 – erhöhte kardiovaskuläre Mortalität), Efalizumab (2009 – progressive multifokale Leukenzephalopathie), Rimonabant (2008 – schwere Depression und Suizidalität), Lumiracoxib (2007 – schwere Leberschäden), Aprotinin (2007 – erhöhte Mortalität), 2Bei diesem Abschnitt danken wir Frau Prof. Pigeot vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS für ihre freundliche Unterstützung. 3Zusammenstellung von Iris Pigeot, BIPS Bremen. Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 225 Clobutinol (2007 – schwere Herzrhythmusstörungen), Tegaserod (2007 – schwere kardiovaskuläre Ereignisse), Buflomedil (2006 – schwere neurologische Komplikationen), Ximelagatran (2006 – schwere Leberschäden), Parecoxib (2005 – Myokardinfarkte), Valdecoxib (2005 – Myokardinfarkte), Rofecoxib (2004 – Myokardinfarkte). Es wurde geschätzt, dass während der fünfjährigen Vermarktungsdauer des letztgenannten Medikaments Rofecoxib (Vioxx®) in den USA ca. 88.000–140.000 Myokardinfarkte auf das Medikament zurückzuführen waren. Ein gefährdetes Projekt, das in Deutschland einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung von Arzneimittelrisiken leistet, ist das im Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) angesiedelte Programm GePaRD (German Pharmacoepidemiological Research Database). Es beruht auf den Sozialdaten von vier deutschen Krankenkassen mit zusammen 17 Mio. Versicherten. Wie wir in den Abschn. 3.1 und 3.2 angedeutet haben, beruhen die Sozialdaten bei Krankenkassen im Wesentlichen auf den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzte. Sie sind weitgehend deckungsgleich mit den in Abschn. 3.1 vorgestellten Basisdaten der Kategorie /a/ und enthalten für die Versicherten einen sehr großen Anteil der Arzneimittelversorgung (durch die ambulante Komponente), alle ambulanten Quartalsdiagnosen sowie Haupt- und Nebendiagnosen ihrer stationären Krankenhausaufenthalte mit kalendarischer Zuordnung zu den Behandlungsepisoden. Abb. 2 gibt den Datenfluss von den Bürgern über die Leistungserbringer und Krankenversicherungen zum Bremer Leibniz-Institut BIPS wieder. Die Bremer Datenbank GePaRD erlaubt auf diese Weise die Wissensentdeckung in longitudinalen Datenbeständen. In solchen longitudinalen (Längsschnitt-)Datenbeständen ist die Problematik fehlender, überzähliger oder doppelter Meldungen deutlich geringer als in Querschnittsbetrachtungen, insbesondere, wenn in diesen Zähler- und Nennergrundlagen getrennt erhoben werden. Perfekt sind in deutschen Krankenkassendaten weder die Angaben zur Medikation (es fehlen weitgehend die Angaben zu Arzneimittel aus Krankenhäusern, GUV-Versorgung, GRV-Rehabilitationsmaßnahmen, Mitnutzung der Packungen von Angehörigen und des privaten OTC-Erwerb), noch zu Diagnosen (ambulant wird pro Quartal nur eine Diagnose notiert) noch zu den kalendarischen Zeitangaben (nicht die Diagnosen haben einen Zeitstempel, sondern deren Behandlung). Da diese Datenbestände zudem nicht primär zur Forschung geführt werden, werden relevante Zusatz Informationen, wie etwa lebensstilbedingte Faktoren oder andere personenbezogene Merkmale, nicht oder nur unzureichend in den Daten erfasst. Dennoch kann unter Beachtung der genannten Einschränkungen im Groben der zeitliche Zusammenhang zwischen einer Arzneimittelexposition (Rx) und danach auftretenden medizinischen Ereignissen bzw. Diagnosen ermittelt werden. Dies wird in Abb. 3 durch das Beispiel 2 ausgedrückt. Hier tritt die Diagnose auf einem Zeitstrahl nach der Exposition Rx auf, während in Beispiel 1 und 3 keine Diagnose auftritt bzw. die Diagnose schon vor der Exposition bestand. Auf der Basis dieser Analysen entstehen Hypothesen, denen dann weiter nachgegangen werden kann bzw. muss. 226 J. Schepers und S. Semler Abb. 2  Datenfluss im Pharmakovigilanzverfahren des Bremer Leibniz-Institutes BIPS Abb. 3   Zeitliche Zusammenhänge zwischen Arzneimitteleinnahme (Rx) und Diagnoseeintritt Bei der Benennung der Ergebnisse des GeParD-Projekts beschränken wir uns auf den Hinweis zu einem doppelten Fieberkrampfrisiko durch eine neue Vierfachkombination von Impfstoffen gegen Masern, Mumps, Röteln und Diphterie. Dies hat wesentlich zur Verbesserung der Qualität in der Impfversorgung von Kleinkindern beigetragen (Schink et al. 2014). Die Relevanz dieser Impfungen wird regelmäßig diskutiert; das Störpotenzial von Impfkomplikationen muss hier nicht weiter erörtert werden. Gefährdet ist die Bremer Datenbank, weil sie auf einer befristeten Genehmigung auf der Basis von § 75 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) beruht, die im Jahr 2016 abläuft. Der § 75 erlaubt die Übermittlung von Sozialdaten für Forschung und Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 227 Planung „an Dritte“ generell nur für vorab spezifizierte Vorhaben (Zweckbindung) mit festgelegtem Löschtermin (zeitliche Befristung). Trotz zu berücksichtigender Einschränkungen bei der Nutzung von GePaRD würde die Beendigung dieses Projekts einen deutlichen Rückschlag für die Arzneimittelsicherheit in Deutschland bedeuten. Als Absicherungsstruktur verbleiben dann im Wesentlichen Erkenntnisse aus ausländischen Beobachtungen und das beim BfArM angesiedelte Spontanmelderegister, an das nach Arzneimitteleinnahme (Rx) eintretende Ereignisse in der Regel von Akteuren aus dem professionellen medizinischen Bereich, das heißt von Ärzten und der pharmazeutischen Industrie gemeldet werden. Jedoch können die Meldungen auch direkt von Patienten stammen (Almenoff et al. 2005; Hauben et al. 2005). Die so kumulierten Informationen zu Expositionen und Ereignissen werden anhand speziell entwickelter Algorithmen analysiert, um potenzielle Sicherheitsrisiken („Signale“) zu entdecken. Die zum Teil automatisierte zeitnahe Identifizierung von UAWs nach Marktzulassung wird als Signalgenerierung bezeichnet. Der Prozess der Signalgenerierung umfasst mehrere Stufen. Er wird in Suling und Pigeot (2012) in ausführlicher Form beschrieben. Allerdings sind Spontanmeldedaten für die Signalgenerierung nicht unproblematisch, da sie einigen in der Literatur ausführlich dokumentierten Limitationen unterliegen (vgl. Pigeot und Windeler 2005). Zum einen werden nur ca. fünf bis zehn Prozent der Arzneimittelnebenwirkungen tatsächlich gemeldet, wodurch sich ein erhebliches Underreporting ergibt. Ein Beispiel für ein Underreporting lieferte der bereits erwähnte VIOXX®-Skandal. Unter anderem durch Data-Mining in den Patientendaten einer amerikanischen HMO, die Krankenhaus- und Versicherungsleistungen in sich vereint, wurden höhere Schlaganfall- und Herzinfarktrisiken entdeckt, als sie in den Zulassungsunterlagen angegeben und in den Phase-4-Kontrollen gemeldet worden waren. Dem gegenüber kann es aber auch zu vermehrten Meldungen einer bestimmten Wirkstoff-Ereignis-Kombination (WEK) kommen, die nicht allein durch ein vorhandenes Sicherheitsrisiko induziert sind, sondern andere Ursachen haben können (z. B. Medienaufmerksamkeit für diese spezielle WEK). Durch die verschiedenen Meldekanäle (Ärzte, pharmazeutische Industrie und Patienten) kann nicht vermieden werden, dass es zu Doppelmeldungen einzelner WEKs kommt. Darüber hinaus ist der enthaltene Informationsumfang oftmals gering und/oder lückenhaft und die für eine adäquate Beschreibung des Gesundheitszustandes eines Patienten notwendigen Kovariablen sind häufig nicht angegeben. Ein schwerwiegendes Problem aus methodischer Sicht ist der Umstand, dass in den Spontanmelderegistern nur Personen verzeichnet sind, die nach einer Arzneimittelexposition auch irgendein Gesundheitsereignis hatten. Es sind keine Informationen zur Arzneimittelexposition ohne nachfolgende Ereignisse vorhanden, was z. B. Inzidenzschätzungen (relative Häufigkeit von Ereignissen) unmöglich macht (Bates et al. 2003; Goldman 1998; Hauben und Bate 2009). Im europäischen und außereuropäischen Ausland sind elektronische Gesundheitsdatenbanken für eine systematische Überwachung der Arzneimittelsicherheit und eine 228 J. Schepers und S. Semler Untersuchung der Arzneimittelwirksamkeit in der Routineversorgung als wichtige Datenbasis etabliert. In den USA wurde die sogenannte Sentinel Initiative von der FDA initiiert und im September 2007 gesetzlich verankert mit dem Ziel, einen Zugang zu elektronischen Gesundheitsdaten von 100 Mio. Personen für die aktive Überwachung von Arzneimitteln nach Marktzulassung zu ermöglichen. In Europa wird im Rahmen der Innovative Medicines Initiative (IMI), die gemeinsam von der EU und dem europäischen Verband der pharmazeutischen Industrie EFPIA gefördert wird, das EMIF Projekt zur Erschließung und Verlinkung elektronischer Gesundheitsdaten in Europa durchgeführt, um die Datengrundlage für die medizinische Forschung sowie die Arzneimittelentwicklung zu verbessern.4 In Großbritannien besteht beispielsweise seit 1987 die General Practice Research Database, die von der britischen Gesundheitsbehörde gefördert wird. Im Jahr 2011 wurde die Notwendigkeit des Ausbaus dieser elektronischen Gesundheitsdaten für die Forschung als Voraussetzung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens im Gesundheitsbereich erkannt. Das UK Department of Health schreibt daher anlässlich der Ausweitung und Umbenennung dieser Datenbank in Clinical Practice Research Datalink: „As part of this initiative The Government pledged to build a consensus on using e-health record data to create a unique position for the UK in health research.“5 In Deutschland verhindert § 75 SGB X einen relevanten deutschen Beitrag in der europäischen Forschungslandschaft zur Verbesserung der Dateninfrastruktur für medizinische Forschung. Damit verliert Deutschland den Anschluss an die z. B. in Großbritannien (GB), den Niederlanden (NL), Skandinavien oder Italien (I) durchgeführte Forschung auf Basis von elektronischen Gesundheitsdaten. Zu den wichtigsten Gesundheitsdatenbanken in Europa zählen CPRD (GB), THIN (GB), PHARMO (NL), SISR (I), OSSIF (I) und die skandinavischen nationalen Gesundheitsdatenbanken, die sich durch besonders vielfältige Linkage-Möglichkeiten auszeichnen. Ein großer Teil internationaler Erkenntnisse kann auf die deutsche Bevölkerung übertragen werden. Allerdings können Lebensumstände, Multimedikationen und auch genetische Dispositionen in anderen Ländern in relevanter Weise anderes gelagert sein, wodurch spezielle Expositionsrisiken hierzulande unentdeckt bleiben. Die Pharmakovigilanz stellt ein Anwendungsbeispiel der Wissensentdeckung in Daten dar, bei dem der Gesetzgeber wohl in besonderem Maße zur Ausgestaltung und Gewährleistung einer regelkonformen Datengewinnung und -nutzung verpflichtet ist. Anstatt die Datenbank GePARD durch Befristung in der Existenz zu gefährden, sollte geprüft werden, ob nicht alle gesetzlichen Krankenkassen zur Zurverfügungstellung ihrer Daten verpflichtet werden sollten – vergleichbar mit der Meldepflicht der Leistungserbringer für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Infektionen und Krebserkrankungen. Die Vollerfassung ist sinnvoll, da sich Erkrankungsrisiken und Erkrankungshäufigkeiten nicht 4vgl. http://www.imi.europa.eu/content/emif# [11.11.2015]. https://www.gov.uk/government/news/launch-of-the-clinical-practice-research-datalink [11.11. 2015]. 5vgl. Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 229 gleich über die Kassenarten verteilen – namentlich genannt werden können als Beispiel an dieser Stelle die Landwirtschaftlichen Krankenkassen, deren Mitglieder sich besonders durch resistente Keime und beruflichen Kontakt zu vielen antibiotischen Wirkstoffgruppen in einer speziellen Situation befinden. Ein anderes Beispiel sind die höheren Prävalenzen von Diabetes bei Mitgliedern der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) im Vergleich zu einzelnen Ersatzkassen. Auch solche Stoffwechselkonstellationen können Einfluss auf das Eintreten von Arzneimittelnebenwirkungen haben. Weitere Verbesserungsoptionen im gesamtgesellschaftlichen Interesse lägen in der Ausweitung der Medikationserfassung – insbesondere durch Erschließung zusätzlicher Medikationsinformationen aus Krankenhäusern, Krankenheimen, GUV-Dokumentationen, GRV-Maßnahmen und Rettungsdienstbetrieben. Des Weiteren muss die Befristung der Aufbewahrung und der Beendung der Datenzusammenführung infrage gestellt werden. Langzeitkomplikationen von Arzneimitteln wie z. B. Krebsrisiken sind nur untersuchbar, wenn die Medikationsdaten hinreichend lange aufbewahrt werden. Auch die Einbeziehung von patientengeführten Dokumentationen verdient, geprüft zu werden. Als weitere Alternative stellen wir im Kap. 20 „Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data?“ einen Vorschlag zur Integration von Basisdatensätze vor, die nicht bei den Krankenkassen für ihr jeweiligen Mitglieder, sondern für die gesamte Bevölkerung bei einer staatlichen Behörde oder einem Institut der Selbstverwaltung zusammengestellt werden. 4 Gezielte Datensammlungen: Streben nach Größe, Struktur und Präzision 4.1 Register, Kohorten und Biomaterialbanken Insbesondere am Beispiel der medizinischen Forschung mit Datenbeständen in den Universitätskliniken und in der Sozialversicherung sind wir dem Eindruck entgegengetreten, dass durch automatisierte Exploration großer Datenmengen, auch „Big-Data-Processing“ genannt, leicht valide Erkenntnisse für die Medizin gewonnen werden können. Es zeigt sich immer wieder, dass die für konkrete Fragestellungen notwendigen Fallmerkmale in den leicht verfügbaren Datenmengen fehlen. Dem zu begegnen werden – wie in Abschn. 2.2 vorgestellt – in der Einzelabwicklung klinischer Studien (RCT) genau in Studienprotokollen festgelegte Merkmale erhoben. Daneben gibt es in der medizinischen Forschung zwei weitere relevante Formen des Aufbaus von Datenbeständen: • Register und • Kohortendokumentationen. 230 J. Schepers und S. Semler Register und Kohorten sind Vorhaben der empirischen Forschung mit vergleichbaren Strukturen und Prozessen. Wesentliche Unterschiede bestehen in den beantwortbaren, wissenschaftlichen Fragestellungen, dem Zugang zu Probanden sowie der Organisation von Datenerhebung und -erfassung. Als Ergänzung findet immer öfter die Sammlung von Biomaterialien in sogenannten Biobanken statt, auf deren Bedeutung wir schon bei den klinischen Daten hingewiesen haben. Gemeinsam ist Registern und Kohorten die probandenbezogene Erfassung medizinischer Daten. Welche Daten erfasst werden und ob ergänzend Biomaterialien für spätere Analysen in Biobanken eingestellt werden, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich. In Registern und Kohortenstudien werden die Daten im Regelfall prolektiv erfasst; ebenso wie die Materialproben im Zeitablauf nach und nach eingelesen werden. Ausgehend von definierten Fragestellungen werden Datenelemente und Wertebereiche definiert, Erfassungszeitpunkte zugeordnet, in Formularen zusammengefasst und nach ihrer Erhebung in elektronisch unterstützte Erfassungssysteme eingegeben. Dies schließt eine Übernahme bestehender Daten, z. B. aus elektronischen Akten der Versorgung, nicht aus. Die Datenhaltung erfolgt in der Regel pseudonymisiert, da Register und Kohortenstudien vielfach Langzeitverläufe untersuchen, mithin Follow-ups mit erneut erforderlicher Zuordnung zum gleichen Probanden oder Patienten notwendig sind. 4.2 Register Register werden gemäß eines Memorandums des Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) als eine „möglichst aktive, standardisierte Dokumentation von Beobachtungseinheiten zu vorab festgelegten, aber im Zeitverlauf erweiterbaren Fragestellungen, für die ein präziser Bezug zur Zielpopulation transparent darstellbar ist“ definiert (vgl. Müller et al. 2010). Die Beobachtungseinheiten sind in der Regel Patienten mit Erkrankungen oder Therapien aus einem definierten medizinischen Gebiet. Ein besonderes Beispiel sind die Krebsregister, da sie auf einer eigenen gesetzlichen Grundlage beruhen, dem Krebsregistergesetz. Die Krebsregister unterteilen sich in klinische Krebsregister und epidemiologische Krebsregister. Da klinische Krebsregister typischerweise Personen einschließen, die unter einer Krankheit leiden oder sich einer Behandlung unterziehen, besteht regelhaft ein Kontakt der Probanden mit einer Einrichtung des Gesundheitswesens, z. B. einem Krankenhaus. Diese Einrichtung wird dann als Studienzentrum aktiver Bestandteil des Registers und übernimmt mit wenigen Ausnahmen die Kommunikation mit den Probanden. Da in der Regel eine gesunde oder anderweitig definierte Vergleichsgruppe nicht verfügbar ist, beschäftigen sich Register mit dem Verlauf von Erkrankungen oder der Folge von Behandlungen. Aussagen zu Risikofaktoren für Erkrankungen sind nicht möglich. Informationen zu laufenden Registern stehen über die TMF für deren Mitgliedsverbünde (www.tmf-ev.de) und zu Krebsregistern über die Gesellschaft der Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 231 epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (GEKID, www.gekid.de) sowie die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren (ADT, www.tumorzentren.de) zur Verfügung. Daten aus den klinischen Registern werden auf der Basis des Krebsregistergesetzes ansatzweise automatisiert an epidemiologische Krebsregister übertragen, die auf Länderebene und zusammenfassend für die Bundesebene im Zentrum für Krebsregisterdaten (ZfKD) im Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin angesiedelt sind. Nach Angaben des ZfKD im RKI ist die Voraussetzung für die Ergebnisqualität von epidemiologischen Registern ein möglichst hoher Vollzähligkeitsgrad von deutlich über 90 % aller Neuerkrankungen. Die Anforderungen an klinische Register gehen noch darüber hinaus. Da die relativ kleinen Fall- und Ereigniszahlen empfindlich auf (fehlende) Ereignisse reagieren, müssen die Fälle beim jeweiligen Leistungserbringer (Krankenhaus, Praxis) zu hundert Prozent vollzählig erfasst werden. Darüber hinaus ist es wichtig, alle relevanten Informationen des gesamten Erkrankungsverlaufs vollständig auch über das Therapieende hinaus zu erfassen. Häufig sind die Indikatoren Fünf-Jahres-Überlebensrate oder Fünf-JahresRezidivfreiheit wichtige Surrogatparameter, wenn der finale Endpunkt jenseits des Beobachtungshorizontes liegt. Als weitere Beispiele aus einer großen Vielzahl können die Register der Kompetenznetze Ambulant Erworbene Pneumonie (CAPNETZ), Angeborene Herzfehler (Nationales Register für angeborene Herzfehler e. V.), Demenzen, Depression, Hepatitis (HepNet), HIV/AIDS, Parkinson, Rheuma (Deutsches Biologika Register RABBIT) und Vorhofflimmern (AB1-Vorhofflimmern-Register) sowie das Register des Brain-Net (Hirnspender-Register) sowie das Herzinfarkt- und das Endoprothesenregister genannt werden. Eine auch nur annähernd repräsentative Auflistung der in Deutschland vorhandenen medizinischen Register, die keinen speziellen gesetzlichen Vorgaben unterliegen, ist nicht möglich. Schon die Abgrenzung gegenüber lokal dokumentierten Krankheitsbeobachtungen macht es schwierig, die Anzahl der qualifiziert geführten Register in Deutschland zu schätzen. Die Größenordnung von über 1.000 qualifizierten, über einen längeren Zeitraum geführten medizinischen Registern ist aber nicht unrealistisch. Eine substanzielle Übersicht fehlt jedoch – anders als für den Bereich der klinischen Studien, für die ein zentrales Register in Freiburg existiert. Gleichwohl wäre es im Sinne der Forschungseffizienz, der Kooperationsförderung, der Transparenz und der Qualitätsentwicklung von großer Bedeutung, ein zentrales Verzeichnis aufzubauen. TMF und DNVF haben in der Vergangenheit mehrere Anläufe in dieser Richtung unternommen und schließlich ein mit vielen Registerbetreibern und Fachgesellschaften abgestimmtes Modell für ein zentrales Registerportal, ein „Register der Register“ (RoR) erarbeitet und vorgelegt (vgl. Stausberg et al. 2014). Bislang fehlt jedoch eine Finanzierung für Implementierung und Betrieb, sodass es für diesen wichtigen Bereich medizinischer Daten bis dato keinen Überblick über bestehende Datenbestände gibt. Große und vielfältige Datenmengen: Ja. Big Data im engeren Sinne: Nein. 232 J. Schepers und S. Semler 4.3 Kohortenstudien Kohortendokumentationen stellen Datensammlungen über Gruppen von Probanden dar, die bei ihrem Zugang nicht über eine bereits eingetretene Krankheit, sondern eher über den Wohnort, das Alter und das Geschlecht ausgewählt werden und die über eine bestimmte Zeit verfolgt werden (AG Glossar des DNEbM 2011). Der Zugang zu Probanden erfolgt bei Kohorten im Regelfall nicht über Einrichtungen des Gesundheitswesens, sondern über eine Direktansprache durch ein für die Kohorte aufgebautes Zentrum. Probanden sind häufig keine Patienten. Sie können, sie müssen aber nicht erkrankt sein. Durch diesen anderen Zugang können basierend auf Kohorten Aussagen zu Risiken von Erkrankungen oder Behandlungen getroffen werden, da in ihnen Probanden unabhängig von diesen Ereignissen eingeschlossen werden. Die Erhebung und Erfassung der Daten findet bei Kohorten durch eigenes Personal in eigenen Räumlichkeiten statt. Es bestehen daher wesentlich bessere Möglichkeiten zur Kontrolle der eingesetzten diagnostischen Verfahren sowie zum Vorgang der Datenerfassung. Wie bei Registern finden bei Kohorten keine Interventionen statt. Einen Überblick zu Kohorten in Deutschland bieten ein Heft des Bundesgesundheitsblatt zu Kohorten aus dem Jahre 2012 (Pigeot und Ahrens 2012) und das wissenschaftliche Konzept der Nationalen Kohorte (Nationale Kohorte 2011). Idealerweise laufen Kohortenstudien über viele Jahre wie die inzwischen gestartete Nationale Kohorte, für die zunächst ein Zeitraum von zwanzig Jahren vorgesehen ist, die KORA-Studie im Raum Augsburg und das Sozioökonomische Panel, die es seit den achtziger Jahren gibt, oder PopGen in Schleswig-Holstein und SHIP in Vorpommern, die nach der Jahrtausendwende gestartet wurden. Auch die jährlich neuen Viertel des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes oder dessen gesamte aktuelle Befragungsgruppe können jeweils als Kohorten interpretiert werden – mit immerhin 390.000 Haushalten bzw. 830.000 Personen, wenn auch mit einer grenzwertig kurzen Laufzeit von vier Jahren. Seit dem Jahre 2013 werden im Rahmen des Mikrozensus auch Fragen zur Gesundheit, z. B. zum Rauchverhalten, erhoben. Große und vielfältige Datenmengen: Ja. Big Data im engeren Sinne: Nein. 4.4 Biomaterialbanken Biomaterialbanken (Biobanken, BMB) stellen aus statistischer und epidemiologischer Sicht keine dritte Variante der Studiendokumentation dar, sondern gewissermaßen nur eine andere Form der Informationsspeicherung. In Biobanken werden feste und/oder flüssige Biomaterialproben unter langjährig kontrollierten Bedingungen (meist tiefgefroren) aufbewahrt. Zu den Probenmaterialien können Gewebeproben aller Organe, sowohl von gesunden als auch von pathologisch veränderten Strukturen, und alle Arten von Körperflüssigkeiten wie Blut, Serum, Liquor, Lymphe, Sperma und Tränen gehören. Die Aufbewahrung erfolgt definitionsgemäß über ein konkretes Vorhaben oder eine einzelne Studie hinaus, um Nachuntersuchungen oder die Nachnutzung der Proben im Kontext anderer Studien zu ermöglichen. Die langfristige Aufbewahrung von humanen Proben, Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 233 sowohl im klinischen wie im epidemiologischen Kontext, ist insbesondere deshalb interessant, da auch künftige Laborparameter zu einer Probe untersucht werden können, die unter Umständen zum Zeitpunkt der Probenentnahme noch gar nicht bekannt waren. Und sicher werden weiterhin neue Analyseverfahren entwickelt, die in Zukunft die führenden diagnostischen Parameter erschließen. Nur wenige Fachleute haben vor zwanzig Jahren eine individuell bezahlbare Gesamtgenomsequenzierung für möglich gehalten. Und es geht weiter bei der molekularen Analyse aller Arten von Epigenom, Transkriptom, Proteom und Mikrobiom. Zahlreiche Biobanken werden auch unabhängig von speziellen Registern und Kohorten betrieben und bestehen dann nicht nur aus der Probe und den zugehörigen Analysedaten, sondern umfassen auch klinische Annotationsdaten zu den betreffenden Probanden oder Patienten. Diese Datenbestände können klinische Daten aus der Patientenbehandlung (z. B. in den IT-Systemen des behandelnden Krankenhauses), Registeroder Kohortendaten sein oder gesondert erhoben werden. Bezüglich einer Übersicht über bestehende Biobanken in Deutschland sei auf das Deutsche Biobanken-Register (DBR) verwiesen. Große und vielfältige Datenmengen: Ja. Big Data im engeren Sinne: Nein. 5 Fazit: Auf die richtige Mischung kommt es an Medizinische Forschung kann mit einer Vielfalt von Fragestellungen, Methoden und Datenauswertungen zur weiteren kontinuierlichen Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen. Manchmal ergeben sich mit und ohne große Datenmengen zufällig neue Erkenntnisse und Innovationen. In der Regel aber müssen diese jedoch durch gezielten Einsatz von großen Ressourcenmengen systematisch erarbeitet werden. Dazu gehört die Berücksichtigung der Anforderungen der medizinischen Forschung bei der Gestaltung der Informationsstrukturen und -prozesse in den Einrichtungen der Gesundheitsversorgung. Sowohl aus der Qualitäts- wie auch aus der Ökonomieperspektive wird ein Nebeneinander von verschiedenen Formen und Größen von Datensammlungen benötigt. Der Wissenschaft eine ausschließliche Rolle eines Sekundärnutzers zuzuweisen, wäre dabei gänzlich unangemessen. Dort wo die medizinische Forschung spezielle Daten benötigt, müssen nach Möglichkeit eigenständige Strukturen unterhalten werden. Dies kann freilich schon aus ökonomischen Gründen nicht der einzige Weg sein – man wird nicht zu jedweder medizinischen Fragestellung ein spezifisches Forschungsregister mit eigener De-novo-Datenerhebung einrichten und betreiben können. Vielmehr ist aus inhaltlichen wie ökonomischen Gründen – insbesondere im Bereich Versorgungsforschung – ein Ausbau der Mehrfachnutzung von Versorgungsdaten zu Forschungszwecken alternativlos, wobei sich dies nicht allein auf sekundäre Routine- bzw. Sozialdaten beschränken darf, sondern die primäre Behandlungsdokumentation einschließen muss. Hierfür sind qualitative und ökonomische Kompromisse, aber auch die Vereinfachung der Rahmenbedingungen zwingend erforderlich. Insbesondere wäre es klug, die Nachnutzung von Daten 234 J. Schepers und S. Semler für Forschung und Gesundheitssystementwicklung schon bei der Ausgestaltung medizinischer Dokumentation und der Formatierung von Routinedaten vermehrt zu bedenken, mit zu planen und zu alimentieren. Der Einsatz von „krudem“ Big-Data-Processing mit der Auswertung beliebiger vorhandener Daten in Analogie zum Internetvertrieb von Waren entspricht nicht den Anforderungen von Medizin und Gesundheitssystem: Ziel dieses Beitrags war es, die Aussage von Antes zu untermauern, wonach in der medizinischen Forschung Erkenntnisse auch mit großen Datenmengen in der Regel nicht so leicht gewonnen werden, wie es Verlautbarungen über die Vermessung und Verwertung der Welt mit Big Data auch für Medizin und Gesundheitssystem immer wieder beziehungsweise immer noch suggerieren. Wenn für die anspruchsvolle Forschung hingegen Big-Data-Technologien und -Methoden mit angemessener Sorgfalt in domestizierter Form gezielt eingesetzt werden, wird sie von den informatorischen Fortschritten weiterhin profitieren. Diesen Gedanken greifen wir im 20. Kapitel dieses Sammelbandes bezogen auf Versorgungsforschung und Systemsteuerung unter dem Titel „Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data?“ noch einmal aus einer anderen Perspektive auf. Literatur AG Glossar des DNEbM (2011) Glossar zur Evidenzbasierten Medizin. Stand: Oktober 2011. http://www.ebm-netzwerk.de. Zugegriffen: 13. Sept. 2014 Almenoff J, Tonning J, Gould A, Szarfman A, Hauben M, Ouellet-Hellstrom R, Ball R, Hornbuckle K, Walsh L, Yee C, Sacks S, Yuen N, Patadia V, Blum M, Johnston M, Gerrits C, Seifert H, LaCroix K (2005) Perspectives on the use of data mining in pharmacovigilance. Drug Safety 28(11):981–1007 Antes G (2015) Eine neue Wissenschaft-(lichkeit)? Laborjournal 2015(10). http://www.laborjournal.de/editorials/981.lasso. Zugegriffen: 5. Nov. 2015 Bates D, Evans R, Murff H, Stetson P, Pizziferri L, Hripcsak G (2003) Detecting adverse events using information technology. J Am Med Inform Assoc 10(2):115–128 Buytendijk F (2014) Hype cycle for Big Data. http://blogs.gartner.com/svetlana-sicular/big-data-isfalling-into-the-trough-of-disillusionment/. Zugegriffen: 11. Nov. 2015 Charité Portal − Institut für Hygiene und Umweltmedizin (2015) Häufig gestellte Fragen: Wie viele Todesfälle treten im Zusammenhang mit Krankenhausinfektionen auf? http://hygiene.charite.de/service/haeufig_gestellte_fragen_faq/. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Gammon K (2014) Gene therapy: editorial control. Nature 515:11–S13 Goldman S (1998) Limitations and strengths of spontaneous reports data. Clin Ther 20(Suppl C): C40–C44 Gould J (2014) Gene therapy: genie in a vector. Nature 515:160–S161 Grimes S (2013) Big Data: avoid ,Wanna V‘ confusion. InformationWeek, 7. Aug. http://www. informationweek.com/big-data/big-data-analytics/big-data-avoid-wanna-v-confusion/d/did/1111077. Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Hauben M, Bate A (2009) Data mining in pharmacovigilance. In: Balakin KV von (Hrsg) Pharmaceutical data mining. John Wiley & Sons, Hoboken, S 339–377 Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data? 235 Hauben M, Madigan D, Gerrits C, Walsh L, Van Puijenbroek E (2005) The role of data mining in pharmacovigilance. Expert Opin Drug Saf 4(5):929–948 Hulverscheidt C (2015) Diesel-Skandal − Wieso sich VW auf dünnem Eis bewegt. Süddeutsche Zeitung online, 03.11.2015. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/diesel-skandal-wieso-sichvw-auf-duennem-eis-bewegt-1.2719951. Zugegriffen: 7. Nov. 2015 Laney D (2001) 3-D Data management: controlling data volume, velocity and variety. META group, Application delivery strategies, File 949, 6. Febr. 2001. http://blogs.gartner.com/doug-laney/ files/2012/01/ad949-3D-Data-Management-Controlling-Data-Volume-Velocity-and-Variety.pdf. Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Lazarou J, Pomeranz BH, Corey PN (1998) Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a meta-analysis of prospective studies. JAMA 279(15):1200–5 McKinsey (2013) The Big Data revolution in US healthcare. http://healthcare.mckinsey.com/ big-data-revolution-us-healthcare. Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Müller D, Augustin M, Banik N et al (2010) Memorandum Register für die Versorgungsforschung. Gesundheitswesen 72(11):824–839 Münch E, Scheytt S (2014) Netzwerkmedizin: Ein unternehmerisches Konzept für die altersdominierte Gesundheitsversorgung. Springer, Wiesbaden Nationale Kohorte (2011) The national cohort. A prospective epidemiologic study resource for health and disease research in Germany. Wissenschaftliches Konzept der Nationalen Kohorte (Stand Februar 2011) Oettinger G (2015) Keynote auf der Veranstaltung des Ethikrates „Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit“, 21.05.2015, Berlin. http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/die-vermessung-des-menschen. Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (2015) Wissenschaftliche Forschung. http://lexikon.stangl.eu/3349/wissenschaftliche-forschung/. Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Pigeot I, Ahrens W (2012) Quo vadis, Kohorte? (Editorial). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 55(6):753–755 Pigeot I, Windeler J (2005) Klinische Prüfung nach der Zulassung. In: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 48:580–585 Prokosch HU (2001) KAS, KIS, EKA, EPA, EGA, E-Health: − Inform Biom Epidemiologie Med Biol 32(4):371–382 Schepers J, Peuker M (2014) Informationsmanagement für die Systemmedizin – an der nächsten digitalen Schwelle. In Langkafel P (Hrsg) Big Data in Medizin und Gesundheitswirtschaft. Verlag medhochzwei, Heidelberg Schepers J, Geibel P, Tolxdorff T (2013) Evaluation der computer-linguistischen Texterschließung neuro-radiologischer Befunde im Berliner BFG-Projekt. Vortrag beim KIS-RIS-PACS- und DICOM-Treffen, Mainz, 21.6.2013 Schink T, Holstiege J, Kowalzik F, Zepp F, Garbe E (2014) Risk of febrile convulsions after MMRV vaccination in comparison to MMR or MMR+V vaccination. Vaccine 32:645–650 Sicular S (2013) Big Data is falling into the trough of disillusionment. http://blogs.gartner.com/svetlana-sicular/big-data-is-falling-into-the-trough-of-disillusionment/. Zugegriffen: 11. Nov. 2015 Spiegel Online (2002) Lipobay-Skandal − Bittere Pille für Bayer. 12.11.2002. http://www.spiegel. de/wirtschaft/lipobay-skandal-bittere-pille-fuer-bayer-a-222457.html. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Stausberg J, Semler SC, Neugebauer E (2014) Ein Register für Register und Kohorten: Empfehlungen zu Metadaten und Verfahrensregeln. Gesundheitswesen 76(12):865–873 Süddeutsche Zeitung (2010) Medikamente und Nebenwirkungen − Bis zu 25.000 Todesfälle durch Medikamente. Süddeutsche Zeitung online, 17.05.2010. http://www.sueddeutsche.de/wissen/ medikamente-und-nebenwirkungen-bis-zu-todesfaelle-durch-medikamente-1.793240. Zugegriffen: 19. Nov. 2015 236 J. Schepers und S. Semler Suling M, Pigeot I (2012) Signal detection and monitoring based on longitudinal healthcare data. Pharmaceutics 4(4):607–640 TMF-Workshop (2015) Text-Mining in der medizinischen Forschung – wie weit sind wir? – Workshop am 28.01.2016 im Kaiserin-Friedrich-Haus. (http://www.tmf-ev.de/News/ArticleType/ ArticleView/ArticleID/1689.aspx). Zugegriffen: 4. Dez. 2015 Wegscheider K, Koch-Gromus U (2015) Die Versorgungsforschung als möglicher Profiteur von Big Data. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 58(8):806–812 Weiterführende Literatur Biehn N (2013) The missing V’s in Big Data: viability and value. WIRED, 6. Mai 2013. http:// www.wired.com/insights/2013/05/the-missing-vs-in-big-data-viability-and-value/ Pigeot I, Jacobs S, Koch-Gromus U (2015) Große Datensammlungen im Gesundheitswesen – Chance oder Risiko? (Editorial). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 58(8):7–8 Über die Autoren Dr. Josef Schepers Schepers ist Mediziner und Gesundheitsökonom, vielfältige Projekte in Medizininformatik und Gesundheitssystemmanagement im Universitätsklinikum Benjamin Franklin, im HIS-Institut der 3M Deutschland GmbH und in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er ist Genossenschaftsmitglied im HCMB Institute for Health Care Systems Management Berlin eG. Kontakt: josef.schepers@hcmb.org Sebastian C. Semler  Seit 2004 ist Sebastian C. Semler (Wissenschaftlicher) Geschäftsführer der TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. Neben der Außenvertretung und Repräsentanz der TMF obliegt ihm die fachliche Begleitung von Arbeitsgruppen und TMF-Projekten u. a. zu den Themen Biobanken, klinische Studien, Datenschutz und Datenstandardisierung. Sebastian Claudius Semler ist approbierter Arzt mit dem Zertifikat Medizinische Informatik der GMDS/GI und war viele Jahre als Lehrbeauftragter am Institut für Molekularbiologie & Biochemie der Freien Universität Berlin bzw. Charité Berlin tätig. Kontakt: Sebastian.Semler@tmf-ev.de Teil IV Projekte, Evaluationen, Positionen zu E-Health in der Gesundheitswirtschaft Die Frage nach einer nationalen IT-Strategie mit ihren ökonomischen Effekten ist nach wie vor eine offene Frage. Welchen Nutzen bzw. welche Kosten entstehen, wenn national benötigte Lizenzen und Gebühren nicht national eingekauft werden? Diese Frage wird am Beispiel Snomed CT beantwortet. „Weiche Effekte“ – auch Intangibles genannt – stellen ein zentrales Problem bei der ökonomischen Analyse dar, die monetär bewertbare Effekte analysieren möchte und deren „intangiblen Effekte“ nicht oder sehr schlecht monetär bewertbar sind. Die Frage nach den Intangibles und ihre Überführung in „Tangibles“ erfolgt im zweiten Beispiel. Es kann gezeigt werden, wie die Qualität einer Schnittstelle monetär messbar gemacht werden kann (es entfällt ja nicht nur die Tipparbeit, sondern es entfallen auch die Fehler, die beim Tippen entstehen). Die klinische Forschung ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitswirtschaft, um nach der Grundlagenforschung neue Gesundheitstechnologien wie Arzneimittel oder Medizinprodukte in der Versorgung evidenzbasiert zu Verfügung zu stellen. Das vorgestellte Praxisbeispiel zeigt auf, wie schnell sich eine einfache Import-Schnittstelle zwischen einem Medizingerät und einer Datenbank für die klinische Forschung amortisiert. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer Referenzterminologie für Deutschland aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik Heike Dewenter und Sylvia Thun 1 Einleitung Für die qualitativ hochwertige Dokumentation, Verarbeitung und den sicheren Austausch von Gesundheitsdaten werden E-Health-Standards benötigt, die den Anforderungen eines modernen Gesundheitssystems in besonderem Maße entsprechen. Die steigende Relevanz von SNOMED CT als internationale Referenzterminologie rechtfertigt eine Auseinandersetzung mit deren Einsatz in Deutschland. Sämtliche Eigentumsrechte an SNOMED CT sind im Besitz der International Health Terminology Standards Development Organisation (IHTSDO). Ein Zugang zu kostenlosen Nutzerlizenzen für SNOMED CT ist auf nationaler Ebene lediglich IHTSDO-Mitgliedsländern vorbehalten. Auf nationaler Ebene kommt die Terminologie momentan in Einzelprojekten zum Einsatz und ist für die jeweiligen Nutzer, wie z. B. Krankenhäuser, grundsätzlich lizenz- und kostenpflichtig. Durch die Ermangelung eines belegbaren Mehrwerts werden der Beitritt zur IHTSDO sowie eine landesinterne Implementierung von SNOMED CT kontrovers diskutiert. Als Hinderungsgrund gilt insbesondere die erhebliche, am Bruttoinlandsprodukt orientierte Mitgliedsgebühr von ca. 1,11 Mio. US$ p. a. (vgl. IHTSDO 2014a). Darüber hinaus gestaltet sich die Quantifizierung des korrelierten Nutzens als schwierig. Die steigende Relevanz von SNOMED CT als Referenzterminologie auf internationaler Ebene rechtfertigt eine intensive Beschäftigung mit deren Einführung in Deutschland. H. Dewenter (*)  Compentence Center eHealth, Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: heike.dewenter@hs-niederrhein.de S. Thun  Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen, Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: Sylvia.Thun@hs-niederrhein.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_14 239 240 H. Dewenter und S. Thun Neben einer Einschätzung der informations- und kommunikationstechnologischen Notwendigkeit des Standards für nationale E-Health-Anwendungen kommt der Nutzenbeurteilung aus ökonomischer Sicht eine besondere Bedeutung zu. Innerhalb der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) sind gesellschaftlich etablierte Regeln als Institutionen definiert. Nach den Prinzipien der NIÖ trägt die Durchsetzung allgemeingültiger Regeln oder Standards innerhalb eines definierten Bereiches zum rationalen Umgang mit Unsicherheiten zwischen Akteuren bei und reduziert Transaktionskosten. Dieser Umstand stiftet wiederum einen gesellschaftlichen Mehrwert (vgl. Voigt 2009, S. 13 ff.). Innerhalb dieses Kapitels wird analysiert, ob die landesinterne Einführung des terminologischen Standards SNOMED CT sowie die anhängige Mitgliedschaft Deutschlands in der IHTSDO über ein relevantes Nutzenpotenzial aus der Perspektive der NIÖ verfügt. Hierbei werden die drei wichtigsten theoretischen Ansätze, die Transaktionskostentheorie, die Verfügungsrechtetheorie und die Vertragstheorie betrachtet. Wesentliche Fragestellungen sind hierbei: • Ergibt sich aus institutionenökonomischer Perspektive durch einen Beitritt Deutschlands zur IHTSDO eine vorteilhaftere Lizenzierungsstruktur für SNOMED CT gegenüber der momentanen Einzellizenzierungsform in der Nicht-Mitgliedschaft? • Besteht bei einem Beitritt Deutschlands zur IHTSDO der Vorteil, die Transaktionskosten gegenüber der Einzellizenzierungsform geringer zu halten? • Besteht bei einem Beitritt Deutschlands zur IHTSDO der Vorteil einer einfacheren und übersichtlicheren nationalen Struktur der Verfügungsrechte? • Besteht bei einem Beitritt Deutschlands zur IHTSDO im Gegensatz zur Einzellizenzierungsform ein Vorteil im Sinne der Vertragstheorie, z. B. durch eine Reduktion von Informationsasymmetrien? 2 Institutionenökonomik Die Betrachtung eines Einsatzes von SNOMED CT in Deutschland sowie einer nationalen IHTSDO-Mitgliedschaft aus der Perspektive der NIÖ erfordert zu Beginn eine Erläuterung wesentlicher Grundlagen. Zu Beginn erfolgt eine Darstellung des ökonomischen Ansatzes der Neoklassik auf den die NIÖ direkten Bezug nimmt. Die NIÖ wird mit ihren theoretischen Ansätzen ebenfalls detailliert dargestellt. Anwendungen aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) im Gesundheitswesen aus der Perspektive der NIÖ wurden zuvor an anderer Stelle untersucht. Da diese Erkenntnisse in vorliegenden Kontext von hohem Interesse sind, erfolgt deren Vorstellung zum Abschluss. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 241 2.1 Neoklassik Die Neoklassik beschreibt einen wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz mit Ursprung im 19. Jahrhundert, der das ökonomische Denken bis in die 1970er Jahre entscheidend beeinflusst hat. Das Grundelement der Neoklassik ist das theoretische Modell des „Homo oeconomicus“. Dieses kennzeichnet einen individuellen Akteur als Wirtschaftssubjekt, welcher primär: • • • • • • eigeninteressiert handelt, rational handelt, seinen eigenen Nutzen maximiert, auf Restriktionen reagiert, feststehende Präferenzen hat, über vollständige Informationen verfügt. Darüber hinaus bestehen weitere Grundannahmen: • • • • • Alle Wirtschaftssubjekte haben eine perfekte Voraussicht über jegliche Handlungen. Es besteht vollkommene Rationalität aller Wirtschaftssubjekte. Es herrscht vollkommene Markttransparenz. Zu Transaktionen existieren lediglich vollständige Verträge. Die Transaktionskosten sind gleich Null. Kennzeichnend dabei ist, dass in der neoklassischen Theorie Institutionen nicht von Bedeutung sind. Der Fokus liegt auf der Allokationseffizienz, also dem maximalen Output an Gütern bei bestmöglicher Abstimmung der Präferenzen einzelner Wirtschaftssubjekte (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 1 ff.). 2.2 Neue Institutionenökonomik Die NIÖ ist ein theoretischer Ansatz aus dem Bereich der Volkswirtschaftslehre, mit dem Fokus auf Institutionen und deren Auswirkung auf Arrangements der Wirtschaft. Der Begriff der NIÖ wurde erstmalig im Jahr 1975 durch den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Oliver E. Williamson geprägt. Den initialen Beitrag zu diesem Ansatz veröffentlichte zuvor der britische Wirtschaftswissenschaftler Ronald Coase in dessen Aufsatz „The Nature of the Firm“. Coase beschreibt darin die Relevanz auftretender Transaktionskosten für die Nutzung des Marktes. Wenn ein Akteur ein Gut über den Markt erwirbt, treten zusätzlich zu den Erwerbskosten für das Gut anhängige Kosten auf, um dieses Gut zu erlangen. Letztere werden als Transaktionskosten bezeichnet und beinhalten z. B. Such- und Informationskosten oder Verhandlungskosten. Das zentrale Ziel von Unternehmen ist nach Coase die Minimierung dieser Transaktionskosten. 242 H. Dewenter und S. Thun Die Abwicklung von Transaktionen kann durch den Einsatz eines hierarchisch übergeordneten und korrektiven Verwaltungsorgans günstiger erfolgen als über den freien Markt, wo z. B. zusätzliche Kosten für die Überwachung von Verträgen entstehen. In dem dargestellten Kontext wirkt das Vorhandensein der Institution des Verwaltungsorgans durch die daraus resultierende Reduktion von Transaktionskosten Nutzen stiftend. Die Höhe der Transaktionskosten ist insgesamt von der Ausprägung des institutionellen Rahmens abhängig, in dem die Wirtschaftssubjekte agieren (vgl. Coase 1937; vgl. Ménard und Shirley 2008, S. 1 ff.). Da in der Realität grundsätzlich Transaktionskosten auftreten, sind institutionelle Arrangements von Bedeutung (vgl. Blum et al. 2005). Während der ökonomische Ansatz der Neoklassik eine vollständige Rationalität aller Wirtschaftssubjekte postuliert, geht die NIÖ von einer beschränkten Rationalität der Teilnehmer aus. Darüber hinaus besteht die Annahme, dass Tauschhandlungen nicht kostenlos durchgeführt werden. Beschränkte Rationalität und positive Transaktionskosten sind eng miteinander verknüpft. Eine strategische Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte besteht immer dann, wenn das Ergebnis einer Handlung von zwei unterschiedlichen Akteuren abhängt. Akteur A kann vollkommen unterschiedliche Ziele verfolgen als Akteur B. Das potenzielle Zurückhalten von Informationen oder das gegenseitige Misstrauen von Vertragspartnern reduzieren die Bereitschaft miteinander, Geschäftsbeziehungen einzugehen. Es ist nachvollziehbar, dass unter strategischer Unsicherheit bestimmte Transaktionen im ungünstigsten Fall nicht zustande kommen. Institutionen dienen als regulative und steuernde Instanzen dazu, genau diese Unsicherheiten zu reduzieren und individuelle Verfügungsrechte zu schützen (vgl. Voigt 2009, S. 24 ff.). Der eigentliche Begriff der Institution ist neben der Institutionenökonomik in diversen anderen Fachrichtungen wie der Soziologie oder der Politik verankert und vielschichtig definiert. North (1990) beschreibt z. B. Institutionen als Spielregeln der Gesellschaft. Darüber hinaus sind zwei weitere Definitionsansätze von Bedeutung (vgl. Voigt 2009, S. 26): • Eine Institution ist das Ergebnis eines Spiels • Eine Institution ist die Regel eines Spiels Institutionen sind durch Menschen festgelegte Beschränkungen wiederkehrender zwischenmenschlicher Interaktionen. Sie gestalten Anreize zu menschlichem Austausch auf sozialer, ökonomischer und politischer Ebene. Zu den Institutionen zählen jegliche Arten von Regeln, Gesetzen, Normen und Vereinbarungen (einschließlich deren Durchsetzungsmechanismen) in schriftlicher oder nicht-schriftlicher Form. Institutionen besitzen eine Regelkomponente sowie eine Durchsetzungs- bzw. Sanktionskomponente. Wechselbeziehungen zwischen Individuen werden durch Regeln geordnet, um ein stabiles Handlungsumfeld in der Gruppe sicherzustellen. Bei einer Missachtung dieser Vorschriften treten mit der Institution verknüpfte Sanktionen ein (vgl. Voigt 2009, S. 26 ff., in Anlehnung an vgl. Ostrom 1986). Regeln können jeweils zwei verschiedene Formen SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 243 annehmen. Während Gebote bestimmte Handlungen vorschreiben, können Verbote wiederum andere Handlungen untersagen (vgl. Voigt 2009, S. 28). Institutionen können in Bezug auf ihren Durchsetzungsmechanismus als interne oder externe Institutionen bezeichnet werden. Erstere können ohne Rückgriff auf eine staatliche Instanz durchgesetzt werden. Zu den internen Institutionen zählen Selbstüberwachung, imperative Selbstbindung, spontane und geplante Überwachung durch andere Akteure. Als externe Institutionen gelten die Regeln der organisierten staatlichen Überwachung (vgl. Voigt 2009, S. 31). Institutionen bewirken (vgl. Blum et al. 2005, S. 28): • Eine Beschränkung der individuellen Freiheit mit der Folge, dass Unsicherheiten über das Verhalten von Interaktionspartnern reduziert werden, • eine Reduktion von Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen Zielverfolgung, • eine Beeinflussung der Anreizstruktur aller Interaktionspartner, • eine genaue Beschreibung und Verteilung von Verfügungsrechten. Ostrom (2005) betont, dass Individuen in einer institutionell geprägten Umwelt eigene Verhaltensstrategien überlegen und verfolgen. Diese haben wiederum Auswirkungen auf die Individuen selbst und andere (beteiligte) Personen. Insgesamt hat der institutionelle Wandel einen direkten Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung (vgl. North 1990). Die NIÖ kann als eine Weiterentwicklung des neoklassischen Ansatzes bezeichnet werden. Hinsichtlich des methodologischen Individualismus1 sind in der NIÖ Institutionen nicht allein das Ergebnis individuell-rationalen Verhaltens. Zusätzlich wird die Hypothese der perfekten Rationalität durch das Aufkommen von Kosten für die Entscheidungsfindung eingegrenzt. Zu den einzelnen Elementen der NIÖ zählen diverse Analysemethoden auf der Grundlage theoretischer Ansätze wie die Instrumente der NIÖ, die Transaktionskostentheorie, die Theorie der Verfügungsrechte und die Ökonomische Vertragstheorie. Diese Ansätze werden im methodischen Teil der Arbeit eingesetzt und im Abschn. 2.3 ausführlich erläutert. 2.3 Theoretische Ansätze der Neuen Institutionenökonomik Eine komparative Institutionenanalyse beinhaltet den Vergleich alternativer institutioneller Arrangements mittels ökonomisch interessanter Variablen. Es werden jeweils realisierte Institutionen im Hinblick auf die theoretischen Ansätze der NIÖ miteinander verglichen. Dabei sind z. B. die Transaktionskosten der betrachteten Institutionen von 1Dem methodologischen Individualismus zufolge sind Phänomene wie z. B. Institutionen über das Verhalten von Individuen zu erklären. 244 H. Dewenter und S. Thun Interesse, also die Kosten, die mit der Bereitstellung und Nutzung verbunden sind. Auf dieser Basis kann eine ökonomische Bewertung von Institutionen erfolgen. 2.3.1 Die Transaktionskostentheorie Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Transaktionskostentheorie (TKT) ist die Transaktion. Unter Transaktionen werden Vorgänge verstanden, bei denen die Verfügungsrechte an Wirtschaftsobjekten (Güter, Dienstleistungen, Forderungen) mit oder ohne Gegenleistung von einem Wirtschaftssubjekt auf ein anderes übertragen werden (vgl. Wohltmann 2014). Die Aufgabe der TKT ist die Beurteilung der Effizienz institutioneller Arrangements, in deren Rahmen Transaktionen auftreten. Die TKT besagt, dass die Abwicklung von Verträgen mit Transaktionskosten verbunden ist. Dazu zählen alle Aufwendungen, die der Übertragung, Bereitstellung, Änderung und Durchsetzung von Institutionen zugeordnet werden können. Wie in Abschn. 2.2 beschrieben, liegt der Ursprung der Transaktionskostentheorie in dem von Coase (1937) veröffentlichen Aufsatz „The Nature of the Firm“. Transaktionskosten treten für die Informationsbeschaffung zu Verträgen, bei Vertragsverhandlungen und Vertragsabschlüssen auf. Durch die Neugründung von Unternehmen können diese Kosten reduziert werden, da gleichzeitig eine Verringerung der Anzahl von Verträgen stattfindet. Nach Coase wachsen Unternehmen so lange, wie die externen Transaktionskosten die internen Transaktionskosten, welche sich auf unternehmensinterne Transaktionen beziehen, übersteigen. Transaktionskosten lassen sich wie folgt unterteilen (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 59): • Vertragsanbahnungskosten: Such- und Informationskosten (ex ante) • Vertragsabschlusskosten: Verhandlungs- und Entscheidungskosten (ex ante) • Vertragsdurchsetzungskosten: Überwachungs-, Durchsetzungs- und Anpassungskosten (ex post) • Kosten für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Beziehungen Fixe Transaktionskosten sind spezifische Investitionen im Zusammenhang mit der Einrichtung von Institutionen. Variable Transaktionskosten sind, ungleich der fixen Transaktionskosten, von der Anzahl oder dem Umfang der Institutionen abhängig (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 58). Die TKT beinhaltet drei Verhaltensannahmen der Akteure: Beschränkte Rationalität, Risikoneutralität und Opportunismus. Beschränkte Rationalität beschreibt, dass die Akteure nicht in der Lage sind, in der komplexen Umwelt alle Bedingungen zur Vertragsgestaltung ausnahmslos zu erfassen. Es wird somit ein gewisses Maß an Unsicherheit unterstellt. Risikoneutralität unterstellt, dass alle Akteure dem Eingehen einer Organisations- oder Vertragsalternative neutral gegenüberstehen und sich in ihrer Risikobereitschaft nicht unterscheiden. Opportunismus bedeutet, dass die Akteure versuchen, SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 245 gegenüber ihren Vertragspartnern primär die eigenen Interessen durchzusetzen und bei Notwendigkeit auch unfaire Methoden einsetzen. Opportunistisches Verhalten kann sowohl vor, als auch nach Vertragsabschluss auftreten. Beim ex-post-Opportunismus versucht der Akteur durch Informationsasymmetrien und unvollständige Verträge nach Abschluss des Vertrages seine Interessen zu maximieren und dadurch gegenüber anderen zu profitieren (vgl. Williamson 1985, S. 43 ff.). Transaktionskosten werden durch drei verschiedene Faktoren beeinflusst (vgl. Williamson 1979): • Die Faktorspezifität beschreibt die im Zusammenhang mit einer Transaktion stehende Investition. • Unsicherheit zeigt sich in parametrischer Unsicherheit (Eintreten unvorhersehbarer Ereignisse) oder Verhaltensunsicherheit (opportunistisches Verhalten von Vertragspartnern). • Mit der ansteigenden Häufigkeit identischer Transaktionen sinken die Transaktionskosten. Synergie- und Skaleneffekte sind möglich. Nach Williamson (1985 S. 73 ff.) existieren für verschiedene Arten von Vertragsbeziehungen unterschiedliche Formen institutioneller Arrangements. Wenn bei Transaktionen keine spezifischen Investitionen anfallen und vertragliche Bedingungen leicht zu überwachen und zu steuern sind, wird die Organisation über den Markt als institutionelles Arrangement empfohlen. Aufgrund des Konkurrenzdruckes unter den Anbietern ergibt sich ein Anreiz zu vertragskonformem Verhalten. Transaktionen können andernfalls mit spezifischen Investitionen und einer relativen Unsicherheit der Akteure verknüpft sein. Unter diesen Voraussetzungen ist die Einhaltung von Verträgen schwieriger zu überwachen als über den Markt. Hier wird die Hierarchie als institutionelles Arrangement empfohlen. Mit der Hierarchieform sind allerdings Kontroll- und Steuerungsmechanismen verbunden, die wiederum höhere Transaktionskosten hervorrufen. Hierbei wird deutlich, dass in der TKT die Faktorspezifität und die Unsicherheit der Akteure wesentliche Kriterien sind, um geeignete institutionelle Arrangements zu wählen. In der Realität existieren bei Transaktionen in der Regel Hybridformen aus „Markt“ und „Hierarchie“. Bei der Wahl des geeigneten institutionellen Arrangements gilt, Transaktionen möglichst effizient durchzuführen. Dies ist der Fall, wenn diese im Vergleich zu anderen Organisations- oder Vertragsformen so gestaltet werden, dass sie über die geringsten Transaktionskosten verfügen (vgl. Williamson 1985, S. 22). Demnach ist in einer Vergleichssituation die Vertragsform zu wählen, die mit den geringsten Transaktionskosten einhergeht. 2.3.2 Die Theorie der Verfügungsrechte Die Verfügungsrechte (VR) beinhalten alle gesellschaftlich definierten Regeln, die dazu bestimmt sind, die erlaubte und sinngemäße Nutzung von Ressourcen genau zu 246 H. Dewenter und S. Thun beschreiben (Windisch 2014). Arbeitsteilung und reger Austausch von VR bewirken eine günstigere Verteilung von Ressourcen und haben einen positiven Einfluss auf den gesellschaftlichen Wohlstand. VR wurden bereits im römischen Imperium zur Festlegung von Ansprüchen und Nutzungserlaubnissen an Gütern festgelegt und in vier verschiedene Kategorien unterteilt (vgl. Blum et al. 2005, S. 46): • Usus: Rechte, welche sich auf die Nutzungsart eines Gutes beziehen • Abusus: Rechte, welche sich auf die Änderung eines Gutes beziehen • Usus fructus: Rechte, welche sich auf die Aneignung von Gewinnen und Verlusten im Zusammenhang mit der Nutzung des Gutes beziehen • Ius abutendi: Rechte, welche die Überlassung eines Gutes (und die mit dem Gut verbundenen Rechte) ganz oder zum Teil an andere gestatten Darüber hinaus werden absolute und relative VR unterschieden. Absolute VR zielen auf alle Personen ab, das heißt alle Mitglieder einer Gesellschaft müssen diese Rechte beachten. Zu ihnen zählen Menschenrechte, Eigentums- oder Urheberrechte. Relative VR konzentrieren sich auf bestimmte Personen(kreise), in denen z. B. Schadenersatzansprüche oder Schuldverhältnisse auftreten können. An relative VR sind also nur die Vertragspartner gebunden. Wer über Güter verfügen darf, wird in der Regel durch eine bestimmte Satzung festgelegt. In Letzterer werden Mechanismen zur Durchsetzung und Sanktionierung beschrieben, um die Verfügungsrechte der Einzelnen zu schützen und eine notwendige Ordnung zu gewährleisten. Das Verhalten der Wirtschaftssubjekte orientiert sich also an der gegebenen Verfügungsrechtestruktur. Darunter werden erstens die Spezifizierung des Umgangs mit den VR verstanden und zweitens die Zuteilung dieser VR an einen oder mehrere Akteure. Die Theorie der Verfügungsrechte untersucht die förderlichen Effekte durch eine Ausformulierung von Rechten an Gütern und Dienstleistungen. Innerhalb der NIÖ wird unter einer Transaktion nicht allein der Tausch an Gütern und Dienstleitungen verstanden, sondern auch die Übertragung der damit verbundenen Verfügungsrechte. Je nach der Struktur und Verteilung der VR können unterschiedliche ökonomische Zustände erreicht werden. Klare VR sind Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum im Zusammenhang mit Investitionen. Werden VR für Güter und Dienstleistungen an einen Inhaber übertragen, so fallen diesem jegliche damit verbundene Nutzen und Kosten zu. Der Nutzen einer Ressource ist davon abhängig, in welchem Rahmen und Ausmaß man diese legal einsetzen darf. Andererseits wird dieser Nutzen durch Kosten beeinflusst, die mit der Durchsetzung und Übertragung der VR einhergehen (Transaktionskosten). Grundsätzlich besteht die Problematik, dass eine vollständige Spezifizierung von VR in der realen Welt kaum möglich ist. In diesem Zusammenhang wird auch von unvollständigen Verträgen gesprochen. Die verschiedenen Vertragspartner sind nicht in der Lage alle Eventualitäten die sich aus den Verträgen ergeben einzukalkulieren. Diese Verdünnung von VR ist nicht zuletzt auf die Existenz von Transaktionskosten zurückzuführen (vgl. Blum et al. 2005, S. 46 ff.). SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 247 Institutionen konstruieren einen konkreten Handlungsrahmen für die Marktteilnehmer, in dem die Interessen des Einzelnen im Vorhinein abgegrenzt werden. Dies führt wiederum zu einer Entlastung von Transaktionskosten. 2.3.3 Die Ökonomische Vertragstheorie Verträge gehören zu den durch Menschen konstruierten Regeln zur Ordnung komplexer Beziehungen. Sie begrenzen Handlungsspielräume der Beteiligten und haben eine Koordinationsfunktion. Zu Verträgen zählen nicht nur private, sondern auch kollektive Vereinbarungen wie Unternehmensverfassungen oder politische Übereinkünfte (vgl. North 1990, S. 56). In der ökonomischen Vertragstheorie wird untersucht, wie Verträge gestaltet und organisiert werden müssen, um ökonomisch effizient zu sein (vgl. Blum et al. 2005, S. 58). Der Ansatz der ökonomischen Vertragstheorie unterscheidet zwischen vollständigen und unvollständigen Verträgen. Vollständige Verträge existieren im ökonomischen Ansatz der Neoklassik. Dieser besagt, dass alle Pflichten, die aus Verträgen resultieren, vollkommen transparent im Voraus festgelegt und kostenlos durchgesetzt werden können. Akteure, die miteinander Verträge abschließen, haben keinerlei Spielraum im Rahmen der Erfüllung der daraus abgeleiteten Pflichten. Die NIÖ geht wiederum von unvollständigen Verträgen aus. Diese bestehen, da die Vertragspartner aufgrund unvollständiger Rationalität grundsätzlich nicht in der Lage sind, alle erdenklichen Pflichten, die aus den Verträgen resultieren, ex ante zu erfassen. Zusätzlich sind längere Zeiträume zwischen Vertragsabschluss und -erfüllung möglich, welche die Transparenz im Umgang mit Verträgen erschwert. Das Zustandekommen von unvollständigen Verträgen und deren Erfüllung ist grundsätzlich mit positiven Transaktionskosten verbunden, sowie deren Zusammenhang mit asymmetrischer Information zwischen den Akteuren und dem auftretenden Bedarf an transaktionsspezifischen Investitionen. Transaktionskosten verursachen in diesen Fällen Informations- und Durchsetzungsprobleme. Zu deren Bewältigung stehen drei verschiedene Konzepte zur Verfügung (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 171): • Die Prinzipal-Agenten-Theorie setzt sich mit Vertragsproblemen aufgrund asymmetrischer Information auseinander. • Die Theorien sich selbst durchsetzender/impliziter Verträge setzen sich mit Vertragsproblemen auseinander, die aus einer teilweisen oder Nicht-Durchsetzbarkeit resultieren. • Die Theorien relationaler oder unvollständiger Verträge setzen sich mit dem auftretenden Opportunismus nach Vertragsschluss auseinander. Dieser entsteht aus Unterschieden in den transaktionsspezifischen Investitionen und bei der Überprüfung erfüllter Vertragspflichten. Die Überwachungs- und Durchsetzungsstrukturen von Vertragsbeziehungen stehen im Fokus der Betrachtungen. 248 H. Dewenter und S. Thun In der ökonomischen Vertragstheorie bedeutet eine Lösung der zuvor genannten. Problemsituationen die Reduktion oder Vermeidung von Friktionen. Unter Friktion kann das Auftreten von Koordinations- oder Transaktionshindernissen verstanden werden. Dieses Ziel wird nicht zwangsläufig durch die Arrangements „mehr Markt“ oder „mehr Wettbewerb“ erreicht, sondern gegebenenfalls durch „mehr Hierarchie“. Eine höhere Effizienz in der Vertragsgestaltung und -durchsetzung ist mittels • Anreizverbesserungen, • organisatorischen Verbesserungen, • transaktionskostensenkenden Maßnahmen, • risikomindernden Maßnahmen, • vertrauensstärkenden Maßnahmen zu erreichen. Die ökonomische Vertragstheorie baut wie die TKT auf den Annahmen des methodologischen Individualismus auf. Den Vertragspartnern wird unvollständige Rationalität, Opportunismus und individuelle Nutzenmaximierung unterstellt. Immer dann, wenn in Beziehungen eine Person von der Handlung einer anderen abhängig ist, besteht ein Agency-Problem. Das asymmetrische Informationsniveau der Vertragspartner ist die Grundannahme der Prinzipal-Agenten-Theorie. Diese bereits zuvor erwähnte Theorie beschreibt den Prinzipal als Auftraggeber und den Agenten als Auftragnehmer. Ein klassisches Beispiel für eine Prinzipal-Agenten-Beziehung ist Käufer (Prinzipal) und Verkäufer (Agent). Der Käufer erwartet für den gezahlten Kaufpreis einen fairen Ausgleich durch den Verkäufer. Durch Entscheidungsfreiräume in unvollständigen Verträgen besteht ein Risiko, dass die Vertragspartner sich, um den eigenen Nutzen zu maximieren, nicht an die vereinbarten Regeln halten. Ursachen von Agency-Problemen entstehen erstens durch vertragliche Lücken in Bezug auf spezifische Investitionen und der einseitigen Abhängigkeit eines Vertragspartners vom anderen (Hold-up-Problem) sowie zweitens durch asymmetrische Informationen. Agency-Probleme lassen sich wiederum in vor- und nachvertraglich differenzieren. Zu den Risiken vor Vertragsabschluss zählen die Hidden Characteristics. Der Prinzipal ist z. B. nicht in der Lage, die Intention und Leistungen des Agenten im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss ex ante komplett zu erfassen. Es besteht die Gefahr der adverse selection2. Nach Vertragsabschluss kann moral hazard3 entstehen. Die Vertragspartner haben nach Abschluss der Übereinkunft Schwierigkeiten, die Aktivitäten der anderen Partei zu überwachen (Hidden Action). Darüber hinaus ist Hidden Information von Bedeutung. 2Adverse selection: Negativauslese. Nicht-pareto optimale Ergebnisse aufgrund Informationsasymmetrien. 3Moral hazard: Moralisches Risiko. Negative Verhaltensänderung nach Vertragsabschluss. von SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 249 Diese tritt auf, wenn einer Vertragspartei der Handlungserfolg aufgrund eines Ungleichgewichtes von notwendigen Informationen nicht vollkommen transparent ist (vgl. Arrow 1984, S. 3 ff.). Die ökonomische Vertragstheorie dient der Identifizierung von Verhaltensrisiken seitens der Vertragspartner. Übereinkünfte sollen so gestaltet werden, dass Freiräume in unvollständigen Verträgen möglichst nicht durch opportunistisches Verhalten eines Beteiligten ausgebeutet werden können. Als zentrales Verbesserungskriterium gilt in dieser Konstellation die anreizeffiziente Vertragsgestaltung durch institutionelle Arrangements. Dies beinhaltet einen möglichst offenen Austausch von Informationen ex ante und ein vertragstreues Verhalten der Vertragsparteien ex post. Als Alternativen zur Lösung von Agency-Problemen stehen diverse Möglichkeiten zur Verfügung, die in Tab. 1 veranschaulicht werden (vgl. Göbel 2002, S. 110). 2.4 Neue Institutionenökonomik und IKT im Gesundheitswesen Die Ansätze der NIÖ wurden bereits an anderer Stelle auf den Bereich der IKT im Deutschland angewendet. Die zentrale Annahme ist in diesem Zusammenhang die inkomplette Markttransparenz der Akteure aufgrund asymmetrisch verteilter Informationen. Die Erlangung eines höheren Transparenzniveaus ist mit positiven Transaktionskosten verbunden. Diese fallen z. B. als Vertragsanbahnungs- und Durchsetzungskosten bei der Übertragung von Verfügungsrechten an. Im Gesundheitswesen entstehen insgesamt hohe Transaktionskosten durch eine Vielzahl verschiedener Akteure sowie durch Leistungsteilung. Der daraus resultierende hohe Kommunikationsaufwand und die Nutzung proprietärer Übertragungsmedien (Papier, Fax etc.) hat darüber hinaus eine Steigerung der Transaktionskosten zur Folge. Der Einsatz moderner IKT im Gesundheitswesen ist in der Lage, Transaktionskosten zu senken. Dies geschieht z. B. über: Tab. 1  Lösungsmöglichkeiten für Agency-Probleme. (Göbel 2002, S. 110) LösungsmögInformationsassymme- Ziele harmonisieren lichkeiten für trien senken Agencyprobleme Prinzipal Agent Prinzipal Agent Vorvertragsprobleme Screening Signaling Verträge zur Auswahl vorlegen Nachvertragspro- Monitoring Reporting Anreizbleme verträge gestalten Vertrauen bilden Prinzipal Agent Reputation SelfScreening in signalisieSelection Bezug auf Reputation Vertrauenswür- ren digkeit Commitment/ Bonding Reputation Vertrauensvor- Sozialschuss/Extra- kapital polation guter aufbauen Erfahrungen 250 H. Dewenter und S. Thun • Standardisierte elektronische Übertragungsmedien, die Datenaustauschprozesse für alle Akteure vereinheitlichen. • Einen optimaleren Zugang zu örtlich entfernten Spezialisten (Stichwort Telemedizin), • die Herstellung eines annähernd vergleichbaren Informationsniveaus zwischen den Akteuren, • Sharing von Ressourcen (Wissen, medizinische Geräte etc.). IKT-Anwendungen im Gesundheitswesen zeigen darüber hinaus positive Effekte im Hinblick auf die Prinzipal-Agenten-Beziehung. Durch eine bessere Verfügbarkeit medizinischer Informationen besteht eine größere Markttransparenz und eine höhere Schwelle der Akteure zu opportunistischem Verhalten. Aktuell bestehen allerdings Probleme aufgrund der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Nutzen und entstehender Kosten für die einzelnen Akteure im Zusammenhang mit IKT-Anwendungen. Für eine interoperable IT-Infrastruktur müssen zum Teil erhebliche finanzielle Investitionen getätigt werden. Ohne einen belegbaren Mehrwert bieten sich den Anwendern kaum genügend Anreize zur Implementierung. Zusätzlich erschwert eine Vielzahl von proprietären Lösungen den Fortschritt. Das Nutzenpotenzial kann an dieser Stelle jedoch lediglich durch einen flächendeckenden Einsatz von IKT-Lösungen im Gesundheitswesen festgestellt werden. Eine mögliche Lösung für diese Problematik liegt in der positiven Anreizgestaltung für alle Stakeholder. Dies kann über eine institutionelle Ausgestaltung und die Schaffung eines adäquaten ordnungspolitischen Rahmens, der Planungs- und Rechtssicherheit für alle Investoren herstellt, gewährleistet werden. Darüber hinaus garantiert die verbindliche Nutzung von Standards einheitliche Implementierungsvorgaben und verhindert eine Ausbreitung von Insellösungen (Oberender und Fleckenstein 2005). 3 Relevante Institutionen Als Grundlage einer Analyse aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik müssen die relevanten Institutionen in Bezug auf IKT im Gesundheitswesen im Allgemeinen, und die Nutzung von SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands im Besonderen identifiziert und erläutert werden. Innerhalb der IKT im Gesundheitswesen werden E-Health-Standards eingesetzt, um notwendige und zum Teil gesetzlich vorgeschriebene Informationsaustauschprozesse zu gewährleisten. Standards gestalten verbindliche Rahmenbedingungen für Akteure, indem sie feste Regularien für wiederkehrende Interaktionen festschreiben. Eine Nichtbeachtung dieser Standards hat Sanktionen zur Folge. Der Begriff der Institution kann im Besonderen auf Standards angewendet werden (vgl. Czaya 2007, S. 56). Dies wird am Beispiel der Klassifikation ICD-10-GM deutlich. Die Paragrafen § 295 SGB V und § 301 SGB V legen den Standard als amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 251 in Deutschland fest. Alle Leistungserbringer sind in diesem Zusammenhang zur Nutzung der ICD-10-GM verpflichtet. Diese gesetzliche Regelung schafft einen klaren Handlungsrahmen für die Akteure bei wiederkehrenden Transaktionen. Bei Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften treten Sanktionen in Kraft, z. B. in Form von Rechnungskürzungen (s. § 303 Abs. 3 SGB V). Jede Nutzung von SNOMED CT ist an eine gültige Lizenz gebunden (vgl. IHTSDO 2007). Der Erhalt von SNOMED CT-Lizenzen ist mit verschiedenen institutionellen Gegebenheiten in Bezug auf die Mitgliedschaft eines Landes in der IHTSDO verknüpft. Je nach Mitglieds- oder Nicht-Mitgliedsstatus bestehen Unterschiede, auf welchem Weg eine SNOMED CT bezogen werden kann und ob die Lizenz mit Kosten verbunden ist oder nicht. In drei Fällen sind SNOMED CT-Lizenzen unabhängig vom Status der IHTSDO-Mitgliedschaft kostenlos verfügbar (vgl. IHTSDO 2007): • Es handelt sich bei der Nation, die eine SNOMED CT-Lizenz nachfragt, um eine Volkswirtschaft mit geringem Einkommen. • SNOMED CT soll im Rahmen eines qualifizierten Forschungsprojektes genutzt werden. In diesem Fall muss ein schriftlicher Antrag mit einer genauen Beschreibung des Projektes bei der IHTSDO eingereicht werden. Die Lizenz wird nach Antragsprüfung direkt über die IHTSDO vergeben. • SNOMED CT soll im Rahmen eines Projektes zur Förderung des Gemeinwohls genutzt werden. In diesem Fall wird analog zu SNOMED CT-Lizenzanträgen zu qualifizierten Forschungsprojekten verfahren. Für einen Vergleich der institutionellen Voraussetzungen „SNOMED CT Lizenzierung in Deutschland als IHTSDO Nicht-Mitgliedsland“ und „SNOMED CT Lizenzierung in Deutschland als IHTSDO Mitgliedsland“ werden im Folgenden die verschiedenen Akteure und Institutionen identifiziert, die mit der Nutzung von SNOMED CT im deutschen Gesundheitswesen und einer IHTSDO-Mitgliedschaft verbunden sind. Die Lizenznehmer Dazu gehören alle Akteure im deutschen Gesundheitswesen, die eine Lizenz für den Einsatz von SNOMED CT benötigen, also Leistungsanbieter, Kostenträger, Industrieunternehmen, staatliche Einrichtungen, Forschung und Entwicklung, Standardisierungsorganisationen und Fachexperten etc. Das IHTSDO-Mitglied Dies ist der nationale Repräsentant und dient als zentrale Lizenzierungsautorität sowie als verantwortlicher Akteur in allen Aspekten bezüglich IHTSDO und SNOMED CT in Landesgrenzen. Das Gesundheitsministerium  Diese Institution entscheidet im Auftrag der Gesellschaft über eine Mitgliedschaft Deutschlands in der IHTSDO. 252 H. Dewenter und S. Thun Die Gesellschaft Diese trägt im Falle eines nationalen Beitritts den initialen Mitgliedsbeitrag sowie die jährlich anfallenden Mitgliedsbeiträge der IHTSDO durch Steuergelder. Zusätzlich entstehen der Gesellschaft Kosten für die Einführung und Aufrechterhaltung von SNOMED CT auf übergeordneter Ebene (z. B. NRC, Mapping auf nationale Klassifikationssysteme etc.). Das Risiko der Fehlinvestition, falls die IHTSDOMitgliedschaft und die nationale Einführung von SNOMED CT keine nachhaltige Verbesserung der IKT im deutschen Gesundheitswesen mit sich bringt, trägt die Gesellschaft. Ebenso profitiert sie von einem möglichen assoziierten Nutzen. Die Verwendung des Standards SNOMED CT hat Einfluss auf die Dokumentation und die Kommunikation medizinischer Sachverhalte. Dies wirkt sich positiv auf die Behandlungsqualität von Patienten aus, wenn der Standard ein besseres Informationsmanagement gewährleistet als zuvor. 3.1 SNOMED CT Lizenzierung in Deutschland als IHTSDO NichtMitgliedsland Deutschland ist aktuell kein Mitglied der IHTSDO. Für die Gruppe der Lizenznehmer gelten die Bedingungen für Lizenzerhalt und -gebühren für die Nutzung von SNOMED CT in Nicht-Mitgliedsländern. Lizenzen können über die SNOMED CT Affiliate License Service Application (SALSA)-Webseite der IHTSDO erworben werden. Nach Registrierung des Lizenznehmers in SALSA werden die Gebühren ermittelt. Letztere können dem Dokument „IHTSDO Affiliate License Fees and Territory Bands 2014“ entnommen werden (vgl. IHTSDO 2014b). Nach Eingang der Zahlung erhält der Lizenznehmer Zugangsdaten für den Mitgliederbereich der SALSA-Webseite. Nach erfolgtem Log-in können die aktuelle internationale Version von SNOMED CT sowie weitere Dokumente (z. B. IHTSDO-WHO SNOMED CT to ICD-10 cross maps) heruntergeladen werden. Eine wichtige Institution im Bereich der SNOMED CT-Lizenzierung ist das Dokument „Affiliate License Terms – SNOMED CT Affiliate License Agreement4“ (vgl. IHTSDO 2010). Dort werden sämtliche Rechte und Pflichten des Lizenznehmers spezifiziert. Darüber hinaus ist festgelegt, dass der Lizenznehmer sich bei(m): • Download der internationalen Version oder nationalen Erweiterung von SNOMED CT, • Zugang zu den zuvor genannten Versionen, • der Nutzung der zuvor genannten Versionen, mit den Regelungen des Affiliate License Agreements einverstanden erklärt. Ein offizielles Vertragsdokument zwischen Lizenznehmer und Lizenzgeber existiert nicht. 4Im weiteren Verlauf als Affiliate License Agreement bezeichnet. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 253 3.2 SNOMED CT Lizenzierung in Deutschland als IHTSDO Mitgliedsland Im Fall eines Beitritts Deutschlands in die IHTSDO wird durch die oberste Gesundheitsbehörde eine Organisation bestimmt, die das Land als Mitglied in der IHTSDO vertritt und den gesamten nationalen Einführungs- und Aufrechterhaltungsprozess von SNOMED CT begleitet. Alle Rechte und Pflichten des Mitglieds sind in den Articles of Associaton festgelegt (IHTSDO 2007). Das Mitglied unterhält ein NRC. Diese Institution hat die Gesamtverantwortung für die Verbreitung und den Support von SNOMED CT auf nationalem Gebiet. Das NRC ist die Schnittstelle der Lizenznehmer zur IHTSDO. Die Einrichtung ist verpflichtet, der IHTSDO zweimal jährlich eine Auflistung aller Lizenznehmer zu übermitteln. Für die Gruppe der Lizenznehmer gelten die Bedingungen für Lizenzerhalt und -gebühren für die Nutzung von SNOMED CT in Mitgliedsländern. Innerhalb Deutschlands erhalten diese kostenlose SNOMED CT-Lizenzen über das NRC. Die Kosten nationaler SNOMED CT-Lizenzen sind durch den nationalen Mitgliedsbeitrag abgedeckt. Für die Lizenznehmer selbst gelten die Bedingungen des Affiliate License Agreement. 4 Institutionenökonomischer Vergleich Im Rahmen dieses Abschnitts wird der Status der IHTSDO-Mitgliedschaft mit dem Status der Nicht-Mitgliedschaft verglichen. Die komparative Analyse folgt relevanten Theorieansätzen der Neuen Institutionenökonomik. Es werden ein Transaktionskostenvergleich, ein Vergleich der Verfügungsrechtesituation sowie ein vertragstheoretischer Vergleich durchgeführt. 4.1 Transaktionskostenvergleich Transaktionskosten entstehen bei der Übertragung von Verfügungsrechten. Bei einem Vergleich zweier institutioneller Arrangements hat dasjenige einen höheren Nutzen, welches niedrigere Transaktionskosten beinhaltet (vgl. Williamson 1985, S. 22). In Abhängigkeit des Status können verschiedene Arten der fixen und variablen Transaktionskosten identifiziert werden. Im Status der Nicht-Mitgliedschaft entstehen den Lizenznehmern folgende fixe Transaktionskosten: Für den Erhalt von SNOMEDCT-Nutzerlizenzen werden die „IHTSDO Affiliate License Fees and Territory Bands 2014“ zugrunde gelegt. Bei Deutschland handelt es sich um eine „Band A territory (high-income country)“. Die Jahreslizenzgebühr für ein Krankenhaus oder einen Anbieter von IKT-Lösungen (z. B. Hersteller von Datenanalyse-Systemen) beträgt 1688 $. 254 H. Dewenter und S. Thun Tab. 2  IHTSDO-Jahresgebühr für Deutschland im Jahr 2014. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO_2014_Membership_Fees_v1.0) Mitgliedsland Beitrittsdatum Deutschland 10/22/2014 Aufnahmegebühr Initialer Jahresbeitrag Gesamt/US$ Gesamt/€ US$ 1,127,468 US$ 281,867 US$ 1,409,335 1,113,656.00 € Dies entspricht ca. 1333 EUR5. Die Jahresgebühr für eine Arztpraxis beträgt 563 $. Dies entspricht ca. 445 EUR. Im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft entstehen der deutschen Gesellschaft folgende fixe Transaktionskosten: Es wird ein Beitritt Deutschlands in die IHTSDO zum heutigen Tag (22.10.2014) angenommen. Die erste Jahresgebühr setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: • Der Aufnahmegebühr, die dem vollen nationalen Mitgliedsbeitrag des Jahres 2014 entspricht und welche dem Dokument „IHTSDO_2014_Membership_Fees_v1.0“ entnommen wird. • Dem initialen Jahresbeitrag, welcher nach Ablauf der ersten drei Monate des Jahres in Bezug auf die Aufnahmegebühr auf monatlicher Basis kalkuliert wird Tab. 2 zeigt die Kalkulation der ersten Jahresgebühr: Ohne Bezug auf den Status können im Zusammenhang mit der Institution SNOMED CT folgende variable Transaktionskosten identifiziert werden (vgl. empirica 2014, S. 14 ff.): Allgemeine Kosten Ausbildung von Kompetenzen Gesundheitsministerium in nationalen Behörden, Kosten vor Einführung von SNOMED CT • Rechtliche Kosten (Vertragsanbahnung, Vertragsabschluss) • Auswahl und Validierung von Inhalten • Übersetzung und Schaffung von lokalen Benutzerschnittstellen • Mapping auf nationaler Klassifikationssysteme • Übersetzer und/oder qualifizierte medizinische Fachkräfte • Testläufe 5Wechselkurs 22. Oktober 2014: 1 US$ ≈ 0,7902 EUR. insbesondere im SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 255 Verwaltungskosten • Koordination von Entscheidungsträgern • Konzeption von Reference Sets • Terminologie-Server-Infrastrukturkosten Implementierungs- und Entwicklungskosten • Rechtliche Kosten (Vertragsaufrechterhaltung) • Implementierung in die Unternehmensstruktur • Terminologie-Management-System • Adaptionskosten für klinische Informationssysteme • Terminology-Binding-Kosten • Anschubfinanzierung für Implementierungen • Marketing (Demonstrationskosten) • Entwicklungskosten, Erschließung neuer Einsatzgebiete • Beteiligung an IHTSDO/WHO/HL7-Arbeitsgruppen und Projekten Ausbildungskosten • Ausbildung von medizinischen Fachkräften • Ausbildungsmaterial • Entscheidungsunterstützungswerkzeuge (z. B. ePrescription) • Training von Ausbildern Laufende Kosten • Investition in lokale Infrastruktur • Externe Experten, IT-Spezialisten • Wartungskosten • Personalkosten (qualifizierte medizinische Fachkräfte) • Betriebskosten NRC • Fördermaßnahmen für Einrichtungen des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Arztpraxen etc.) Nach detaillierter Überprüfung der Fachliteratur in Bezug auf praktische Implementierungen von SNOMED CT ist es nicht möglich die zuvor genannten variablen Transaktionskosten zu quantifizieren oder annähernde Beträge zu schätzen. Nach persönlicher Rücksprache der Autorinnen mit Fachexperten zu den Themen IHTSDO und SNOMED CT können zum momentanen Zeitpunkt keine verlässlichen Aussagen über die Höhe dieser Kosten getroffen werden. 256 H. Dewenter und S. Thun Für einen Kostenvergleich werden die zuvor identifizierten variablen Transaktionskosten tabellarisch aufbereitet und dem Status der Nicht-Mitgliedschaft und Mitgliedschaft zugeordnet. Die Zuordnung erfolgt auf der Grundlage von Fachliteratur. Ein Vergleich beider Statusformen in Bezug auf die variablen Transaktionskosten wird über die drei bekannten Einflussfaktoren von Transaktionskosten, Faktorspezifität, Unsicherheit und Häufigkeit realisiert. Die quantifizierbaren fixen Transaktionskosten für SNOMED CT Nutzerlizenzen in Bezug auf den Status werden in Tab. 3 vergleichend dargestellt: Im Status der Nicht-Mitgliedschaft entstehen den Lizenznehmern Kosten für Einzellizenzen. Jahresgebühren für eine IHTSDO-Mitgliedschaft fallen nicht an. Im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft fallen der Gesellschaft Kosten für die erste Jahresgebühr an. Separate Kosten für Einzellizenzen entstehen nicht. Einzellizenzkosten sind in der ersten Jahresgebühr enthalten. Auf dieser Grundlage lassen sich die Einzellizenzkosten für Krankenhäuser bzw. IKTSystemanbieter im Vergleich zu den Kosten für den IHTSDO-Beitritt Deutschlands in einer Grafik abbilden (s. Abb. 1): Im Status der Nicht-Mitgliedschaft sind die nationalen Lizenzkosten abhängig von der Anzahl der Einzellizenzen für Krankenhäuser und IKT-Systemanbieter. Gemäß Abb. 1 und einer Berechnung des Break-even-Points über die Kosten für die erste Jahresgebühr einer IHTSDO-Mitgliedschaft, dividiert durch die Kosten einer Einzellizenz für ein Krankenhaus bzw. einen IKT-Systemanbieter, ist die IHTSDO-Mitgliedschaft gegenüber der Nicht-Mitgliedschaft ökonomisch vorteilhafter, wenn mehr als 835 Einzellizenzen nachgefragt werden. Es bietet sich ebenfalls die Möglichkeit, Einzellizenzkosten für Arztpraxen im Vergleich zu den Kosten für den IHTSDO-Beitritt Deutschlands grafisch abzubilden (s. Abb. 2): Gemäß Abb. 2 und einer Berechnung des Break-even-Points über die Kosten für die erste Jahresgebühr einer IHTSDO-Mitgliedschaft, dividiert durch die Kosten einer Einzellizenz für eine Arztpraxis, ist eine IHTSDO-Mitgliedschaft gegenüber der Nicht-Mitgliedschaft ökonomisch vorteilhafter, wenn mehr als 2500 Einzellizenzen nachgefragt werden. Tab. 3  Vergleich der fixen Transaktionskosten. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO 2014a und IHTSDO 2014b) Fixe Transaktionskosten IHTSDO Nicht Mitgliedschaft IHTSDO Mitgliedschaft Quantifizierbar Kosten in € Kosten in € Einzellizenz Krankenhaus/Anbieter IKT-Systeme 1,333 0 Einzellizenz Arztpraxis 445 0 Erste Jahresgebühr IHTSDO Mitgliedschaft 0 1,113,656 SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 257 Lizenzkostenvergleich Krankenhäuser/ IKT-Systemanbieter 1400000 1200000 Kosten in 1000000 800000 600000 400000 200000 0 1 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 Anzahl Einzellizenzen für KH und IKT-Systemanbieter Kosten IHTSDOMitgliedschaft Lizenzkosten NichtMitgliedschaft Abb. 1  Lizenzkostenvergleich Krankenhäuser/IKT-Systemanbieter. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO 2014a und IHTSDO 2014b) Die nicht quantifizierbaren, variablen Transaktionskosten werden in Tab. 4 dem Status der Nicht-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft zugeordnet. Die Zuordnung dieser Kosten zum Status der Mitgliedschaft erfolgt auf der Basis von Fachliteratur und den dortigen Aussagen von Experten zu den Themen IHTSDO und SNOMED CT Implementierungen (vgl. Conley und Benson 2011; vgl. Ingenerf 2007; vgl. Lee et al. 2012; vgl. Schulz 2011): Es werden 30 verschiedene variable Transaktionskostenarten identifiziert. Im Status der Nicht-Mitgliedschaft treten neun von 30 variablen Transaktionskostenarten nicht auf. Dazu zählen: Ausbildung von Kompetenzen in nationalen Behörden, Koordination von Entscheidungsträgern, Terminologie-Management-System, Anschubfinanzierung für Implementierungen, Training von Ausbildern, externe Experten/IT-Spezialisten, Wartungskosten, Betriebskosten National Release Center und Fördermaßnahmen für Einrichtungen des Gesundheitswesens. Die Indikatoren Ausbildung von Kompetenzen in nationalen Behörden, Koordination von Entscheidungsträgern, Anschubfinanzierung für Implementierungen, Betriebskosten NRC und Fördermaßnahmen für Einrichtungen des Gesundheitswesens können direkt und allein dem Status der IHTSDO-Mitgliedschaft zugeordnet werden. Alle 30 variablen Transaktionskostenarten treffen auf den Status der Mitgliedschaft zu. 258 H. Dewenter und S. Thun Lizenzkostenvergleich Arztpraxen 1400000 1200000 Kosten in 1000000 800000 600000 400000 200000 2200 2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 1 0 Anzahl Einzellizenzen Arztpraxen Kosten IHTSDOMitgliedschaft Lizenzkosten NichtMitgliedschaft Abb. 2  Lizenzkostenvergleich Arztpraxen. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO 2014a und IHTSDO 2014b) Im Vergleich der nicht quantifizierbaren variablen Transaktionskosten ist zu erkennen, dass eine höhere Anzahl verschiedener Transaktionskostenarten mit der IHTSDO-Mitgliedschaft verbunden ist. Dies betrifft insbesondere den Bereich der laufenden Kosten. Hier fallen im Bereich der Nicht-Mitgliedschaft zwei verschiedene Kostenarten an, im Bereich der IHTSDO-Mitgliedschaft treten sechs verschiedene Kostenarten auf. Im Status der IHTSDO Nicht-Mitgliedschaft und der IHTSDO-Mitgliedschaft treten für die Einführung von SNOMED CT alle genannten Kostenarten auf. Variable Transaktionskosten sind von der Anzahl oder dem Umfang von Transaktionen abhängig. Die Transaktion zur Realisierung der IHTSDO-Mitgliedschaft weist im Vergleich zur Erlangung von SNOMED CT-Nutzerlizenzen im Status der Nicht-Mitgliedschaft eine höhere Faktorspezifität auf. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass mit dem Status der Mitgliedschaft höhere und komplexere transaktionsspezifische Investitionen verbunden sind. Mit einer höheren Faktorspezifität sind wiederum höhere Transaktionskosten verbunden, da z. B. ein höheres juristisches Absicherungsbedürfnis des Investors im Hinblick auf die gesamte Transaktion besteht. Die variablen Transaktionskosten sind also im Hinblick auf den Umfang der Transaktion, welche die IHTSDO-Mitgliedschaft realisiert, höher als für SNOMED CT-Einzellizenzen im Rahmen der Nicht-Mitgliedschaft. Unsicherheit tritt als Merkmal der Transaktion in beiden Statusausprägungen auf. Im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft führt Unsicherheit aufgrund von unvollständigen Verträgen zu steigenden Transaktionskosten zulasten der Gesellschaft. Für den einzelnen Lizenznehmer kommt es demnach nicht primär zu einer Kostenerhöhung, da diese Belastung durch die Gesellschaft getragen wird. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 259 Tab. 4  Vergleich der variablen, nicht quantifizierbaren Transaktionskosten. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO 2014 a und IHTSDO 2014b) Variable Transaktionskosten IHTSDO Nicht Mitgliedschaft IHTSDO Mitgliedschaft Nicht quantifizierbar Allgemeine Kosten Ausbildung von Kompetenzen in nationalen Behörden x Kosten vor Einführung von SNOMED CT Rechtliche Kosten (Vertragsanbahnung, x Vertragsabschluss) x Auswahl und Validierung von Inhalten x x Übersetzung und Schaffung von lokalen x Benutzerschnittstellen x Mapping auf nationale Klassifikationssysteme x x Übersetzer und/oder qualifizierte medizinische Fachkräfte x x Testläufe x x Verwaltungskosten Koordination von Entscheidungsträgern Konzeption von Reference Sets x x x Terminologie-Server-Infrastrukturkosten x x Implementierungs- und Entwicklungskosten Rechtliche Kosten (Vertragsaufrechterhaltung) x x  Implementierung in die Unternehmensstruktur x x Terminologie-Management-System x Adaptionskosten für klinische Informationssysteme x x Terminology-Binding-Kosten x x Anschubfinanzierung für Implementierungen x Marketing (Demonstrationskosten) x x Entwicklungskosten, Erschließung neuer Einsatzgebiete x x Beteiligung an IHTSDO/WHO/HL7Arbeitsgruppen und Projekten x x (Fortsetzung) 260 H. Dewenter und S. Thun Tab. 4   (Fortsetzung) Ausbildungskosten Ausbildung von einrichtungsinternen Fachkräften x x Ausbildung von medizinischem Personal x x Ausbildungsmaterial x x Entscheidungsunterstützungswerkzeuge x (z. B. ePrescription) x Training von Ausbildern x Laufende Kosten Investition in lokale Infrastruktur x x Externe Experten, IT-Spezialisten x Wartungskosten x Personalkosten (qualifizierte medizinische Fachkräfte) x x Betriebskosten NRC x Fördermaßnahmen für Einrichtungen des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Arztpraxen etc.) x Im Status der Nicht-Mitgliedschaft muss jeder einzelne Lizenznehmer durch Unsicherheit bedingte Transaktionskosten selbst tragen. Kommt es allerdings zu einem Anstieg der Häufigkeit identischer Transaktionen durch eine vermehrte Nachfrage von SNOMED CT Einzellizenzen, so können durch die Nutzung von Synergie- oder Skaleneffekten Transaktionskosten wieder gesenkt werden. Die Anzahl der anfallenden Transaktionen, in diesem Fall die Häufigkeit der Einzellizenzierungen, ist für die Nutzenbeurteilung einer IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands von besonderer Bedeutung. Wenn die Gesamtheit der Einzellizenzen für SNOMED CT mit allen anfallenden Transaktionskosten die Kosten für die nationale IHTSDO-Mitgliedschaft inklusive der anfallenden Transaktionskosten übersteigt, so hat Letztere einen höheren gesellschaftlichen Gesamtnutzen. In einer Vergleichssituation ist grundsätzlich die Vertragsform zu wählen, welche mit den geringsten Transaktionskosten einhergeht. Vergleich der Verfügungsrechtssituationen In Abhängigkeit der Nicht-Mitgliedschaft oder IHTSDO-Mitgliedschaft bestehen unterschiedliche Voraussetzungen zur Übertragung von Verfügungsrechte. Zu Beginn werden absolute und relative Verfügungsrechte innerhalb der Thematik benannt und abgegrenzt. Die Verfügungsrechtesituation in beiden Szenarien wird anhand der üblichen Unterteilung von Verfügungsrechten in usus, abusus, usus fructus und ius abutendi tabellarisch SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 261 aufbereitet und anschließend komparativ analysiert. Dies beinhaltet z. B. die Betrachtung, in welchem Rahmen und Ausmaß man SNOMED CT durch die gegebene Lizenzierungsstruktur legal einsetzen darf. Zur Analyse werden die Articles of Association der IHTSDO herangezogen. Die Regelungen zur Übertragung von Verfügungsrechten im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft werden den Abschnitten „Schedule 3 – SNOMED CT Intellectual Property. Part B, Rights and Obligations of Members, 5. Members Rights“ und „Exhibit 1. Affiliate License Terms. SNOMED CT Affiliate License Agreement, 2. Grant of License“ entnommen. Für den Status der Nicht-Mitgliedschaft ist lediglich das letztere der beiden Dokumente relevant. Anhand der Darstellung des jeweiligen verfügungsrechtlichen Handlungsrahmens wird analysiert, ob die IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands im Vergleich zur Nicht-Mitgliedschaft über eine klarere Verfügungsrechtestruktur verfügt und darüber eine Entlastung von Transaktionskosten bewirkt. Im Zusammenhang mit dem verfügungsrechtlichen Vergleich der IHTSDO-Mitgliedsstatus können folgende absolute von relativen Verfügungsrechten abgegrenzt werden. Im Bereich der absoluten Rechte ist die IHTSDO die Eigentümerin sämtlicher Rechte geistigen Eigentums an SNOMED CT und weiterer Terminologieprodukte. Die IHTSDO vergibt lediglich Nutzungsrechte an diesen Standards an ihre Mitgliedsländer oder an Affiliates in Nicht-Mitgliedsländern. Die IP-Rechte der IHTSDO sind in den Articles of Association detailliert beschrieben. Kein IHTSDO-Mitglied oder einzelner Lizenznehmer ist befugt, die Bezeichnung SNOMED CT in einem anderen Zusammenhang als durch die IHTSDO vorgeschrieben zu verwenden. Da die Bezeichnung SNOMED CT ebenfalls geschützt ist, sind weitere Personen nicht befugt, eine Handelsmarke oder Ähnliches zu beantragen, welche das Wort SNOMED enthält. Tab. 5 zeigt die Auflistung und Zuordnung der relativen Verfügungsrechte, welche durch vertragliche Schuldverhältnisse im Status der Nicht-Mitgliedschaft und Mitgliedschaft auftreten. Die mit einem Kreuz gekennzeichneten Verfügungsrechte sind in der jeweiligen Statusform enthalten. Die einzelnen Rechte sind dabei unter den Kategorien usus, abusus, usus fructus und ius abutendi aufgeführt. Darunter erfolgt eine weitere Differenzierung in Verfügungsrechte, welche die nationalen IHTSDO-Mitglieder direkt, also die NRC, betreffen. Ebenfalls werden die entsprechenden Verfügungsrechte den SNOMED CT-Lizenznehmern zugeordnet. Wenn vorhanden, werden ebenfalls bestimmte Beschränkungen der Verfügungsrechte benannt. Gemäß Tab. 5 existieren bei Affiliate-Lizenznehmern unabhängig vom Status der Mitgliedschaft gleiche Verfügungsrechte. Diese beziehen sich ausschließlich auf die Verwendung von SNOMED CT, Möglichkeiten zur inhaltlichen Erweiterung sowie zur Sub-Lizenzierung. Gegenüber den eigentlichen IHTSDO-Mitgliedern6 sind Affiliate-Lizenznehmer nicht befugt, 6An dieser Stelle sind die NRC der IHTSDO-Mitgliedsländer gemeint. 262 H. Dewenter und S. Thun den SNOMED CT Core7, die Spezifikationen oder die Software der Internationalen Version von SNOMED CT zu modifizieren. Des Weiteren dürfen Sub-Lizenznehmer von Affiliates keine weitere Sub-Lizenzierung veranlassen. Teilübersetzungen der IV sind nur nach vorheriger Genehmigung des lizenzierenden gestattet. Gegenüber den Nicht-Mitgliedsländern, in denen lediglich einzelne Affiliate-Lizenznehmer und deren Sub-Lizenznehmer auftreten, verfügen IHTSDO-Mitgliedsländer über eine höhere Anzahl an Verfügungsrechten auf nationaler Ebene in Bezug auf die IV und zusätzlich über Mitbestimmungsrechte innerhalb des IHTSDO-Managements. In IHTSDO-Mitgliedsländern wird die Verfügbarkeit kostenloser Affiliate-Lizenzen garantiert. Ebenso erhalten diese Länder freien Zugang auf SNOMED CT-Ressourcen und haben das Recht auf personelle Unterstützung zur korrekten Anwendung des Gutes SNOMED CT. IHTSDO-Mitglieder sind im Gegensatz zu Affiliate-Lizenznehmern befugt, die IHTSDO-General Assembly durch ein Mitglied zu besetzen und darüber die Landesinteressen in der Organisation zu vertreten. Darüber hinaus dürfen Mitglieder selbstständig eine Voll- oder Teilübersetzung der IV durchführen oder in Auftrag geben. Ebenfalls ist den Mitgliedern eine Veränderung des SNOMED CT Core gestattet. Die Mitgliederrechte sind nicht-exklusiv und nicht übertragbar. Ausnahmen von dieser Regelung müssen durch die IHTSDO genehmigt werden. Affiliate-Lizenzen sind grundsätzlich nicht-exklusiv und nicht übertragbar. Im Status der Nicht-Mitgliedschaft sind die einzelnen Lizenznehmer allein für die Erlangung, den Vertragsabschluss und die Durchsetzung der Verfügungsrechte in Verbindung mit deren SNOMED CT Lizenz verantwortlich. Dies gilt ebenfalls für die Affiliates im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft. Allerdings wird in diesem institutionellen Umfeld der Zugang zu kostenlosen Affiliate-Lizenzen durch das NRC garantiert. Die Affiliate Lizenznehmer werden durch diese Voraussetzung grundsätzlich von fixen Transaktionskosten entlastet. 4.2 Vertragstheoretischer Vergleich Im Zusammenhang mit dem verfügungsrechtlichen Vergleich der IHTSDO-Mitgliedsstatus werden zu Beginn absolute von relativen Verfügungsrechten abgegrenzt. Innerhalb des Status der Nicht-Mitgliedschaft und der Mitgliedschaft existieren unterschiedliche Voraussetzungen für Vertragsbeziehungen zur Nutzung von SNOMED CT. In Bezug auf den Mitgliedschaftsstatus werden Nutzungslizenzen über verschiedene Institutionen bezogen. Die komplexen Interaktionen der einzelnen Akteure in diesem Zusammenhang und deren gegenseitige Abhängigkeiten in Nutzungsvereinbarungen über SNOMED 7Der SNOMED CT Core beschreibt den Kerninhalt der Terminologie, welcher durch den Lizenzgeber kontrolliert, gepflegt und herausgegeben wird. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 263 Tab. 5  Vergleich der Verfügungsrechte. (Quelle: in Anlehnung an IHTSDO 2007) Verfügungsrecht IHTSDO Nicht Mitgliedschaft IHTSDO Mitgliedschaft Usus (Nutzungsart d. Gutes) Garantie von kostenlosen SNOMED CT Lizenzen im x IHTSDO-Mitgliedsland Freier Zugang auf SNOMED CT Ressourcen x (SNOMED CT User Guide etc.) Unterstützung der IHTSDO zur Nutzung des Gutes x (Ausbildung, technische Implementierung etc.) IHTSDO-Mitglieder (NRC) Weltweite Nutzung der International x Version von SNOMED CT (IV) Sitz in der IHTSDO General Assembly x Nominierung von Kandidaten für das IHTSDO Management x Board Nutzung der IV für interne Geschäftszwecke x Nutzung der IV durch Mitarbeiter, Vertreter und Subunternehmer x Einschränkungen der Verfügungsrechte Mitgliederrechte sind nicht-exklusiv x Mitgliederrechte sind nicht übertragbar x SNOMED CT Affiliate Lizenznehmer Weltweite Nutzung der IV x x Nutzung der IV für interne Geschäftszwecke x x Nutzung der IV durch Mitarbeiter, Vertreter und Subunternehmer x x x x Nutzungslizenzen sind nicht übertragbar x x Einschränkungen der Verfügungsrechte Nutzungslizenzen sind nicht-exklusiv (Fortsetzung) 264 H. Dewenter und S. Thun Tab. 5   (Fortsetzung) Abusus (Veränderung d. Gutes) IHTSDO-Mitglieder (NRC) Schaffung nationaler Erweiterungen, deren Nutzung und Modifizierung. x Schaffung von Derivaten, deren Nutzung und x Modifizierung. Übersetzungen der IV in Landessprache (gesamt o. teilweise) x Veränderung des SNOMED CT Core der IV x Modifizierung der Formatierung des Kerninhaltes von SNOMED CT in der dem Lizenznehmer überlassenen IV oder nationalen Member Version x SNOMED CT Affiliate Lizenznehmer Modifizierung der IV in unternehmenseigenen x x x x x x x x x Modifizierung der Formatierung des SNOMED CT Core in der dem Lizenznehmer überlassenen IV oder nationalen Member Version x Teilweise Übersetzungen der IV nach x x x x Produkten Herstellung von Erweiterungen und Derivaten der IV Nutzung und Modifizierung dieser Erweiterungen und Derivate IP-Rechte an den selbst entwickelten Erweiterungen und Derivaten der IV Genehmigung des Lizensierenden Einschränkungen der Verfügungsrechte Keine Modifikation des SNOMED CT Core, der Spezifikationen oder der Software der IV (Fortsetzung) SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 265 Tab. 5   (Fortsetzung) Verfügungsrecht IHTSDO Nicht-Mitgliedschaft IHTSDO-Mitgliedschaft Usus fructus (GuV mit Nutzung des Gutes) IHTSDO-Mitglieder (NRC) Nutzung der IV für interne Geschäftszwecke x Einbringen der IV in Produkte des Mitgliedes x Nutzung der IV für die Anwendungsentwickung von IT-Produkten x Nutzung der IV für Forschungszwecke x SNOMED CT Affiliate Lizenznehmer Nutzung der IV für interne Geschäftszwecke x x Einbringen der IV in Produkte des Lizenznehmers x x Nutzung der IV für die Anwendungsent- x wickung von IT-Produkten x Nutzung der IV für Forschungszwecke x x Ius abutendi (Überlassung des Gutes an andere) IHTSDO-Mitglieder (NRC) Vergabe von nationalen Affiliate Lizenzen x Vergabe von Affiliate Lizenzen an andere x IHTSDO Mitglieder (z. B. National Extensions) Vergabe einer nationalen Mitgliedsversion von SNOMED CT an Affiliate Lizenznehmer x (Fortsetzung) 266 H. Dewenter und S. Thun Tab. 5   (Fortsetzung) x Vergabe/Überlassung von eigenen Produkten mit IV-Inhalten an andere Personen als Affiliates oder andere Mitgliedsländer SNOMED CT Affiliate Lizenznehmer Vergabe/Überlassung von eigenen x Produkten mit IV- Inhalten über Vergabe einer Sub-Lizenz x Einschränkungen der Verfügungsrechte Keine Weitervergabe von Sub-Lizenzen durch Sub-Lizenzinhaber x x CT begründen Agency-Probleme. Diese entstehen wiederum durch vertragliche Lücken in Bezug auf die jeweilige Investition und aufgrund asymmetrischer Informationen der Akteure. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird der vertragstheoretische Vergleich beider Szenarien aus der Perspektive der Prinzipal-Agenten-Theorie durchgeführt. Für den Status der Nicht-Mitgliedschaft und der Mitgliedschaft werden die einzelnen Vertragsbeziehungen zwischen den in Abschn. 3 genannten Akteuren beschrieben. Dabei wird primär die Relevanz asymmetrischer Informationen zwischen den beteiligten Akteuren der jeweiligen Institutionsform betrachtet. In Abhängigkeit der Vertragsbeziehungen können mögliche Lösungsoptionen zur Vermeidung von Agency-Problemen formuliert werden. Die Analyse ermöglicht Schlussfolgerungen über das jeweilige Risikopotenzial beider Institutionsformen aufgrund asymmetrischer Informationen und unvollständiger Verträge. Einen höheren Nutzen beinhaltet diejenige Variante, welche höhere Transparenz für die Vertragspartner beinhaltet und demnach geringere Transaktionskosten und die Verminderung von Koordinations- oder Transaktionshindernissen zur Folge hat. Für den vertragstheoretischen Vergleich wird zu Beginn der Status der Nicht-Mitgliedschaft betrachtet. In diesem Szenario bestehen Vertragsbeziehungen zwischen Lizenznehmern und der Lizenzgeberin IHTSDO sowie zwischen Lizenznehmern und der Gesellschaft. In der Beziehung zwischen Lizenznehmer und IHTSDO nimmt Ersterer die Position des Prinzipals ein. Dieser erlangt über den Agenten IHTSDO eine Nutzungslizenz für SNOMED CT. Da das Grundwissen über die Terminologie und die Lizenzierung vonseiten der IHTSDO als fundierter bewertet werden kann als das des Lizenznehmers, existiert eine asymmetrische Informationslage zwischen Prinzipal und Agent. In dieser Agency-Problematik besteht vorvertraglich die Gefahr der Hidden Characteristics, da der SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 267 Lizenznehmer nicht in der Lage ist, alle Vertragsinhalte und Intentionen der IHTSDO im Zusammenhang mit der Lizenzierung komplett zu erfassen. Darüber hinaus ist Hidden Information seitens der IHTSDO möglich. Der Agent kann also prinzipiell die relative Unwissenheit des Prinzipals zu persönlichen Nutzenmaximierung einsetzen. Die IHTSDO ist als alleinige Anbieterin des Standards SNOMED CT in der Lage, Vertragskonditionen nach eigenem Ermessen zu gestalten. Dies beinhaltet grundsätzlich den Anreiz, eher teure Lizenzbeiträge zu definieren. Für eine möglichst weite Verbreitung von SNOMED CT, welche zu den aktuellen Hauptaufgaben der IHTSDO zählt, muss die Organisation allerdings einen für Kunden ökonomisch effizienten und attraktiven Zugang anbieten. Auf diesem Weg müssen ebenfalls Anreize zur Lizenzabnahme gestaltet werden. Die Lizenznehmer erwarten in Bezug auf die Produktqualität und Preisgestaltung die höchste Qualität zum günstigsten Preis. Dem Lizenznehmer entstehen vor Vertragsabschluss Such- und Informationskosten, für den Vertragsabschluss Verhandlungs- und Entscheidungskosten, für die Vertragsaufrechterhaltung Abwicklungs- und Kontrollkosten. Die Transaktion zur Gewinnung einer SNOMED CT Lizenz wird innerhalb Deutschlands selten durchgeführt, sodass Lizenznehmer in der Regel nicht von den Vorerfahrungen anderer Akteure profitieren und auf diesem Weg Transaktionskosten einsparen können. Die Problematik des moral hazard kann nach Vertragsabschluss auftreten, wenn Lizenznehmer SNOMED CT in einer Art und Weise verwenden, welche nicht dem Affiliate License Agreement entspricht und die IHTSDO primär keine Möglichkeit hat, über diese Aktivitäten Kenntnis zu erlangen. Dies wäre beispielsweise bei potenziellen SubLizenznehmern der Fall, welche der IHTSDO nicht wie erforderlich angezeigt werden und es so zu einer unerlaubten Nutzung von SNOMED CT kommt. In den Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern (insbesondere den Patienten) und den Lizenznehmern werden Letztere beauftragt, Güter und Dienstleistungen für Endverbraucher herzustellen. Als Endverbraucher gelten in diesem Fall auch die Sub-Lizenznehmer. Der Lizenznehmer hat einen Informationsvorsprung gegenüber den Gesellschaftsmitgliedern in Bezug auf seine Produkte und Dienstleistungen. Dies kann zu einer ungerechtfertigten Leistungsausdehnung ohne Nutzenzuwachs für die Gesellschaftsmitglieder führen. Darüber hinaus ist die Qualität der Leistungen für die Gesellschaftsmitglieder schwer einschätzbar. Vonseiten der Gesellschaftsmitglieder besteht die Möglichkeit zur Zurückhaltung medizinisch relevanter Informationen aufgrund opportunistischen Verhaltens. Im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft besteht eine Beziehung des Lizenznehmers mit dem NRC des jeweiligen Landes, welches als Lizenzgeber fungiert. Die Inhalte der im Abschn. 3.1 beschriebenen Lizenznehmer-IHTSDO-Beziehung können mit Einschränkungen übernommen werden. Aufgrund der Garantie kostenloser Nutzerlizenzen und der uneingeschränkten Möglichkeit, diese im nationalen Umfeld zu beziehen, existieren in diesem Szenario allerdings weniger Gründe für nicht-vertragskonformes Verhalten als im Status der Nicht-Mitgliedschaft. 268 H. Dewenter und S. Thun Die bereits beschriebene Agency-Problematik zwischen Gesellschaftsmitgliedern und Lizenznehmern kann grundsätzlich aus dem Status der Nicht-Mitgliedschaft übernommen werden. Eine weitere Beziehung im Bereich der IHTSDO-Mitgliedschaft besteht zwischen dem Mitglied, also dem nationalen Repräsentanten, und der IHTSDO. An dieser Stelle fungiert das Mitglied als Prinzipal und die IHTSDO als Agent. Durch die Zahlung des Mitgliedsbeitrages im Auftrag der Gesellschaft erhält der Prinzipal Zugang zu den Produkten der IHTSDO und gleichzeitig ein Mitspracherecht innerhalb der Organisation. Aufgrund von Opportunismus resultiert aus diesem Verhältnis eine moral-hazardSituation. Nach Vertragsabschluss können die Vertragspartner die ihnen überlassenen Ressourcen in unangemessener Weise verschwenden. So kann z. B. das Mitglied ein Übermaß an Serviceleistungen der IHTSDO beanspruchen. Das Bundesministerium für Gesundheit entscheidet im Auftrag der Gesellschaft über einen Beitritt Deutschlands zur IHTSDO. Somit besteht auch zwischen dem BMG und der IHTSDO eine Prinzipal-Agenten-Beziehung. Für die Zahlung des Mitgliedsbeitrages wird ein landesweiter Zugang zu IHTDSO-Produkten erwartet, der sich fortan als eine effektive und Nutzen bringende Investition erweisen soll. Das BMG hat zum Zeitpunkt des Beitritts keine konkreten Informationen über die Effektivität der Produkte. Die IHTSDO kann ihren informationellen Vorsprung nutzen, um höhere Mitgliedsbeiträge zu verlangen sowie minderwertige Produkte auszuliefern. Abschließend ist die Beziehung zwischen dem BMG und der Gesellschaft zu nennen. Der Agent BMG handelt im Falle eines Beitritts Deutschlands zur IHTSDO im Auftrag der Gesellschaft, welche die Position des Prinzipals einnimmt. Die Gesellschaft erwartet eine Investition der Steuergelder in innovative Lösungen des Gesundheitswesens, welche zu Verbesserungen der IKT im Gesundheitswesen und der Patientenversorgung führen. Die Politiker des BMG haben ihrerseits ein Interesse auf Wiederwahl nach Beendigung der Legislaturperiode. Diese Art der Prinzipal-Agenten-Beziehung ist insgesamt komplexer, da das BMG alle Inhalte der IHTSDO-Mitgliedschaft an einen dritten Akteur, also dem nationalen IHTSDO-Mitglied überträgt. Somit besteht ein komplexes System gegenseitiger Verantwortlichkeiten in dem Informationsasymmetrien zwischen den Akteuren potenziert werden. Exemplarisch lässt sich der Nutzen einer IHTDSO-Mitgliedschaft im vertragstheoretischen Vergleich über eine Abwägung von Vertragsrisiken, und einem möglichen Vorteil, der sich aus dem Vertrag ergibt, bestimmen. Die vertraglichen Beziehungen zwischen den Akteuren im Status der Nicht-Mitgliedschaft weisen eine geringere Komplexität auf, als im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft. Zusätzlich besteht eine sehr geringe Nachfrage an Einzellizenzen in Deutschland. Die Risiken unvollständiger Verträge betreffen somit die wenigen Lizenznehmer und eine begrenzte Anzahl an Gesellschaftsmitgliedern, welche als Produktabnehmer mit diesen in vertraglicher Verbindung stehen. Maßnahmen zur Verminderung von Informationsasymmetrien müssen durch die beteiligten Akteure, also die IHTSDO und die einzelnen Lizenznehmer, initiiert werden. Mögliche Nutzeneffekte, die mit der Einzelanwendung von SNOMED CT verbunden sind, lassen sich aufgrund der geringen Anzahl von Use Cases schwer feststellen. SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 269 Im Status der IHTSDO-Mitgliedschaft kommt es innerhalb diverser Beziehungen zu komplexen Agency-Problematiken. Asymmetrische Informationen zwischen den einzelnen Akteuren führen insbesondere vor und zum Zeitpunkt des IHTSDO-Beitritts zu Transaktionshindernissen. Die Risiken des unvollständigen Vertrages, welcher die IHTSDO-Mitgliedschaft begründet, treffen alle Gesellschaftsmitglieder. Zur Verminderung dieser negativen Effekte müssen Maßnahmen ergriffen werden, welche eine höhere Effizienz in der Vertragsgestaltung und -durchsetzung erreichen. Dazu zählen z. B. Anreizverbesserungen oder vertrauensstärkende Maßnahmen in der Zusammenarbeit. Der Status der IHTSDO-Mitgliedschaft bietet den Zugang zu flächendeckenden nationalen Nutzungslizenzen für SNOMED CT. Somit bestehen für Lizenznehmer geringere Barrieren, die Terminologie auf breiter Ebene einzusetzen. Durch steigende Einsatzzahlen sind die Akteure in der Lage, Synergieeffekte zu nutzen, die wiederum zu einer Senkung von Transaktionskosten führen. Durch eine breite Anwendung eines Terminologiestandards besteht wiederum die Möglichkeit, mehr Transparenz innerhalb der IKT im Gesundheitswesen zu schaffen. Dies nutzt insbesondere dem Verhältnis von Patienten und Lizenznehmern. Im flächendeckenden Einsatz und durch eine vielfältige Anzahl von Use Cases können Aussagen über das Nutzenpotenzial von SNOMED CT und der IHTSDO-Mitgliedschaft getroffen werden. 5 Zusammenfassung und Ausblick Die Analyse zeigt, dass für eine unbeschränkte Einsatzmöglichkeit von SNOMED CT auf nationaler Ebene der Status der IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands aus neuinstitutionenökonomischer Perspektive als die vorteilhaftere Alternative erscheint. Die Vorteile von SNOMED CT erweisen sich insbesondere in einer flächendeckenden Anwendung im Gesundheitssystem eines Landes. Der Nutzen einer IHTSDO-Mitgliedschaft ist direkt mit dem Nutzen von SNOMED CT verknüpft. Nach den Prinzipien der NIÖ trägt der einheitlich geregelte Umgang mit einem Standard wie SNOMED CT innerhalb eines definierten räumlichen Bereiches zum rationalen Umgang mit Unsicherheiten zwischen Akteuren bei und reduziert Informationsasymmetrien sowie Transaktionskosten. Diese Rahmenbedingungen sind von gesellschaftlichem Nutzen. Deutschland erhält durch eine Mitgliedschaft in der IHTSDO die Möglichkeit, sich aktiv und frühzeitig am Innovationsprozess zu beteiligen, und das gesamte Potenzial der Terminologie SNOMED CT zum Wohl der Patientenversorgung einzusetzen. Diese positiven Effekte können primär unter der Voraussetzung ausgenutzt werden, dass unter realen Bedingungen jeder Akteur SNOMED CT ohne die Verletzung von Verfügungsrechten einsetzen darf. Der Status der IHTSDO-Mitgliedschaft schafft in diesem Zusammenhang eine entsprechende Basis. SNOMED CT ist als semantischer Standard mit anglo-amerikanischem Ursprung, der darüber hinaus über keine legitimierte deutsche Übersetzung verfügt, aktuell nicht vollständig auf die Erfordernisse der IKT des deutschen Gesundheitswesens angepasst. Eine kostenintensive Gesamtübersetzung von SNOMED CT ist nach der Auffassung von 270 H. Dewenter und S. Thun Experten in der nationalen Einführungsphase nicht erforderlich. An dieser Stelle ist es ausreichend, für konkrete Anwendungsszenarien Teilübersetzungen sogenannter Value Sets anzufertigen. Dazu gehört auch das Mapping dieser Value Sets zwischen SNOMED CT und nationalen Klassifikationssystemen wie ICD-10-GM und OPS, um medizinische Detailinformationen im Rahmen der Leistungsabrechnung zuordnen zu können. Darüber hinaus kann das Potenzial von SNOMED CT im Zusammenhang mit dem Standard LOINC genutzt werden, welcher insbesondere für den Laborbereich konzipiert ist. Beide Standards werden aktuell zur Förderung der Interoperabilität durch die Standardisierungsorganisationen IHTSDO und Regenstrief Institute im Rahmen einer kooperativen Zusammenarbeit miteinander verlinkt. Die fortschreitende Bedeutung von SNOMED CT als internationale Referenzterminologie erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes in Deutschland während der kommenden Jahre. Die Thematik kann insbesondere mit der aktuellen Herausgabe des E-Health-Gesetzes des Bundesgesundheitsministeriums für Gesundheit zur Herausgabe in Verbindung gebracht werden. Das Ziel ist die Schaffung einer optimierten gesetzlichen Grundlage für den schnellen und sicheren elektronischen Austausch von Gesundheitsdaten und die Gewährleistung von Interoperabilität. Für die nationale Einführung von SNOMED CT bedarf es der Konzeption und des Aufbaus einer umfangreichen informations- und kommunikationstechnologischen Infrastruktur. Eine Entscheidung für SNOMED CT sollte demnach frühzeitig getroffen werden, um diese Infrastruktur effektiv planen und für den Einsatz vorbereiten zu können. Eine mögliche IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands ist ebenfalls auf europäischer Ebene relevant. Es besteht ein hoher Anteil europäischer Mitgliedsstaaten in der IHTSDO. Dieser liegt aktuell bei 16 von 27 Ländern. Deutschland ist Grenzstaat zu den fünf IHTSDO-Mitgliedern Belgien, Dänemark, Niederlande, Polen und der Tschechischen Republik. Eine Mitgliedschaft Deutschlands in der IHTSDO vermeidet überregionale Lizenzbarrieren für die Nutzung von SNOMED CT und fördert zugleich den bilateralen Austausch medizinisch relevanter Informationen. Dies kommt vor allem den Patienten zugute, die in grenznahen Gebieten leben und die Gesundheitssysteme unterschiedlicher Länder in Anspruch nehmen. Weitere ökonomische Erkenntnisse zum Thema kann eine geplante Kosten-NutzenAnalyse zur Anwendung von SNOMED CT auf europäischer Ebene liefern. Dieser anspruchsvollen Aufgabe widmen sich ab dem Jahr 2015 internationale Wissenschaftler im Europa-Förderprojekt „Assessing SNOMED CT for Large Scale E-Health Deployments in the EU (ASSESS CT)“. Mit konkreten Ergebnissen ist mit Beginn des Jahres 2016 zu rechnen. Bei der Investition Deutschlands in eine IHTSDO-Mitgliedschaft und in die medizinische Terminologie SNOMED CT können Unsicherheiten und Risiken nicht ausgeschlossen werden. Eine vollständige Transparenz aller Akteure innerhalb der Gesamtsituation ist, wie in den Theorien der Neuen Institutionenökonomik beschrieben, ein unerreichbarer Zustand. Unsicherheiten sind insbesondere durch eine geringe Anzahl von Praxisanwendungen mit SNOMED CT, die auf das deutsche Gesundheitswesen übertragbar sind bzw. auf nationaler Ebene durchgeführt werden, bedingt. Erschwerend kommt ein kaum kalkulierbarer SNOMED CT und IHTSDO-Mitgliedschaft – Nutzen einer … 271 finanzieller Gesamtaufwand der Investition in eine IHTSDO-­Mitgliedschaft hinzu, der an anderer Stelle, z. B. in ASSESS CT, weiter untersucht werden muss. Zum heutigen Zeitpunkt existiert auf internationaler Ebene kein semantischer Standard mit einem vergleichbaren Potenzial an Ausdrucksstärke in der Abbildung medizinischer Detailinformationen wie SNOMED CT. Im Bereich E-Health werden in naher Zukunft Institutionen geschaffen, die eine optimalere Datenverfügbarkeit und dadurch eine allgemeine Verbesserung der Patientenbehandlung bewirken sollen. Aus diesem Grund ist eine intensive Auseinandersetzung der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen mit den Themen SNOMED CT und der IHTSDO-Mitgliedschaft Deutschlands von hoher Wichtigkeit. Literatur Arrow KJ (1984) The economics of agency. Stanford University, Stanford Blum U et al (2005) Angewandte Institutionenökonomik. Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. TH. Gabler/GWV Fachverlage, Wiesbaden Coase R (1937) The nature of the firm. Economica 4(16):386–405 (New series) Conley E, Benson T (2011) SNOMED CT: who needs to know what. Eur J Biomed Inform 7(2):40–47 Czaya A (2007) Das Europäische Normungssystem aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik. Dissertation, Frankfurt a. M.: Peter Lang Göbel E (2002) Neue Institutionenökonomik. Lucius & Lucius, Stuttgart IHTSDO (2007) Articles of Association for the International Health Terminology Standards Development Organisation. http://www.ihtsdo.org/fileadmin/user_upload/Docs_01/About_IHTSDO/ Articles_of_Association/Version_15/IHTSDO_Articles_of_Association_Version_15.0.pdf. Zugegriffen: 20. Okt. 2014 IHTSDO (2010) Affiliate License Agreement. http://ihtsdo.org/fileadmin/user_upload/Docs_01/ License/Ihtsdo_AffiliateLicenceAgreement_v11.pdf. Zugegriffen: 20. Okt. 2014 IIHTSDO (2014a) IHTSDO 2014 Membership fees. http://www.ihtsdo.org/fileadmin/user_upload/ Docs_01/Members/Fees/IHTSDO_2014_Membership_Fees_v1.0.pdf. Zugegriffen: 12. Juni 2014 IHTSDO (2014b) IHTSDO Affiliate license fees and territory bands 2014. Zugegriffen: 3. Dez. 2014 Ingenerf J (2007) Die Referenzterminologie SNOMED CT – von theoretischen Betrachtungen bis zur praktischen Implementierung. MMI-Verlag, Neu-Isenburg Internationaler Verlag der Wissenschaften. empirica (2014) Projektantrag Horizont 2020 – Coordination and Support Actions (CSA). Assess CT – Assessing SNOMED CT for large scale eHealth deployments in the EU. Bonn Lee D, Cornet R, Lau. F, Keyzer N de (2012) A survey of SNOMED CT implementations. J Biomed Inform 46(2013):87–97 Ménard C, Shirley MM (2008) What is the New Institutional Economics. In Ménard C, Shirley MM (Hrsg) Handbook of New Institutional Economics. Heidelberg: Springer, S 1 ff. North DC (1990) Institutions, institutional change and economic performance. Cambridge University Press, Cambridge Oberender P, Fleckenstein J (2005) Institutionenökonomische Perspektiven der Telemedizin-vom regionalen Modellprojekt zur bundesweiten Institutionalisierung. Telemedizinführer, S 62–66 Ostrom E (1986) An agenda for the study of institutions. Public Choice 48:3–25 272 H. Dewenter und S. Thun Ostrom E (2005) Understanding institutional diversity. Princeton University Press, Princeton Richter R, Furubotn EG (2003) Neue Institutionenökonomik. Mohr Siebeck, Tübingen Schulz S (2011) Wozu benötigen wir standardisierte Terminologien wie SNOMED CT. Swiss Med Inform 73:28–32 Voigt S (2009) Institutionenökonomik, 2. Aufl. Fink, Paderborn Williamson OE (1979) Transaction-cost economics: the governance of contractual relations. J Law Econ 22(2):233–261 Williamson OE (1985) The economic institutions of capitalism, firms, markets, relational contracting. Free Press, New York Windisch R (2014) Verfügungsrechte. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/verfuegungsrechte.html#definition. Zugegriffen: 8. Sept. 2014 Wohltmann HW (2014) Wirtschaftskreislauf. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/wirtschaftskreislauf.html. Zugegriffen: 28. Aug. 2014 Über die Autoren Heike Dewenter arbeitet an der Hochschule Niederrhein als wissenschaftliche Projektleiterin am Competence Center eHealth/Fachbereich Gesundheitswesen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Standardisierung im Gesundheitswesen mit HL7, Terminfo und IHE sowie gesundheitsökonomische Evaluationen von E-Health-Anwendungen auf nationaler und EU-Ebene. Sie verfügt über einschlägige Expertise im Bereich der internationalen Referenzterminologie SNOMED CT und ist Mitglied des IHTSDO Consultant Terminologist Programs. Kontakt: heike.dewenter@hs-niederrhein.de Prof. Dr. med. Sylvia Thun  Dipl.-Ing. – Direktorin Competence Center E-Health. Im Jahr 2011 wurde sie zur Professorin an der Hochschule Niederrhein berufen. 2014 erhielt sie die Auszeichnung „Digitaler Kopf“ des BMBF und der Gesellschaft für Informatik für ihr Engagement in der Digitalisierten Medizin. Sie ist Vorsitzende von HL7 Deutschland, stellv. Obfrau des DIN Fachausschuss Medizinische Informatik sowie Delegierte des ISO TC 215 „Medizinische Informatik“ und bei IHE aktiv. Dr. Thun ist Inhaberin des gmds-Zertifikats „Medizinische Informatik“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Telemedizin, ITStandards für z. B. Arzneimittelinformationen und die semantische Vernetzung von Systemen im Gesundheitswesen. Kontakt: Sylvia.Thun@hs-niederrhein.de Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität von eSource in der klinischen Forschung Stefan Müller-Mielitz 1 Einleitung Die Durchführung von GCP-konformen Studien (GCP: Good Clinical Practice) innerhalb der klinischen Forschung ist langwierig. Mittels Electronic-Date-Capture-Systemen (EDC) wird die Datenerfassung in teilnehmenden Studienzentren dezentral und webbasiert durchgeführt, was Effizienzvorteile verspricht. Die Dateneingabe erfolgt dabei über die PC-Tastatur, als Datenbasis dient ein Papierausdruck. Ein Medienbruch, der nicht nur personelle Kosten verursacht, sondern auch die Studienqualität beeinträchtigen kann, ist die Folge. Hier setzen eSource-Ansätze an, die von der Datenquelle bis zum IT-Zielsystem den Datentransfer digital ohne Medienbruch durchführen. Es sind dabei Probleme des Datenschutzes und IT-technische Probleme zu lösen. Die Nutzung von Originaldaten (eSource) (Joanne und Rhoads 2006) wird deshalb von Standardisierungsgremien strukturiert aufbereitet und es werden Handlungsempfehlungen gegeben (CDISC 2016). 2 Fragestellung Für die IT-Unterstützung der Forschungsprojekte im Kompetenznetz Angeborene Herzfehler (KN AHF) wurde zur digitalen Datenübernahme aus einem Spiroergometriegerät eine Importfunktion für die Studienmanagement-Software SecuTrial entwickelt. Hersteller ist die Fa. Interactive Systems, Berlin. S. Müller-Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_15 273 274 S. Müller-Mielitz Dabei ist für das Kompetenznetz als Contract Research Organisation (CRO) von Interesse, ob die Investitionen wirtschaftlich sind (Holey et al. 2007)? Für den Mediziner ist von Interesse: verbessert sich die Datenqualität? IT-Spezialisten und Medizingerätetechniker sind an der Lösung der Schnittstellenproblematik zwischen der Welt der Medizingeräte und der Welt der Informationstechnologie interessiert. Begleitend zu diesem IT-Projekt „Importfunktion in ein EDC-System“ wurde eine Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) (Krumbholz 1994, S. 114–195) durchgeführt (Wang et al. 2003), die die Wirtschaftlichkeit des Projekts ermittelt (Welker 2007). Die Ergebnisse dieser retrospektiven KNA werden im Folgenden dargestellt. 3 Material Das Querschnittprojekt 1 (QP1 Belastungsuntersuchungen, Spiroergometrie-Projekt) innerhalb des KN AHF ermittelt mit gesunden Personen entsprechende Referenzwerte für die Spiroergometrie für das Fahrrad und den Gehtest. Für die Erhebung der Messwerte wurde ein standardisiertes medizinisches Belastungsprotokoll erstellt (Dubowy 2006). Die für die Referenzwerte erhobenen Items (die Anzahl der Items bei der Fahrraduntersuchung beträgt 73; die Anzahl der Items beim Gehtest beträgt 29) aus dem Spiroergometriegerät sind gleich denen aus den klinischen Studien mit AHF-Patienten. Für diese medizinischen Untersuchungen (Referenz- und Studiendaten) wurde ein standardisiertes Laufband- und Fahrradprotokoll für die Datenerhebung erstellt (Kretschmer et al. 2007). Das Ziel des begleitenden IT-Projektes war es, die Datenübernahme aus dem Spiroergometrie-Gerät mittels einer Importfunktion zu realisieren. Es sollte die pseudonymisierte Speicherung der erhobenen Messdaten für die Probandenuntersuchungen des Fahrradtests und des 6-Min.-Gehtests in einer zentralen Studiendatenbank (EDC-System) realisiert werden. Gegenstand Gegenstand der Untersuchung ist die „Importfunktion in ein EDC-System“ im Rahmen des Spiroergometrie-Projekts im KN AHF. Die bestehenden Arbeitsabläufe wurden dafür analysiert und dokumentiert. Danach folgte mithilfe der Differenzanalyse die Verbesserung durch einen IT-angepassten Workflow (Müller-Mielitz et al. 2009). Im Anschluss wurden Arbeitsanweisungen (sogenannte Working-Instructions) für die Mitarbeiter zur Nutzung der Importfunktion erstellt. Diese beschreiben die neuen Arbeitsabläufe und ermöglichen es, auch nach längerer Nicht-Nutzung des Imports, die Abläufe schnell und richtig durchzuführen. Perspektive Die Perspektive der ökonomischen Evaluation ist die einer CRO und ähnelt daher der gesellschaftlichen Perspektive. Eine CRO ist innerhalb der medizinischen Forschung (z. B. im Rahmen von klinischen Studien) ein Leistungsträger, der durch die Verwaltung Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 275 der Finanzmittel des Sponsors, analog zu den Krankenkassen innerhalb der Gesundheitsversorgung zu sehen ist. Projektdauer, Menge, Kosten Der neue digitale Workflow wurde bei den Probandenuntersuchungen im KN AHF Querschnittsprojekt Spiroergometrie bei nf = 840 Probanden für das Fahrrad und ng = 840 Probanden für den Gehtest durchgeführt. Die regelmäßige Nutzung der Importfunktion begann im Februar 2007 mit Beginn der Probandenuntersuchungen für die Spiroergometrie (Fahrrad). Die Untersuchungen endeten im August 2008. Der Datenimport für die Daten der Gehtest-Probanden endete im März 2009. Damit beträgt der analysierte Projektzeitraum 26 Monate. Die eingesetzten Humanressourcen für das QP1-ProbandenProjekt betragen eine volle Stelle (MTA) und 26 Personenmonate. Eine Diskontierung bei den Berechnungen findet wegen des recht kurzen Projektzeitraums nicht statt. Die Entwicklungs- und Implementierungskosten (Investition) fanden in einem Zeitraum kürzer als ein Jahr statt. Die Kostenfaktoren (insbesondere die Personalkosten) werden als konstant angenommen. 4 Methode In Vorarbeit zu dem hier vorgestellten Probanden-Projekt Spiroergometrie wurden von Dubowy et al. ein standardisiertes medizinisches Belastungsprotokoll für Laufband, Gehtest und Fahrrad entwickelt (Dubowy et  al. 2008). Das Belastungsprotokoll beschreibt primär die stufenweise Erhöhung der Belastung am entsprechenden Gerät (Laufband oder Fahrrad). In Zusammenarbeit mit dem Spiroergometrie-Gerätehersteller1 wurden in einem Vorprojekt die Items und das entsprechende IT-Ausgabeformat (Export) definiert und auf der Seite des Softwareherstellers für das Spiroergometrie-Gerät programmiert. Es stehen somit zwei Alternativen für die Datenverarbeitung von Messwerten aus dem Spiroergometriegerät zur Auswahl (s. Abb. 1): 1. Manuelle Dateneingabe: papiergebundener Ausdruck mit manueller Eingabe in eine Datenbank durch einen Nutzer (User). 2. Importfunktion: der digitale Export aus dem Medizingerät (eSource) und der anschließende manuelle (userbasierte) digitale Import pro Patient in die Studiendatenbank. Vorgehen Für die Kosten-Analyse wurden die Prozesse der Datengewinnung und der Datenverarbeitung bei den Spiroergometrie-Messungen untersucht (Datentransfer). Durch Beobachtung 1Fa. ZAN® Messgeräte, Oberthulba, http://de.nspirehealth.com/. 276 S. Müller-Mielitz Abb. 1  Zwei Alternativen des Datentransfers: ➊ Papiergebundene manuelle Dateneingabe in die Datenbank, das Electronic Data Capture (EDC)-System und ➋ Export aus dem Spiroergometriegerät und anschließender manueller, patientenbasierter Import in das EDC. Die Datenpräsentation über den Bildschirm/Monitor stellt die Software-Basisfunktionalität dar und Befragung erfolgte die Prozessanalyse mit der minutengenauen Messuwurden für die Berechnungen mit folgendenng einzelner Prozessschritte. Die sich anschließende ökonomische Analyse orientiert sich am „Hannoveraner Konsens“, der Empfehlungen zu gesundheitsökonomischen Evaluationen enthält (Graf von der Schulenburg et al. 2007). Berechnungen der Arbeitskosten Für die jährlich zur Verfügung stehenden Netto-Arbeitszeiten wurden die Berechnungen wie in Tab. 1 zugrunde gelegt: Das KNA-Modell geht von einer Netto-Arbeitszeit von 1590 h pro Jahr aus. Diese Zahl wird im Studienzentrum2 der Spiroergometrie-Auswertung als Netto-Jahresarbeitszeit verwendet. Die Ausgaben für Personal wurden für die Berechnungen mit folgenden Werten durchgeführt: Die Bruttopersonalkosten für einen Mitarbeiter mit der Ausbildung zum Medizinisch -Technischen Assistenten (MTA), 30 J., 1 Kind, Vc betragen 39.100 EUR, für einen Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Wiss.MA), 30 J., 1 Kind IIb, 56.400 EUR (ITImplementierungen). Diese Personalkosten entsprechen dem Bundesangestelltentarif (BAT) von 2003 (Plathow et al. 2005), zu dem Zeitpunkt, als die Projekte im KN AHF begannen und damit als Basis für alle ökonomischen Analysen in diesem vom BMBF3geförderten Projekt dient (BMBF 2006). Die Kosten je Arbeitsminute werden in der Tab. 2 für einen MTA und Tab. 3 für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter berechnet. Das KNA-Modell geht von der Annahme aus, dass die Bruttokosten der Arbeitszeit pro Minute kam = 0,41 EUR betragen. Die Kosten für die IT-Implementierungen werden mit 44,33 EUR je Stunde berechnet. Kostenänderungen werden wegen der Umsetzung innerhalb weniger Wochen nicht berücksichtigt. Ist-Analyse der Arbeitsschritte Für die Berechnungen der zeitlichen Aufwände zwischen den beiden Alternativen Dateneingabe oder Importfunktionalität wurde zu Projektbeginn der Mitarbeiter zu den 2Klinik für Angeborene Herzfehler, Ruhr-Universität Bochum, Herz- und Diabetes-Zentrum Bad Oeynhausen. 3Bundesministerium für Bildung und Forschung, www.bmbf.de. Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … Tab. 1  Auflistung der Arbeitszeit (in Stunden) Tab. 2  Arbeitskosten/ Zeiteinheit MTA (2003) Tab. 3  Arbeitskosten/ Zeiteinheit wiss. MA (2003) 277 38,5 Brutto-Arbeitszeit pro Woche 154 Brutto-Arbeitszeit pro Monat 1848 Brutto-Arbeitszeit pro Jahr 1590 Netto-Arbeitszeit pro Jahr 39.100 € Bruttoentgelt MTA (2003) 1590 Netto-Arbeitszeit in h pro Jahr 24,59 € Entgelt pro Stunde 0,41 € Entgelt pro Minute 56.400 € Bruttoentgelt Wiss.MA (2003) 1590 Netto-Arbeitszeit in h pro Jahr 44,33 € Entgelt pro Stunde 0,74 € Entgelt pro Minute bisherigen zeitlichen Aufwänden befragt, die für eine Dateneingabe bei den klinischen Studien anfielen. Der Mitarbeiter berichtet, dass nach dem Import von ca. 70–100 Datensätzen eine Routine zu verzeichnen ist, die aber verloren geht, wenn lange Zeit (einige Wochen) die Importfunktion nicht mehr genutzt wurde. Positive Zeiteffekte des Imports kommen also nur voll zum Tragen, wenn der Import der medizinischen Messdaten regelmäßig erfolgt. Die Zeitberechnungen gehen deshalb davon aus, dass 100 Visiten mit mehr Aufwand, die folgenden Visiten dann aber mit einem routinemäßigen geringeren Aufwand erfolgen (sogenannte Lernkurveneffekt) (Ernst 2003). Der Schulungsaufwand für die Nutzung des Imports betrug weniger als 30 min und ist de facto mit dem Aufwand für die Nutzung des EDC-Systems gleichzusetzen, der sowohl für das Abtippen der Daten, als auch für den Import der Daten anfallen würde. Opportunitäten Neben der Unterscheidung der beiden Alternativen Import oder Dateneingabe sind zwei weitere Situationen im Projekt für die weitergehende Betrachtung wichtig: Die Erfassung von Studiendaten oder die Erfassung von Referenzdaten. Die Studiendaten der Spiroergometrie wurden in unterschiedlichen Prüfzentren erhoben und manuell in die Studiendatenbank eingegeben und dienen daher als Vergleich für die Zeitaufwände und für die Datenqualität bei einer manuellen Dateneingabe. Die Referenzdaten für gesunde 278 S. Müller-Mielitz Probanden wurden in einem Auswertungszentrum erhoben und dabei in vollem Umfang die Importfunktion genutzt. Ist-Analyse bei der Zeiterfassung Die Ist-Analyse der Zeitaufwände, die für den Import aufgewendet werden muss, zeigt, dass sich die Arbeitsabläufe nicht wesentlich verändern und dass die Änderungen einzig in der zeitlichen Entlastung der Mitarbeiter liegen, wenn sie den Datenimport nutzen. Hier liegen die Einsparungspotenziale der Importfunktion. Bei einem Patienteneintrag im Routinebetrieb kann 70 % der Zeit eingespart werden (maximal drei Minuten anstelle von mindestens zehn Minuten). Datenübernahmequalität Es besteht ein weiterer Unterschied zwischen der manuellen Dateneingabe und der Nutzung der Importfunktion. Durch den Verzicht auf die Dateneingabe werden die dort auftretenden Tippfehler vermieden, was einen großen Vorteil für die Datenübernahmequalität bedeutet. Dadurch wird das anschließende Datenmanagement vereinfacht. Es wird für diese Daten kein Studien-Monitoring benötigt. Es ist nach der Nutzung des Imports nur eine Datenkontrolle auf Vollständigkeit der Daten für alle Patienten bzw. Probanden notwendig. Datensicherheit Durch den digitalen Import wird auch die Datensicherheit erhöht, da alle identifizierenden Daten, die auf Papier sichtbar wären, nicht importiert werden (z. B. Abkürzungen des Patientennamens, keine Übernahme des Geburtsdatums) (Datenschutz). Durch den digitalen Workflow fällt auch eine Manipulation von Daten schwerer (Datenfälschungssicherheit). Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) Mit der KNA werden die für ein Projekt anfallenden Kosten mit den sich ergebenden Nutzen gegenübergestellt. Das Problem der Bewertung einzelner Nutzenaspekte kann durch die Verwendung des Konzeptes der Opportunitätskosten umgangen werden: die Bewertung von Nutzen durch nicht entstandene Kosten (Horisberger und van Eimeren 1986). Die Systematisierung von Kosten- und Nutzenkomponenten erfolgt in direkte, indirekte und quantitative oder qualitative Komponenten. Ergänzend können intangible, d. h. nicht monetär bewertbare Nutzen betrachtet werden. Eine Aufteilung in medizinische, soziale und ökonomische Komponenten wurde nicht durchgeführt (Musgrave et al. 1994). Direkte Kosten Hierunter werden die Personalkosten (variable Kosten, gemessen in Minuten eingesparter Arbeitszeit), und die fixen Kosten wie Investitionskosten gefasst. Die Investitionen teilen sich auf in die Ausgaben für die Programmierung der Importfunktion beim Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 279 EDC-System und die Implementierungskosten für die Anpassung an die projektspezifischen Anforderungen (insbesondere die technische Testung) des EDC-Systems. Langfristig müssen auch die Maintenance- und Supportkosten, die nach der Anschaffung und Implementierung des Systems anfallen, kalkuliert werden. Diese entstehen vorwiegend, bei Aktualisierungen der bestehenden Systeme oder bei auftretenden Fehlern, verursacht durch technische oder personelle Schwierigkeiten. Da das EDC-System für weitere Studien parallel genutzt wird, müssten hier anteilig die Kosten erhoben werden. Diese Maintenance- und Supportkosten fallen aber in gleicher Höhe sowohl für die Variante Dateneingabe als auch für die Funktion des Imports an. Der Schulungsaufwand im Projekt lag bei ca. 30 min und ist damit für das Erlernen der Funktion „eintippen“ oder „importieren“ gleich hoch und wird bei der Berechnung vernachlässigt. Die Erstellung der entsprechenden Standard-Operation-Procedure (SOP) „Import“ liegt bei einem halben Tag Aufwand und findet Eingang in die KNA bei der IT-Implementierung „Testung“, vgl. Tab. 4: In Tab. 4 werden die direkten Kosten zusammengefasst. Die Kosten setzen sich zusammen aus den Personalkosten für den Import der Referenzwerte bei den Probandenuntersuchungen beim Fahrrad und den Gehtest (3049 EUR). Die Kosten für die Programmierung „Import“ durch die EDC-Herstellerfirma betragen 4522 EUR. Die Implementierungskosten „Testung“ für die eCRF-Programmierung fallen an, da der Formularimport in das EDC-System getestet werden muss (GCP 2007). Die Kosten für die Erstellung der Formulare (eCRFs) im EDC-System sind nicht aufgelistet, da sie bei beiden Alternativen (sowohl Datenimport als auch Dateneingabe) anfallen und im Rahmen der Durchführung der klinischen Studien erstellt worden sind. Die Berechnungen der durchschnittlich benötigten Zeit (4,43 min) für den Datenimport sind in der Tab. 10: „Zeitberechnung Datenimport“ im Anhang erläutert. Indirekte Kosten Hierzu zählen die Kosten der Programmierung für den Datenexport der Software beim Spiroergometrie-Gerät. Erst mit dieser Bereitstellung der Originaldaten (eSource) ist Tab. 4  Direkte Kosten des Datenimports „Probanden Spiro-Ergometrie“ Direkte Kosten Datenimport Spiro-Ergo Min. Ø Anzahl Kosten/min Kosten insg (€) Datenimport Fahrrad 4,43 840 0,41 € 1524 Datenimport Gehtest 4,43 840 0,41 € 1524 Summe Kosten-Datenimport 3049 Investition IT-Programmierung „Import“ 4522 Investition IT-Implementierung „Testung“ 1064 Summe Kosten-Investitionen 5586 Gesamt-Summe Kosten Import 8635 280 S. Müller-Mielitz eine Importfunktion realisierbar. Diese indirekten Kosten werden nicht in die KostenNutzen-Analyse mit einbezogen, da sie für das Projekt externe Kosten bedeuten. Begründung: Ob ein aus dem Gerät stammender Papierausdruck zur Verarbeitung vorliegt oder die Werte vom Bildschirm/Monitor abgeschrieben werden oder ein Export aus dem Gerät für die Importfunktion zur Verfügung gestellt wird, ist für die ökonomische Analyse der Importfunktion nicht von Bedeutung und stellt aus dieser Sicht eine Komponente der indirekten Kosten dar. Es handelt sich lediglich um alternative Output-Formate (Papier, Monitor/Bildschirm, Exportdatei), die die Datenausgangslage zur Weiterverarbeitung im EDC-System darstellen. Zum anderen sind die Kosten des Geräteherstellers nicht bekannt. Da diese Kosten auch nicht projektwirksam waren, werden sie zu den indirekten Kosten gezählt und finden keinen Eingang in die KNA. Die Abb. 2 zeigt die Aufteilung in indirekte und direkte Kosten bzw. Nutzen, sowie intangible (nicht messbare) Kosten bzw. Nutzen. Intangibles auf der Kostenseite Folgende intangible Kosten, die nicht monetär bewertet werden können, sind in diesem Projekt identifiziert worden: Messfehler, die bei der Aufnahme am und mit dem Gerät entstehen können. Das sind Messfehler, die 1) durch falsche Nutzung des Gerätes (Urheber: Patient/Proband), 2) durch falsche Bedienung (Urheber: Studien-Personal) oder 3) Messfehler, die durch das Spiroergometriegerät oder die implementierte Software entstehen (z. B. falsche Meterangaben beim Gehtest). Abb. 2  direkte und indirekte Kosten/Nutzen der zwei Alternativen: ❶ Papier-Dateneingabe und ❷ Export-Import in das EDC-System und intangible Aspekte Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 281 Diese Messfehler lassen sich sowohl bei der manuellen Dateneingabe als auch beim Import nicht vermeiden, sind schwer zu identifizieren und daher nicht mittelbar monetär zu quantifizieren. Fehler, die identifizierbar sind, wie eine falsch angelegte Gesichtsmaske beim Patienten/Probanden, bedeuten in der Regel, dass ein Teil der Daten oder alle Daten nicht verwendet werden können. Diese Fehler könnten quantifiziert und auch monetarisiert werden, stellen aber keine Kosten bzw. negativen Nutzen für die betrachtete Importfunktion dar, da sie bei jeder Messung und Weiterverarbeitung vorkommen können. Diese Messfehler finden deshalb keinen Eingang in die KNA. Bei der Nutzung der Importfunktion kann als vierte Fehlerquelle die IT-Umsetzung im EDC-Zielsystem mit einem Fehler behaftet sein. Das kann sowohl bei der Programmierung des Exports oder des Imports geschehen. Mit Tests (strukturierte technische Tests und entsprechende Nutzertests) der Software (sogenannte Validierung) sollen diese Fehler vermieden werden. Ganz ausgeschlossen werden können diese nicht. Eine Quantifizierung bei vereinzelt auftretenden Fehlfunktionen fällt schwer, da der Fehler schwer zu bemerken und dann auch schwer in der Programmierung innerhalb des Workflows zu identifizieren wäre. Direkter Nutzen Der direkte Nutzen (vgl. Tab. 5) für das Spiroergometrie-Projekt ergibt sich dadurch, dass keine Dateneingabe durch Eintippen von Werten erfolgen muss und somit die Zeit dafür eingespart werden kann. Dies gilt sowohl für die 840 Probandendaten bei der Probandenstudie für Fahrrad als auch für die 840 Probandendaten beim Gehtest. Die Berechnungen der durchschnittlich benötigten Zeit (15,60 min) für eine Dateneingabe sind in der Tab. 11: „Zeitberechnung Dateneingabe“ im Anhang erläutert. Indirekter Nutzen Das Datenmaterial in der Studiendatenbank wird quantitativ und qualitativ durch die Importfunktion verbessert, da das Abtippen der Daten und die daraus entstehenden Übertragungsfehler vermieden werden. Beim digitalen Workflow erfolgt während des Imports eine technische Plausibilitätsprüfung. Tab. 5  Direkter Nutzen durch Vermeidung der Dateneingabe „Probanden Spiro-Ergometrie“ Direkter Nutzen Dateneingabe entfällt Spiro-Ergo Min. Ø Anzahl Kosten/min Nutzen insg (€) Entfallende Eingabekosten Fahrrad 15,60 840 0,41 € 5368 Entfallende Eingabekosten Gehtest 15,60 840 0,41 € 5368 Direkter Nutzen Spiro-Ergo 10.737 282 S. Müller-Mielitz Qualitative Aspekte Die qualitativen Aspekte dabei sind: Es werden Übertragungsfehler vom Papierausdruck vermieden. Diese Art der Fehler können sein: 1) schwerwiegend: wichtige Items4 mit einer Abweichung bzw. mit einer großen Abweichung durch das Abtippen und 2) weniger schwerwiegend: weniger wichtige Items mit einer (geringen) Abweichung durch das Abtippen. Festzuhalten bleibt, dass beim Import generell keine Tippfehler auftreten, da die Daten digital übertragen werden. Dadurch wird sowohl die Qualität der Daten (welche Art von Fehlern würden entstehen) als auch die quantitativen Aspekte (wie viele Fehler würden entstehen) berücksichtigt, sodass gilt: qualitative gleich quantitative Verbesserung wird verbessert auf 100 %. Quantitative Aspekte Um den quantitativen Aspekt (wie viele Fehler werden vermieden) zu berücksichtigen und zu bewerten, nutzen wir das Opportunitätskostenprinzip und betrachten die Dateneingabe für die klinischen Studien, die parallel zum Probandenprojekt durchgeführt wird und in denen die Importfunktion nicht genutzt wird, da die Studienzentren mit unterschiedlichen Spiroergometrie-Geräten arbeiten, die den Datenexport nicht unterstützen. Es stellt sich aber die Frage, wie der Nutzen, dass diese qualitativen Fehler beim Import vermieden werden, bewertet wird? Die Kontrolle auf Plausibilität und Vollständigkeit im Auswertungszentrum dauert etwa acht Minuten für manuell eingegebenen Formulare. Aus den klinischen Studien ist ferner bekannt, wie viele Rückfragen (sogenannte Queries) durch die Spiroergometrie-Projektleitung im Auswertungszentrum (stellvertretend für die Contract Research Organisation (CRO)) bei den Dateneingebern für die Studiendaten in den Studienzentren erfolgten. Das sind bei 810 durchgeführten Visitenkontrollen 238 Queries, was aufgerundet 30 % Kontrollaufwand entspricht und die Datenkontrolle und das Datenmanagement betrifft. Die gesamte Arbeitszeit im Auswertezentrum, die für eine Rückfrage bei einem Studienzentrum bei einer identifizierten Fehleingabe nötig ist, wurde nicht gemessen und ist daher im Auswertezentrum auf acht Minuten geschätzt worden. Der gesamte zeitliche Aufwand, der für die anschließende Fehlersuche und Korrektur im Studienzentrum notwendig ist, liegt auch nicht vor und wird auf fünf Minuten geschätzt. Die Tab. 6 listet den Nutzen auf, der durch den Datenimport entsteht (weil die Datenkontrolle in 30 % der Fälle entfällt). Dieser Nutzen fällt im Auswertezentrum an (CRO) und auch im Studienzentrum5. 4Als wichtige Items könnten diejenigen definiert werden, die für weitere Berechnungen (Score) genutzt werden. 5Die CRO bezahlt in der Regel an die Studienzentren eine Fallpauschale, sodass die Nutzung der Importschnittstelle im Sinn des Studienzentrums sein muss, um die eigenen Zeitaufwände zu reduzieren. Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 283 Tab. 6  Indirekter Nutzen durch Wegfall des Datenmanagements Indirekte Nutzen Kein Datenmanagementnötig (30 % der Eingaben) Min. Ø Anzahl Kosten/min Nutzen insg (€) Nutzen für Auswertung Fahrrad 8,00 252 0,41 € 826 Nutzen für Prüf-Zentrum Fahrrad 5,00 252 0,41 € 516 Nutzen für Auswertung Gehtest 8,00 252 0,41 € 826 Nutzen für Prüf-Zentrum Gehtest 5,00 252 0,41 € 516 Indirekter Nutzen Spiro-Ergo 2685 Dabei sind die Kosten des Zeitaufwandes durch das Stellen eines Queries zu berechnen. Diese entfallen beim Import von Daten nicht an und stellen für die Importfunktion einen indirekt gemessenen Nutzen dar. Mit den 840 durchgeführten Messwerten bei der Probandenuntersuchung ergeben sich 252 Rückfragen, die nicht kontrolliert werden müssen (entspricht 30 % Kontrollaufwand, der nicht durchgeführt werden muss). Es ergibt sich dadurch ein monetärer Nutzen von 2685 EUR für die Spiroergometrie beim Fahrrad. Die Zeiten wurden für das Auswertezentrum (acht Minuten) gemessen und für das Studienzentrum (fünf Minuten) geschätzt. Damit ist der quantitative indirekte Nutzen berechnet. Der qualitative Aspekt lässt sich ohne weitere Studien nicht bestimmen. Es wäre eine direkte Vergleichsstudie zwischen Dateneingabe und Import bezüglich der Qualität des Datentransfers notwendig, die ermittelt, welche qualitativen Unterschiede entstehen im Vergleich zwischen der Dateneingabe und dem Import der Daten. Ein zusätzlicher indirekter Nutzen ergibt sich durch das Projekt, indem die neue Software-Funktionalität „Import in die Studiendatenbank“ in weiteren Studien genutzt werden kann. Dieses der Verwertung des Forschungsergebnisses zuzurechnende Ergebnis ergibt sich außerhalb des Projekts (damit indirekt) und ist schwer monetär zu erfassen (damit intangibel). Dazu müsste für jede neue Studie, in der die Importfunktion genutzt wird, eine KNA analog zu der hier durchgeführten erstellt werden. Da dieses organisatorisch kaum möglich ist, ist dieser Nutzen eher den intangiblen Nutzen zuzuordnen. Intangibler Nutzen Wenn keine Importfunktion genutzt wird, entstehen durch das Datenmanagement für die Projekte Zeitverzögerungen zwischen dem Stellen der Queries durch das Auswertezentrum und der Beantwortung dieser Queries durch das Studienzentrum. Dies betrifft die Projektlaufzeit im Ganzen. Die Zeitangaben hierüber liegen ebenfalls nicht vor. Eine Verringerung oder gar Eliminierung dieser Zeitverzögerungen stellt daher einen intangiblen Nutzen für den Datenimport dar. Als intangible Nutzen der Importfunktion sind identifiziert worden: 284 S. Müller-Mielitz 1. Die Verringerung des Studienaufwands, da langwierige Rückfragen zu den Formulareingaben an die Studienzentren (das sogenannte Datenmanagement) entfallen, 2. die Verbesserung der Datenübernahmequalität durch die Importfunktion, 3. mehr Verantwortung bei den Nutzern des Imports, kann zu einer verbesserten Arbeitsmotivation und positivere Grundstimmung führen, da der PC-seitige Import subjektiv andere Anforderungen an die Nutzer stellt als das rein papiergebundene Abtippen von Daten, 4. für die Referenzdateneingabe verlagern sich die Plausibilitätskontrollen zu den Projekt-Assistenten, was eine subjektiv empfundene Besserbewertung der Arbeit für den Mitarbeiter bedeutet und für die Arbeitsmotivation förderlich ist, 5. es kann mit digitalen Workflows eine Steigerung der Nutzerfreundlichkeit verbunden sein (durch erleichterte und vereinfachte Bedienung), 6. erhöhte Fälschungssicherheit der Daten, da manuelle Änderungen durch das AuditSystem der EDC-Software nachverfolgt werden können, 7. die zuvor erwähnte Verwertung des Imports in neuen Studien. Zu unterscheiden ist hierbei in (7.1) direkten intangiblen Nutzen innerhalb von neuen Studien des KN AHFs und (7.2) der Nutzung innerhalb der Software durch weitere Forschergruppen (indirekter intangibler Nutzen), die die Software kaufen und die implementierte Importfunktion nutzen. Intangible Nutzen am Ende des Importprozesses (vgl. Abb. 2) sind: 8. Positive Auswirkungen auf die biometrische Auswertung, da durch den Import die Datenqualität verbessert wurde (geringerer Aufwand bei der Plausibilitätskontrolle und weniger fehlende Daten). 9. Positive Spill-over-Effekte wären zu verzeichnen, wenn die Daten weiter digital bearbeitet und genutzt werden. 10. Dieses wirkt sich auch auf die Qualität der anschließenden Publikationen aus (Verwertung der Studienergebnisse). Die Auflistung macht deutlich, dass neben den messbaren Nutzen viele intangible Nutzen zu beschreiben sind. Eine ergänzende Nutzwertanalyse könnte eine Hilfe bei der Beurteilung dieser Intangibles sein (Ammenwerth und Haux 2005). Ein Teil der intangiblen Nutzen könnte bei einer frühzeitigen ökonomischen Planung der ökonomischen Analyse monetarisiert werden und damit in indirekten Nutzen überführt werden: • Vgl. 2. wenn bekannt ist, wie viele Fehler beim Abtippen entstehen würden und gleichzeitig gemessen und bestimmt würde, wie schwerwiegend diese Tippfehler wären. • Vgl. 7. die Importfunktion wurde auch durch das Echo-Projekt im KN AHF genutzt, wobei die gemessenen Werte der Echokardiografie in das EDC-System importiert Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 285 wurden. Würde für das Echo-Projekt eine KNA vorliegen, könnte der hierbei erzielte direkte Nutzen, dem indirekten Nutzen der Importfunktion bei der Spiroergometrie als Pilotprojekt zugesprochen werden (Graf von der Schulenburg et al. 1995) • Vgl. 8. es wäre denkbar, bei der biometrischen Auswertung einen Vergleich anzustellen zwischen den Studiendaten (mit manueller Dateneingabe) und den Referenzdaten (Nutzung der Importfunktion). Nicht messbar ist das Wohlergehen des Patienten durch eine längere Zuwendung des Studienpersonals. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Praxis zeigt, dass eine längere Betreuung des Patienten zu besseren Messergebnissen führen kann, da durch den Zuspruch und die Motivation des Studienpersonals der Patient länger auf dem Laufband bzw. auf dem Fahrrad verbleibt. Da das Belastungsprotokoll eine stufenförmige Steigerung der Belastung vorsieht, trägt jeder Patient, der das Protokoll komplett zu Ende führt, zu einer qualitativen Verbesserung der Messungen bei. Fehlt die Zeit der Zuwendung und wird der Patient nicht motiviert, entstehen dem Projekt intangible Kosten, weil das Belastungsprotokoll nicht komplett durchgeführt wurde und die Daten für die biometrische Auswertung unvollständig sind. Es wäre denkbar, den Aufwand zu messen (z. B. wie viele Probanden müssen zusätzlich eingeschlossen werden, um die fehlenden Daten zu erhalten, damit die biometrischen Vorgaben erfüllt werden). Es wäre auch denkbar, die gewonnene Zeit nicht für die Patienten oder die Probanden zu verwenden, sondern zur Einsparung von Arbeitszeit zu nutzen, was für den einzelnen Mitarbeiter und die Patienten nicht vorteilhaft ist, aus Sicht einer CRO aber überlegenswert wäre. Diese Einsparungen sind dann aus institutioneller Sicht konkret monetarisiert worden. In der Summe verbleiben daher sehr viele intangible Nutzen der Importfunktion in ein EDC-System. Die große Zahl dieser intangiblen Nutzen unterstreicht das positive monetäre Ergebnis. 5 Ergebnisse Das für die KNA betrachtete Projekt der Referenzdatenerhebung mit Import der erhobenen Daten in ein EDC-System erbringt folgende fachliche und technische Ergebnisse: • Etablierung eines medizinischen Standard-Protokolls für die Spiroergometrie (Dubowy et al. 2008) • Implementierung der Importfunktionalität in das EDC-System SecuTrial® • Beachtung von GCP-Konformität und FDA6-Konformität beim Datenimport pro Patient (FDA 21 CFR Part 58 2008) 6FDA: US Food and Drug Administration, www.fda.gov. 286 S. Müller-Mielitz • Das EDC-System ist nach AMG/GCP FDA 21 CFR Part 11 (FDA 21 CFR Part 11 2010) validiert und bietet die Möglichkeit, Patientendaten aus klinischen Studien webbasiert über einen Browser zu erfassen. • Nutzung der etablierten technischen Importfunktion in klinischen Studien. Das EDC-System ist nach AMG/GCP, FDA 21 CFR Part 11 (FDA 21 CFR Part 11 2010) validiert und bietet die Möglichkeit, Patientendaten aus klinischen Studien webbasiert über einen Browser zu erfassen. Für die ökonomische Fragestellung der Wirtschaftlichkeit des Projektes ergeben sich folgende Ergebnisse: Gesamtergebnis der Kosten-Nutzen-Analyse Für die in der 1. Förderphase des KN AHF implementierte und genutzte Importfunktion ergibt sich eine Ersparnis von 4787 EUR. In Tab. 7 ist das Gesamtergebnis zusammengestellt. Es konnten 4787 EUR eingespart oder 1,2 Personenmonate (bei 20 Arbeitstagen pro Monat) an Zeit für andere Aktivitäten des Assistenzpersonals im Projekt genutzt werden (u. a. für die Patienten und Probandenbetreuung). Return on Invest (ROI) Für das Spiroergometrieprojekt (hier: „Importfunktion in ein EDC-System“) sind innerhalb der Projektlaufzeit 13.422 EUR an monetär bezifferbarem Nutzen (direkt, indirekt) entstanden. Dem gegenüber stehen Investitionskosten in Höhe von 5586 EUR. Es lässt sich damit der Return On Invest (ROI) berechnen mit: Formel 1: Return On Invest (ROI) ROI Gesamtnutzen 13.422 € —————— ——— Investitionskosten 5586 € gleich 240 % Das KN AHF Projekt „Importfunktion in ein EDC-System“ verzeichnet einen Return On Invest von 240 %. Tab. 7  Projekt-Einsparungen in Personenmonaten (PM), Tagen, Geldeinheiten GesamtErgebnis Kosten-Nutzen-Analyse In PM In Tagen Kosten/min Direkte Kosten   43,9 0,41 € 8635 Direkte Nutzen −54,6 0,41 € −10.737 −13,7 0,41 € Indirekte Nutzen Kosten-Nutzen −1,2 −24,3 Ersparnis (€) −2685 −4787 Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 287 Nutzen-Kosten-Quotient (NKQ) Durch den Nutzen-Kosten-Quotient wird der Gegenwartswert des Nutzens und der Gegenwartswert der Kosten ins Verhältnis gesetzt. Formel 2: Nutzen-Kosten-Quotient (NKQ) NKQ Nutzen 13.422 € ——— ———- Kosten 8635 € gleich 1,55 Mit einem Kosten-Nutzen-Quotient von 1,55 ist das durchgeführte Projekt innerhalb des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler wirtschaftlich. Sensitivitätsanalyse In der Sensitivitätsanalyse wird der Einfluss von Inputfaktoren auf bestimmte Ergebnisgrößen untersucht (Schwarz 2001). Die geschätzten Inputfaktoren werden dabei betrachtet und es findet eine Grenzbetrachtung der Ergebnisse statt. Dabei wird c.p. ein oder mehrere Parameter verändert. Die als unsicher geltenden bzw. geschätzten Annahmen werden variiert. Es erfolgt dann die Überprüfung, ab welchem Zeitpunkt der Zielwert unter- bzw. überschritten wird (Schöffski und von der Schulenburg 2007). In der Analyse wurden die folgenden Angaben als Faktoren, Messwerte und geschätzten Werte (Schätzung) verwendet: Faktoren: Als Faktoren sind in der Analyse die Auswertungszahlen identifiziert worden (Menge). Messwerte: Gemessene Werte sind die direkten Eingabezeiten für Fahrrad und Gehtest (Zeit). Schätzung: Direkter Nutzen Die Annahme von 1590 h Netto-Arbeitszeit kann geändert werden. Zum Beispiel auf die Brutto-Arbeitszeit von 1848 h. Dadurch senken sich die Arbeitskosten pro Minute bei einer MTA auf 0,35 EUR, was aber keine Änderung der Aussage über die Ergebnisse zur Folge hat. Schätzung: Indirekter Nutzen Die indirekte Nutzenbewertung kann variiert werden, indem die Validierung der Daten bei manueller Eingabe mit acht Minuten (Fahrrad), vier Minuten (Gehtest) als Zeitangaben auf null Minuten gesetzt werden, sodass kein indirekter Nutzen entstehen würde. Unter der Annahme, dass kein indirekter Nutzen entsteht, ergibt sich ebenfalls die Wirtschaftlichkeit des Projektes. Es werden hierbei 2102 EUR eingespart, was einem halben Personenmonat an Arbeitsleistung entspricht (s. Tab. 8). Der ROI beträgt dann 192 %, der NKQ 1,24. Die Sensitivitätsanalyse bestätigt damit ein robustes Ergebnis. 288 S. Müller-Mielitz Tab. 8  Kosten-Nutzen-Betrachtung ohne indirekten Nutzen Kosten-Nutzen-Analyse Variation indirekter Nutzen In PM Ersparnis (€) Direkte Kosten 8635 Direkte Nutzen −10.737 Indirekte Nutzen Kosten-Nutzen 0 −0,5 −2102 6 Ausblick Mit der Analyse kann gezeigt werden, dass die Erarbeitung und Einhaltung eines digitalen Workflows Effizienz- und Prozessvorteile für klinische Studien bedeutet. Mit der Nutzung der durch dieses Projekt etablierten Importfunktion in ein EDC-System sind Vorteile auch für weitere klinische Studien im Kompetenznetz Angeborene Herzfehler direkt und sofort nutzbar. Nach kurzer Zeit, sind diese Vorteile auch messbar (Adang 2008). Der Vorteil der Verbesserung der Datenübernahmequalität auf 100 % (Effektivität) ist hier hervorzuheben. Die eingesparte Zeit kann für andere Tätigkeiten (z. B. der Betreuung der Patienten) genutzt werden (Tab. 9). Das Projekt war daher wirtschaftlich. Dabei muss kritisch angemerkt werden, dass ein „bruchloser“ (im Sinne der Vermeidung von Medienbrüchen) Einsatz von Softwarelösungen, inkl. Import- und Exportschnittstelle nur durch standardisierte Datenlösungen wie im Projekt realisierbar ist. Brüche in der Datenverarbeitung führen in der Regel zu einem zeitlichen Mehraufwand. Als derzeitige Nachteile des Projekts seien genannt: Die erarbeiteten technischen Möglichkeiten des Exports müssen in den einzelnen Spiroergometrie-Geräten verfügbar sein und von den Medizingeräteherstellern angeboten werden. Dazu fehlt es derzeit an einem Daten-Standard und einer Syntax (Technikproblem). Eine Lösung könnte durch die Erarbeitung eines IHE-Profils erfolgen (www.ihe.net). Eine weitere Schwierigkeit ist die Akzeptanz der vorgestellten Lösung bei Kunden und Anwendern (Akzeptanzproblem). Institutionen wie Krankenhäuser oder Arztpraxen als primäre Kunden von Medizintechnik müssen hier fordernder auftreten (Herstellerproblem). Die Anwender vor Ort müssen motiviert werden, die bestehenden Möglichkeiten zu nutzen. Dazu sind beim betrachteten Beispiel wenige Änderungen in den bisherigen Arbeitsabläufen durchzuführen (Organisationsproblem). Es müssen bei den Nutzern die bisherigen bekannten Wege – das Abtippen von Papierausdrucken – geändert werden. Insbesondere muss bei der Implementierung eines solchen Systems auf die Qualitätskriterien Vollständigkeit (Sind alle Daten vollständig übertragen worden?), Validität (Spiegeln die Daten das wieder, was sie sollen?), Kompatibilität und Stabilität geachtet werden. Die Mitarbeiter benötigen dafür Hilfestellungen bei der Änderung ihrer eigenen Arbeitsprozesse durch schriftliche und einfach zu handhabende Arbeitsanweisungen Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 289 Tab. 9  Metamodell für die ökonomische Analyse von E-Health Vorgehen Beschreibung Untersuchungsgegenstand Importfunktion in eine Datenbank unter der Voraussetzung einer Exportfunktion an einem Spiroergometrie-Gerät Ziel Berechnung der Wirtschaftlichkeit der durchgeführten Investition Perspektive Kompetenznetz Angeborene Herzfehler als CRO und Sponsor Evaluationsform Kosten-Nutzen-Analyse Vergleichsalternativen Papierausdruck mit Eintippen von Daten versus Import der Daten in die Studiendatenbank Zeit, Raum, Material 840 Probandenuntersuchungen Input Kostendaten vom Kompetenznetz, Messungen und Schätzungen insb. einzelner Zeiten Transformation Export von Daten und Import in Datenbank: Digitaler Transport von Daten aus einem Gerät der Versorgung in eine Datenbank der Forschung Output – Outcome – Impact Einsparungen an Zeit. Mehr Zeit für Patientenbetreuung, bessere Qualität der Daten, da Tippfehler entfallen Diskontierung Keine, da keine intertemporale Analyse durchgeführt wurde Sensitivitätsanalyse, Szenarioanalyse Nicht durchgeführt Benchmarks Keine ermittelt Ergebnis, Empfehlung, Publikation Die Importfunktion ist vorteilhaft (Standard Operation Procedures oder Working Instructions). Diese ermöglichen es, auch nach längerer Nichtnutzung des PCs und der Funktion des Datenimports die Arbeitsschritte sofort wieder durchzuführen. Bei der hierzu notwendigen Umgestaltung der Arbeitsprozesse kommt erschwerend hinzu, dass eine Fluktuation der Mitarbeiter in den Zentren und Institutionen zu verzeichnen ist. Die Effizienz- und Effektivitätsvorteile der technischen Möglichkeiten werden daher nicht voll ausgeschöpft und sind flankierend durch weitere organisatorische und verwaltungstechnische Maßnahmen zu unterstützen (z. B. auch Schulungen und Einweisungsseminare). Insbesondere muss auch das Vertrauen der Nutzer in die Datenübertragung gesteigert werden (damit Zweitkontrollen nur stichprobenartig durchgeführt werden müssen) und die Akzeptanz zur Nutzung EDVtechnischer Lösungen steigt. Danksagung  Die Arbeit wurde unterstützt durch das Kompetenznetz Angeborene Herzfehler, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung; BMBF-Förderkennzeichen 01GI0210 (1. Phase) 01GI0601 (2. Phase). Das IT-Projekt wurde am Lehrstuhl für Medizinische Informatik, Universitätsmedizin Göttingen, durchgeführt. 290 S. Müller-Mielitz Tab. 10  „Zeitberechnung Import“ Import M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8 M9 M10 M11 M12 min Zeit in min 15 15 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 Probanden Fahrrad 50 50 80 80 80 80 80 80 80 60 60 60 4,43 Probanden Gehtest 50 50 80 80 80 80 80 80 80 60 60 60 4,43 Tab. 11  „Zeitberechnung Dateneingabe“ Dateneingabe M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8 M9 M10 M11 M12 min Zeit in min 20 20 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 Probanden Fahrrad 50 50 80 80 80 80 80 80 80 60 60 60 15,60 Probanden Gehtest 50 50 80 80 80 80 80 80 80 60 60 60 15,60 Anhang Die Zeitberechnungen in Tab. 10 (Import) und Tab. 11 (Dateneingabe) gehen davon aus, dass im Monat 1 und Monat 2 (M1, M2) die Arbeitsabläufe erlernt werden müssen und daher länger dauern. Durch eintretende Routine können in den Folgemonaten M3 bis M12 durch den sogenannte Lernkurveneffekt können die Arbeiten schneller durchgeführt werden. Die Zeitberechnungen gehen weiter davon aus, dass die Arbeiten kontinuierlich und ohne längere Pausen (von Wochen) durchgeführt werden, sodass keine neuen Einarbeitungszeiten entstehen. Die durchzuführenden Arbeitsschritte für den Import wurden im Projekt in „Working Instructions“ beschrieben und sind beim Import für Fahrrad und Gehtest gleich. Die Gesamtzahl der Probanden wurde auf die Monate M1 bis M12 aufgeteilt. Es ergibt sich dann für jeden Probanden eine durchschnittliche Zeit von 4,43 min beim Import und 15,60 min bei der Dateneingabe. Die durchzuführenden Arbeitsschritte sind beim Import für Fahrrad und Gehtest gleich(Tab. 10 und 11). Literatur Adang EM (2008) Economic evaluation of innovative technologies in health care should include a short-run perspective. Eur J Health Econ (Internet). http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query. fcgi?cmd=Retrieve&db=PubMed&dopt=Citation&list_uids=18188622. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Ammenwerth E, Haux R (2005) IT-Projektmanagement in Krankenhaus und Gesundheitswesen: Einführendes Lehrbuch und Projektleitfaden für das taktische Management von Informationssystemen, 1. Aufl. Schattauer, Stuttgart BMBF (2006) Von der Forschung in die Versorgung. http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/_ media/Kompetenznetze_Forschung_Versorgung.pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Kosten-Nutzen-Analyse und Aspekte der Ergebnisqualität … 291 CDISC (2016) eSource Data Interchange Document. Text. http://www.cdisc.org/esdi-document. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Dubowy K (2006) Diagnostische Standards des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler: Belastungsuntersuchungen/Ergo(spiro)metrie. http://www.kompetenznetz-ahf.de/fileadmin/documents/ KNAHF_Leitlinie_Spiroergometrie_070117.pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Dubowy K, Baden W, Bernitzki S, Peters B (2008) A practical and transferable new protocol for treadmill testing of children and adults. Cardiol Young 18(6):615–23 Eisenstein EL, Collins R, Cracknell BS, Podesta O, Reid ED, Sandercock P et al (2008) Sensible approaches for reducing clinical trial costs. Clin Trials 5(1):75–84 Ernst CM (2003) The interaction between cost-management and learning for major surgical procedures – lessons from asymmetric information. Health Econ 12(3):199–215 FDA 21 CFR Part 11 (2010) Electronic Records; Electronic Signatures. http://www.accessdata.fda. gov/scripts/cdrh/cfdocs/cfcfr/CFRsearch.cfm?CFRPart=11. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 FDA 21 CFR Part 58 (2008) Good laboratory practice for nonclinical laboratory studies. http:// www.accessdata.fda.gov/scripts/cdrh/cfdocs/cfcfr/CFRSearch.cfm?CFRPart=58. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 GCP (2007) GCP Inspectors Working Group. Reflection paper on expectations for electronic source documents used in clinical trials. http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Regulatory_and_procedural_guideline/2010/08/WC500095754.pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Graf von der Schulenburg JG, Uber A, Köhler M, Andersen HH, Henke KD, Laaser U et al (1995) Ökonomische Evaluation telemedizinischer Projekte und Anwendungen, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden Graf von der Schulenburg JG, Greiner W, Jost F, Klusen N, Kubin M, Leidl R et al (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation – dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. Gesundheitsökonomie Qualitätsmanagement 12(5):285–290 Holey T, Welter G, Wiedemann A (2007) Wirtschaftsinformatik, NWB Verlag; Auflage: 2., überarb. u. erw. Aufl. Kiehl, Ludwigshafen Horisberger B, Eimeren W van (1986) Die Kosten-Nutzen-Analyse. Springer, Berlin Joanne L, Rhoads (2006) E-source: FDA regulatory background and concerns for implementation, S 1–25 (25. Jan.) Kretschmer A, Dubowy K, Bunse D, Baden W, Peters B, Hofbeck M et al (2007) Kompetenznetz Objektive Belastbarkeit (QP1) Laufbandspiroergometrie – Referenzwerte für kardiozirkulatorische Parameter. Clin Res Cardiol 96(9):674 Krumbholz S (1994) Grenzflächeneffekte bei der Thermolumineszenzdosimetrie mit weicher Röntgenstrahlung. Z Med Physik 1994:194–195 Müller-Mielitz S, Beerbaum P, Gutberlet M, Kühne T, Sarikouch S (2009) Prozessanalyse der Workflows für eine Bilddatenbank in Klinischen Studien (Internet). eHealth2009 Health Informatics meets eHealth – von der Wissenschaft zur Anwendung und zurück. Wien, S 159–164. http://www.ehealth20xx.at/wp-content/uploads/scientific-papers/2009/mueller_paper.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Musgrave R, Musgrave P, Kullmer L (1994) Die Öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis 1. Mohr, Tübingen Plathow C, Walz M, Essig M, Engelmann U, Schulz-Ertner D, Delorme S et al (2005) Teleradiologie: Betriebswirtschaftliche Analyse von CT-Untersuchungen eines kleineren Krankenhauses. Fortschr Röntgenstr 77:1016–1026 Schöffski O, Graf von der Schulenburg J-M (2007) Gesundheitsökonomische Evaluation. Springer, Berlin 292 S. Müller-Mielitz Schwarz S (2001) Sensitivitätsanalyse und Optimierung bei nichtlinearem Strukturverhalten. https://www.ibb.uni-stuttgart.de/publikationen/fulltext_new/2001/schwarz-2001.pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Wang SJ, Middleton B, Prosser LA, Bardon CG, Spurr CD, Carchidi PJ et al (2003) A cost-benefit analysis of electronic medical records in primary care. Am J Med 114(5):397–403 Welker JA (2007) Implementation of electronic data capture systems: barriers and solutions. Contemp Clin Trials 28(3):329–336 Über den Autor Stefan Müller-Mielitz ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Teil V E-Health im System der Gesundheitsversorgung Lars Treinat Motivation dieses Thema aufzugreifen ist das häufig anzutreffende Unverständnis, warum E-Health im Versorgungsgeschehen in Deutschland im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern eine so untergeordnete Rolle spielt. In diesem Kapitel soll eine Annäherung an die Frage versucht werden, warum die aktuelle Situation in Deutschland so ist und welche Perspektiven sich für die Zukunft bieten. In den nachfolgenden Unterkapiteln findet der Leser Definitionen, Abgrenzungen, aktuelle Entwicklungen und Einsichten. Dabei soll die Leserin/der Leser ermuntert werden, über den eigenen „Tellerrand“ zu blicken und bei allen vorhandenen Problemen auch die Chancen und möglichen Wege dorthin zu sehen. Ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zu den Rahmenbedingungen elektronischer Kommunikation zwischen den Akteuren des Gesundheitswesens, wird das wichtige Thema Datenschutz bei Patientendaten ausführlich beleuchtet. Zumal der Begriff Datenschutz häufig missverstanden und nicht selten sogar instrumentalisiert wird, um technische Innovationen und die mit ihnen verbundenen Veränderungen abzuwehren, lohnt es ein grundlegendes Verständnis der zentralen Begriffe und der Risiken des Umgangs mit personenbezogenen Daten zu entwickeln. Darauf aufbauend ist es wichtig, sowohl die Risiken für die Persönlichkeitsrechte der Patienten/-innen, wie auch die Risiken für den Betreiber oder Nutzer einer IT-Lösung zu betrachten. Dies hilft dabei, Probleme frühzeitig zu erkennen und bei der Konzeption von angemessenen technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen. Ebenso werden das Thema E-Health aus dem Blickwinkel der Medizininformatik sowie die Chancen und Risiken von Apps im Gesundheitswesen betrachtet. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit, aber auch Datensicherheit von E-Health-Anwendungen werden ebenfalls thematisiert. Von besonderer Bedeutung für die Einführung im staatlich regulierten Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung sind Evaluationen und der Nachweis des Nutzens von E-Health, wenn derartige Lösungen und Versorgungsansätze Bestandteile des GKV-Leistungskatalogs werden sollen. Vor diesem 294 Teil V  E-Health im System der Gesundheitsversorgung Hintergrund werden Projekte, Erfahrungen und ökonomische Evaluationen am Beispiel von altersgerechter Versorgung und Tele-Intensivmedizin vorgestellt. Aus heutiger Sicht gibt es für viele neuartige Verfahren zwar Untersuchungen, die den gesamtgesellschaftlichen Nutzen auch makroökonomisch plausibel darlegen, aber – zumindest in der breiteren Wahrnehmung – zu wenig mikroökonomische Untersuchungen, die für alle für die Einführung eines neuen Verfahrens erfolgskritischen Akteure den jeweils individuellen Nutzen quantifizieren, sodass daraus Modelle für geeignete Anreizstrukturen entwickelt werden können. Dies gilt sowohl für neue telemedizinische Behandlungsmethoden als auch für Ansätze einer engeren sektoren- und einrichtungsübergreifende Kooperation und Koordination in der Patientenversorgung. Die jeweils unterschiedlichen Perspektiven von Kosten und Nutzen der jeweiligen Akteure sowie das Auseinanderfallen von makroökonomischer und mikroökonomischer Perspektive werden auch in der einschlägigen Literatur thematisiert (Schöffski et al. 2008). Bezogen auf die Möglichkeiten elektronischer Informationsverarbeitung in der Gesundheitsversorgung sind zunächst zwei große Bereiche idealtypisch zu unterscheiden. Zum einen gibt es den sehr stark staatlich regulierten Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung, in dem sich in den letzten Jahren jenseits der Einführung einer verpflichtenden elektronischen Abrechnung kaum weitreichende Entwicklungen ergeben haben. Dieser Bereich – auch „erster Gesundheitsmarkt“ genannt, worunter neben den Leistungen der Gesetzlichen Sozialversicherungen auch Erstattungsleistungen der privaten Krankenversicherung subsummiert werden – ist stark geprägt von institutionalisierten Interessengegensätzen und der Haltung, Innovationen zunächst als Bedrohung der Interessen systemrelevanter Vetogruppen wahrzunehmen. Zum anderen gibt es den Bereich von Gesundheitsleistungen jenseits der Sozialversicherungen, der Selbstzahlerleistungen wie z. B. individuellen Gesundheitsleistungen (iGeL), Ästhetische Medizin, selbst finanzierten Leistungen im Bereich Zahnersatz und Prävention, Komplementärmedizin/ Heilpraktiker sowie den weiten, in Teilen schwer abgrenzbaren Bereich von Fitness und Wellness-Angeboten einschließt. Dieser „Zweite Gesundheitsmarkt“ umfasst alle gesundheitsrelevanten Dienstleistungen und Waren, die aus privaten Konsumausgaben finanziert werden und ist weitgehend durch das freie Spiel der Marktkräfte von Angebot und Nachfrage gekennzeichnet (AG GGRdL 2015). Das deutsche Gesundheitswesen zeichnet sich im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung durch eine hohe Komplexität und zahlreiche Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilbereichen aus, die durch die Sozialgesetzbücher unterschiedlich reguliert sind (z. B. SGB V: Krankenversicherung, SGB VI: Rentenversicherung, SGB VII: Unfallversicherung, SGB IX: Rehabilitation, SGB XI: Pflegeversicherung). In der Folge besteht häufig das Problem, dass Aufwand und Nutzen von in der makroökonomischen Gesamtbetrachtung sinnvollen Maßnahmen stark unterschiedlich verteilt sind und daher unter mikroökonomischen Gesichtspunkten für die individuellen Akteure unzureichende Anreize bestehen, Innovationen umzusetzen. Dies gilt für das Zusammenspiel der in unterschiedlichen Gesetzbüchern geregelten gesetzlichen Krankenversicherung (Sozialgesetzbuch V) und der gesetzlichen Pflegeversicherung (Sozialgesetzbuch XI) Teil V  E-Health im System der Gesundheitsversorgung 295 ebenso, wie für das Zusammenwirken der Akteure der traditionell in Sektoren unterteilten Krankenversorgung. Beispielhaft wäre zu nennen, dass Verbesserungen in der medizinischen Versorgung älterer – insbesondere hochbetagter – Patientinnen und Patienten der Systemlogik folgend zwar von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden müssten, jedoch der Nutzen durch gegebenenfalls niedrigere Pflegestufen und damit verbundene niedrigere Leistungsausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherung zugutekämen. Ebenso bestehen zumeist kaum Anreize, für die Akteure entlang der Versorgungskette vom Hausarzt, Facharzt über Krankenhaus, Rehabilitation, stationäre Pflegeeinrichtungen, mobile Pflegedienste sowie Heil- und Hilfsmittelversorgung, koordiniert zusammenzuarbeiten. Während bei Krankenhäusern vor dem Hintergrund des pauschalierten Entgeltsystems (G-DRG) gewisse Anreize für ein übergreifendes Fallmanagement bestehen, existieren diese bei niedergelassenen Ärzten auf Basis ihrer Vergütungssystematik faktisch nicht. Dies gilt auch für eine patientenzentrierte Koordination von Pflegeleistungen sowie Heil- und Hilfsmitteln. Entsprechend gibt es kaum Anreize für die jeweiligen Akteure, ihrerseits in Kommunikationslösungen zu investieren, die eine sektoren übergreifende Kooperation und Versorgungskontinuität fördern bzw. erst flächendeckend ermöglichen. In allen hier genannten Bereichen ist die zeitnahe Verfügbarkeit von Information eine zentrale Größe, um Versorgungsprozesse zu optimieren und die zur Verfügung stehenden Ressourcen zielgenauer einzusetzen. Ausgehend von diesen Betrachtungen stellt die Bereitstellung der benötigten Informationen und insbesondere die Finanzierung der dafür erforderlichen Infrastrukturen und Softwarelösungen ein Kollektivgutproblem dar. Entsprechend besteht, bezogen auf den Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung, die Notwendigkeit, dass staatlich entsprechende Anreize gesetzt werden müssen, damit gesamtgesellschaftlich benötigte und aus Sicht der Patientinnen und Patienten sinnvolle Innovationen auf den Weg gebracht werden können. Literatur Arbeitsgruppe Gesundheitsökonomische Gesamtrechnungen der Länder (AG GGRdL) (2015) Begriffe und Definitionen. http://www.ggrdl.de/ggr_definitionen.html. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Schöffski O, Graf von der Schulenburg J-M (Hrsg) (2008) Gesundheitsökonomische Evaluationen. 3., vollst. überarb. Aufl. 2007. Springer, Berlin E-Health als Brücke zwischen den Leistungserbringern Lars Treinat 1 Einleitung Die Bedeutung von IT im Gesundheitswesen hat in den letzten zehn bis 15 Jahren stark zugenommen. Bezogen auf die einzelnen Leistungserbringer ist die IT-Durchdringung der Behandlungs- und Versorgungsprozesse heute vielfach stark ausgeprägt. Im Bereich der Krankenhäuser und der niedergelassenen fachärztlichen Versorgung sind moderne Medizintechnikgeräte, die zunehmend Mengen an Daten in der bildgebenden Diagnostik (z. B. digitales Röntgen, CT oder MRT, Sonografie) oder beim Monitoring überwachungspflichtiger Patienten (z. B. Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, EKG) produzieren und automatisch in die führenden Primärsysteme (KIS, PVS/AIS) einspeisen nicht mehr wegzudenken. Dies gilt auch für die IT-Unterstützung von Verwaltungs- und Logistikprozessen (z. B. Abrechnung, Bettenmanagement, OP-Planung, Terminplanung, Bestellwesen). Auch in der Labordiagnostik sind leistungsstarke IT-Systeme, die schnell und effizient umfangreiche Analysedaten bereitstellen können, eine zentrale Voraussetzung, um Labore wirtschaftlich betreiben zu können. Neben den fehlenden Anreizen für eine stärkere einrichtungs- und Sektoren übergreifende elektronische Kommunikation von Behandlungsinformationen ist ein wesentliches Problem auch die häufig mangelnde Interoperabilität der eingesetzten IT-Systeme. Während einrichtungsintern meist noch ausreichende Anreize durch Effizienzsteigerung und Kostenersparnis bestehen, um entweder beim Hersteller die Programmierung benötigter Schnittstellen zwischen dem führenden Primärsystem und den wichtigsten medizinischen Subsystemen zu beauftragen oder aber einen Kommunikationsserver L. Treinat (*)  ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, Bochum, Deutschland E-Mail: l.treinat@ztg-nrw.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_16 297 298 L. Treinat anzuschaffen, der zwischen den angeschlossenen Systemen quasi als Dolmetscher fungiert, besteht einrichtungsübergreifend für die Leistungserbringer häufig kein ausreichender monetär quantifizierbarer Nutzen, der aus betriebswirtschaftlicher Sicht den Aufwand rechtfertigt. Für die Vergütung der beteiligten Leistungserbringer ist es in der Regel irrelevant, ob und wie effektiv diese mit anderen Leistungserbringern entlang der Versorgungskette zusammenarbeiten. Entsprechend bestehen für die Softwarehersteller der Primärsysteme kaum Anreize, entsprechende Lösungen anzubieten. Dies gilt erst recht, wenn es um die Kommunikation mit Fremdsystemen konkurrierender Hersteller geht. Bereits weit unterhalb des Austauschs von feingranularen, strukturierten Daten besteht das Problem, dass es bis heute faktisch keine flächendeckend verfügbare ITInfrastrukturen gibt, welche die grundlegenden Anforderungen zum Austausch von Patientendaten erfüllen (insbesondere: Vertraulichkeit, Authentizität/Zurechenbarkeit, Integrität, Verfügbarkeit, Revisionssicherheit und Rechtssicherheit). Viele innovative Projekte entfalten nur eine sehr begrenzte Reichweite, weil die Teilnehmer zumeist für jedes Projekt die einzusetzenden Kommunikationslösungen im Einzelfall aushandeln müssen. Häufig kommen hier individuell administrierte VPN-Verbindungen oder proprietäre Kommunikationslösungen jeweils ausgewählter Softwareanbieter zum Einsatz. Dabei liegt ein erheblicher Aufwand darin, die gewählten Lösungen entweder selbst zu administrieren, einen externen Dienstleister mit der Wartung einer nicht standardisierten Lösung zu beauftragen oder sich für das Projekt auf ein Produkt eines ausgewählten Herstellers zu verständigen. Es gibt zwar sektorale Bestandsnetze (z. B. KV-SafeNet/SNK oder kommerzielle Anbieter im Bereich der Heil- und Hilfsmittelversorgung), die jedoch zumeist nur innerhalb ihres Versorgungssektors eine gewisse Verbreitung finden (vgl. KBV 2015: Sicheres Netz – KV-SafeNet; X3.Net GmbH 2015: X3.Net) Problematisch daran ist insbesondere, dass die Betreiber dieser Bestandsnetze nach eigenem Ermessen und Interesse darüber entscheiden können, wem sie die Nutzung ihrer Netze erlauben. Einen gesetzlichen Kontrahierungszwang, der es allen Akteuren des Gesundheitswesens erlaubt, diese Netze zu nutzen oder eine Regulierungsbehörde, die über gegebenenfalls problematische bzw. wettbewerbsverzerrende Entwicklungen wacht, gibt es in diesem Bereich nicht. 2 Bedarf für übergreifende Kommunikationslösungen Wenn man das Interesse der Patienten an einer optimalen, zeitnahen und zielgerichteten Versorgung in den Mittelpunkt stellt, gibt es bereits heute einen erheblichen Bedarf für übergreifende Kommunikationslösungen. Die Verfügbarkeit von behandlungsrelevanten Informationen im Bereich der Rehabilitation, Pflege sowie Heil- und Hilfsmittelversorgung ist derzeit häufig dem Zufall überlassen, was erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung hat. Häufig müssen wichtige Informationen zur Vorbehandlung beim Vertragsarzt oder Krankenhaus E-Health als Brücke zwischen den Leistungserbringern 299 vom Behandler beim Patienten erfragt werden, die andernorts bereits vorliegen. Gerade bei hochbetagten, multimorbiden oder dementen Patientinnen und Patienten ist dies meist höchst problematisch. Wenn man die für die nächsten 20 Jahre prognostizierte demografische Entwicklung (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2011, S. 22 ff.) betrachtet, werden die damit verbundenen Herausforderungen nicht ohne grundlegende Veränderungen bei der interprofessionellen und institutionsübergreifenden Zusammenarbeit in der Patientenversorgung zu bewältigen sein. Die starke Zunahme des Anteils hochbetagter Menschen, begleitet vom bereits heute in vielen Regionen bestehenden Ärztemangel und grundsätzlich zunehmenden Problemen qualifizierte Arbeitskräfte auch im Gesundheitswesen zu finden, wird die Gesundheitsversorgung vor die Notwendigkeit stellen, bestehende Strukturen und Prozesse zu hinterfragen und neue Versorgungsmodelle zu entwickeln. Diese Entwicklung zeichnet sich heute bereits nicht nur in ländlichen Regionen Ost- und Norddeutschlands ab, sondern auch in Ballungsgebieten. So gibt es in mehreren Ruhrgebietskommunen Probleme in weniger wohlhabenden Stadteilen, die ärztliche Versorgung insbesondere für Altenund Pflegeheime sicherzustellen, was dazu führt, dass z. B. Wohnungsbauunternehmen und Kommunen zusammen mit Krankenhäusern und Pflegediensten neue Versorgungsmodelle erproben (Wirtschaftsförderung Bochum Wifö GmbH 2014; Heinze und Ley 2009, S. 79 ff.). Auch im Bereich der Intensivmedizin zeichnet sich ab, dass vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung die Tele-Intensivmedizin stark an Bedeutung gewinnen wird, um Kapazitätsengpässe zu kompensieren (vgl. Kap. 45). Im aktuellen Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheitswesen 2014, S. 389 und S. 517 ff.) wird neuen Formen interprofessioneller Zusammenarbeit auch über Sektorengrenzen hinweg sowie in geeigneten Settings der Substitution ärztlicher Tätigkeiten durch Pflegekräfte eine besondere Bedeutung beigemessen. Bereits heute gibt es im Rahmen des § 65 Abs. 3c SGB V Möglichkeiten für entsprechende Modellvorhaben. Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2015 fordert in ihrem Beschluss zur Stärkung der therapeutischen und Assistenzberufe im Gesundheitswesen eine Novellierung der Berufsgesetze der bundesrechtlich geregelten Berufe in die Wege zu leiten und die Voraussetzungen für Modellvorhaben bei therapeutischen und Assistenzberufen zu schaffen (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2014, S. 605 und 611 ff.; Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2015, Beschlüsse zu TOP 6.2.). Durch ein patientenzentriertes Fallmanagement kann dafür gesorgt werden, dass vorhandene Ressourcen effektiv eingesetzt werden, um die Patienten möglichst schnell und bedarfsgerecht zu versorgen. So kann durch eine intelligente Vernetzung zwischen Ärzten und Pflegeheim oder Pflegedienst vielfach den Patienten erspart werden, eine beschwerliche Anreise zu Routineterminen auf sich zu nehmen, wenn anstelle der Patienten die benötigten Informationen zum Arzt transferiert werden. Ebenfalls könnte in vielen Fällen ein teurer Krankentransport von mobilitätseingeschränkten Patienten zu Routineterminen entfallen. Als praxisrelevante Beispiele wären die Übertragung von 300 L. Treinat Gewicht, Blutdruck und EKG-Daten zur Erkennung von sich abzeichnenden Verschlechterungen des Gesundheitszustands zu nennen, die bei rechtzeitiger Intervention lebensbedrohliche Zustände und einen Krankenhausaufenthalt vermeiden können. Eine weitere heute technisch realisierbare Möglichkeit wäre die Übermittlung von hochauflösenden und durch spezielle Software hinsichtlich Größe und Farbe normalisierten Fotos bei der Versorgung von chronischen Wunden oder Dekubitalgeschwüren. In dem Falle könnten durch Pflegekräfte vor Ort Aufnahmen von der betreffenden Wunde gemacht werden, welche dem behandelnden Arzt übermittelt werden, damit dieser sich einen Eindruck machen kann, ob es erforderlich ist, den Patienten ärztlich zu behandeln bzw. in die Praxis einzubestellen. Dadurch ließen sich potenziell in vielen Fällen sowohl Transportkosten einsparen, als auch belastende Fahrten für den Patienten vermeiden. Im Rahmen des Überleitungsmanagements – aus Kliniksicht häufig auch Entlassmanagement genannt – ist es wichtig, dass beispielsweise Patientenverwaltung, Krankenhaus-Sozialdienst, Kurzzeitpflege oder ambulante Pflegedienste patientenbezogene Informationen (z. B. Termine für Verlegung, Weiterversorgung) schnell, sicher und verbindlich übermitteln können. Zumeist erfolgt die Organisation der weiteren Versorgung heute mittels Telefon oder hausindividuellen Papierformularen. Hier bietet eine sichere elektronische Kommunikation der Beteiligten erhebliches Verbesserungspotenzial, wenn es darum geht, die jeweils behandlungs-/versorgungsrelevanten Informationen rechtzeitig den Akteuren der nachstationären Versorgung (z. B. Rehabilitationseinrichtung, Pflegeheim, Pflegedienst, Therapeuten, Hilfsmittelversorgung, soziale Dienste) zur Verfügung zu stellen, um die erforderliche Qualität und Kontinuität der Versorgung sicherzustellen. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, dass die Empfänger zeitnah Rückfragen an die die Klinik oder den/die behandelnde/n Ärztin/Arzt stellen können, ohne zeitaufwendig „hinterher zu telefonieren“. Ähnliche Optimierungspotenziale wie beim Überleitungsmanagement gibt es auch innerhalb der ambulanten Versorgung. So ist die Kommunikation zwischen dem verordnenden Haus- oder Facharzt und Leistungserbringern der Heilmittelversorgung (z. B. Physiotherapeuten, Ergotherapeuten) oder Hilfsmittelversorgung (z. B. Hörgeräteakustiker, Orthopädiemechaniker) meist auf die wenigen Informationen beschränkt, die auf der ärztlichen Verordnung zu finden sind. Für eine optimale, ergebnisorientierte Gestaltung der Therapie oder eine optimale Anpassung des benötigten Hilfsmittels wäre jedoch häufig eine direkte Nachfrage bei der/beim verordnende/n Ärztin/ Arzt oder der Zugriff auf entsprechende Befunde hilfreich. 3 Technische Lösungsansätze Neben dem Versand und Empfang von elektronischen Nachrichten und Dokumenten bieten auch gemeinsame elektronische Fallakten vielversprechende Möglichkeiten, um beispielsweise die Ziele der Physiotherapie und Ergotherapie enger mit der Pflege abzustimmen, relevante Nebendiagnosen in die Behandlung einzubeziehen sowie die Wirkung und Nebenwirkung der Medikation bei Bedarf zu kommentieren. Für eine E-Health als Brücke zwischen den Leistungserbringern 301 patientenzentrierte Versorgung wird die Möglichkeit benötigt, kontextbezogen technische Zugriffsregelungen auf medizinische Daten bzw. die Behandlungsdokumentation umzusetzen, damit alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen je nach Erfordernis auf für sie relevante Behandlungsdaten zugreifen können. Im Kontext von IHE-konformen Akten gibt es längst geeignete technische Konzepte, um rollenspezifische Zugriffsprofile abzubilden und gegebenenfalls entsprechende Steuerungsinformationen beim Austausch von Dokumenten mitzugeben. Exemplarisch wären hier die IHE-Profile XDS und XUA sowie BPPC in Verbindung mit SAML und OASIS XACML zu erwähnen, die geeignete Mechanismen bereitstellen (IHE 2015; Caumanns et al. 2009). So gibt es bereits Festlegungen der EU-Kommission zu IHE-Profilen, auf die bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen Bezug genommen werden kann (Amtsblatt der Europäischen Union 2015). Voraussetzung ist jedoch, dass elektronische Behandlungsdokumente nicht ausschließlich als mehr oder minder epischer Volltext gestaltet sind, sondern als strukturierte elektronische Dokumente, die es ermöglichen, bestimmte Teile mit kontextbezogenen Zugriffsregelungen zu versehen. Auch hier gibt es bereits technische Spezifikationen und Implementierungsleitfäden für derartige Dokumente, wie z. B. den elektronischen Arztbrief auf der Basis von HL7/CDA (HL7 Deutschland 2014). Sowohl bei der Festlegung der Granularität der Dokumente, wie auch der Granularität der Zugriffsregelungen, sollte man einen gewissen Pragmatismus walten lassen und diese nur so differenziert wie unbedingt nötig gestalten, um die Komplexität beherrschbar zu halten. Hier ist es sicherlich sinnvoll, mit ersten überschaubaren Schritten eine Verbesserung gegenüber dem Status quo zu realisieren und diese iterativ weiterzuentwickeln, als hundertprozentige Lösungen anzustreben, die sich in der Praxis nicht umsetzen lassen. Auch im Bereich der Pflegeüberleitung und Wunddokumentation gibt es bereits relativ weit gediehene Ansätze hierzu (Schulte et al. 2013). 4 Chancen durch die Telematikinfrastruktur Wie bereits erwähnt, fehlt es in Deutschland bislang an einer gesundheitssystemweiten Kommunikationsinfrastruktur, welche die technischen Voraussetzungen für eine vertrauliche, sichere und rechtsichere elektronische Kommunikation zur Verfügung stellt. Die in Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gegenwärtig im Aufbau befindliche bundesweite Telematikinfrastruktur (TI) (vgl. gematik 2015) stellt den geeigneten Rahmen für eine dringend benötigte übergreifende Public-Key-Infrastruktur zur Verfügung. Sie stellt perspektivisch den „Missing-Link“ zur Überwindung von Bruchstellen zwischen Sektoren und Akteuren im Gesundheitswesen dar. Dazu gehören insbesondere auch elektronische Zertifikate und dezentrale Komponenten wie z. B. elektronische Heilberufs- und Berufsausweise, die es erlauben, Kommunikationspartner und ihre berufliche Rolle eindeutig zu identifizieren, die Echtheit von elektronischen Dokumenten und die Urheberschaft zu überprüfen sowie die Vertraulichkeit durch wirksame, harte Kryptografie sicherzustellen. 302 L. Treinat Vor dem Hintergrund, dass die elektronische Verordnung seit 2009 einem unbefristeten Moratorium unterliegt, wurden hinsichtlich der Nutzung von eGK und TI bisher hauptsächlich die approbierten Gesundheitsberufe, das heißt, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Psychotherapeuten berücksichtigt. Hier bietet der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung eines E-Health-Gesetzes (vgl. BMG 2015) mit der vorgesehenen Novellierung der eGK und TI zugrunde liegenden Rechtsvorschriften (insbesondere §§ 291 ff. SGB V) Chancen einer Öffnung für weitere Leistungserbringer und Berufsgruppen, welche die Voraussetzungen für eine umfassende Sektor übergreifende und multiprofessionelle Kommunikation schafft. 5 Verbleibende offene Punkte Bislang kaum beachtet ist die Problematik, dass es künftig auch Möglichkeiten geben muss, zwischen Leistungserbringern des Gesundheitswesens und Gesundheitsbehörden sicher elektronisch zu kommunizieren. Vielfach wird bei eilbedürftigen Informationen (z. B. meldepflichtigen Erkrankungen oder Erregernachweisen) in diesem Kontext auf das Fax zurückgegriffen. Angesichts der Tatsache, dass Fax-Nachrichten in der Regel unverschlüsselt sind und heute häufig über das Internet übertragen werden, sollte man sich ins Bewusstsein rufen, dass dies dem Versand einer unverschlüsselten E-Mail gleichkommt. Selbst aktuelle Smartphones verfügen mittlerweile über brauchbare Texterkennungsmöglichkeiten (z. B. OCR-Apps), die in der Lage sind, aus Fax-Dokumenten auswertbare Textinformationen herzustellen. Diese Problematik betrifft aber nicht nur Meldungen gemäß Infektionsschutzgesetz, sondern auch Dienstleistungen des Amtsärztlichen Dienstes, gutachterliche Aufgaben, sozialmedizinische Aufgaben sowie die Krankenhaushygiene. Hier gibt es bereits erste Überlegungen, die TI und die Welt der Behördennetze (DOI/TESTA) zu koppeln, aber noch keine konkreten Konzepte. Ähnliche Probleme stellen sich hinsichtlich der Anbindung der klinischen und epidemiologischen Krebsregister, die zumindest in den Konzepten der TI noch keine Berücksichtigung finden. Auch wenn in einigen Bundesländern noch Meldungen in Papierform üblich sind, ist allein aufgrund der schieren Menge von Meldungen und Kommunikationsvorgängen im Kontext der klinischen Krebsregister in überschaubarer Zeit flächendeckend mit der Etablierung elektronischer Verfahren zu rechnen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es angesichts des Kostendrucks auf die Leistungserbringer des Gesundheitswesens leistungsfähiger, möglichst einheitlicher, sicherer und vertrauenswürdiger Kommunikationsinfrastrukturen bedarf, damit die Voraussetzungen für durchgängige patientenzentrierte Versorgungsprozesse bestehen und auch gesetzliche Meldepflichten (wie insbesondere Infektionsschutz und Krebsregistermeldungen) keine kostenträchtigen Vorhaltungen von parallelen Infrastrukturen oder schwer in den Betriebsablauf integrierbaren Prozessen erfordern. Im Kontext von Kommunikationsnetzen im Gesundheitswesen kaum beachtet oder zumindest bislang ausgeklammert, ist der Umstand, dass zunehmend mehr Patienten mit E-Health als Brücke zwischen den Leistungserbringern 303 Hilfe von Gesundheits-Apps und sogenannten Wearables Daten wie z. B. Gewicht, Blutdruck, Puls sowie körperliche Aktivität aufzeichnen, die Rückschlüsse auf ihren Gesundheitszustand ermöglichen. Auch wenn die Qualitätssicherung bei solchen Apps in vielen Fällen unklar bis problematisch ist und nicht selten durch die Vorgaben des Herstellers zum bestimmungsgemäßen Gebrauch eine Zulassung als Medizinprodukt vermieden wird, erscheint es sinnvoll, Konzepte für eine Anbindung von geeigneten GesundheitsApps an IT-Infrastrukturen des Gesundheitswesens zu entwickeln. Im Bereich der Prävention und der Chroniker-Versorgung bieten sich hier neue Möglichkeiten für Behandlungsprogramme (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2015), die auch IT-seitig integriert werden müssen. Angesichts der Umsätze im Bereich der Selbstzahlerleistungen ist auch mit einem gewissen Marktdruck auf die Leistungserbringer zu rechnen, auf diese neuen Möglichkeiten zu reagieren. Literatur Amtsblatt der Europäischen Union (2015) BESCHLUSS (EU) 2015/1302 DER KOMMISSION vom 28. Juli 2015. http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:JOL_2015_199_R_0011. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2015) Meldung E-Health-Gesetz. http://www.bmg. bund.de/ministerium/meldungen/2015/meldung-e-health-gesetz.html. Zugegriffen: 30. Juni 2015 Caumanns J, Kuhlisch R, Pfaff O, Rode O (2009) IHE IT-infrastructure white paper – access control. http://www.ihe.net/Technical_Framework/upload/IHE_ITI_TF_WhitePaper_AccessControl_2009-09-28.pdf. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Deutsches Ärzteblatt (Hrsg) (2015) Vermischtes – Gesundheits-Apps sind mehr als eine Spielerei. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/63167/Gesundheits-Apps-sind-mehr-als-eine-Spielerei. Zugegriffen: 30. Juli 2015 gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (2015) Telematikinfrastruktur. http://www.gematik.de/cms/de/egk_2/telematikinfrastruktur/telematikinfrastruktur_1.jsp. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Gesundheitsministerkonferenz der Länder (2015) Beschlüsse der 88. GMK (2015) zu TOP 6.2 – Stärkung der therapeutischen- und Assistenzberufe im Gesundheitswesen. https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=293&jahr. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Heinze RG, Ley C (2009) Abschlussbericht des Forschungsprojekts Vernetztes Wohnen: Ausbreitung, Akzeptanz und nachhaltige Geschäftsmodelle. http://www.sowi.rub.de/mam/content/ heinze/heinze/abschlussbericht_vernetzteswohnen.pdf. Zugegriffen: 30. Juli 2015 HL7 Deutschland e. V. (2015) Implementierungsleitfaden Arztbrief 2014. http://wiki.hl7.de/index. php?title=IG:Arztbrief_2014. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) (2015a) Basic Patient Privacy Consents (BPPC). http:// wiki.ihe.net/index.php?title=Basic_Patient_Privacy_Consents. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) (2015b) Cross-Enterprise Document Sharing (XDS). http://wiki.ihe.net/index.php?title=Cross-Enterprise_Document_Sharing. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) (2015c) Cross-Enterprise User Assertion (XUA). http:// wiki.ihe.net/index.php?title=Cross-Enterprise_User_Assertion. Zugegriffen: 30. Juli 2015 304 L. Treinat Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (2015) Sicheres Netz – KV-SafeNet. http://www.kbv. de/html/kv-safenet.php. Zugegriffen: 30. Juli 2017 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2014) Gutachten 2014, Empfehlungen. http://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=528. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg) (2011) Herausforderungen des demografischen WandelsExpertise im Auftrag der Bundesregierung, Expertisen, Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. http://www.econstor.eu/handle/10419/75371. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Schulte G, Hübner U, Flemming D (2013) Versorgungskontinuität durch Information: Evaluation des HL7-Standards für den ePflegebericht. http://www.researchgate.net/ publication/267056521_Versorgungskontinuitt_durch_Information_Evaluation_des_HL7-Standards_fr_den_ePflegebericht. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Wirtschaftsförderung Bochum Wifö GmbH (2015) Veranstaltung „Gesundheitswirtschaft trifft … Quartiersentwicklung“ am 06.02.2014 in Herne. http://www.gc-bo.de/de/2014/gesundheitswirtschaft-trifft-quartiersentwicklung/. Zugegriffen: 30. Juli 2015 X3.Net GmbH (2015) X3.Net – Das Netzwerk der Gesundheitspartner. http://www.x3.net/x3-net. html. Zugegriffen: 30. Juli 2015 Über den Autor Lars Treinat  ist als Geschäftsführer des Geschäftsbereichs Telematik bei der Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH in Bochum für die Beratung und Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen beim Aufbau von Ausgabestrukturen für elektronische Berufsausweise, dem Aufbau des Landeskrebsregisters Nordrhein-Westfalen sowie der Einführung von elektronischen Meldeverfahren für meldepflichtige Erkrankungen und Erreger nach §§ 6 und 7 IfSG verantwortlich. Lars Treinat ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Inhaber des Zertifikats „Medizinische Informatik“ der Fachgesellschaften GMDS e. V. und GI e. V. Kontakt: l.treinat@ztg-nrw.de Der Schutz von Daten bei E-HealthAnwendungen Gerald Spyra 1 Einleitung E-Health steht als Oberbegriff für den allumfassenden Einsatz von vernetzter Elektronik bzw. Informationstechnologie (IT) im Bereich „Gesundheit“. Vom stetig zunehmenden Einsatz vernetzter IT erwarten sich die an E-Health-Beteiligten ein teilweise erhebliches Kosteneinsparungs- bzw. Gewinnmaximierungspotenzial, einhergehend mit der Möglichkeit, die Versorgungsqualität zu steigern. Bei den unbestrittenen Vorzügen, die E-Health für die Beteiligten mit sich bringen kann, sollte man jedoch nie die Risiken, die mit dem Einsatz von E-Health einhergehen können, außer Acht lassen. Gerade die Risiken, die mit der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung (im Nachfolgenden „Verarbeitung“) sensibler Gesundheitsdaten verbunden sind, werden in Zukunft eine immer zentralere Rolle spielen. Denn von der Beherrschung dieser Risiken hängen die Akzeptanz, das Vertrauen und damit letztendlich auch der Erfolg der jeweiligen E-Health-Anwendungen bzw. Projekten ab. Zum Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen existieren mannigfaltige gesetzliche Vorgaben, die einzelfallbezogen angewendet und umgesetzt werden müssen. Gerade beim Einsatz komplexer E-Health-Anwendungen müssen die zum Schutz von Daten Verantwortlichen im Einzelfall evaluieren, welche rechtlichen Rahmenbedingungen, wie, für wen, in welchem Umfang gelten. Um eine korrekte rechtliche Bewertung vornehmen zu können, müssen sie dabei die konkreten technischen Begebenheiten der jeweiligen E-Health-Anwendung mit einbeziehen. Mit den durch dieses Vorgehen gewonnenen Erkenntnissen, sind die Verantwortlichen dann verpflichtet, die jeweils erforderlichen G. Spyra (*)  Kanzlei Spyra, Wipperfürth, Deutschland E-Mail: gerald.spyra@kanzlei-spyra.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_17 305 306 G. Spyra technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen für die (Patienten-)Daten zu treffen. So einfach diese Vorgehensweise auf den ersten Blick theoretisch erscheint, desto komplizierter ist die konkrete und korrekte Durchführung in der Praxis. Denn durch die existierenden starren gesetzlichen Regelungen, den zunehmenden Einsatz sehr komplexer IT, der fortschreitenden Vernetzung dieser IT, einhergehend mit der stetig wachsenden Komplexität/Intransparenz der Datenverarbeitung und den immer neu auf das „E-Health-Spielfeld“ hinzutretenden Protagonisten, wird der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen zu einer immer größeren Herausforderung. Der vorliegende Beitrag will deshalb den Leser für die unterschiedlichen rechtlichen und damit eng im Zusammenhang stehenden technischen Implikationen, die es im Bereich E-Health zu beachten gilt, sensibilisieren. 2 Das Wesen von E-Health Um wie in der Einleitung angesprochen die rechtlichen Implikationen bei E-HealthAnwendungen einordnen und bewerten zu können, empfiehlt es sich zunächst kurz, das Wesen und den Begriff „E-Health“ inklusive einiger konkreter Anwendungsbeispiele zu beleuchten. Auch wenn der Begriff E-Health nicht neu ist, ist es bis heute nicht gelungen, eine allgemein anerkannte Definition für diesen hochkomplexen Bereich zu finden. Dieses insbesondere auch deshalb, weil der Begriff E-Health so vielseitig ist, dass man ihn aus unterschiedlichsten Sichtweisen mit unterschiedlichen Schwerpunkten betrachten kann. Gerade bei E-Health sind wie dargestellt, die unterschiedlichsten Anwendungen denkbar. Je unterschiedlicher die jeweiligen E-Health-Anwendungsformen jedoch sind, desto eher ist es u. a. auch aus rechtlichen Gesichtspunkten notwendig, diese unterschiedlichen Anwendungen, unterschiedlich zu bewerten. Um jedoch eine Bewertung vornehmen zu können, sollten in einem ersten Schritt, die jeweiligen Anwendungen gruppiert bzw. kategorisiert werden. Ausgehend von den rechtlichen Implikationen, die im Nachfolgenden noch näher dargestellt werden, empfiehlt sich eine Kategorisierung nach Nutzungsart und -weise der jeweiligen E-Health-Anwendung1. Wegen der Funktionsvielfalt, der sich ständig ändernden bzw. erweiternden Funktionen und Nutzungsarten verbunden mit den sich dadurch immer weiter überschneidenden Bereiche, lassen sich die Bereiche jedoch nur schwer trennscharf abgrenzen. Daher empfiehlt es sich oftmals, u. a. auch um ein sachgerechtes Ergebnis zu erhalten, auf die Schwerpunkte der Nutzung der jeweiligen E-Health-Anwendung abzustellen. 1Diese Kategorisierung orientiert sich an der auf https://de.wikipedia.org/wiki/E-Health vorgenommenen Begriffseinordnung. Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 307 Der erste Schwerpunktbereich von E-Health liegt in der „Informationsbeschaffung/vermittlung“. Beispiele für Anwendungen in diesem Bereich sind etwa gesundheitsbezogene Webseiten, Informationsportale, Foren oder Blogs, die von Patienten, Ärzten, Krankenkassen usw. betrieben werden und bei denen sich Interessierte ihren Bedürfnissen entsprechend, informieren können. Dem weiten Verständnis von E-Health folgend, dürfte sich auch der Gebrauch einer Suchmaschine, um entsprechende Webseiten mit gesuchten Gesundheitsinformationen zu finden, zumindest mittelbar dem E-HealthInformationsbeschaffungs- bzw. -Vermittlungsbereich zuordnen lassen. Ferner dürften hierzu auch Smartphone-Apps wie „Gesundheits-Lexikon-Apps“ zählen, die dem Anwender gesundheitsbezogene Informationen vermitteln. Weil aber die reine Informationsvermittlung bzw. -beschaffung heutzutage als „Service“ alleine nicht mehr ausreicht, gehen die Anbieter immer mehr dazu über, in ihren „Services“ Funktionen zu implementieren, mit denen es Nutzern getreu dem Motto „Web 2.0“ möglich wird, sich aktiv zu beteiligen und miteinander auszutauschen bzw. zu kommunizieren. Ein weiterer wesentlicher Bereich von E-Health-Anwendungen ist deshalb die „Kommunikation“ von Inhalten mit Gesundheitsbezug. In diesem Bereich geht es primär um den Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehreren Beteiligten. Dieses können etwa „Patient – Arzt“, „Arzt – Arzt“, „Patient/Konsument – Patient/Konsument“, „Konsument – Anbieter“, „Patient – Forscher“, „Forscher – Forscher“ usw. sein. Bei den meisten dieser Anwendungen erwartet der kommunizierende Teil jedoch keine direkte Reaktion seines Kommunikationspartners. Prominente Beispiele aus diesem Bereich sind Apps auf Smartphones, wie z. B. Diabetes-Tagebücher, oder sonstige Apps, die gesundheitsbezogene Daten sammeln und an Behandelnde, Dienstanbieter oder Dritte senden. Ferner dürften in diesen Bereich auch „Wearables“ wie Smartwatches fallen, die die Daten des Nutzers aggregieren und an entsprechende Beteiligte versenden, die sie dann für ihre Zwecke weiterverarbeiten. Im weiteren Sinne lassen sich auch Auftritte von Krankenkassen, Ärzten usw. in sozialen Medien, auf denen sie sich mit ihren „Followern“, die durchaus auch ihre Mitglieder, Patienten usw. sein können, über gesundheitsbezogene Themen austauschen, auch dem E-Health-Bereich zuordnen. Doch durch die Kommunikationsmöglichkeiten, die die heutige IT inklusive des Ausbaus der Netze bieten, erlangt nicht nur der vorstehend genannte Bereich der „Kommunikation ohne direkte Reaktion“ an Bedeutung. Aufgrund der immer besseren Netzabdeckung und Netzkapazitäten können unterschiedlichste Daten in Echtzeit über weite Strecken gesendet werden. Weil hierdurch praktisch eine „Echtzeit-Analyse“ bzw. Überwachung des Patienten/Konsumenten möglich wird, erlangt der E-Health-Bereich „Interaktion“ zunehmend auch immer mehr an Bedeutung. Begünstigt wird die Interaktionsmöglichkeit durch die stetig fortschreitende Entwicklung in der Sensortechnik. Unterschiedlichste Sensoren werden deshalb in Endgeräten verbaut, wodurch eine immer umfangreichere Erhebung und Verarbeitung der Betroffenendaten möglich wird. E-Health-Anwendungen, die in diesen Bereich eingeordnet werden können, kommen 308 G. Spyra deshalb beispielsweise aus den Bereichen des „Home-Monitorings“ oder des „Ambient Assistent Livings (AAL)“. Ferner dürfte auch eine Vielzahl an telemedizinischen Anwendungen wie etwa Expertenkonsile hierunter fallen. Eine weitere, oftmals direkt mit E-Health-Anwendungen in Verbindung gebrachte Nutzungsart, ist die „Transaktion“. In diesem Bereich geht es primär um den gezielten Datenaustausch zwischen unterschiedlichen (medizinischen) Partnern, mit dem Ziel, die Erbringung medizinischer Leistungen vollständig elektronisch abbilden und abwickeln zu können. Das prominenteste Beispiel, das nicht zuletzt auch durch das „E-Health-Gesetz“ zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist dabei etwa die elektronische Patientenkarte bzw. die elektronische Gesundheitskarte (eGK) in Verbindung mit dem elektronischen Heilberufsausweis. Weil E-Health, wie im Abschn. 3 dargestellt werden wird, immer mehr von Daten des Patienten abhängt, ist ein weiterer wesentlicher Bereich von denkbaren E-HealthAnwendungen, die „Integration“. Bei der Integration geht es primär darum, dass Daten eines Patienten praktisch sein Leben lang aufgezeichnet und (an zentraler Stelle) gespeichert werden. Dadurch soll es möglich werden, theoretisch jederzeit, falls nötig, auf die gespeicherten Daten zugreifen zu können. Ferner sollen durch die permanente Aufzeichnung und Analyse der gespeicherten Gesundheitsdaten getreu dem Big-Data-Ansatz die Beteiligten in die Lage versetzt werden, die Daten zu analysieren, mit Daten anderer in Zusammenhang zu bringen, um dadurch Informationen über Krankheitsentstehungen zu erhalten und damit letztendlich beispielsweise eine an den individuellen Bedürfnissen des Patienten ausgerichtete Therapie vornehmen zu können. Der Bereich der Integration ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil der „Individualisierten“ bzw. „Personalisierten Medizin“ (vgl. Spyra 2015a, S. 142 ff.). Beispiele von E-Health-Anwendungen im Bereich der Integration, sind etwa die besonders schon in Amerika und England weit verbreitete elektronische Gesundheitsakte, die elektronische Patientenakte oder die elektronische Krankenakte. Wie vorstehend angesprochen finden die vorstehend angesprochenen Bereiche immer weniger singulär Anwendung. Vielmehr bieten entsprechende Anbieter aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Daten und der Möglichkeiten diese Daten zu verarbeiten, immer mehr „Leistungspakete“ bzw. Services, auf die jeweiligen Zielgruppen zugeschnitten an. Wie z. B. auch die Diskussion um die eGK zeigt, sollen zukünftig immer mehr Services gebündelt bzw. kombiniert werden, um mithilfe der IT und Vernetzung die entsprechenden Daten des Patienten jederzeit verfügbar zu haben und für die entsprechenden Zwecke nutzen zu können. Zusammenfassend lässt sich deshalb feststellen, dass bei der Beantwortung der Frage, was „E-Health“ alles sein kann, der Fantasie im Prinzip keine Grenzen gesetzt sind. Weil nämlich praktisch jeder Lebenssachverhalt einen mehr oder weniger direkten Bezug zur „Gesundheit“ aufweisen kann, der Einsatz von IT den (Gesundheits-)Alltag bestimmt, ist es deshalb auch möglich, sehr viele Anwendungen als „E-Health“ zu definieren. Wie nachfolgend aufgezeigt werden wird, macht es deshalb gerade auch diese schwere Fassbarkeit und Facettenvielfalt von E-Health so schwer, eine korrekte rechtliche Bewertung Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 309 vorzunehmen. Eine generelle bzw. generalisierende rechtliche Bewertung von E-Health verbietet sich deshalb. Vielmehr ist es aufgrund der Vielfalt und der denkbaren Einsatzszenarien essenziell, jede einzelne E-Health-Anwendung, im konkreten Einzelfall (technisch) zu analysieren und unter die einschlägigen, rechtlichen Vorgaben zu subsumieren. Auch wenn die Vielfalt von E-Health-Anwendungen praktisch unerschöpflich ist, verbindet sie alle eine Gemeinsamkeit. Durch den E-Health immanenten Einsatz von IT/Kommunikation, dreht sich bei allen diesen Anwendungen alles mehr oder weniger direkt um digitale Daten! 3 Die Daten bei E-Health-Anwendungen Um sich der Bedeutung von (digitalen) Daten bei E-Health Gewahr zu werden, empfiehlt es sich kurz, den nachfolgenden, zunächst sehr abstrakt dargestellten „Dreiklang“ zu vergegenwärtigen: 1. E-Health basiert auf dem Einsatz von (vernetzter) IT. 2. Damit diese vernetzte IT entsprechend des intendierten Zwecks und auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten erfolgen kann, benötigt sie Daten. 3. Daraus folgt wiederum, dass der Einsatz von E-Health-Anwendungen grundsätzlich von der Vertraulichkeit, der Verfügbarkeit und der Integrität von Daten einhergehend mit der Funktionsfähigkeit der vernetzten IT abhängt! Doch auch wenn durch diesen Dreiklang deutlich wird, dass die Sicherstellung der Vertraulichkeit, der Verfügbarkeit und der Integrität von (E-Health-)Daten essenziell für E-Health-Anwendungen ist, ist damit noch nicht geklärt, was Daten eigentlich sind. Das Verständnis von bzw. über Daten ist jedoch essenziell, um die heutzutage noch immer teilweise erbittert geführten Diskussionen z. B. um den „Personenbezug“ von Daten bei E-Health-Anwendungen, nachvollziehen zu können. Daher soll im Nachfolgenden dieser oftmals auch für die rechtliche Bewertung „kriegsentscheidenden“ Frage kurz nachgegangen werden. Vereinfacht ausgedrückt sind Daten Träger von vielen unterschiedlichen Informationen, die sie jedoch nicht immer sofort „preisgeben“. „Information“ lässt sich einer weit verbreiteten Definition folgend, als (übermitteltes) Wissen bzw. als „Bedeutung“ verstehen2. Weil Daten Träger unterschiedlichster (versteckter) Informationen sind bzw. sein können, ist es möglich, durch die Verknüpfung mit anderen Daten bzw. der Möglichkeit, die 2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Information. 310 G. Spyra zur Verfügung stehenden Daten in einen entsprechenden Zusammenhang/Kontext zu setzen, mannigfaltige Informationen aus einem einzelnen Datum zutage zu fördern. Hierzu das nachfolgende, einfach gelagerte Beispiel: Die beiden Daten „Vor“- und „Nachname“ lassen sich einer bzw. mehreren Personen (weltweit) zuordnen. Steht noch ein weiteres Datum zur Verfügung, wie z. B. ein Geburtsdatum, das sich mit den Daten „Vor“- und „Nachname“ (logisch) verknüpfen lässt, lässt sich mithilfe dieser drei Daten eine Person oftmals schon fast eindeutig identifizieren. Weitere Daten, die damit in Zusammenhang gebracht werden können, wie z. B. Wohnort, Adresse, E-Mail-Adresse, Telefonnummer usw., lassen die entsprechende Person immer weiter identifizierbarer werden. Ist es möglich, diesen Daten noch weitere Daten zuzuordnen bzw. lassen sich diese in einen bestimmten Kontext bringen, wie beispielsweise die HIV-Infektion des Trägers3, ist man in der Lage, hieraus immer mehr und möglicherweise auch immer sensiblere Informationen über den bereits identifizierten Träger zu gewinnen. Wie nachfolgend dargestellt werden wird, ist es heute nur sehr schwer möglich abzuschätzen, welche, bzw. wie viele Informationen ein einzelnes Datum eigentlich enthält bzw. enthalten kann. Vermeintlich „unbedeutende“ Daten können aufgrund der bereits gesammelten Masse an anderen Daten, inklusive der Möglichkeit diese Daten entsprechend zu verarbeiten, zu sehr bedeutsamen Daten werden. Aus diesem Grund lässt sich oftmals nur mutmaßen, welche Informationen derjenige, der die Daten erhalten hat bzw. sich beschaffen kann, mithilfe der weiteren ihm zur Verfügung stehenden Daten ableiten kann und zu welchen Zwecken er diese Daten/Informationen weiter verarbeiten wird. Um eine gewisse Ordnung in die unterschiedlichen, bei E-Health anfallenden Daten hineinzubringen und um herauszufinden, welche gesetzliche Vorschrift auf welchen Sachverhalt im Einzelfall Anwendung findet, empfiehlt es sich dabei, die Daten nach den „Kommunikationsumständen“ zu kategorisieren. Nach Auffassung des Verfassers empfiehlt sich hierfür eine bis zu vierstufige Einteilung. Ausgehend von den rechtlichen Implikationen, sollten die bei E-Health anfallenden bzw. zu verarbeitenden Daten zumindest hinsichtlich: • der eingesetzten Kommunikation bzw. des Kommunikationsmediums (Kommunikationsumstände), • der konkreten Nutzung des Dienstes, • des „Informationsgehalts“ der Daten bzw. dem Zweck der Datenverarbeitung und • der „Person“ des Datenverarbeiters, geordnet werden. 3http://derstandard.at/2000021626563/780-HIV-Patienten-geoutet-Datenpanne-bei-Londoner-Klinik. Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 311 3.1 Daten, die Kommunikation betreffend Die Nutzung von E-Health-Anwendungen z. B. mittels Smartphones/Wearables, der Telematikinfrastruktur oder E-Mail, stellt digitale Kommunikation dar. Jede digitale Kommunikation erzeugt Daten. Die Daten, die (nur) mit der Kommunikation in Verbindung stehen, werden als Kommunikations-/Verkehrs- oder Nutzungsdaten bezeichnet. Diese Daten betreffen die Rahmenumstände der jeweiligen digitalen Kommunikation und beziehen sich deshalb grundsätzlich nur mittelbar auf den Kommunikationsinhalt. Weil sie „lediglich“ die Kommunikationsumstände betreffen, sind sie auch unter der Bezeichnung „Metadaten“ bekannt. Zu den Metadaten zählen beispielsweise Daten über die Zeit der Kommunikation, die (IP-)Adressen der Kommunikation von Sender und Empfänger, der Ort von dem die Kommunikation erfolgte, das zur Kommunikation verwendete Mittel und die hierzu gehörenden Spezifikationen. Metadaten bzw. Verkehrsdaten werden, weil sie vermeintlich keine große Aussagekraft besitzen, vielfach als unbedeutend angesehen. Doch an dieser Stelle sei angemerkt, dass dieses oftmals ein Trugschluss ist. Denn wie diverse Studien und Projekte aufzeigen (vgl. Ockenden 2015; Tokmetzis 2014), lassen sich aus den „bloßen“ Metadaten vielfach Informationen gewinnen, die der Kommunizierende bzw. die Kommunizierenden lieber geheim halten würden. So war es beispielsweise Forschern nur durch die gesammelten Metadaten eines Smartphones, die mittels einer App gesammelt wurden, möglich, aus diesen Daten hochsensible Informationen z. B. über außereheliche Affären, unerlaubten Drogenbesitz, Geschlechtskrankheiten der Nutzer, und Vieles mehr abzuleiten4! 3.2 Daten, die Nutzung eines Dienstes betreffend Viele der in Abschn. 2 angesprochenen E-Health-Dienste sind auf den individuellen Nutzer zugeschnitten. Damit der Anbieter seine Dienste auch wirklich nutzerbezogen erbringen kann, ist es notwendig, dass sich derjenige, der die Dienste nutzen will, beim jeweiligen „Anbieter“ mit seinen Daten registriert und von diesem ein eigenes Nutzerkonto eingerichtet bekommt. Mithin schließt der Nutzer mit dem Dienstanbieter einen wie auch immer gearteten Vertrag. Die vom Nutzer für den Zweck der Vertragsschließung preisgegebenen Daten sind notwendig, um die Begründung, die inhaltliche Ausgestaltung oder die Änderung des Vertragsverhältnisses durchführen zu können. Weil die vom Nutzer preisgegebenen Daten in Bezug mit dem Bestand eines (vertraglichen) Nutzungsverhältnisses stehen, werden diese Daten auch als Bestandsdaten bezeichnet. 4http://news.stanford.edu/news/2014/march/nsa-phone-surveillance-031214.html. 312 G. Spyra 3.3 Daten, den Kommunikationsinhalt betreffend Die beiden vorherigen Datenarten betrafen bisher „nur“ die Kommunikation bzw. die Daten, die zur Erbringung eines Dienstes bzw. zur Vertragsdurchführung benötigt werden. Sie bezogen sich jedoch nicht direkt auf den Inhalt, der mit der jeweiligen Kommunikation transportiert wird. Daten, die den Kommunikationsinhalt betreffen, sind unter dem Begriff „Inhaltsdaten“ bekannt. Diesen Daten misst man traditionell noch immer am meisten Bedeutung bei. Dieses insbesondere deshalb, weil man bei diesen Daten davon ausgeht, dass gerade von bzw. für diese Daten das höchste, wie auch immer geartete Risiko für die jeweils betroffene Person ausgeht. Ein Risiko von Daten kann für eine Person jedoch immer nur dann ausgehen, wenn das entsprechende Datum bzw. die Daten, auf welche Art auch immer, auf diese rückführbar sind (Personenbezug). Oder anders ausgedrückt: Ein Risiko kann für einen Betroffenen nur dann bestehen, wenn aus einem Datum bzw. aus den Daten u. a. die Information ableitbar ist, dass die Daten mit dem Betroffenen XY in (unmittelbaren) Zusammenhang stehen. Im Umkehrschluss bedeutet dieses wiederum, dass wenn sich mittels der vorhandenen Daten kein Personenbezug herstellen lässt, es vermeintlich auch keinen Betroffenen geben kann, für den ein wie auch immer geartetes Risiko durch die Daten besteht. Wie deutlich werden sollte, liegt dem „Schutz von Daten“ und hierbei insbesondere auch den Inhaltsdaten stets ein risikobasierter Ansatz zugrunde. Entsprechend der Höhe des Risikos, das für die Daten besteht, bzw. von diesen Daten für den Betroffenen ausgeht, lassen sich Inhaltsdaten in „normale“ und „besonderen“ Arten (personenbezogener) Daten kategorisieren. Die Unterscheidung in diese beiden Kategorien hat für die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften und dementsprechend auch für die zum Schutz von Daten Verantwortlichen zu treffenden Schutzmaßnahmen maßgebliche Relevanz. 3.3.1 Personenbezogene Daten Den Begriff „normale“ oder „gewöhnliche“ Daten kennen die einschlägigen „Datenschutz“-Gesetze bzw. Vorschriften nicht. Vielmehr gehen sie zunächst implizit davon aus, dass alle Daten, aus denen sich ein Personenbezug ableiten lässt, grundsätzlich (normal) schützenswert sind. Die einschlägigen Regelungen sehen für diese Daten „normale“ Schutzmaßnahmen vor und sind in ihrer Ausgestaltung die Zulässigkeit der Datenverarbeitung betreffend ein wenig „großzügiger“. Anders stellt sich dieses aber bei den besonderen Arten personenbezogener Daten dar. 3.3.2 Besondere Arten personenbezogener Daten (Gesundheitsdaten) Wenn sich aus Daten sensible Informationen ableiten lassen, sind sie von Gesetzes wegen besonders schützenswert. Diese besondere Schutzbedürftigkeit resultiert daraus, dass diesen Daten das immanente Risiko anhaftet, dass bei Kenntnis von den aus diesen Daten ableitbaren Informationen der Betroffene diskriminiert werden könnte oder Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 313 ihm weitere einschneidende Konsequenzen drohen könnten. Aus diesem Grund ist es nur folgerichtig, dass die gesetzlichen Anforderungen an die Zulässigkeit der Verarbeitung dieser Daten höher sind, als bei normalen Daten. Besondere Arten personenbezogener Daten bedürfen deshalb auch besonderen Schutzmaßnahmen. Zu den besonderen personenbezogenen Daten zählen von Gesetzes wegen (vgl. § 3 Abs. 9 BDSG) Angaben (Informationen) über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Sexualleben aber auch die Gesundheit. Daraus folgt gerade für E-Health-Anwendungen, dass wenn es sich bei den zu verarbeitenden Daten um Gesundheitsdaten handelt, an ihren Schutz und die Zulässigkeit ihrer Verarbeitung, (deutlich) höhere Anforderungen als bei den „normalen Daten“ zu stellen sind. Doch auch wenn das Gesetz bzw. die einschlägigen Gesetze Gesundheitsdaten als besonders schützenswert ansehen, beantworten sie nicht die Frage, welche Daten hierunter eigentlich alles fallen. Die Art. 29 Datenschutz-Arbeitsgruppe der EU hat sich deshalb dieser Frage angenommen und in einem Dokument den Begriff der (elektronischen) Gesundheitsdaten konkretisiert (Europäische Kommission 2015). Vereinfacht dargestellt, handelt es sich diesem Dokument folgend bei (digitalen) Daten um „Gesundheitsdaten“, wenn sich aus diesen Daten kontextbezogen, ein direkter oder mittelbarer Bezug zur Gesundheit des Betroffenen herstellen lässt. Diese weite Interpretation wird sich höchstwahrscheinlich auch mehr oder weniger in der geplanten EU-Datenschutzverordnung wiederfinden. Den vorstehenden Ausführungen folgend, dürften deshalb praktisch alle Daten, die im Rahmen von E-Health erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, einen Gesundheitsbezug aufweisen und müssten deshalb konsequenterweise als besonders schützenswert angesehen werden! Mithin dürften auch die Daten der Nutzer, die von „Lifestyle-Geräten“ wie Fitness-Trackern erhoben und verarbeitet werden, als Gesundheitsdaten anzusehen sein. Gleiches dürfte etwa auch für die Daten aus dem Bereich des „Ambient Assistent Livings“ gelten. Weil sich aus sehr vielen vorhandenen Daten Informationen über die Gesundheit ableiten lassen, ist es wenig verwunderlich, dass man heutzutage bereits davon ausgeht, dass mindestens ein Drittel der weltweit erhobenen Daten einen Gesundheitsbezug haben bzw. sich dem Gesundheitsmarkt zuordnen lassen (FAZ 2013). Wie deutlich werden sollte, sind Gesundheitsdaten besonders schützenswert. Doch wie durch die vorstehenden Ausführungen auch deutlich werden sollte, ist es praktisch unmöglich, abschließend zu beurteilen, welches Datum eigentlich einen Gesundheitsbezug aufweist und welches nicht. Dieses insbesondere deshalb, weil ein Datum, dem man zunächst keinen Gesundheitsbezug ansehen würde, durch die Kombination mit anderen Daten, durchaus einen solchen Bezug „erben“ bzw. von sich preisgeben kann. Besonders, weil an E-Health unterschiedliche Personen/Institutionen beteiligt sein können, ist es praktisch unmöglich abzuschätzen, welche Mittel ihnen zur Verfügung stehen, aus den vorhandenen Daten entsprechende Informationen zu extrahieren. 314 G. Spyra 4 Die an E-Health Beteiligten Wie durch die vorherigen Ausführungen deutlich werden sollte, ist E-Health längst nicht nur auf das „Arzt-Patienten-Verhältnis“ beschränkt. Vielmehr treten durch die Vielfalt der denkbaren E-Health-Anwendungen immer neue Protagonisten auf das „E-HealthSpielfeld“, die die unterschiedlichsten Interessen an den Daten (des Betroffenen) haben. Um einen kleinen Überblick über die an E-Health möglichen Beteiligten zu geben, sollen im Nachfolgenden kurz potenzielle Teilnehmer an E-Health inklusive ihrer Interessen an den Daten beleuchtet werden. Der Hauptprotagonist bei E-Health ist der Patient bzw. der Konsument von Gesundheitsleistungen. Er erwartet sich von den von ihm oder für ihn genutzten E-Health-Anwendungen, speziell auf ihn bzw. auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Gesundheitsleistungen zu erhalten. Patienten/Konsumenten entwickeln ein immer stärker werdendes persönliches Gesundheits- bzw. Wellnessbewusstsein. Ihnen wird es immer wichtiger, sich und ihre Gesundheit selber einschätzen zu können. Damit einher geht das Bestreben der Verbraucher, eigene Gesundheitsbelange selber in die Hand zu nehmen und „optimieren“ zu können („Quantified Self“). So ist immer mehr zu beobachten, dass beispielsweise Wearables wie Smartwatches oder Smartphones mit „Fitness-Apps“ die Schnittstelle zwischen Freizeit und Gesundheitsangeboten bilden. Der Patient/Konsument erklärt sich (konkludent) mit dem Einsatz dieser Angebote einverstanden, dass seine Daten für die von den Anwendungen angebotenen Leistungen genutzt werden. Er erwartet dabei aber (implizit) vom Anbieter bzw. von den Anbietern, dass diese sensibel mit seinen Daten umgehen, im erforderlichen Umfang schützen und wirklich auch nur für die von ihnen intendierten Zwecke nutzen. Das Hauptinteresse des Patienten bzw. Verbrauchers in Bezug auf die Daten ist deshalb, dass sich aus der Bekanntgabe seiner Daten nicht irgendwann wie auch immer geartete negative Konsequenzen ergeben. Ein weiter Hauptprotagonist bei E-Health ist der behandelnde Arzt bzw. die behandelnden Ärzte oder Gesundheitseinrichtungen usw. (Behandler). Ihnen geht es primär darum, die (Gesundheits-)Daten des Patienten nutzen zu können, um den Patienten individuell zu behandeln und dabei das beste Ergebnis mit den geringsten Nebenwirkungen zu erzielen. Ferner wollen sie die Möglichkeiten von E-Health nutzen, um sich mit anderen Behandlern, praktisch weltweit auszutauschen. Die Behandler haben insbesondere ein Interesse daran, die Daten ausreichend zu schützen bzw. mit ihnen sorgsam umzugehen, um nicht das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient (Patientengeheimnis) zu beeinträchtigen. Weil es zunehmend darum geht, die Daten von Patienten/Konsumenten zu „erforschen“ und aus den Daten entsprechende Rückschlüsse ziehen zu können, werden in E-Health-Anwendungen und -Projekten auch immer mehr Institutionen aus Wissenschaft und Forschung involviert. Durch die Analyse, Auswertung und dem Vergleich mit den Daten anderer Patienten/Konsumenten, sollen die Daten des Patienten/Konsumenten dabei helfen, beispielsweise (Volks-)Krankheiten besser identifizieren und erforschen zu können. Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 315 Gerade weil der Bereich E-Health auch wirtschaftlich geprägt ist, bieten immer mehr private Unternehmen ihre Leistungen dem Patienten/Konsumenten, Ärzten, der Wissenschaft, usw. an. Vielfach kooperieren private Unternehmen, die zumeist gar nicht aus dem Gesundheitsbereich stammen (FAZ 2013), mit den vorstehend Beteiligten. Weil wie vorstehend angesprochen, Gesundheit immer mehr auch zu einem „Lifestyle-Bereich“ wird, bieten z. B. immer mehr Unternehmen für diesen Bereich entsprechende „Lifestyle-Gesundheitsprodukte“ an, die sogar hin bis zu Online-Gentests reichen (Gentest Deutschland 2016). All die von den privaten Unternehmen angebotenen Lösungen benötigen, um die versprochenen Leistungen auch mehr oder weniger wirksam erbringen und erfüllen zu können, zumeist die Daten des Patienten/Verbrauchers. Wie die privaten Unternehmen letztendlich mit den ihnen zur Verfügung stehenden bzw. gestellten Daten tatsächlich (weiter) umgehen, bleibt jedoch oftmals deren Geheimnis. Es lässt sich jedoch antizipieren, dass bei vielen privaten Unternehmen das finanzielle Interesse an den Daten des Patienten eine der Hauptrollen für die Beteiligung an E-Health ist. So verspricht u. a. die alternde Gesellschaft (ihre Daten), die auch ein Treiber für E-Health ist, ein Multimilliardengeschäft für die Wirtschaft (vgl. Pommerening 2010). Darüber hinaus sind etliche weitere Protagonisten vorstellbar, die ein direktes oder mittelbares Interesse an E-Health haben. So seien hier etwa die einzelnen Kostenträger genannt, die sich von E-Health u. a. auch eine Senkung bisher unnötig verursachter Kosten bzw. eine Kostenoptimierung versprechen. Ferner hat natürlich auch der Staat ein nicht zu unterschätzendes Interesse an E-Health. Dieses nicht zuletzt auch deshalb, weil möglicherweise mit dem zu erwartenden (steigenden) Umsatz der an E-Health beteiligten privaten Unternehmen, nicht unerhebliche Steuereinnahmen und Investitionen verbunden sein können. Aber natürlich können die bei E-Health zu verarbeitenden Daten aufgrund ihrer Aussagekraft auch für Versicherungen, Arbeitgeber (vgl. Wissenschaftliche Akademien 2014, S. 72) oder für staatliche Stellen z. B. zur Strafverfolgung oder Identitätsfeststellung (Deutscher Ethikrat 2010, S. 15) von großem Interesse sein. Zu guter Letzt soll eine weitere Gruppe von „Interessenten“ an den E-Health-Daten nicht unerwähnt bleiben, nämlich die „Kriminellen“. Auch diese haben ein nicht unerhebliches Interesse an digitalen Gesundheitsdaten. Durch die immer weiter zunehmende Kommerzialisierung von (Gesundheits-)Daten, werden diese zwangsläufig immer „wertvoller“. Für Kriminelle und kriminelle Institutionen rentiert es sich daher immer mehr, diese wertvollen Daten zu „stehlen“ und an die unterschiedlichsten Käufer zu verkaufen. Weil Gesundheitsdaten u. a. aufgrund der nachfolgend dargestellten gesetzlichen Hürden nur schwer legal zu erwerben sind, der Bedarf nach diesen Daten jedoch immer größer wird, ist es kein Geheimnis, dass sich gerade für Gesundheitsdaten ein immer größerer Schwarzmarkt im Internet bildet, auf dem gestohlene Gesundheitsdaten hochpreisig angeboten werden. So lässt sich mit diesen Daten oftmals zehnmal so viel Geld, wie mit gestohlenen Kreditkarteninformationen verdienen (Humer und Finkle 2014). 316 G. Spyra Wie die vorstehenden Ausführungen aufzeigen sollten, gibt es immer mehr Beteiligte im Bereich E-Health mit ganz unterschiedlich gelagerten Interessen. Durch die unterschiedlichen Interessen und Beteiligten entstehen damit zunehmend Risiken für die Daten des Patienten bzw. für den Patienten selber. Um diesen Risiken zu begegnen, existieren mannigfaltige gesetzliche Regelungen, die einzelfallbezogen angewendet werden müssen. 5 Gesetzliche Anforderungen beim Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen Wie aufgezeigt wurde, nimmt gerade der „Schutz von Daten“ eine Schlüsselstellung bei E-Health-Anwendungen ein. Der „Schutz von Daten“ wird vielfach mit dem Begriff „Datenschutz“ gleichgesetzt. Doch eine solch synonyme Begriffsverwendung von „Datenschutz“ geht eigentlich weit über die Begriffsbedeutung von „Datenschutz“ hinaus. Denn „Datenschutz“ oder besser gesagt, der „Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ ist nur ein Teil der rechtlichen Gebiete, die den „Schutz von Daten bei E-Health“ betreffen. Bei der Frage, wann genau, für wen, welche (datenschutz-) rechtliche Vorschrift, wie zur Anwendung kommen soll, gilt es den genauen Einzelsachverhalt (!) zu analysieren und dabei insbesondere die technischen und organisatorischen Implikationen, die Datenarten, die Verarbeitungszwecke und alle der an der Datenverarbeitung Beteiligten einzubeziehen. Der erste rechtliche Bereich, der bei E-Health vielfach eine nicht zu unterschätzende Relevanz besitzt, ist der Bereich der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht bzw. das Patientengeheimnis. 5.1 Ärztliche Verschwiegenheitspflicht/Patientengeheimnis Die ärztliche Verschwiegenheitspflicht bzw. das Patientengeheimnis ist eine der bekanntesten „Schweigepflichten“ und existiert schon seit Jahrtausenden. Diese noch immer geltende Geheimhaltungsverpflichtung ist heutzutage beispielsweise in § 9 der Musterberufsordnung der Ärzte manifestiert. Eine Verletzung dieses standesrechtlichen Geheimnisses ist durch § 203 des Strafgesetzbuches (StGB) sanktioniert und kann mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Die Wahrung des Patientengeheimnisses dient dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem behandelnden Arzt und dem Patienten und ist damit essenziell für die Behandlung des Patienten. Weil das Patientengeheimnis auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient zugeschnitten ist, ist auch der Kreis der Verantwortlichen für die Wahrung des Geheimnisses überschaubar. Vom Patientengeheimnis werden deshalb nur (!) der behandelnde Arzt und die an der Behandlung beteiligten berufsmäßig tätigen Gehilfen erfasst. Somit sind all diejenigen, die nicht an der Behandlung des Patienten involviert sind, grundsätzlich auch nicht für die Wahrung dieses Geheimnisses verantwortlich. Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 317 Aus diesem Grund dürften auch die meisten Anbieter von E-Health-Services weder als Behandelnde, noch, insbesondere auch wegen der fehlenden wirtschaftlichen „Abhängigkeit“, als berufsmäßig tätige Gehilfen anzusehen sein. Dieses wiederum hat zur Konsequenz, dass auf die E-Health-Anbieter die standesrechtlichen Regelungen des Patientengeheimnisses grundsätzlich keine Anwendung finden. Besonders von E-Health-Anwendungen, die von einem Arzt im Behandlungskontext eingesetzt werden, die Daten des Patienten speichern und an „Dritte“, die nicht an der Behandlung beteiligt sind offenbaren, geht die Gefahr aus, dass hierdurch der behandelnde Arzt das Patientengeheimnis verletzt. Auch bei Sachverhalten, in denen „datenhungrige“ Apps, die sich ein Arzt auf sein dienstliches Smartphone installiert hat und die aufgrund der ihnen erteilten Berechtigungen auf sensible Gesundheitsdaten zugreifen können, liegt ein Verstoß gegen die ärztliche Verschwiegenheitspflicht und das (Gesundheits-)Datenschutzrecht nahe. 5.2 (Gesundheits-)Datenschutzrecht Eng mit der vorstehend beschriebenen ärztlichen Verschwiegenheitspflicht im Zusammenhang steht das (Gesundheits-)Datenschutzrecht. Wie angedeutet, ist der Datenschutz anders als die ärztliche Verschwiegenheitspflicht nicht ausschließlich auf das Arzt-Patientenverhältnis beschränkt. Vielmehr geht er in seinem Regelungsbereich weit über dieses Verhältnis hinaus. Das Datenschutzrecht ist die Ausprägung des grundrechtlich gewährleisteten Schutzes auf informationelle Selbstbestimmung, den das BVerfG u. a. im „Volkszählungsurteil“ aus dem Jahr 1983 entwickelt hat. Das Datenschutzrecht soll den Bürger davor schützen, dass er durch die (fremde) Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten in seiner Persönlichkeit beeinträchtigt wird. Personenbezogene Daten sind definiert als Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person, oftmals auch als „Betroffener“ bezeichnet (vgl. § 3 Abs. 1 BDSG). Mithin kommt es für die Anwendbarkeit des Datenschutzrechts entscheidend darauf an, dass die Daten personenbezogen bzw. personenbeziehbar sind. Wie die vorherigen Ausführungen aufzeigen sollten, ist es in der Praxis jedoch oftmals sehr schwierig zu entscheiden, ob ein Datum personenbezogen ist oder nicht. Besonders bei technisch hoch komplexen E-Health-Sachverhalten ist es alles andere als einfach im Einzelfall zu entscheiden, ob, und wenn ja, welche datenschutzrechtlichen Regelungen auf die Datenverarbeitung angewendet werden müssen. Das Datenschutzrecht betrifft „unjuristisch“ ausgedrückt das Verhältnis zwischen dem Betroffenen als „Inhaber“ der Daten und demjenigen, der die Daten des Betroffenen erhalten hat und aus welchen Gründen auch immer (weiter) verarbeiten will, die „Verantwortliche Stelle“. Verantwortliche Stelle ist dem Gesetzeswortlaut folgend, jede Person oder Stelle, die personenbezogene Daten (eines Betroffenen) für sich selbst 318 G. Spyra erhebt, verarbeitet oder nutzt oder dies durch andere im Auftrag vornehmen lässt (vgl. § 3 Abs. 7 BDSG). Mithin ist verantwortliche Stelle die Person oder Institution, die die Datenverarbeitung steuern kann, bzw. über die Art und Weise/die Mittel der Datenverarbeitung entscheidet („Herr“ über die Daten bzw. die Datenverarbeitung). In einem Zwei„Personenverhältnis“ (Betroffener und verantwortliche Stelle) ist es noch relativ einfach möglich, zu entscheiden, wer für die Datenverarbeitung der Betroffenendaten verantwortlich ist. Komplizierter wird es jedoch, wenn mehrere Personen bzw. Institutionen an der Datenverarbeitung beteiligt sind, bzw. die ursprünglich verantwortliche Stelle, personenbezogene Daten an andere Personen/Institutionen „weitergibt“. Gerade bei komplexen E-Health-Anwendungen, bei denen unterschiedlichste Daten an die unterschiedlichsten Protagonisten übermittelt bzw. ausgetauscht werden, fällt es deshalb oftmals schwer zu entscheiden, wer in diesen Fällen die verantwortliche Stelle bzw. die verantwortlichen Stellen für diese Daten sind. Um diesbezüglich eine sachgerechte Lösung zu finden, ist es essenziell durch die Analyse der technischen und organisatorischen Umstände des vorliegenden Einzelsachverhalts zu entscheiden, wer die Daten, für wen verarbeitet und inwiefern der ursprünglich Verantwortliche auf die Datenverarbeitung (technisch und organisatorisch) noch Einfluss nehmen kann. Von einer Einflussnahmemöglichkeit der ursprünglichen verantwortlichen Stelle dürfte beispielsweise ausgegangen werden können, wenn der ursprünglich für die Datenverarbeitung Verantwortliche, durch Weisungen der anderen Stelle klar vorgeben kann, wie sie „seine“ Daten zu verarbeiten hat. Rechtlich betrachtet, würde es sich in diesem Fall um eine „Auftragsdatenverarbeitung“ handeln. Um diese Weisungsgebundenheit des anderen Teils zu manifestieren, ist die verantwortliche Stelle verpflichtet, mit dem Empfänger der Daten, bzw. mit demjenigen, der auf die Daten zugreifen kann, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen (vgl. § 11 BDSG). Dieser Vertrag muss zwingend die vom Gesetz vorgegebenen Anforderungen in Bezug auf die jeweilige Datenverarbeitung konkret abbilden. Mithin gilt es durch diesen gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Vertrag, die Datenherrschaft der verantwortlichen Stelle und die Weisungsgebundenheit des Empfängers, hinsichtlich der Datenverarbeitung für die verantwortliche Stelle vertraglich zu manifestieren. Kann der ursprünglich Verantwortliche auf die externe Verarbeitung der ihm anvertrauten Daten keinen oder nur einen geringen Einfluss ausüben, dürfte in diesem Fall eine „Funktionsübertragung“ bzw. eine Datenübermittlung an einen Dritten vorliegen. An eine solche Übermittlung werden von Gesetzes wegen hohe Anforderungen gestellt. Dieses insbesondere deshalb, weil angenommen werden kann, dass sich die Daten durch die Übermittlung an einen externen Dritten, immer mehr aus dem Einflussbereich der (ursprünglich) verantwortlichen Stelle entfernen. Ein Betroffener kann in diesen Fällen praktisch immer schwieriger seine ihm zustehenden Rechte ausüben. Um eine gerechte Verteilung der Verantwortlichkeiten vorzunehmen, wird deshalb der Dritte, der die Daten von der ursprünglichen Stelle erhält, qua Gesetzes zu einer weiteren Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 319 verantwortlichen Stelle. Mithin treffen ihn die gleichen Rechte und Pflichten zum Schutz der Betroffenendaten, wie die ursprünglich verantwortliche Stelle! Die Übermittlung von Gesundheitsdaten z. B. bei E-Health, ist aufgrund ihrer Sensibilität nur unter strengen Auflagen möglich. Weil Gesundheitsdaten immanent sind, dass von ihnen ein hohes Risiko für den Betroffenen ausgeht, gilt es deshalb im Prinzip die gleichen Anforderungen wie beim Patientengeheimnis zu erfüllen (vgl. § 28 Abs. 6 BDSG). Das Datenschutzrecht ist maßgeblich dominiert von sechs Prinzipien, die u. a. schon im „Volkszählungsurteil“ vom BVerfG (BVerfGE 65,1) aufgestellt und im Laufe der Zeit immer weiter konkretisiert wurden. Jede Verarbeitung personenbezogener Daten muss sich deshalb an diesen Kriterien messen lassen bzw. diese erfüllen. So gilt im Datenschutzrecht die Besonderheit, dass eine Datenverarbeitung grundsätzlich nur aufgrund einer Legitimation durch eine Rechtsvorschrift oder einer wirksamen Einwilligung des Betroffenen möglich ist (Prinzip des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt). Die Datenverarbeitung darf immer nur zu einem (oder mehreren) bestimmten und legitimen Zweck(en) erfolgen (Prinzip der Zweckbindung). Bei der Datenverarbeitung sollten immer nur so viele Daten verarbeitet werden, wie für die Erreichung des Zwecks nötig sind (Prinzip der Datenvermeidung und Datensparsamkeit). Ferner ist es notwendig, dass die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten durch die verantwortliche Stelle für den Betroffenen transparent ist. Der Betroffene muss deshalb immer die Möglichkeit haben, sich über die Datenverarbeitung bei der verantwortlichen Stelle zu informieren (Prinzip der Transparenz). Maßnahmen mit Bezug zum Datenschutzrecht müssen immer verhältnismäßig sein (Prinzip der Verhältnismäßigkeit). Das bedeutet, dass diese immer geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen, den beabsichtigten (legitimen) Zweck zu erreichen. Bei einer Datenverarbeitung müssen die Interessen aller Beteiligten in einem ausreichenden Maße berücksichtigt werden. Oftmals ist es hierfür notwendig, die jeweiligen Interessen gegeneinander abzuwägen. Eine Verarbeitung von personenbezogenen Daten des Betroffenen hat deshalb grundsätzlich zu unterbleiben, wenn die Interessen des Betroffenen am Schutz seiner Daten, die Interessen der verantwortlichen Stelle an der Datenverarbeitung maßgeblich überwiegen. Um personenbezogene Daten von Betroffenen ausreichend zu schützen, sind erforderliche technische und organisatorische Maßnahmen von der für die Datenverarbeitung verantwortlichen Stelle zu treffen (ausreichende Datensicherheit). Die Erforderlichkeit der Maßnahmen orientiert sich hierbei u. a. an der Schutzbedürftigkeit der zu verarbeitenden Daten und den Umständen des Einzelsachverhalts! Bei datenschutzrelevanten E-Health-Sachverhalten besteht wie vorstehend angedeutet eine große Schwierigkeit darin, die jeweils einschlägigen gesetzlichen Vorschriften zu finden und diese auf den konkreten Einzelfall anzuwenden. Dabei gilt es theoretisch 320 G. Spyra für jede (relevante) Funktionalität/Kommunikation eine eigenständige rechtliche Bewertung vorzunehmen und dabei die technische/organisatorische Realität anhand der rechtlichen Vorgaben zu messen. Gerade weil bei E-Health unterschiedlichste Dienste auch über das Internet angeboten werden, gilt es insbesondere zu bewerten, ob es sich beim jeweils angebotenen Dienst um einen „Telekommunikationsdienst“ oder einen „Telemediendienst“ handelt. Diese Unterscheidung ist insbesondere deshalb essenziell, weil wie vorstehend angesprochen, bei der Nutzung der entsprechenden Dienste unterschiedliche Daten anfallen, für die es unterschiedliche (exklusive) Vorschriften gibt. Diese Vorschriften gehen aufgrund ihrer Spezialität den allgemeinen Vorschriften in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich vor. Kommt man etwa zum Ergebnis, dass es sich bei einer Funktion/Service einer E-Health-Anwendung um einen Telekommunikationsdienst handelt, bemisst sich die Frage, wie mit den entsprechenden (Verkehrs- und Bestands-) Daten umgegangen werden muss, maßgeblich nach den Vorschriften des 7. Abschnitts (§§ 88–115) des Telekommunikationsgesetzes (TKG). Handelt es sich bei der jeweiligen Funktion/den Dienst der E-Health-Anwendung um einen Telemediendienst, müssen vorrangig die datenschutzrechtlichen Regelungen des Telemediengesetzes (TMG) und hierbei insbesondere die des Abschnitts 4 (§§ 11–15a) beachtet werden. Eine klare und eindeutige Abgrenzung zwischen Telemedien- und Telekommunikationsdienst gestaltet sich jedoch aufgrund der teilweise fließenden Übergänge oftmals sehr kompliziert. Die gängigste Methode, einen Telemedien- von einem Telekommunikationsdienst abzugrenzen, ist, die Nutzungsweise bzw. Nutzungsform des jeweiligen Dienstes zu betrachten. Bei Telemediendiensten steht die konkrete Nutzung eines Inhaltedienstes bzw. die Informationsbeschaffung durch den Nutzer und die Interaktion mit anderen Nutzern im Fokus. Daher sind Webseiten, Apps usw. regelmäßig als Telemediendienste zu qualifizieren. Bei Telekommunikationsdiensten hingegen kommt es weniger auf die Informationsbeschaffung/die konkrete Nutzung bzw. Ausgestaltung eines Dienstes an. Vielmehr steht hierbei primär die Datenübertragungsform bzw. der Übertragungsweg im Fokus der Nutzung. Beispiele für Telekommunikationsdienste sind z. B. Telefon, SMS, E-Mail oder die Zugangsverschaffung zum „Internet“ oder möglicherweise auch die Daten, die durch die Nutzung der Telematikinfrastruktur entstehen. Nach Kategorisierung der entsprechenden Dienste gilt es in einem nächsten Schritt zu identifizieren, welche Daten, wie bzw. zu welchen Zwecken verarbeitet werden sollen. Hierbei gilt es, u. a. weil die einschlägigen Regelungen für unterschiedliche Datenarten und -zwecke, unterschiedliche Legitimationsgrundlagen beinhalten, zwischen Nutzungsbzw. Verkehrs-, Bestands- und Inhaltsdaten streng zu unterscheiden. Für die „Inhaltsdaten“ gelten wie vorstehend angesprochen die Regelungen des TMG oder TKG nur mittelbar. Dieses insbesondere deshalb, weil die in diesen Gesetzen enthaltenen Regelungen zwar den Inhalt schützen sollen. Für den Schutz des eigentlichen Inhalts (die Information) selber, enthalten sie jedoch keine eigenständigen Regelungen. Vielmehr ist die Verarbeitung dieser Daten an den „allgemeinen“ Regelungen des BDSG, Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 321 oder den landesrechtlichen Datenschutzregelungen zu messen. Ob für Inhaltsdaten eine bundes- oder eine landesrechtliche Datenschutzvorschrift zur Anwendung kommt, bemisst sich grundsätzlich, von einigen Ausnahmen abgesehen danach, ob es sich bei der verantwortlichen Stelle um eine private Person/Institution oder Bundesbehörde (dann gelten die bundesrechtlichen Vorschriften) oder um eine öffentliche (Landes-)Stelle/Landesbehörde bzw. Stelle in Landesträgerschaft handelt. Damit Bestands- oder Nutzungsdaten nicht plötzlich zu Inhaltsdaten werden, sehen die Gesetze dem Zweckbindungsgrundsatz folgend, eine strenge Zweckbindung der Daten vor! So dürfen nach dem TKG z. B. die Verkehrsdaten grundsätzlich nur zu Abrechnungszwecken oder zur Aufrechterhaltung des Dienstes genutzt werden. Eine abweichende Nutzung ist deshalb, wenn keine andere gesetzliche Legitimation existiert und der Betroffene nicht wirksam eingewilligt hat, dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt folgend, nicht zulässig! Wie dargestellt, dürften alle der bei E-Health zu verarbeitenden Daten, wenn sie einen Personenbezug aufweisen, als Gesundheitsdaten und damit als besonders schützenswerte Daten zu kategorisieren sein. Die Vorschriften zur Verarbeitung von Gesundheitsdaten sind aufgrund der Sensibilität, die von Gesundheitsdaten ausgeht, mit denen des Patientengeheimnisses vergleichbar. Dieses belegen beispielsweise die Vorschriften von § 28 Abs. 6–8 BDSG, in denen sogar teilweise auf die Regelungen der „Geheimhaltung“ verwiesen wird. Gerade im Bereich „Gesundheitsdatenschutz“ existiert ein vielfach unüberschaubarer Dschungel an gesetzlichen Vorschriften, die die jeweiligen Verantwortlichen im Einzelfall beachten müssen. Das Komplizierte hieran ist, dass sich die einschlägigen Regelungen zum Teil verstreut in den unterschiedlichsten Gesetzen befinden. Aus diesem Grund fällt es oftmals auch schwer, das Verhältnis dieser Vorschriften untereinander entsprechend zu würdigen. So verdrängt vielfach eine speziellere Regelung eine allgemeinere aufgrund ihrer Spezialität. Es kommt jedoch oftmals auch vor, dass die eigentlich speziellere Vorschrift einen bestimmten Sachverhalt nicht abschließend regelt. In diesem Fall kommt dann doch wieder die allgemeinere Vorschrift zur Anwendung. Daher gilt als Faustregel, zunächst immer die speziellste Regelung zu suchen und zu prüfen, ob diese den Sachverhalt abschließend regelt. Falls dieses nicht der Fall sein sollte, gilt es, die allgemeineren Regeln heranzuziehen, um den Einzelsachverhalt entsprechend zu würdigen. Auch die geplante EU-Datenschutzverordnung wird nach Ansicht des Verfassers bezüglich des „Gesetzesdschungels“ im Bereich Gesundheitsdatenschutz keine abschließende Klarheit bringen. Dieses insbesondere deshalb, weil absehbar ist, dass diese Verordnung für die Verarbeitung von (besonderen) Gesundheitsdaten zunächst nur einen groben Rahmen vorgibt. Einzelne spezielle nationale Regelungen zum Schutz von Gesundheitsdaten sollen aber, wie ein Blick in Art. 81 der geplanten Verordnung zeigt, weiterhin zur Anwendung kommen können (Spyra 2015b). Alle Datenschutzgesetze verfolgen einen präventiven Ansatz zum Schutz von Daten des Betroffenen. Wie die vorstehenden Ausführungen auch deutlich machen sollten, stoßen die einschlägigen Regelungen bei komplexeren, technisch anspruchsvollen und sogar international geprägten E-Health-Sachverhalten, jedoch schnell an ihre Grenzen. 322 G. Spyra Weil wie vorstehend dargestellt, viele der bei E-Health eingesetzten Technologien in der Lage sind, den Anbietern erhebliche, über den „medizinisch indizierten“ Kontext hinausgehende Informationen über den Betroffenen zu liefern, lassen sich diese nur schwer umfassend, im erforderlichen Maße gesetzlich regeln. Aufgrund des großen „Graubereichs“ bei der Datenverarbeitung geht deshalb mit ihrem Einsatz ein nur schwer kalkulierbares Risiko für den Betroffenen aus. Die Risiken, die bei E-Health-Anwendungen für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung drohen, sind mannigfaltig. So ist einigen E-Health-Anwendungen immanent, dass sie eine Art „Vorratsdatenspeicherung“ durchführen bzw. auf Daten zurückgreifen, die auf „Vorrat“ gespeichert wurden. Dem „Big Data“-Ansatz folgend, erachten es E-Health-Anbieter oftmals als zwingend notwendig, so viele Daten wie möglich vom Nutzer zu sammeln, und gegebenenfalls mit Daten anderer Nutzer zu vergleichen. So ist bei vielen Anbietern im E-Health-Bereich ein Trend zu beobachten, immer mehr Daten des Nutzers zu speichern, bei denen der Anbieter heute jedoch noch nicht weiß, was er Morgen aus diesen Daten noch alles für weitere Informationen gewinnen kann. Weil es bei der Datenverarbeitung vieler (kommerziellen) E-Health-Angebote oftmals an einer gesetzlichen Legitimation fehlt, erlangt die Einwilligung des Betroffenen, als „Notanker“ zur Legitimation der Datenverarbeitung eine erhebliche Bedeutung. Eine Einwilligung ist jedoch immer nur dann wirksam, wenn der Einwilligende seine Einwilligung freiwillig erteilt und dieses in voller Kenntnis der Umstände und Folgen, die mit seiner Einwilligung verbunden sind, geschieht (informierte Einwilligung). Gerade bei komplexen E-Health-Sachverhalten, in denen kommerzielle Interessen der Anbieter im Vordergrund stehen, weiß der Betroffene jedoch oftmals nicht, wie weit die von ihm erteilte Einwilligung reicht bzw. welche Konsequenzen hiermit verbunden sind. Vielfach lassen ihn die Dienstanbieter auch diesbezüglich im Unklaren. Die bei E-Health-Anwendungen verwendete IT, verbunden mit der ihnen immanenten Datenverarbeitungskomplexität, steht darüber hinaus oftmals konträr zu dem gerade für den Datenschutz und der Informationssicherheit wichtigen Prinzip der Transparenz. So lässt sich bei etlichen dieser Anwendungen und Geräten feststellen, dass sie permanent Datenübertragungen an nationale/internationale Institutionen/Organisationen vornehmen. Mit jeder Übermittlung an die entsprechenden Personen/Organisationen wächst gleichzeitig die Zahl der für den Schutz der Daten verantwortlichen Stellen. Dieses hat zur Konsequenz, dass mit Zunahme der Zahl der Verantwortlichen, gleichzeitig die Intransparenz der Datenverarbeitung steigt. Denn je mehr Stellen die Daten des Betroffenen erhalten, umso schwieriger wird es, abzuschätzen bzw. zu überprüfen, ob diese auch tatsächlich die sensiblen Daten ordnungsgemäß, entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit verarbeiten. Eng damit in Zusammenhang steht das Problem, dass je mehr Beteiligte es bei einer Datenverarbeitung gibt, umso unklarer werden die Verantwortlichkeiten für den Schutz der Betroffenendaten. Mithin geht mit der Intransparenz der Datenverarbeitung immer auch die Gefahr des Verlustes der Eigenkontrolle über die eigenen Daten einher. Dieses wiederum hat zur Konsequenz, dass auch der Widerruf einer (vermeintlich) erteilten Einwilligung des Betroffenen, der die Löschung oder zumindest die restriktive Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 323 Handhabung aller seiner Daten bei sämtlichen Stellen, die seine Daten gespeichert zur Konsequenz haben müsste, als wenig aussichtsreich erscheint. Um die Risiken, die den Daten des Betroffenen drohen zu minimieren, sehen die einschlägigen Gesetze den Prinzipien der Datenvermeidung und Datensparsamkeit folgend vor, die (Gesundheits-)Daten zu pseudonymisieren bzw. zu anonymisieren. Das hiermit verfolgte Ziel ist, die Daten des Betroffenen so zu „modifizieren“, dass die Gefahr der (Re-)Identifizierung möglichst ausgeschlossen wird. Oder anders gesagt: Durch diese Modifikation soll die Information des Personenbezugs aus den Daten (mehr oder weniger) „gelöscht“ werden. Doch gerade bei dieser gesetzlichen Forderung sollte man sich die Frage stellen, ob es heutzutage überhaupt noch möglich sein kann, die vorhandenen Daten eines Nutzers so zu modifizieren, dass eine Identifikation bzw. Zuordnung dieser Daten zur entsprechenden Person nicht mehr möglich ist. Dieses insbesondere deshalb, weil vor dem Hintergrund der bereits heute schon gespeicherten Masse an unterschiedlichsten und „verdichteten“ (Meta-)Daten, es ziemlich unwahrscheinlich erscheint, sämtliche Daten so zu modifizieren, dass ein Personenbezug nicht mehr herstellbar ist. Weil etwa ein Smartphone bzw. die auf dem Smartphone verwendeten Apps den Betroffenen auf Schritt und Tritt „überwachen“ bzw. Betroffene auf sozialen Netzwerken ihren täglichen Tagesablauf, ihre Gedanken, Bedürfnisse usw. (identifizierende Daten) der „Welt“ oftmals minutiös mitteilen, ist es oftmals ohne große Anstrengungen betreiben zu müssen möglich, mittels dieser Daten in Verbindung mit den ano- bzw. pseudonymisierten Daten den Betroffenen eindeutig zu (re-)identifizieren. Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass gerade im Bereich E-Health, aufgrund der vielfach vorhandenen Komplexität und Intransparenz bei der Datenverarbeitung teilweise erhebliche, schwer kalkulierbare Risiken für den Datenschutz bestehen bzw. entstehen (werden). So desillusionierend es auch klingen mag. Aber aufgrund der Komplexität und der Intransparenz der Datenverarbeitung bleibt vielen Nutzern von E-Health-Anwendungen bzw. den Betroffenen deshalb (derzeit) nichts Anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass die für den Schutz der Daten Verantwortlichen verantwortungsbewusst mit ihren Daten umgehen und diese entsprechend schützen. Die Notwendigkeit zum Schutz von Daten bei E-Health ergibt sich jedoch nicht nur aus dem Datenschutzrecht. Diese Notwendigkeit lässt sich ferner auch aus dem Medizinprodukterecht ableiten. 5.3 Das Medizinprodukterecht Der Schutz von Patientendaten und der eingesetzten IT-Systeme lässt sich, falls es sich bei der datenverarbeitenden IT um Medizinprodukte handelt, prinzipiell auch aus dem Medizinprodukterecht herleiten. Medizinprodukte sind grob gesagt all die Produkte, die dazu bestimmt sind, die Behandlung, die Überwachung des Gesundheitszustands usw. eines Patienten/einer Person vorzunehmen (zur genauen Definition von 324 G. Spyra Medizinprodukten siehe § 3 Abs. 1 MPG). Medizinprodukte werden der gesetzlichen Intention folgend immer dann zu Medizinprodukten, wenn der Hersteller ihnen diese entsprechende Zweckbestimmung gibt. Medizinprodukte zeichnet aus, dass sie sicher sein müssen. Es dürfen deshalb keine bzw. nur beherrschbare Risiken für die Gesundheit/das Leben des Patienten oder Dritten von diesem Produkt ausgehen. Weil jedoch gerade bei Medizinprodukten immer mehr IT (Hard und Software) bzw. digitale Datenverarbeitung eingesetzt wird, ist die vom Gesetz geforderte „Sicherheit“ nicht mehr nur auf die ordnungsgemäße Funktionsfähigkeit (Safety) beschränkt. Vielmehr rückt auch immer mehr auch die Gewährleistung von Informationssicherheit (Security) in den Fokus (Spyra 2015c, S. 15 ff.). Vernetzte Medizinprodukte und IT-Systeme bilden mit den von ihnen erzeugten und abgespeicherten Patientendaten vermehrt die Grundlage für die Patientenbehandlung. Es wird deshalb zunehmend immer wichtiger diese Daten zu schützen, um die Sicherheit bzw. die körperliche Unversehrtheit des Patienten, nicht zu gefährden. So ist es nämlich durchaus möglich, dass es beispielsweise aufgrund von „fehlerhaften/veränderten“ Patientendaten oder nicht ordnungsgemäß funktionierender IT zu einer „falschen“ Behandlung wie z. B. einer falsch bemessenen Dosierung von Medikamenten für den Patienten kommen kann. Eine falsche Dosierung, die ein Arzt nicht erkennt, kann zu einem (körperlichen) Schaden eines Patienten führen. Darüber hinaus existiert gerade im Bereich E-Health-Anwendungen eine „Stolperfalle“ für professionelle Betreiber/Anwender, die nicht unterschätzt werden sollte. Denn gerade im E-Health-Bereich existieren Anwendungen, die zwar von ihrer Funktionalität her durchaus als Medizinprodukte angesehen werden können, jedoch vom entsprechenden Hersteller/Anbieter nicht als solche bezeichnet wurden bzw. er diesen keine Zweckbestimmung als Medizinprodukt zugewiesen hat. Weil jedoch die Zweckbestimmung Dreh- und Angelpunkt für eine korrekte rechtliche Einordnung des Produkts ist, müssen sich Betreiber/Anwender eines solchen Produkts, insbesondere um nicht in etwaige Haftungsproblematiken zu geraten, mit der Zweckbestimmung des jeweiligen Produkts genau auseinanderzusetzen. Setzt der Betreiber/Anwender das Nicht-Produkt wie ein Medizinprodukt ein, kann dieses zur Konsequenz haben, dass derjenige, der das Produkt „zweckwidrig“ einsetzt, eine sogenannte Eigenherstellung durchführt. Mit einer Eigenherstellung geht einher, dass der Eigenhersteller die volle (Haftungs-)Verantwortlichkeit für dieses Produkt übernimmt. Aus diesem Grunde sollten die (professionellen) Betreiber/Anwender von E-Health-Anwendungen sich vorher ganz genau überlegen, was sie für ein Produkt einsetzen und wie es beschaffen sein soll. In keinem Fall sollten sie dieses Produkt aber zu Zwecken einsetzen, zu denen es nicht bestimmt ist. Um die jeweiligen Daten(-arten) entsprechend zu schützen, sehen einige Gesetze vor, dass die für den Schutz der Daten Verantwortlichen die entsprechend erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen treffen müssen (IT-Sicherheit). Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 325 5.4 Gesetzliche Vorgaben zur Informations-/Datensicherheit Wie deutlich werden sollte, ist es gerade auch für E-Health-Anwendungen essenziell, dass diese Daten sicher verarbeiten. Mithin gilt es bei E-Health-Anwendungen die Vertraulichkeit, die Integrität und die Verfügbarkeit der zu verarbeitenden Daten zu schützen. Aus diesem Grund ist es nur konsequent, dass der Informations-/Daten- und IT-Sicherheit5 (im Nachfolgenden zusammenfassend als IT-Sicherheit bezeichnet) zunehmend eine immer größere Bedeutung zukommt. Beschäftigt man sich intensiver mit den einschlägigen gesetzlichen Regelungen fällt auf, dass es gerade im Bereich der IT-Sicherheit an konkreten Vorgaben zur Umsetzung im Einzelfall fehlt. Dieses ist auch wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Recht grundsätzlich immer nur einen Rahmen festlegen kann, in dem sich die jeweils zu treffenden Maßnahmen im Einzelfall orientieren müssen. Aus diesem Grund sind die wenigen, in den jeweiligen Gesetzen zu findenden Anforderungen eher technologieneutral und allgemein formuliert. Diese gesetzlich gewählte Vorgehensweise ist insbesondere deshalb notwendig, um dem Gedanken „aktueller Stand der Technik“ Rechnung zu tragen. So wäre es beispielsweise wenig zielführend, wenn ein Gesetz vorschreiben würde, dass entsprechende Daten mit dem Standard XYZ zu verschlüsseln sind. Da nämlich die anerkannte Sicherheit eines Standards innerhalb eines Tages von „sicher“ in „unsicher“ wechseln kann, ist es nur konsequent, dass der Gesetzgeber nur einen groben Rahmen festlegt und hinsichtlich der zu treffenden (Schutz-)Maßnahmen auf den geltenden bzw. aktuellen „Stand der Technik“ abstellt. Dass IT-Sicherheit bisher nur wenig bzw. rudimentär in den gesetzlichen Regelungen berücksichtigt wurde, wird durch einen Blick in die einschlägigen Gesetze schnell deutlich. Die praktisch einzigen gesetzlichen Vorgaben, die schon seit langer Zeit dieses Gebiet direkt adressierten, kamen aus dem Bereich Datenschutz. So sieht z. B. das BDSG in seiner Anlage zu § 9 einen Katalog von „Kontrollen“ technischer und organisatorischer (IT-Sicherheits-)Maßnahmen vor, die die jeweils verantwortliche Stelle zu beachten hat. Die Verpflichtung zum Treffen der entsprechenden erforderlichen Maßnahmen findet sich in § 9 BDSG. Zu den „gesetzlichen Regelungen die IT-Sicherheit“ betreffend, zählt neuerdings auch das IT-Sicherheitsgesetz (IT-SiG). Dieses „Gesetz“ ist jedoch kein eigenständiges Gesetz, sondern ein sogenanntes Artikelgesetz. Es modifiziert und ergänzt bestehende Gesetze wie das TMG, das TKG, das BSIG usw. Es soll besonders für die „Kritischen Infrastrukturen“ (KRITIS) bzw. für die Infrastrukturen, die für die Daseinsvorsorge essenziell sind, die notwendigen Rahmenbedingungen hinsichtlich der IT-Sicherheit schaffen. Da viele E-Health-Anwendungen von diesem „Gesetz“ betroffen sind, sollte man sich als Anbieter aber auch als Betreiber intensiv mit den neuen Forderungen des 5Ein Abgrenzungsversuch dieser drei Begriffe findet sich unter https://de.wikipedia.org/wiki/Infor mationssicherheit#Begriffsdefinitionen_zur_Thematik_IT-Sicherheit. 326 G. Spyra IT-SiG vertraut machen. Auch das E-Health-Gesetz wird einige Rahmenbedingungen zur IT-Sicherheit für die auch von E-Health-Anwendungen genutzte Telematikinfrastruktur bereithalten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Beachtung von IT-Sicherheit immer essenzieller wird, je mehr man sich auf die vernetzte Datenverarbeitung verlässt. Wie jedoch u. a. die „Hacks“ prominenter Einrichtungen (s. Zeit online 2015) deutlich machen, können die heutzutage eingesetzten IT-Komponenten und die damit in Verbindung stehenden IT-Sicherheitskonzepte oftmals keine ausreichende Sicherheit für Daten gewährleisten. Gerade weil die eingesetzten Hard- und Softwarekomponenten teilweise erhebliche „Fehler“ beinhalten, sind diese angreifbar. Die „Fehler“ in der Hard- und Software sind vielfach das Ergebnis einer mangelhaften Programmierung oder der Implementierung von Sicherheitsfunktionalitäten wie etwa „Verschlüsselung“. Oftmals haben Hersteller auch bewusst „Backdoors“ in die Soft-, Hard- und Firmware eingebaut, mit denen sie sich oder auch Regierungseinrichtungen unerkannt durch die „Hintertür“, Zugang zu den Systemen und den auf diesen Systemen befindlichen Daten verschaffen können6. Die heute existierenden Abwehr- und Erkennungsmechanismen sind zumeist gegen die neuartigen, häufig sehr subtil durchgeführten Angriffe (oftmals auch als Advanced Persistend Threats = APT bezeichnet) machtlos und können sie vielfach nicht identifizieren, geschweige denn verhindern7. Eng in diesem Zusammenhang steht die Problematik, dass bei E-Health zunehmend auf „Consumer-Produkte“ zurückgegriffen wird. So kommen beispielsweise immer mehr handelsübliche Smartphones mit den entsprechenden Apps oder „intelligente Armbanduhren“ (Wearables) zum Einsatz. Problematisch dabei ist jedoch, dass sie, u. a. aufgrund der ihnen immanenten Intransparenz der Datenverarbeitung, einhergehend mit der mangelnden Produktsicherheit, grundsätzlich nicht dazu geeignet sind, diese sensible Aufgabe ordnungsgemäß, im Sinne des Nutzers, wahrzunehmen. So weist etwa eine große Anzahl der am Markt erhältlichen „Wearables“ teilweise erhebliche Sicherheitsschwachstellen auf (Security week 2015). Weil der IT-Sicherheit in vielen Organisationen noch immer eine eher untergeordnete Stellung zukommt, ist ferner zu beobachten, dass die zur Datenverarbeitung genutzte Infrastruktur oftmals nur unzureichend abgesichert ist. So fehlen bei etlichen E-HealthAnbietern vielfach entsprechende Rollen und Berechtigungskonzepte, entsprechende Zugriffskontrollen und sonstige dringend erforderliche technische und organisatorische Maßnahmen zum Schutz der Daten. Ferner lässt sich beobachten, dass ein unterschiedliches Sicherheitsniveau und Sicherheitsbewusstsein, bei den unterschiedlichen an E-Health beteiligten Protagonisten 6Eine kleine Auswahl von Hintertüren in (proprietärer) Soft- und Hardware findet sich auf: http:// www.gnu.org/proprietary/proprietary-back-doors.de.html. 7Siehe hierzu bspw. http://arstechnica.com/security/2015/01/survey-says-security-products-waste-ourtime/. Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 327 existiert. So fehlt beispielsweise vielfach in kleinen Arztpraxen das bei Forschungseinrichtungen eher ausgeprägte Sicherheitsniveau und Sicherheitsbewusstsein für die (digitale) Verarbeitung sensibler Daten. Durch die zunehmende Vernetzung und der exzessiven Zugriffsberechtigungen, ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass z. B. ein „Hack“ einer kleinen Arztpraxis weitreichende Auswirkungen auf Netze und Stellen haben kann, denen eine gute Sicherheit attestiert wurde. Besonders im Gesundheitswesen ist zunehmend ein Trend zum „Outsourcen“ der Gesundheitsdatenverarbeitung zu beobachten. Mit dem Outsourcen der Datenverarbeitung z. B. in eine „Cloud“ gehen jedoch mannigfaltige Risiken für die Informationssicherheit einher, die man als Anbieter oder Anwender nicht unbeachtet lassen sollte8. 6 Die Lösungsansätze Wie vorstehend dargestellt, existieren bei vielen E-Health-Anwendungen teils mannigfaltige Risiken für die Daten des Betroffenen, die aus den unterschiedlichsten rechtlichen Bereichen stammen. Diese Risiken lassen sich mehr oder weniger alle auf die stetig zunehmende Komplexität und Intransparenz der Datenverarbeitung bei E-Health zurückführen. In Konsequenz gilt es deshalb, um die Risiken beherrschbar zu halten, Lösungen zu finden, die der Komplexität und Intransparenz bei E-Health-Anwendungen ausreichend Rechnung tragen. An dieser Stelle sei nochmals betont, dass es aufgrund der unterschiedlich gelagerten Sachverhalte keine Universallösung für all die vorstehend dargestellten E-HealthAnwendungen einhergehend mit den skizzierten Risiken im Bereich „Schutz von Daten“ geben kann! Dieser Erkenntnis folgend, ist es deshalb nach Ansicht des Verfassers zunächst notwendig, für die bei E-Health zu verarbeitenden Daten aufgrund der mannigfaltigen Risiken, ein hohes, einheitliches (gesetzliches) Grundschutzniveau zu schaffen, das der Sensibilität dieser Daten und der den E-Health-Anwendungen immanenten Komplexität ausreichend Rechnung trägt. Bei alledem besteht die größte Herausforderung darin zu verhindern, dass aufgrund zu hoher rechtlicher Hürden sinnvolle E-HealthAnwendungen nicht mehr umsetzbar bzw. einsetzbar sind. Vielmehr muss bei all den Bestrebungen um den Schutz von Daten erreicht werden, dass sinnvolle und notwendige E-Health-Anwendungen möglich bleiben und den Betroffenen auch zugutekommen können, ohne dabei aber den Schutz der Betroffenendaten zu vernachlässigen. Um eine „gerechte“ Lösung zu finden, gilt es daher, wie es ja eigentlich auch die Intention des Datenschutzes bzw. des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist, die Interessen der maßgeblich an E-Health Beteiligten praxisorientiert zu würdigen und 8Eine kleine Auswahl an Sicherheitsrisiken beim Cloud Computing findet sich auf: http://www. computerwoche.de/a/ratgeber-it-sicherheit,2363872,2. 328 G. Spyra gegeneinander abzuwägen. Bei all den Beteiligten und ihrer vielfach unterschiedlich gelagerten Interessen sollten dabei schwerpunktmäßig die Interessen des Betroffenen/ Patienten im Fokus behalten werden. Dieses insbesondere deshalb, weil die Betroffenen/ Patienten diejenigen sind, denen E-Health-Anwendungen primär zugutekommen sollen. Weil grundsätzlich nur der Gesetzgeber bzw. die (nationalen und internationalen) Gesetzgeber in der Lage sind, den Rahmen der Datenverarbeitung bei E-Health festzulegen, müssen sie sich den komplexen Sachverhalten bei E-Health-Anwendungen annehmen und diesbezüglich einheitliche bzw. ganzheitliche Lösungen finden. Bei der Schaffung neuer, bzw. der Modifikation bestehender gesetzlicher Regelungen ist es nach Ansicht des Verfassers notwendig, dass die Gesetzgeber der Tatsache, dass Daten Träger von unterschiedlichsten Informationen sind, noch weiter in ihren gesetzlichen Regelungen berücksichtigen. Weil die entsprechenden Informationen oftmals erst durch die Möglichkeit der Verknüpfung und Verarbeitung entsprechender Algorithmen offenbart werden, sollten die Gesetzgeber die der Datenverarbeitung unterliegenden Verarbeitungsalgorithmen stärker reglementieren und einer Überprüfung zugänglich machen. Um den Betroffeneninteressen Rechnung zu tragen, gilt es die Stellung der Betroffenen gegenüber den Institutionen, die ihre Daten verarbeiten sollen, zu stärken. Insbesondere gilt es (gesetzlich) klarzustellen, dass ohne die explizite, freiwillige und informierte Einwilligung der Betroffenen ihre Daten nicht zweckwidrig kommerzialisiert oder „öffentlich“ verfügbar gemacht werden dürfen. Es gilt deshalb sicherzustellen, dass die Aufklärung über die Datenverarbeitung der entsprechenden E-Health-Anwendung inklusive der jeweiligen Umstände, vollständig, ehrlich und auf den Wissens- und Erkenntnisstand der Betroffenen/Patienten zugeschnitten erfolgt. Denn nur wenn die Betroffenen wissen bzw. einschätzen können, welche Risiken für sie bzw. für ihre Daten durch die Anwendung von E-Health-Anwendungen ausgehen können, sind sie in der Lage, zu entscheiden, ob sie diese Risiken „in Kauf“ nehmen wollen oder nicht. Weil jedoch nicht immer eine vollumfassende Aufklärung des Betroffenen/Patienten möglich ist bzw. die Betroffenen aufgrund der Komplexität die Reichweite ihrer Einwilligung abschätzen können, müssen die für den Schutz der Daten Verantwortlichen alles Erforderliche unternehmen, um die Daten des Patienten adäquat zu schützen. Um den vorstehenden Forderungen entsprechenden Nachdruck zu verleihen, ist es nach Ansicht des Verfassers notwendig, die gesetzlichen Vorgaben derart zu modifizieren, dass die an E-Health Beteiligten erkennen, dass eine unbefugte Verarbeitung der sensiblen (Gesundheits-)Daten erhebliche, einschneidende Konsequenzen für sie nach sich ziehen können bzw. haben. Diesbezüglich sollten die Gesetzgeber die Sanktionsmöglichkeiten für einen missbräuchlichen Datenumgang anpassen, sodass den Verantwortlichen bzw. an der Datenverarbeitung Beteiligten deutlich wird, dass z. B. eine unbefugte Weitergabe von Daten, das (absichtliche) Verschweigen von datenschutzrelevanten Vorfällen, einschneidende zivil-, ordnungs- und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann bzw. haben. Weil drohende Sanktionen jedoch immer nur so viel Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 329 wert sind, wie sie auch tatsächlich durchgesetzt werden, müssen die entsprechenden Behörden mit den entsprechenden Ressourcen und Befugnissen ausgestattet werden, um Verstöße (auch international) feststellen und ahnden zu können. Eng damit in Zusammenhang stehend, sollten die Gesetzgeber den Risiken für die Daten des Patienten, die im Endeffekt insbesondere durch die Datenverarbeitung „datenhungriger“, unsicherer Soft- und Hardware entstehen können, Rechnung tragen. Analog zur geplanten EU-Datenschutzverordnung sollten die Gesetzgeber die Grundsätze von „Privacy und Security by Design“ gesetzlich manifestieren und dabei bewusst (anders als geplant) die Hersteller/Anbieter von Produkten mit in die Verantwortung für den Schutz von Daten nehmen. Die beliebte Ausrede, dass Software nie fehlerfrei sein kann, weil Software von Menschen entwickelt wurde und Menschen Fehler machen, darf, besonders wenn es um die Gesundheit und das Leben von Menschen geht, nicht überstrapaziert werden. Diesbezüglich kann es deshalb auch notwendig werden, die Regelungen zur Produkt- und Produzentenhaftung anzupassen. Weil wie vorstehend dargestellt bei E-Health immer mehr IT zum Einsatz kommt, u. a. die Behandelnden bzw. für den Schutz für die Daten Verantwortlichen aber oftmals aufgrund der stetig zunehmend Komplexität und Intransparenz der Datenverarbeitung mit dem Schutz von Daten überfordert sind, ist es essenziell, dass gerade in den Bereichen, in denen sensible Patientendaten verarbeitet werden, Datenschutz und Datensicherheit direkt in die eingesetzten Produkte bzw. Prozesse von den Verantwortlichen implementiert wird. Den Prinzipien von Privacy und Security by Design folgend, ist es deshalb essenziell, dass die Institutionen, die Daten verarbeiten, Datenschutz und (Daten-)Sicherheit ganzheitlich gewährleisten. Somit ist es auch zwingend erforderlich, dass die einzusetzenden Produkte „sicher“ entwickelt wurden und bei ihrer Entwicklung auch dem Datenschutz z. B. durch entsprechende „Ano- bzw. Pseudonymisierungsmöglichkeiten“ ausreichend Rechnung getragen wurde. Gerade wenn es darum geht, sichere Soft- und Hardware zu entwickeln, die Verschlüsselung nutzt, ist es unerlässlich, dass diese von unterschiedlichen und unabhängigen Stellen und Personen auditiert und getestet werden kann. Weil wie aufgezeigt auch der Staat ein nicht unerhebliches Interesse an E-Health hat, sollte er derartige Projekte entsprechend fördern. Darüber hinaus ist es wichtig, dass gerade für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten einheitliche Standards (Rahmenbedingungen) gelten bzw. festgelegt werden, inklusive der erforderlichen technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen. Die Einhaltung dieser Vorgaben muss entsprechend auditiert und überwacht werden können. Weil die Risiken für die Daten bei E-Health-Anwendungen mannigfaltig sind, sollte Dreh- und Angelpunkt bei ihrer Entwicklung und bei ihrem Einsatz ein entsprechendes Risikomanagement sein. Aufgrund der dabei ermittelten, tatsächlich drohenden Risiken, gilt es dann für die Verantwortlichen die entsprechend erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, und diese auf ihre Wirksamkeit hin in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Weil es einzelnen an E-Health Beteiligten oftmals schwerfällt, den vorstehend beschriebenen Risiken alleine zu begegnen, ist es notwendig, dass die maßgeblich 330 G. Spyra Beteiligten ihre Kompetenzen und Erfahrungen teilen und gemeinsam Lösungen entwickeln, die letztendlich immer auch den Betroffenen zugutekommen. Mithin gilt es dem derzeit zu beobachtenden Trend entgegenzuwirken, die Betroffenen und ihre Gesundheit zum (kommerziellen) Produkt zu machen. 7 Fazit Wie aufgezeigt, handelt es sich bei E-Health um einen nur schwer zu fassenden Begriff. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichsten Anwendungen, die überdies hinaus unterschiedlichste Funktionalitäten beinhalten können, ist es oftmals nur schwer möglich, diese Anwendungen eindeutig zu kategorisieren. Die wesentliche Gemeinsamkeit, die alle E-Health-Anwendungen verbindet ist, dass die Betroffenen ihre Daten teilen (müssen), damit die Anwendungen entsprechend ihrer Zweckbestimmung funktionieren. Oder mit den Worten von Dave Eggers gesprochen: „To heal we must know. To know we must share.“ (Eggers 2013, S. 150). Doch wie durch die vorstehenden Ausführungen auch deutlich werden sollte, gilt es bei all den unbestrittenermaßen vielfach sehr notwendigen und sinnvollen E-HealthAnwendungen, nie die Risiken, die mit ihrem Einsatz einhergehen, aus den Augen zu verlieren bzw. zu negieren. Dieses insbesondere deshalb, weil wir heute noch nicht wissen, was unsere Daten, wem, noch alles über uns preisgeben (werden) und welche negativen Konsequenzen für uns hieraus ergeben können. Um dem Eintritt der vorstehend skizzierten Risiken vorzubeugen, gilt es die Daten adäquat zu schützen. Wenn unsere Daten nämlich erst einmal „weg“ sind, können wir nichts mehr tun außer zu hoffen, dass sich aus diesem Datenverlust keine schwerwiegenden Folgen für uns oder unsere Mitmenschen ergeben. Mithin sollte beim Einsatz all der am Markt verfügbaren, innovativen Lösungen stets die Devise gelten, dass nicht alles was technisch möglich ist, auch eins zu eins (unreflektiert) umgesetzt bzw. durchgeführt werden sollte. Vielmehr gilt es vor dem Hintergrund der vorstehend aufgezeigten Risiken für alle der an E-Health-Beteiligten stets den „Nutzen“ mit den „Kosten“ des Einsatzes im Vorfeld abzuwägen. Dabei sollten jedoch nicht nur die „wirtschaftlichen“ bzw. ökonomischen Aspekte berücksichtigt werden. Vielfach sind einige der drohenden Risiken ökonomisch bzw. wirtschaftlich nur schwer quantifizierbar, obgleich sie aber massive persönliche/gesellschaftliche und ethische Relevanz besitzen. Wie aufgezeigt wurde, sind die Herausforderungen aus den Bereichen Datenschutz, Informationssicherheit und Patientensicherheit (Medizinproduktesicherheit) sehr komplex. Sie sind jedoch nicht unlösbar, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und gemeinsame Lösungen entwickeln würden. Dabei sollten sie primär die Interessen des Patienten im Auge behalten. Argumenten wie „Datenschutz ist nur teuer und bringt nichts“ oder „Datenschutz behindert Innovationen und damit die wirtschaftliche Der Schutz von Daten bei E-Health-Anwendungen 331 Entwicklung“ sollten nicht unreflektiert gefolgt werden. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, nicht nur zu thematisieren, was „Datenschutz“ alles verhindert, sondern sich vielmehr immer auch den Mehrwert, den der Schutz von Daten bringen kann, vor Augen zu führen. Auch wenn man es (Gesundheits-)Daten oftmals nicht immer direkt ansieht. Aber hinter den meisten dieser Daten stehen Menschen. Weil diese Daten mit der jeweiligen Person untrennbar verknüpft sind, gilt es den Daten Respekt zu zollen, um damit gleichzeitig auch der Person selber Respekt entgegen zu bringen. Gesundheitsdaten/Informationen sind vielfach etwas sehr Intimes, das man im realen Leben nur ausgewählten Personen weitererzählen würde. In Konsequenz sollten deshalb für den „Schutz von digitalen (virtuellen) Gesundheitsdaten“ mindestens die gleichen Maßstäbe angesetzt werden, die im realen Zwischenmenschlichen gelten. Dazu gehört mithin auch, dass die mit der Datenverarbeitung in Zusammenhang stehenden Umstände dem Betroffenen (Anwender/Nutzer) transparent und ehrlich kommuniziert werden. Denn erst wenn der Nutzer einer E-Health-Anwendung in die Lage versetzt wird, das Pro und Kontra des Einsatzes objektiv gegeneinander abzuwägen, ist es ihm möglich, ein persönliches Risikomanagement durchzuführen. Erst dann ist es ihm auch möglich, das so wichtige Vertrauen in E-Health-Anwendungen zu fassen. Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass nach Ansicht des Verfassers die Auflösung der Komplexität bzw. Intransparenz der Datenverarbeitung das Ziel all der Bestrebungen rund um E-Health sein muss. Daher gilt es unbedingt zu verhindern, dass die Intransparenz und Komplexität der Datenverarbeitung stetig weiter zunimmt und damit aus „E-Health“ zunehmend „E-Stealth“ wird! Literatur Deutscher Ethikrat (2010) Humanbiobanken für die Forschung. Stellungnahme. S 15. http://www. ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-humanbiobanken-fuer-die-forschung.pdf. Zugegriffen: 13. März 2016 Eggers D (2013) The circle. Vintage Books, New York, S 150 European commission (2015) http://ec.europa.eu/justice/data-protection/article-29/documentation/ other-document/files/2015/20150205_letter_art29wp_ec_health_data_after_plenary_annex_ en.pdf. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 FAZ (2013) http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/gesundheitsmarkt-medizin-im-rauschder-daten-12047668.html. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Gentest Deutschland (2016) Eine Liste, der auf dem deutschen Markt tätigen Anbieter findet sich auf. http://www.gentest-deutschland.de/. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Humer C, Finkle J (2014) Your medical record is worth more to hackers than your credit card. http:// www.reuters.com/article/2014/09/24/us-cybersecurity-hospitals-idUSKCN0HJ21I20140924. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Ockenden W (2015) What reporter Will Ockenden's metadata reveals about his life. http://www. abc.net.au/news/2015-08-24/metadata-what-you-found-will-ockenden/6703626. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 332 G. Spyra Pommerening K (2010) Personalisierte Medizin und Informationstechnologie – Aspekte des Datenschutzes. In: Niederlag W, Lemke HU, Rienhoff O (Hrsg) Personalisierte Medizin und Informationstechnologie. Health Academy, Dresden, S 86 Tokmetzis D (2014) Metadaten: Wie dein unschuldiges Smartphone fast dein ganzes Leben an den Geheimdienst übermittelt. https://netzpolitik.org/2014/metadaten-wie-dein-unschuldiges-smartphone-fast-dein-ganzes-leben-an-den-geheimdienst-uebermittelt/. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Security Week (2015) http://www.securityweek.com/all-smartwatches-vulnerable-attack-hp-study. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Spyra G (2015a) Die Herausforderungen des Schutzes von Daten bei der individualisierten Medizin. GuP 2015(2):142 Spyra G (2015b) Die geplante EU-Datenschutzverordnung und ihre Auswirkungen auf Medizinprodukte. VDE MedTech Expert 2015(1):1 Spyra G (2015c) Der Schutz von Daten bei vernetzten (Software-)Medizinprodukten aus Herstellersicht. MPR 2015(1):15 Wissenschaftliche Akademien (2014) Individualisierte Medizin – Voraussetzungen und Konsequenzen. Stellungnahme. S 72. http://www.akademienunion.de/fileadmin/redaktion/user_upload/ Publikationen/Stellungnahmen/2014_Stellungnahme_IndividualisierteMedizin.pdf. Zugegriffen: 13. März 2016 Zeit online (2015) http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2015-06/bundestags-hack-it-sicherheitdan-kaminsky. Zugegriffen: 1. Dez. 2015 Über den Autor Gerald Spyra  berät als Rechtsanwalt Konzerne, Konzernunternehmen, KMU und andere Organisationen – vornehmlich aus der Gesundheitsbranche – in rechtlichen Fragestellungen, schwerpunktmäßig im Informations- bzw. Datenschutz und im (Software-)Medizinprodukterecht. Als Gastdozent/Referent an Hochschulen, Institutionen/Organisationen, zeigt er Studierenden und Interessierten bestehende Konflikte zwischen Recht und IT auf und sensibilisiert diese für die „Macht von Daten“. Kontakt: gerald.spyra@kanzlei-spyra.de Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern Stefanie Scholz und Nils Roth 1 Einführung Das Gesundheitssystem in Deutschland steht im 21. Jahrhundert vor großen Herausforderungen. Durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft und eine mit dieser Entwicklung einhergehende Zunahme an chronischen Krankheitsverläufen wird das Gesundheitswesen zukünftig auf eine harte Probe gestellt. Der Einsatz von IKT im Gesundheitswesen, auch E-Health genannt, soll dabei behilflich sein, die Herausforderungen bewältigen zu können. Eine flächendeckende Implementierung von E-Health in das deutsche Gesundheitssystem wird zurzeit jedoch noch durch mehrere Barrieren verhindert. So müssen die Bürger und Patienten beispielsweise E-Health akzeptieren, andernfalls wird eine flächendeckende Einführung von IKT im deutschen Gesundheitswesen nicht gelingen. Da bislang wenig über die Akzeptanz und Einstellung des Endverbrauchers hinsichtlich E-Health bekannt ist, wurden diese Konstrukte empirisch untersucht. Dadurch sollte evaluiert werden, wie die Endverbraucher in Deutschland die einzelnen Anwendungsfelder von E-Health bewerten und welche Einstellungsdeterminanten deren Wahrnehmung beeinflussen. Für die Durchführung der Untersuchung erfolgte die Konzeption eines Fragebogens, der mithilfe des Technology Acceptance Models (TAM) theoretisch fundiert wurde. Neben den Items des TAM wurden zusätzliche aus dem theoretischen Teil entwickelte S. Scholz (*)  Lehrstuhl für BWL, insb. Marketing, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: Stefanie.Scholz@uni-bamberg.de N. Roth  Nürnberg, Deutschland E-Mail: NilsRoth1@gmx.net © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_18 333 334 S. Scholz und N. Roth Elemente in den Fragebogen integriert, wodurch weitere Einstellungsdeterminanten der Probanden erfasst werden konnten. Die empirische Erhebung erfolgte in einem Zeitraum von zwei Monaten, wobei eine webbasierte und eine papierbasierte Version des Fragebogens für die Befragung von Probanden zum Einsatz kamen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung haben gezeigt, dass die Studienteilnehmer die Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit der einzelnen E-Health-Anwendungsfelder zumeist neutral oder leicht positiv bewerten. Das Alter der Studienteilnehmer sowie deren Technologieaffinität spielten hinsichtlich der Bewertung dieser Faktoren meistens keine Rolle. Zudem wurde anhand der Auswertungsergebnisse ersichtlich, dass verschiedene Faktoren signifikant auf die Akzeptanz der Studienteilnehmer gegenüber den einzelnen E-Health-Anwendungen einwirken. So ist die wahrgenommene Nützlichkeit der Funktionen der E-Health-Anwendungen sowie die Sicherheit der verwendeten Technologie für die Studienteilnehmer stets von Relevanz. Auch das wahrgenommene Risiko, das von den befragten Personen mit einzelnen E-Health-Anwendungen in Verbindung gebracht wird, spielt für die Bewertung der TAM-Faktoren eine Rolle. Der Faktor der Sicherheit der Technologie sowie der Faktor des wahrgenommenen Risikos wurden hierbei durch die Studienteilnehmer zumeist eher kritisch bewertet. 2 Relevanz der Thematik Durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft und eine mit dieser Entwicklung einhergehende Zunahme an chronischen Krankheitsverläufen wird das Gesundheitswesen zukünftig vor große Herausforderungen gestellt. Das Potenzial von E-Health ist in diesem Kontext unumstritten. Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen, auch E-Health genannt, soll dabei behilflich sein, Herausforderungen wie einen zunehmenden Bedarf an intensiver Betreuung älterer, chronischer und multi-morbider Patienten abzufangen und medizinische Leistungen zukünftig effizienter anbieten zu können. E-Health kann darüber hinaus Patienten unterstützen, ihre Rechte durch eine verbesserte Informationsversorgung zu stärken, aber auch einen besseren Zugang zu neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zu ermöglichen (European Commission 2012a, S. 3). Eine flächendeckende Implementierung von E-Health in das deutsche Gesundheitssystem ist jedoch nur dann langfristig möglich, wenn neben finanziellen, technischen und juristischen Aspekten auch die Einstellungen der Verbraucher Berücksichtigung finden. So müssen die Bürger und Patienten beispielsweise E-Health akzeptieren, andernfalls wird eine flächendeckende Einführung von IKT im deutschen Gesundheitswesen nicht gelingen. Daher ist es unerlässlich, die Einstellung und Akzeptanz von Verbrauchern in Deutschland hinsichtlich E-Health zu untersuchen, um neue Versorgungsangebote und Kommunikationsmaßnahmen auf diese Bedürfnisse auszurichten. Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 335 3 Theoretische Grundlagen Der Begriff E-Health wird im Allgemeinen von politischen Institutionen, der Öffentlichkeit und der wissenschaftlichen Forschung intensiv diskutiert. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass durch den Einsatz von E-Health grundlegende Veränderungsprozesse im Gesundheitswesen erwartet werden. Aus diesem Grund existieren, abhängig vom jeweiligen Standpunkt, eine Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationsarten von E-Health, eine allgemeingültige Definition gibt es deshalb nicht (Meier et al. 2013). Des Weiteren existiert der Begriff E-Health erst seit kurzer Zeit. Erst im Jahr 2000 fand dieser das allererste Mal in medizinischer und gesundheitsökonomischer Literatur Erwähnung. Auch dies ist ein Grund dafür, weshalb es momentan noch keine präzise und eindeutige Definition des Begriffs E-Health gibt (Häckl 2010). Im Folgenden werden nun verschiedene auffällige Definitionsansätze zum Thema E-Health aufgeführt und im Anschluss diskutiert (Tab. 1): Das Bundesministerium für Gesundheit (2013) definiert den Begriff E-Health eher eingeschränkt. So wird der Fokus hauptsächlich auf den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen gesetzt. Dadurch entstehen neue Anwendungen, die eine elektronische Informationsverarbeitung und einen sicheren Datenaustausch ermöglichen, was letztlich dem Betreuungsprozess von Tab. 1  Auswahl unterschiedlicher Definitionsansätze von E-Health Bundesministerium für Gesundheit (2013, o. S.) „[…].eHealth ist ein Oberbegriff für ein breites Spektrum von IKT-gestützten Anwendungen, wie z. B. Anwendungen der Telemedizin, in denen Informationen elektronisch verarbeitet, über sichere Datenverbindungen ausgetauscht und Behandlungs- und Betreuungsprozesse von Patientinnen und Patienten unterstützt werden können.“ European Commission (2012a, S. 3) „eHealth is the use of ICT in health products, services and processes combined with organisational change in healthcare systems and new skills, in order to improve health of citizens, efficiency and productivity in healthcare delivery, and the economic and social value of health.[…]“ Eysenbach (2001, o. S.) „e-health is an emerging field in the intersection of medical informatics, public health and business, referring to health services and information delivered or enhanced through the Internet and related technologies. In a broader sense, the term characterizes not only a technical development, but also a state-of-mind, a way of thinking, an attitude, and a commitment for networked, global thinking, to improve health care locally, regionally, and worldwide by using information and communication technology.“ Wong (2010, S. 3) „This eHealthcare environment will focus on patientcentric systems that reduce complexity, improve efficiency, and provide better patient outcomes. […]“ 336 S. Scholz und N. Roth Patienten zugutekommen soll. Die europäische Kommission (2012a) begrenzt den Begriff E-Health nicht nur auf seine technologischen Komponenten. Sie adressiert auch konkret soziale und ökonomische Vorteile von E-Health für das Gesundheitswesen. So kann, gemäß der europäischen Kommission, mithilfe von E-Health die Produktivität und Effizienz im Gesundheitsbereich erhöht werden. Auch das Stattfinden von Interaktionen zwischen den einzelnen Akteuren des Gesundheitswesens sowie die Möglichkeit, institutionsübergreifend Daten auszutauschen, werden als wesentliche Bestandteile von E-Health angesehen. Eysenbach (2001) geht mit seinem Definitionsansatz von E-Health noch einen Schritt weiter. So ist E-Health laut seiner Meinung nicht nur eine technologische Entwicklung, durch die neue Geschäftsmodelle und Versorgungskonzepte im Gesundheitswesen entstehen. E-Health steht darüber hinaus für eine neue Denkweise und Einstellung, mithilfe von IKT Aufgaben im Gesundheitswesen anzugehen. Der Buchstabe „e“ in E-Health steht laut seiner Auffassung dabei nicht nur für electronic, sondern auch für weitere Eigenschaften wie Effizienz, evidenzbasiert oder auch Empowerment. Eine weitere auffällige Definition von E-Health stammt vom Softwarehersteller Oracle (Wong 2010). Oracle betrachtet E-Health nicht nur als Methode, bei der mithilfe von IKT die Effektivität und Effizienz des Gesundheitswesens erhöht werden, sondern vornehmlich auch als ein Werkzeug, das Patienten nutzen, um ihre Gesundheitsversorgung zu verbessern. Neben den hier dargestellten Definitionen zum Begriff E-Health existiert noch eine Vielzahl an weiteren Interpretationsansätzen. In einer im Jahr 2005 von Oh et al. durchgeführten, systematischen Literaturanalyse wurden 51 Definitionsansätze von E-Health miteinander verglichen und deren Schnittmengen herausgestellt. Anhand dieser definieren Oh et al. E-Health als ein Set verschiedenartiger Konzepte, die Gesundheit, Technologie und kommerzielle Überlegungen enthalten. Darüber hinaus stellten diese fest, dass alle gefundenen Definitionsansätze von E-Health positive Konnotationen wie Verbesserung, Vorteile oder Effizienz enthalten. Keine der analysierten Definitionen verbindet mit dem Begriff E-Health mögliche negative oder schädigende Effekte. Als Definitionsgrundlage für diese Studie wird der Interpretationsansatz von Eysenbach verwendet, da dieser den Begriff E-Health weit fasst und nicht nur auf technologische Entwicklungsprozesse im Gesundheitswesen reduziert. Ein weiterer Grund für diese Entscheidung liegt darin begründet, dass dessen Definition am häufigsten von anderen Autoren zitiert wurde (Oh et al. 2005). 4 Segmentierung des E-Health Marktes Die Darstellung der unterschiedlichen Definitionsansätze von E-Health verdeutlichte bereits, dass es sich bei E-Health lediglich um einen Oberbegriff für verschiedenartige Anwendungen und Konzepte im Gesundheitsbereich handelt, die auf IKT beruhen. Die europäische Kommission (2007) teilt den E-Health-Markt in vier unterschiedliche Anwendungsfelder ein, die im Folgenden zunächst kurz dargestellt werden: Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 337 1. Integrierte Gesundheitsinformationsnetzwerke bezeichnen integrierte nationale oder regionale Netzwerke, die für den Transfer von zumeist patientenbezogenen Gesundheitsinformationen eingesetzt werden. Ein Beispiel stellt das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte in Deutschland dar, mit deren Hilfe zukünftig ein nationales Netzwerk zum Austausch von gesundheitsbezogenen Informationen aufgebaut werden soll (David et al. 2009). 2. Klinische Informationssysteme beinhalten spezialisierte Anwendungen, die eine umfassende Datenspeicherung sowie -aufbereitung im stationären wie ambulanten Bereich ermöglichen. Als Beispiele können an dieser Stelle computergestützte Diagnosesysteme, allgemeine Praxissoftware oder auch komplexe Trainingssysteme aufgeführt werden, die in Kliniken oder auch Arztpraxen Verwendung finden (Häckl 2010). 3. Systeme mit Bezug zum Gesundheitswesen umfassen Systeme zur Gesundheitsförderung von Patienten und Bürgern wie beispielsweise Gesundheitsportale, Plattformen zur Unterstützung des wissenschaftlichen Diskurses unter Forschern sowie Supportsysteme, die klinische Prozesse unterstützen (z. B. Verwaltungssysteme; European Commission 2007). 4. Telemedizin umfasst Bereiche, die über das Speichern und das Bearbeiten von Daten hinausgehen. Als Beispiel können Anwendungen wie das Telemonitoring oder auch die Teleradiologie genannt werden, bei denen Informationen (Vitaldaten von Patienten, Röntgenbilder etc.) mithilfe von Kommunikationstechnologien auch über größere Distanz transferiert werden können (Häckl 2010; David et al. 2009). 5. Mobile Health stellt ein neues Anwendungsfeld von E-Health dar, welches von der europäischen Kommission noch nicht explizit aufgeführt wird. Mobile Health bezeichnet gesundheitsbezogene Anwendungen und Services, bei denen mobile Technologien wie beispielsweise Smartphones, PDAs oder andere drahtlose Geräte zum Einsatz kommen (WHO 2011). 5 Barrieren bei der Einführung von E-Health Die Gesundheitsausgaben in Deutschland überstiegen im Jahr 2012 zum ersten Mal die Marke von 300 Mrd. EUR. Damit betrugen die Ausgaben für Gesundheit 11,3 % des deutschen Bruttoinlandsproduktes (Destatis 2014). Für den gesamteuropäischen Raum geht die OECD davon aus, dass die Gesundheitskosten bis zum Jahr 2020 von aktuell zehn auf 16 % des europäischen BIP ansteigen könnten. Dies wird den Druck auf die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder, vornehmlich auch auf das von Deutschland, erneut erhöhen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass 25 bis 40 % der gesamten Ausgaben im Gesundheitswesen durch Ineffizienz und Redundanz entstehen, welche durch den Einsatz von E-Health reduziert werden könnten. Des Weiteren sind Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Herzinsuffizienz für bis zu 70 % der Gesamtausgaben im deutschen Gesundheitssystem verantwortlich. Auch hier könnten durch den Einsatz von E-Health-Anwendungen, wie beispielsweise Telemonitoring, 338 S. Scholz und N. Roth ein Teil der Kosten vermieden werden (David et al. 2009). Allgemein zeichnet sich im Gesundheitsbereich ein technologischer Nachholbedarf ab, im Vergleich zu anderen Industrien ist die Ausstattung an IKT zumeist veraltet. Dadurch werden Prozesse in Krankenhäusern oder auch Arztpraxen oftmals sehr komplex, mögliche Effizienzgewinne können dadurch nicht ausgeschöpft werden. Die hier aufgezeigten Faktoren zeigen, dass E-Health ein beachtliches Marktpotenzial besitzt. Die europäische Union schätzt dieses für Deutschland auf 6,5 Mrd. EUR (Stand 2011) ein, mit Wachstumsraten von zehn % pro Jahr (Schlereth et al. 2011). Trotz der vorhandenen Einsparpotenziale und dem daraus resultierenden Marktpotenzial verläuft die Implementierung von E-Health-Anwendungen im ersten Gesundheitsmarkt von Deutschland nur schleppend. Zwar existieren vereinzelt erfolgsversprechende Projekte, diese stellen aber zumeist nur Insellösungen dar, die es aufgrund ihrer Heterogenität nicht in die Regelversorgung des Gesundheitssystems schaffen (Bundesministerium für Gesundheit 2013). Auch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, welche ein Leuchtturmprojekt des Bundesministeriums für Gesundheit darstellt, verläuft nicht reibungslos (Zöpfgen 2013). Der Umstand, dass die Potenziale von E-Health nur schwer in die Praxis umgesetzt werden können, liegt vor allem an fehlenden Rahmenbedingungen sowie an einer Reihe von Barrieren, die mögliche Implementierungsprozesse zurzeit noch blockieren (Schlereth et al. 2011). Die schwerwiegenden Barrieren, die eine flächendeckende Einführung von E-Health-Anwendungen momentan noch verhindern, werden nun im Folgenden erläutert. 5.1 Finanzielle und ökonomische Barrieren Eine wesentliche Barriere, die eine breite Implementierung von E-Health-Anwendungen derzeit noch verzögert, stellt die oftmals sehr komplexe Evaluation des wirtschaftlichen Nutzens dar. Zumeist kann nur schwer abgeschätzt werden, ob geplante oder bereits initiierte E-Health-Projekte zukünftig finanziell rentabel sein werden. Dies liegt vor allem darin begründet, dass ein möglicher Projekterfolg von vielen komplexen Faktoren abhängt. So können beispielsweise unerwartete Probleme innerhalb des Implementierungsprozesses den gesamten Business Case eines Projektes gefährden (Valeri et al. 2010). Auch die Sicherstellung der Finanzierung von Projekten ist oftmals ein Problem. Grundsätzlich sind an der Finanzierung des Gesundheitswesens unterschiedliche Stakeholder beteiligt (Bund, Länder, Krankenkassen etc.). Dadurch stellt sich die Frage, wie bei möglichen Investitionen in E-Health-Anwendungen eventuelle ökonomische Vorteile sowie die anfallenden Investitionskosten gerecht verteilt werden. Unternehmen, die in den E-Health-Markt einsteigen wollen, schreckt diese komplexe Struktur der Finanzierung oftmals ab (David et al. 2009; Kaye et al. 2010). Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 339 5.2 Fragmentierung des Gesundheitsmarktes und fehlende Interoperabilität Der deutsche Gesundheitsmarkt ist stark fragmentiert. Die einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens sind zumeist nicht technologisch verbunden, wodurch es bei einem möglichen Datenaustausch zwischen einzelnen Akteuren zu Kompatibilitätsproblemen kommen würde (Schlereth et al. 2011). Zudem bieten eine Vielzahl von Klein- und Mittelbetrieben eine große Vielfalt an E-Health-Produkten und Standards an, wodurch eine Interoperabilität zwischen den einzelnen Lösungen nicht gegeben ist (David et al. 2009). Aus diesem Grund können einige E-Health-Anwendungen, die einen standardisierten Austausch von Daten zwischen den einzelnen Akteuren des Gesundheitswesens voraussetzen, noch nicht flächendeckend implementiert werden (European Commission 2007). 5.3 Fehlende Rechtssicherheit Zurzeit fehlt für einen flächendeckenden Einsatz von E-Health noch der gesetzliche Rechtsrahmen, vor allem Fragen des Datenschutzes und der Gewährleistung wurden noch nicht ausreichend geklärt. Dies ist jedoch unerlässlich, insbesondere, wenn sensible Patientendaten institutionsübergreifend ausgetauscht werden sollen, muss Rechtssicherheit herrschen. Auch Investoren erwarten bei dem Erwerb von E-Health-Produkten oder Services, dass ihre Interessen rechtlich geschützt werden, andernfalls bleiben Investitionen aus und die Entwicklung des E-Health-Marktes wird stagnieren (European Commission 2007). 5.4 Fehlendes Vertrauen gegenüber E-Health unter Ärzten, Patienten und Bürgern Eine flächendeckende Akzeptanz von E-Health durch Ärzte, Bürger und Patienten stellt einen der wesentlichen Faktoren dar, die für eine erfolgreiche Implementierung sichergestellt werden muss (European Commission 2012b). Empirische Untersuchungen belegen, dass unter Ärzten teilweise noch Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von IKT im Gesundheitswesen bestehen. So kritisieren diese beispielsweise die fehlende finanzielle Unterstützung bei der Implementierung von E-Health-Anwendungen. Die oftmals hohen Kosten, die durch die notwendigen Investitionen in IKT entstehen, werden dadurch von den Ärzten als Hindernis wahrgenommen. Auch die oft unzureichende Qualität von E-Health-Produkten und Services stellt aus Sicht der Ärzte ein Problem dar. Darüber hinaus verfügen viele Ärzte nicht über das technische Wissen, um E-Health-Anwendungen im Alleingang zu implementieren. Hierfür müssten erfahrene IT-Spezialisten beauftragt werden, welche oftmals nur schwer zu rekrutieren sind (Anderson 2007). 340 S. Scholz und N. Roth Auch unter Patienten und Bürgern fehlt zumeist noch das notwendige Vertrauen in E-Health. Dies liegt u. a. daran, dass der Endverbraucher oftmals noch nicht genau weiß, was E-Health ist und welche Potenziale der Einsatz von IKT im Gesundheitswesen birgt. Die europäische Kommission, die sich für eine europaweite Einführung von E-Health einsetzt, fordert deshalb, dass der Mehrwert für den Endverbraucher aktiv kommuniziert werden muss. Hieraus ergibt sich jedoch die Frage, ob E-Health für die Bürger und Patienten wirklich Vorteile schafft und ob diese empirisch belegt werden können. 6 Durchführung einer empirischen Erhebung zur Thematik E-Health 6.1 Determinanten und theoretische Fundierung der empirischen Erhebung Die bisherigen Erläuterungen haben gezeigt, dass E-Health für den Endverbraucher von Relevanz ist bzw. zukünftig für diesen Nutzen stiftend sein kann. Zudem bestehen in den einzelnen Anwendungsfeldern von E-Health noch Forschungslücken hinsichtlich der Akzeptanz- und Einstellungsbewertung des Endverbrauchers. Als Grundlage für die Realisierung einer empirischen Erhebung wurde ein Fragebogen entwickelt, der aus sieben unterschiedlichen Bereichen besteht. In den ersten vier Bereichen werden der Kenntnisstand, die Einstellung und die Akzeptanz der Studienteilnehmer hinsichtlich der in der Theorie dargestellten Anwendungsfelder von E-Health evaluiert (eGK, Telemedizin etc.). Im fünften Bereich des Fragebogens werden Items aufgeführt, die E-Health im Allgemeinen betreffen. Im sechsten und siebten Bereich des Fragebogens erfolgt eine Erfassung von demografischen Informationen der Studienteilnehmer, auch deren Medienausstattung wird durch entsprechende Items evaluiert. Durch die Erhebung dieser Informationen kann bewertet werden, ob Faktoren wie das Alter, der Bildungsstand oder die Medienausstattung der Studienteilnehmer deren Wahrnehmung von E-Health beeinflussen (z. B. über moderierende oder mediierende Effekte). Als theoretische Basis für die Entwicklung des Fragebogens diente das Technology Acceptance Model (TAM), welches in der wissenschaftlichen Forschung schon vielfach für die Evaluation der Akzeptanz von Endverbrauchern hinsichtlich neuer Informationstechnologien eingesetzt wurde. Bei dem Technology Acceptance Model wird die Annahme getroffen, dass die Intention eines Konsumenten, ein bestimmtes Produkt oder Serviceleistung zu verwenden (Behavioural Intention), positiv durch die wahrgenommene Nützlichkeit (Perceived Usefulness) und die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (Perceived Ease of Use) des Produktes oder Services beeinflusst wird. Die Intention eines Konsumenten, ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Serviceleistung zu nutzen, wirkt sich wiederum positiv auf die tatsächliche Nutzungswahrscheinlichkeit (Use Behaviour) aus. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich die wahrgenommene Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 341 Abb. 1  Technology Acceptance Model. (In Anlehnung an Hendrikx et al. 2013) Benutzerfreundlichkeit eines Produktes oder Serviceleistung positiv auf die wahrgenommene Nützlichkeit auswirkt (Hendrikx et al. 2013). In bisherigen Studien, bei denen das Technology Acceptance Model zum Einsatz kam (s. Abb. 1), konnte eine durchschnittliche Korrelation von 0,5 zwischen der Intention zur Nutzung und der tatsächlichen Nutzung von Produkten und Serviceleistungen durch Konsumenten festgestellt werden (Wilson und Lankton 2004). Auch im Bereich von E-Health wurde das Technology Acceptance Model bereits verwendet. Wilson und Lankton (2004) stellten in ihrer Untersuchung fest, dass 70 % der gemessenen Varianz (R2) der Intention zur Nutzung durch die wahrgenommene Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit der analysierten webbasierten E-Health-Serviceleistungen erklärt werden konnte. 6.2 Entwicklung des Fragebogens Die von Wilson und Lankton (2004) durchgeführte Studie stellte wie zuvor erwähnt die Grundlage für die Konzeption dieser Studie dar. Die in ihrer Untersuchung verwendeten TAM-Items zur Messung der wahrgenommenen Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit von E-Health wurden für die Konzeption des eigenen Fragebogens übernommen. Hierbei erfolgte eine Übersetzung der englischen Items in die deutsche Sprache, zudem wurden diese für die einzelnen E-Health-Anwendungsfelder differenziert. Auch die von Wilson und Lankton eingesetzte Siebenpunkt-Ratingskala (1: strongly disagree; 7: strongly agree) zur Bewertung der Items wurde in die deutsche Sprache übersetzt und in den Fragebogen integriert. Wilson und Lankton bewerteten in ihrer Studie auch die Intention der Studienteilnehmer (BI), E-Health-Serviceleistungen in Anspruch zu nehmen. Dadurch sollte überprüft werden, ob das TAM dafür geeignet ist, die Intention der Studienteilnehmer zur Nutzung von E-Health-Serviceleistungen vorherzusagen. Da in dieser Studie keine Modellüberprüfung durchgeführt werden soll, wurden die Items, mit der die 342 S. Scholz und N. Roth Intention der Studienteilnehmer gemessen wurde, nicht in den Fragebogen integriert. Die Beziehung zwischen Nützlichkeit (PU), Benutzerfreundlichkeit (PEOU) und Intention zur Nutzung (BI) wird als empirisch erwiesen angesehen. Beispielitems: 1. Insgesamt wird die eGK für mich und meine Gesundheit nützlich sein (PU). 2. Die eGK wird einfach zu benutzen sein (PEOU). Neben den Items zur Evaluation der Akzeptanz der Studienteilnehmer wurden zusätzliche Elemente in den Fragebogen integriert, wodurch weitere Einstellungsdeterminanten der Probanden erfasst werden konnten. Als Beispiel sollten die Studienteilnehmer angeben, wie sie die Datensicherheit bei einem Einsatz der Telediagnose bewerten. Durch eine Erfassung dieser zusätzlichen Variablen kann nicht nur evaluiert werden, ob ein Studienteilnehmer die einzelnen E-Health-Anwendungen akzeptiert, sondern auch welche Determinanten dessen Akzeptanz beeinflussen. Dadurch können letztlich zielgerichtete und differenzierte Handlungsempfehlungen für die Akteure des deutschen Gesundheitswesens abgeleitet werden, um die Akzeptanz der Bevölkerung hinsichtlich E-Health zu verbessern. Beispielitems: 1. Durch Telediagnose wird zukünftig das Arzt-Patienten-Verhältnis leiden. 2. Ich vertraue der Technologie, die bei der Telediagnose verwendet wird. Darüber hinaus wurden Items in den Fragebogen implementiert, mit denen die Nutzungshäufigkeit von E-Health-Anwendungen (z. B. Gesundheitsapplikationen auf dem Mobiltelefon) sowie von elektronischen Geräten durch die Studienteilnehmer evaluiert werden konnte. Hierfür kam eine Siebenpunkt-Ratingskala zum Einsatz (1: nie; 7: dauernd), die in einer wissenschaftlichen Untersuchung von Bass et al. (1974) statistisch validiert wurde. Durch die Bewertung der aufgeführten Variablen kann eine fundierte Aussage darüber getroffen werden, ob die Akzeptanz der Studienteilnehmer gegenüber E-Health durch deren Technologieaffinität beeinflusst wird. Beispielitems: 1. Wie häufig suchen Sie Gesundheitsportale auf? 2. Wie häufig nutzen Sie Ihr Mobiltelefon? 6.3 Datenerhebung und Stichprobe Die empirische Erhebung wurde in einem Zeitraum von zwei Monaten durchgeführt, hierbei kamen zwei unterschiedliche Befragungsmethoden zum Einsatz. Einerseits erfolgte eine webbasierte Modellierung des Fragebogens mithilfe des Tools „EFS Survey Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 343 Unipark“. Im Anschluss wurde der Fragebogen über soziale Medien wie Facebook und per E-Mail an potenzielle Studienteilnehmer verbreitet (convenience sample). Andererseits wurde eine papierbasierte Version des Fragebogens an Personen verteilt. Durch die Nutzung von zwei Befragungsmethoden war es möglich, spezifische Zielgruppen besser zu erreichen. Als Beispiel konnte mithilfe des papierbasierten Fragebogens vor allem ältere Personen befragt werden, die sich grundsätzlich eher selten in sozialen Medien aufhalten und die nur bedingt über E-Mail kontaktiert werden können. Auch bei der papierbasierten Befragung füllten die Probanden den Fragebogen selbstständig und allein aus, dadurch sollte eine Verzerrung der Ergebnisse durch eine Beeinflussung des Interviewers vermieden werden. Bevor die empirische Erhebung erfolgte, wurde der Fragebogen hinsichtlich der Verständlichkeit überprüft (Pretest). Die Personen, die für diesen Zweck befragt wurden, gaben an, dass der Fragebogen verständlich sei. Insgesamt wurden während der Befragungszeit 149 Fragebögen ausgefüllt. Bei der papierbasierten Befragung (N = 45) wurde ein vollständiger Rücklauf der Fragebögen erreicht, bei der webbasierten Befragung beendeten ca. 32 % der Teilnehmer (N = 104; Gesamtsample = 326) den Fragebogen. Um valide Ergebnisse zu erzielen, wurden von den 149 Fragebögen diejenigen nicht für die Auswertung berücksichtigt, die entweder unvollständig waren (fehlende Bewertung ganzer Bereiche des Fragebogens) oder bei denen die Studienteilnehmer die einzelnen Skalen zu monoton bewerteten. Auf diese Weise gingen insgesamt 144 Fragebögen in die Auswertung ein (vgl. Abb. 2). Da die Studienteilnehmer nach Verfügbarkeit ausgesucht wurden, sind die in dieser empirischen Erhebung erfassten Ergebnisse nur für diese spezielle Stichprobe gültig. Des Weiteren wird auf Abb. 2  Einstellungsdeterminanten der Studienteilnehmer 344 S. Scholz und N. Roth eine Auswertung der erhobenen Daten nach Altersgruppen verzichtet, dies kann mit der geringen Fallzahl in einigen der Altersgruppen begründet werden. Der Ausbildungsgrad der Studienteilnehmer wird für die Auswertung der empirischen Daten nicht berücksichtigt, da eine Differenzierung aufgrund der Homogenität dieses Merkmals (die meisten Studienteilnehmer verfügen über ein abgeschlossenes Abitur oder Hochschulstudium) nur schwer möglich wäre. 7 Evaluation der Güte des Fragebogens Eine Überprüfung der Güte eines Fragebogens ist von Bedeutung, um eine fundierte Aussage darüber treffen zu können, ob der Fragebogen für den spezifischen Untersuchungszweck geeignet ist. Hierfür wurden die Konstruktvalidität sowie die Reliabilität der Multi-Item-Skalen des Fragebogens überprüft. Zunächst wurde die Konstruktvalidität der TAM-Skalen mithilfe einer explorativen Faktorenanalyse überprüft. Der Kaiser-Meyer-Olkin-Test zeigte, dass sich die Ausgangsvariablen für eine Faktorenanalyse eignen (KMO > 0,744 für alle Datensätze). Zumeist wurde jedoch nur ein Faktor extrahiert (Kaiser-Kriterium; Eigenwert > 1), wodurch sämtliche TAM-Items nur einem einzigen Faktor zugeordnet wurden. Diese Problematik trat jedoch bereits in anderen wissenschaftlichen Untersuchungen auf (Hendrikx et al. 2013). Durch eine Festlegung der zu extrahierenden Faktoren konnte eine Zuordnung gemäß des konzeptuellen Technology Acceptance Models erreicht werden. Zudem wurde die explorative Faktorenanalyse dazu eingesetzt, um die Anzahl der verbleibenden Variablen zu reduzieren, indem Faktoren gebildet wurden. Auch hier zeigte der Kaiser-Meyer-Olkin-Test, dass sich die Ausgangsvariablen der einzelnen Fragebogenbereiche für eine Faktorenanalyse eignen (KMO > 0,710 für alle Datensätze). Kleinere Faktorladungen wurden hierbei unterdrückt (0,4<), des Weiteren wurden die verbleibenden Faktorladungen mithilfe des VarimaxVerfahrens rotiert, um die Interpretierbarkeit zu erhöhen (Weiber und Mühlhaus 2014). Im Anschluss wurden sämtliche Skalen des Fragebogens mithilfe von Cronbach’s Alpha hinsichtlich ihrer internen Konsistenz (Reliabilität) überprüft. Fast alle Skalen zeigen gemäß der Anforderungen aus der Literatur eine annehmbare bzw. gute interne Konsistenz auf (α = 0,684–0,926), drei Skalen besitzen jedoch eine fragwürdige interne Konsistenz (α = 0,495–0,606; Brosius 2011). Die drei betroffenen Skalen verfügen jedoch nur über zwei Items, wodurch Cronbach’s Alpha als Verfahren zur Überprüfung der Reliabilität der Skalen nur bedingt geeignet ist. Wissenschaftliche Untersuchungen empfehlen in diesem Fall die Inter-Item-Korrelation mithilfe des Korrelationskoeffizienten nach Pearson zu analysieren, umso die Reliabilität der Skalen abschätzen zu können (Verhoef 2003). Sämtliche Skalen mit zwei Items weisen hierbei signifikante Korrelationskoeffizienten auf (p < 0,01), diese rangieren zwischen 0,329 und 0,764. Dementsprechend wird die Reliabilität dieser entsprechenden Skalen als ausreichend evaluiert. Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 345 8 Angewandte statistische Methoden zur Analyse der Daten Die Beantwortung der in der Einleitung dargestellten Forschungsfrage erfolgt zweistufig, wobei pro Stufe unterschiedliche statistische Methoden zur Auswertung und Analyse der Daten eingesetzt werden. Zunächst erfolgt die Anwendung von univariaten, statistischen Verfahren. Mithilfe von Häufigkeitsverteilungen, Mittelwerten und Standardabweichungen wurde die Akzeptanz und Einstellung der Studienteilnehmer hinsichtlich der einzelnen E-Health-Anwendungsfelder evaluiert. Auf der zweiten Stufe kommen bivariate und multivariate Analysemethoden zum Einsatz. Zunächst wurde mithilfe des Korrelationskoeffizienten nach Pearson die Stärke des linearen Zusammenhangs zwischen den TAM-Faktoren und den weiteren Faktoren und Variablen (z. B. das Alter der Studienteilnehmer) der jeweiligen E-Health-Anwendungsfelder bzw. des Fragebogens ermittelt. Im Anschluss wurde mithilfe der multiplen Regressionsanalyse überprüft, ob die Variablen und Faktoren, die signifikant (p < 0,05) mit den TAM-Faktoren korrelieren, Prädiktoren der selbigen darstellen und somit ein gerichteter linearer Zusammenhang besteht. Die Beziehung zwischen den TAM-Faktoren und den weiteren Faktoren und Variablen wird hierbei mithilfe von Hypothesen überprüft, wobei ab einem p-Wert > α (0,05) der Regressionskoeffizienten die Nullhypothese nicht verworfen wird. Beispielhypothese: H7: Das Alter der Studienteilnehmer ist kein signifikanter Prädiktor der wahrgenommenen Nützlichkeit (PU) von Gesundheitsportalen. 9 Diskussion der Ergebnisse Die Ergebnisse der empirischen Erhebung haben gezeigt, dass die meisten Studienteilnehmer die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) und Benutzerfreundlichkeit (PEOU) der einzelnen E-Health-Anwendungsfelder neutral oder leicht positiv bewerten. Das Alter der Studienteilnehmer sowie deren Mediennutzung spielten hinsichtlich der Bewertung der TAM-Faktoren zumeist keine Rolle. Die Auswertung der empirischen Daten hat zudem gezeigt, dass verschiedene Variablen und Faktoren Einfluss auf die Bewertung der befragten Personen hinsichtlich der TAM-Faktoren nehmen. Anhand Abb. 2 wird noch mal verdeutlicht, dass vor allem sicherheitsbezogene Aspekte für die Studienteilnehmer von Relevanz sind und deren Akzeptanz gegenüber E-Health signifikant beeinflussen. Personen, die beispielsweise einen Missbrauch ihrer Daten bei einer Verwendung von E-Health-Anwendungen befürchten, schätzen auch deren Nützlichkeit (PU) und Benutzerfreundlichkeit (PEOU) tendenziell eher gering ein. Auch mögliche Risiken, die von den Studienteilnehmern bei einer Verwendung von E-Health-Anwendungen gesehen werden, sind von Bedeutung. Die genannten Aspekte wurden durch die Studienteilnehmer eher kritisch evaluiert und stellen somit Barrieren dar, die eine Akzeptanz von E-Health durch den Endverbraucher verhindern können. Die wahrgenommene 346 S. Scholz und N. Roth Nützlichkeit der einzelnen E-Health-Anwendungen ist ebenfalls eine wichtige Determinante der Akzeptanz der Endverbraucher und wirkt sich letztlich auf deren Intention zur Nutzung von E-Health aus. Studienteilnehmer, die in den einzelnen Funktionen der E-Health-Anwendungen einen Mehrwert sehen, weisen auch tendenziell eine recht hohe Akzeptanz gegenüber diesen Anwendungen auf (gemessen anhand der TAM-Faktoren). Dementsprechend stellen die in Abb. 2 dargestellten Faktoren und Variablen wichtige Ansatzpunkte für die Akteure des deutschen Gesundheitswesens dar, um zukünftig die Akzeptanz des Endverbrauchers hinsichtlich E-Health sicherstellen zu können. Die Ergebnisse zu den einzelnen Bestandteilen von E-Health werden nun im Folgenden dargelegt: 9.1 Auswertung des Fragebogenbereichs zur eGK Der Mehrzahl der Studienteilnehmer ist der Begriff elektronische Gesundheitskarte (eGK) geläufig, so gaben 83,2 % der befragten Personen an, dass sie diesen kennen. Mit der eGK verbinden die Studienteilnehmer vor allem eine Speicherung von gesundheitsbezogenen Daten, wobei einige der befragten Personen die Art der gespeicherten Daten spezifizieren. So gaben mehrere Studienteilnehmer an, dass krankheitsbezogene Daten, personenbezogene Patientendaten sowie Daten zu verschriebenen Medikamenten zukünftig auf der eGK gespeichert werden können. Zudem führten einige Studienteilnehmer an, dass die eGK als obligatorischer Versicherungsnachweis dient und vor der Behandlung bei einem Arzt vorgezeigt werden muss. Eine geringe Zahl der befragten Personen wusste zudem, dass durch die eGK ein institutionsübergreifender Austausch von Patientendaten zukünftig ermöglicht wird. Die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) der eGK wird durch die meisten Studienteilnehmer neutral oder leicht positiv bewertet. Lediglich 19 % der befragten Personen sind davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass die eGK ihre Gesundheitsversorgung zukünftig verbessern wird. Der Aussage, dass die eGK in der Zukunft die Gesundheitspflege der Studienteilnehmer unterstützen wird, stimmt ungefähr die gleiche Anzahl an Personen zu. Hier vergaben etwa 20 % der befragten Personen die Skalenwerte 6 bis 7. Auch die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (PEOU) der eGK wird durch die Studienteilnehmer ähnlich bewertet. Die freiwilligen Funktionen der eGK werden von den Studienteilnehmern hingegen positiver beurteilt. So ist die Mehrzahl der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass eine Speicherung von Notfalldaten (N = 112), Medikamentenunverträglichkeiten (N = 108) und persönlichen Erklärungen (N = 86) auf der eGK nützlich ist. Es wird von den Studienteilnehmern auch positiv bewertet, dass mithilfe der eGK Patientendaten mehreren Ärzten zugänglich gemacht werden können. Es wurde bereits dargelegt, dass Bürger und Patienten bei einer Verwendung der eGK hinsichtlich der Datensicherheit teilweise Bedenken haben. Auch die Studienteilnehmer dieser empirischen Erhebung bewerten die Sicherheit der Technologie der eGK zumeist eher kritisch. So sind 75 % aller Studienteilnehmer der Meinung, dass deren Patientendaten bei einer einrichtungsübergreifenden Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 347 Speicherung eher nicht oder nicht sicher wären. Die Sicherheit von Patientendaten bei einer Speicherung auf der eGK wird durch die befragten Personen wiederum einheitlicher bewertet. So vertreten 72 % der Studienteilnehmer die Ansicht (Skalenwert: 1–3), dass ihre gesundheitsbezogenen Daten bei einer Speicherung auf der eGK eher nicht oder nicht sicher wären. Anhand der Ergebnisse der multiplen Regressionsanalysen wird ersichtlich, dass 39 % der Varianz der wahrgenommenen Nützlichkeit (PU) der eGK und 28,6 % der Varianz der wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit (PEOU) der eGK durch die in der Tab. 2 genannten Faktoren erklärt werden kann. Sämtliche Regressionskoeffizienten sind mit einem p-Wert von < 0,001 statistisch signifikant, dementsprechend besteht kein zufälliger Zusammenhang zwischen den abhängigen und den jeweiligen unabhängigen Variablen. Anhand der Beta-Koeffizienten wird ersichtlich, dass die wahrgenommene Sicherheit der Technologie der eGK und die Nützlichkeit der Funktionen der eGK ungefähr gleich viel zur Vorhersage der jeweiligen abhängigen Variablen beitragen. Neben diesen direkt feststellbaren Zusammenhängen zwischen den einzelnen Faktoren des Fragebogens ist auch von Interesse, ob indirekte Zusammenhänge bestehen. Hiermit ist gemeint, dass der Effekt einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable durch eine Moderatorvariable beeinflusst wird. So könnte es beispielsweise sein, dass der Einfluss der wahrgenommenen Sicherheit der Technologie der eGK auf die wahrgenommene Nützlichkeit der eGK je nach Zustand der Variable des Alters der Probanden verstärkt oder abgeschwächt wird. Mögliche Moderatoreffekte wurden hierbei für die Variablen der Mediennutzung und des Alters der Studienteilnehmer überprüft. Zunächst erfolgte eine Standardisierung sämtlicher Variablen, im Anschluss wurde durch die Multiplikation der standardisierten Variablen Interaktionsterme gebildet. Anschließend wurden die Interaktionsterme in die jeweiligen Regressionsmodelle integriert. Nur in einem Fall konnte ein Moderatoreffekt festgestellt werden. Durch die Aufnahme des Interaktionsterms zwischen der wahrgenommenen Nützlichkeit der Funktionen der eGK und der Variable des Alters der Studienteilnehmer erhöhte sich der Anteil der erklärten Varianz (29,8 % vs. 28,6 %; PEOU) eines Faktors signifikant. Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass sicherheitsbezogene Aspekte für die Studienteilnehmer von Bedeutung sind und deren Wahrnehmung hinsichtlich der Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit der eGK signifikant beeinflussen. Dies gilt auch für Tab. 2  Demografische Merkmale der Stichprobe Alter Geschlecht Männlich Weiblich Unter 30 31–40 41–50 51–60 Über 60 32  5  7 15 16 41  6  5 10  7 73 11 12 25 23 Gesamt 75 69 144 Gesamt 348 S. Scholz und N. Roth die freiwilligen Funktionen der eGK. Studienteilnehmer, die in diesen einen Mehrwert sehen, schätzen die Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit der eGK höher ein als Studienteilnehmer, die die Funktionen als nicht Nutzen stiftend wahrnehmen. 9.2 Auswertung des Fragebogenbereiches zu Gesundheitsportalen Die Mehrzahl der Studienteilnehmer kennt den Begriff Gesundheitsportal nicht. Lediglich 29,4 % der befragten Personen sind hinsichtlich dieser Thematik informiert. Die Studienteilnehmer, denen der Begriff Gesundheitsportal geläufig ist, verbinden mit diesem vor allem Internetseiten, bei denen man sich zu allgemeinen Gesundheitsthemen informieren kann. Darüber hinaus gaben mehrere Studienteilnehmer an, dass Gesundheitsportale krankheitsbezogene Informationen und Ratschläge zur Verfügung stellen. Mit dem Begriff Gesundheitsportal assoziiert eine geringe Zahl der befragten Personen auch eine Interaktion bzw. Kommunikation zwischen Patienten. Demnach verfügen einige Gesundheitsportale über Onlineforen, über die sich Patienten mit anderen Betroffenen über Krankheiten, Symptome und Emotionen austauschen können. Die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) von Gesundheitsportalen wird von der Mehrzahl der Studienteilnehmer lediglich neutral oder leicht positiv bewertet. So sind nur etwa zwölf Prozent der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass Gesundheitsportale sie in ihrer Gesundheitspflege unterstützen. Auch die beiden anderen Items der wahrgenommenen Nützlichkeit zeigen ähnliche Bewertungen auf. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (PEOU) von Gesundheitsportalen wird durch die Studienteilnehmer etwas besser bewertet. So sind beispielsweise 30,5 % der Studienteilnehmer der Meinung (Skalenwert: 6–7), dass die Benutzung von Gesundheitsportalen einfach ist. Die Möglichkeit, auf Gesundheitsportalen nach gesundheitsbezogenen Informationen suchen zu können, beurteilen 43,3 % der befragten Personen als nützlich (Skalenwert: 6–7). Die Option, über Gesundheitsportale mit anderen Usern kommunizieren zu können, wird durch die befragten Personen etwas kritischer evaluiert. Hierbei gaben 20,8 % der Studienteilnehmer an (Skalenwert: 1–2), dass sie diese Funktion von Gesundheitsportalen nicht als Nutzen stiftend ansehen. Ungefähr die Hälfte der Probanden vertritt die Meinung (Skalenwert: 5–7), dass sie sich durch Gesundheitsportale etwas besser bzw. besser informiert fühlen. Das wahrgenommene Risiko, das von Gesundheitsportalen ausgeht, wird von den Studienteilnehmern weitgehend neutral bewertet. Die meisten Studienteilnehmer scheinen die Seriosität und mögliche kommerzielle Ausrichtung von Gesundheitsportalen nicht evaluieren zu können, so wurde oftmals der mittlere Skalenwert angekreuzt. Studienteilnehmer, die beispielsweise gesundheitsbezogene Informationen im Internet als nützlich bewerten und sich dadurch besser informiert fühlen, schätzen auch die Nützlichkeit (PU) und Benutzerfreundlichkeit (PEOU) von Gesundheitsportalen eher hoch ein. Zudem wirkt sich die Häufigkeit der Nutzung von Gesundheitsportalen auf die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit aus. Diese Verbindung erscheint Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 349 logisch, so finden sich Personen, die häufiger Gesundheitsportale besuchen, wahrscheinlich problemlos auf diesen zurecht. 9.3 Auswertung des Fragebogenbereichs zur Telemedizin Der Begriff Telemedizin ist der Mehrzahl der Studienteilnehmern nicht bekannt, lediglich 25,9 % der befragten Personen können diese Bezeichnung thematisch einordnen. Unter Telemedizin verstehen die Studienteilnehmer vor allem ferndiagnostische Verfahren sowie die Kommunikation zwischen Ärzten über eine räumliche Distanz. Eine geringe Anzahl der befragten Personen verbindet mit dem Begriff Telemedizin auch die Überwachung und Betreuung von Patienten. Zudem wird häufiger der Aspekt der Beratung hervorgehoben, wobei zumeist nicht spezifiziert wird, wer die Beratung erhält. Teilweise vertreten Studienteilnehmer die Meinung, dass Telemedizin ein Synonym für gesundheitsbezogene Ratgeber- und Aufklärungssendungen im Fernsehen darstellt. Die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) der Telediagnose wird durch die meisten Studienteilnehmer negativ oder neutral bewertet. Lediglich 9,7 % der befragten Personen sind davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass die Telediagnose ihre Gesundheitsversorgung verbessern wird. Nur 23 % der befragten Personen denkt (Skalenwert: 5–7), dass die Telediagnose sie in ihrer Gesundheitsversorgung zukünftig etwas unterstützen oder unterstützen wird. Bei allen Items zur wahrgenommenen Nützlichkeit der Telediagnose kreuzten die Studienteilnehmer des Öfteren die Skalenwerte 1 bis 2 an. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (PEOU) der Telediagnose wird durch die meisten Studienteilnehmer ähnlich kritisch bewertet. So sind nur 12,6 % der befragten Personen der Meinung (Skalenwert: 5–6), dass die Interaktion mit Ärzten via Telediagnose verständlich sein wird. Das wahrgenommene Risiko, das von der Telediagnose ausgeht, wird von vielen Studienteilnehmern relativ hoch eingeschätzt. So ist fast die Hälfte der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 1–2), dass die therapeutischen Möglichkeiten von Ärzten durch die Telediagnose eingeschränkt werden. Darüber hinaus denkt die Mehrzahl der Studienteilnehmer, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis unter der Telediagnose leiden wird (Skalenwert: 1–2). Diese Bewertungstendenz stimmt mit den Ergebnissen von Gagnon et al. (2004) überein. Auch die räumliche Trennung zwischen Arzt und Patient wird von den befragten Personen eher kritisch evaluiert, so gaben diese mehrheitlich die Skalenwerte 1 bis 2 an. Die wahrgenommene Sicherheit der Technologie der Telediagnose wird, ähnlich wie bei der eGK, zumeist negativ durch die Studienteilnehmer bewertet. Nur 16,6 % der befragten Personen vertraut der Technologie der Telediagnose (Skalenwert: 5–7). Darüber hinaus befürchten mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer (N = 74; Skalenwert: 1–2), dass ihre Patientendaten bei einer Verwendung der Telediagnose nicht sicher sein könnten. Studienteilnehmer, die sich um die Sicherheit ihrer Patientendaten bei einem Einsatz von Telediagnose sorgen, evaluieren die wahrgenommene Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit von telediagnostischen Verfahren eher kritisch. Auch das durch die 350 S. Scholz und N. Roth Studienteilnehmer wahrgenommene Risiko spielt eine Rolle. Befürchten die Studienteilnehmer beispielsweise die Gefährdung der Arzt-Patienten-Beziehung durch den Einsatz der Telediagnose, so schätzen diese deren Nützlichkeit tendenziell eher gering ein. Die Mehrzahl der Studienteilnehmer bewertet die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) des Telemonitorings, ähnlich wie bei der eGK und bei den Gesundheitsportalen, neutral oder leicht positiv. So sind lediglich 19,5 % der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass das Telemonitoring zukünftig ihre Gesundheitsversorgung verbessern könnte. Auch die verbleibenden zwei Items werden ähnlich bewertet. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (PEOU) des Telemonitorings wird durch die Studienteilnehmer fast kongruent evaluiert. So glauben beispielsweise nur 16,7 % der befragten Personen (Skalenwert: 6–7), dass die Anwendung des Telemonitorings einfach zu benutzen sein würde. Die meisten Studienteilnehmer vertrauen der Anwendung des Telemonitorings eher nicht. So ist ungefähr ein Drittel der Studienteilnehmer der Überzeugung (Skalenwert: 1–2), dass sie durch die Verwendung des Telemonitorings zu gläsernen Patienten werden würden. Darüber hinaus gibt fast die Hälfte der befragten Personen an (Skalenwert: 1–3), dass sie der Technologie des Telemonitorings nur bedingt vertrauen oder nicht vertrauen. Auch die Sicherheit der Patientendaten wird, wie bereits bei der eGK und der Telediagnose, eher kritisch durch die Studienteilnehmer bewertet. So ist die Hälfte der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 1–2), dass ihre Patientendaten bei einem Einsatz des Telemonitorings nicht sicher wären. Die Gefahr, dass die Anwendung des Telemonitorings die Privatsphäre der Studienteilnehmer akut einschränken könnte, wird von diesen nur bedingt gesehen. Die Anzahl an negativen und positiven Bewertungen gleichen sich bei diesem Item fast, wobei die Studienteilnehmer am häufigsten den mittleren Skalenwert angekreuzt haben (N = 42). Studienteilnehmer, die sich im Umgang mit moderner IKT versiert fühlen, evaluieren die Nützlichkeit und die Benutzerfreundlichkeit des Telemonitorings tendenziell eher hoch. Das Alter der Studienteilnehmer agiert hierbei als Moderator. Auch das Vertrauen der Studienteilnehmer gegenüber dem Telemonitoring ist von Bedeutung. Je weniger ein Studienteilnehmer der Anwendung des Telemonitorings vertraut desto geringer schätzt dieser tendenziell dessen Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit ein. 9.4 Auswertung des Fragebogenbereichs zu Mobile Health Der Mehrzahl der Studienteilnehmer ist der Begriff Mobile Health nicht geläufig. Nur 15,3 % der befragten Personen sind bezüglich dieser Thematik informiert. Zudem gaben nur wenige Studienteilnehmer einen Kommentar zu dem Begriff Mobile Health ab. Eine geringe Anzahl der befragten Personen versteht unter Mobile Health mobile gesundheitsbezogene Apps, die auf dem Smartphone gespeichert werden und die der Überwachung des Gesundheitszustandes des Smartphone-Besitzers dienen. Wenige Studienteilnehmer denken zudem, dass Mobile Health den mobilen Einsatz von Ärzten in medizinisch unterversorgten Gebieten beschreibt. Einer der befragten Personen verband mit dem Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 351 Begriff Mobile Health zudem eine Erinnerung an Termine, wobei die Art der Erinnerung von dieser Person nicht weiter spezifiziert wird. Die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) von Mobile Health wird von den meisten Studienteilnehmern, wie bereits bei den anderen E-Health-Anwendungen zuvor auch, neutral oder leicht positiv bewertet. Insgesamt sind 40,3 % der befragten Personen der Meinung (Skalenwert: 5–7), dass Mobile Health in der Zukunft ihre Gesundheitsversorgung leicht verbessern oder verbessern wird. Diese Bewertungstendenz ist zu den Ergebnissen der Studie von PwC (2012) weitgehend kongruent. Zudem denken 15,3 % der Studienteilnehmer (Skalenwert: 6–7), dass Mobile Health bei der Pflege ihrer Gesundheit zukünftig nützlich sein kann. Auch das dritte Item der wahrgenommenen Nützlichkeit von Mobile Health wird ähnlich bewertet. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (PEOU) von Mobile Health wird durch die Studienteilnehmer besser bewertet. So sind beispielsweise 29,1 % der befragten Personen davon überzeugt (Skalenwert: 6–7), dass Mobile Health einfach zu benutzen sein wird. Mögliche MobileHealth-Anwendungen, die im Kontext der Gesundheitsversorgung der Studienteilnehmer eingesetzt werden könnten, werden von diesen differenziert bewertet. Die Möglichkeit, Arzttermine und Terminerinnerungen via SMS oder E-Mail zu kommunizieren, wird von den befragten Personen eher positiv gesehen. Anhand der Standardabweichung wird ersichtlich, dass die Bewertungen stärker um den Mittelwert streuen. Dies ist beispielsweise bei dem ersten Item dieses Faktors erkennbar. Auf der einen Seite würden 38,9 % der Studienteilnehmer es begrüßen (Skalenwert: 6–7), wenn sie Arztterminerinnerungen per SMS oder E-Mail zugeschickt bekommen würden. Auf der anderen Seite denken jedoch 27,1 % der befragten Personen (Skalenwert: 1–2), dass ein Empfang von Arztterminerinnerungen via SMS oder E-Mail keinen Nutzen stiften würde. Bei der direkten Kommunikation mit dem Arzt via SMS oder E-Mail ist keine eindeutige Bewertungstendenz erkennbar. Die wahrgenommene Sicherheit der Technologie wird durch die Studienteilnehmer erneut eher kritisch evaluiert. Fast die Hälfte der befragten Personen vertraut der Technologie von Mobile Health eher nicht oder nicht (Skalenwert: 1–3). Darüber hinaus ist mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer davon überzeugt (Skalenwert: 1–2), dass ihre Daten bei einer Verwendung von Mobile Health nicht sicher wären. Dementsprechend wird auch die Möglichkeit, persönliche Gesundheitsinformationen vom Hausarzt via SMS oder E-Mail zugeschickt zu bekommen, zumeist kritisch wahrgenommen. Die dargestellten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Sicherheit der Technologie von Mobile Health für die Studienteilnehmer eine Rolle spielt und letztlich deren Wahrnehmung hinsichtlich der Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit von Mobile Health signifikant beeinflusst. Dies gilt auch für mögliche Mobile-Health-Anwendungen. Studienteilnehmer, die diese als Nutzen stiftend ansehen, bewerten die Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit von Mobile Health eher hoch. Die Handlungsempfehlungen für die Akteure des deutschen Gesundheitswesens werden unter der Annahme abgeleitet, dass sämtliche Barrieren, die eine Einführung von E-Health zurzeit noch verhindern, beseitigt werden können. Bestehende technologische, 352 S. Scholz und N. Roth rechtliche, finanzielle und organisatorische Restriktionen werden deshalb nicht berücksichtigt. 9.5 Implikationen für die Akteure des deutschen Gesundheitswesens Umgang mit datenschutzrechtlichen Bedenken der Endverbraucher:  Die Konzeption von nationalen und supranationalen Datenschutzstandards und -richtlinien stellt die wichtigste Komponente dar, um zukünftig das Vertrauen des Endverbrauchers hinsichtlich E-Health gewinnen zu können. Des Weiteren ist es von Bedeutung, dass die Akteure des deutschen Gesundheitswesens wichtige datenschutzbezogene Informationen im Sinne einer abgestimmten Kommunikationsstrategie an die Endverbraucher übermitteln. Für diesen Zweck wäre eine Durchführung von konzertierten Aktionen zwischen den korporatistischen Verbänden und Institutionen des deutschen Gesundheitswesens sowie dem Bundesministerium für Gesundheit denkbar. Beispielsweise wäre es möglich, dass Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen detaillierte Informationsmaterialien zu Datenschutzkonzepten über ihre Webportale oder über entsprechende Printmedien (z. B. Mitgliederzeitschriften der Krankenkassen, Broschüren in Arztpraxen etc.) für die Bürger und Patienten zur Verfügung stellen. Diese Materialen sollten eingängige Informationen zu dem Systemaufbau und den Verschlüsselungstechniken der jeweiligen E-Health-Anwendung enthalten und in einer verständlichen Art und Weise darstellen, wie Datenmissbräuche vermieden werden können. Darüber hinaus müssen die Bürger und Patienten darüber informiert werden, welche Datenverarbeitungsprozesse bei einem Einsatz der E-Health-Anwendung durchgeführt werden können und wie der Zugang zu diesen Daten reglementiert wird. Auch eine Fremdzertifizierung von E-Health-Anwendungen durch ein unabhängiges und vertrauenswürdiges Institut (z. B. Fraunhofer Institut) kann als Akzeptanz bildende Maßnahme zum Einsatz kommen. Die Ergebnisse einer solchen Fremdzertifizierung könnten dann durch entsprechende Informationskampagnen an den Endverbraucher übermittelt werden. Zudem sollten die E-Health-Anwendungen so konzipiert werden, dass die Patienten und Bürger die Hoheit über ihre Daten behalten und über eine mögliche Einsichtnahme durch Dritte bestimmen können. Durch die Schaffung von Transparenz und die Gewährleistung der Datenautonomie und Kontrolle kann es letztlich gelingen, die Endverbraucher davon zu überzeugen, dass die Verwendung von E-Health-Services keine Gefahr darstellt. Kommunikation des Nutzens von E-Health für den Endverbraucher: Neben der Vermittlung und Kommunikation von datenschutzbezogenen Informationen ist auch eine Darstellung des Nutzens für den Endverbraucher, der durch den Einsatz von E-HealthAnwendungen entsteht, von Bedeutung. Bereits im Entstehungs- und Konzeptionsprozess einzelner E-Health-Anwendungen für den ersten Gesundheitsmarkt sollten Bürger und Patienten im Sinne einer Content-Marketing-Kampagne über die stattfindenden Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 353 Entwicklungsschritte informiert werden. Beispielsweise könnten Krankenkassen Artikel zu den aktuellen Testphasen der elektronischen Gesundheitskarte in ihren Mitgliederzeitschriften oder auf ihrem Onlineportal veröffentlichen, um so die Wahrnehmung der Versicherten zu schärfen. Durch einen kontinuierlichen Informationsprozess kann einerseits die Aufmerksamkeit der Endverbraucher gewonnen und andererseits deren Akzeptanz gegenüber der E-Health-Anwendung sukzessive gesteigert werden. Darüber hinaus sollten zukünftig wissenschaftliche Forschungsergebnisse, die den Mehrwert einzelner E-Health-Anwendungen transparent und unvoreingenommen darstellen, in vereinfachter Form an den Endverbraucher kommuniziert werden. Auch hier könnten die Krankenkassenverbände sowie die kassenärztlichen Vereinigungen in Zusammenarbeit Informationskampagnen konzipieren, um die Patienten und Bürger mit Materialien zu den Vorteilen einzelner E-Health-Anwendungen zu versorgen. Die Akteure des deutschen Gesundheitswesens müssen den Endverbrauchern in einer verständlichen Art und Weise darstellen, wie einzelne E-Health-Anwendungen sie in ihrer Gesundheitspflege unterstützen können. Die Planung und Durchführung geeigneter Kommunikationsmaßnahmen wird für die zukünftige Implementierung von E-Health-Anwendungen im Allgemeinen essenziell sein, da die Endverbraucher (Studienteilnehmer) zurzeit nur wenig über diese Themen wissen. Dies wurde anhand der Auswertung des Kenntnisstandes der Studienteilnehmer ersichtlich. Umgang mit technologiebezogenen Bedenken der Endverbraucher: Die Ergebnisse der empirischen Erhebung haben gezeigt, dass viele Studienteilnehmer die Telediagnose kritisch evaluieren. Bei einem Einsatz der Telediagnose befürchten diese vor allem den Verlust der Arzt-Patienten-Beziehung sowie eine Einschränkung der therapeutischen Möglichkeiten der Ärzte. Deshalb muss bei einem möglichen Ausbau von telediagnostischer Verfahren der persönliche Kontakt zwischen den betroffenen Patienten, bei denen telemetrische Verfahren zum Einsatz kommen sollen, und ihrem Hausarzt bzw. dem behandelnden Arzt forciert werden. Bei der Verwendung der Telediagnose sollte der Hausarzt bzw. der behandelnde Arzt gemäß eines integrierten Versorgungskonzeptes als Berater seiner Patienten agieren und diese über die Funktionsweise des telemetrischen Verfahrens aufklären. Auch mögliche datenschutzrechtliche Themen sollten von den Ärzten proaktiv angesprochen werden, um so die Akzeptanz der Patienten gegenüber der Telediagnose zu erhöhen. Dies gilt vor allem im Umgang mit älteren Patienten, da diese dem Verfahren der Telediagnose tendenziell eher kritisch gegenüberstehen. Um dem neuen Anforderungsprofil gerecht zu werden, müssten Ärzte mithilfe von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen im Umgang mit telemedizinischen Verfahren geschult werden. Bei einem Einsatz des Telemonitorings ist der persönliche Kontakt zwischen den Patienten und medizinischen Experten ebenfalls von großer Bedeutung. Hier könnten ambulante Pflegedienste oder andere soziale Dienste als beratende Instanz agieren, wodurch die behandelnden Ärzte der Patienten entlastet werden würden. Durch eine Erweiterung des Aufgabenbereiches der entsprechenden Dienste wären diese in der Lage, die betroffenen Patienten bei der Verwendung der Geräte zur Messung ihrer Vitalparameter zu 354 S. Scholz und N. Roth unterstützen und würden so als direkter Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Dieser Aspekt ist vor allem bei älteren Personen wichtig, die sich im Umgang mit elektronischen Geräten nicht versiert fühlen und dem Telemonitoring eher ablehnend gegenüberstehen. Zur Erbringung dieser zusätzlichen Services müssten die Krankenkassen bzw. Pflegekassen und die Pflegedienste geeignete Versorgungsverträge vereinbaren, um die Vergütung dieser zusätzlichen Leistungen eindeutig zu regeln. 10 Schlussbetrachtung und Limitationen der Untersuchung Der empirische Teil dieses Beitrags besitzt verschiedene Limitationen. Die Ergebnisse der Stichprobe sind nicht für die Grundgesamtheit repräsentativ, da die Studienteilnehmer nach Verfügbarkeit ausgesucht wurden (convenience sample). Dementsprechend sollten weitere Studien durchgeführt werden, um die in dieser Studie ermittelten Ergebnisse für die Grundgesamtheit zu validieren. Zudem verfügen die meisten Studienteilnehmer über ein abgeschlossenes Abitur oder Hochschulstudium, Personen mit einem geringeren Bildungsabschluss waren in dieser Untersuchung nicht vertreten. Deshalb sollte in weiteren Studien evaluiert werden, wie Endverbraucher mit einem niedrigen Bildungsabschluss E-Health bewerten. Des Weiteren konnte durch die betrachteten Faktoren nur ein Teil der Varianz der abhängigen TAM-Faktoren erklärt werden. Dementsprechend wäre es sinnvoll, wenn in zukünftigen Untersuchungen nach weiteren Einstellungsdeterminanten gesucht werden würde, um so den Anteil der erklärten Varianz der TAM-Faktoren weiter zu erhöhen. Der Einsatz von E-Health-Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen stellt einen vielversprechenden Ansatz dar, um den zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitssystem adäquat begegnen zu können. Es konnte gezeigt werden, dass eine flächendeckende Implementierung von E-Health zurzeit noch durch verschiedene Barrieren verhindert wird. So müssen die Bürger und Patienten beispielsweise von der Nützlichkeit von E-Health überzeugt sein, andernfalls wird eine flächendeckende Einführung von IKT im deutschen Gesundheitswesen nicht gelingen. Der Einsatz von E-Health im Gesundheitswesen kann für den Endverbraucher einen Mehrwert bieten, was etliche Studien belegen. Hinsichtlich dieser Fragestellung besteht in einigen Anwendungsfeldern von E-Health jedoch noch Forschungsbedarf. Auch die Akzeptanz und Einstellung der Bürger und Patienten gegenüber E-Health ist bislang nicht ausreichend erforscht worden. Deshalb wurden in dieser Studie die entsprechenden Konstrukte untersucht. Für die Durchführung der empirischen Erhebung erfolgte die Konzeption eines Fragebogens, der mithilfe des Technology Acceptance Models theoretisch fundiert wurde. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung haben gezeigt, dass die Studienteilnehmer die wahrgenommene Nützlichkeit (PU) und Benutzerfreundlichkeit (PEOU) der einzelnen E-Health-Anwendungsfelder zumeist neutral oder leicht positiv bewerten. Lediglich das Anwendungsfeld der Telediagnose wurde durch die befragten Personen kritischer evaluiert. Zudem wurde anhand der Auswertung der Fragebögen Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 355 ersichtlich, dass verschiedene Einstellungsdeterminanten die Akzeptanz der Studienteilnehmer gegenüber der einzelnen E-Health-Anwendungen beeinflussen. So ist die wahrgenommene Nützlichkeit der Funktionen der E-Health-Anwendungen sowie die Sicherheit der verwendeten Technologie signifikante Prädiktoren der TAM-Faktoren. Dies gilt zumeist auch für das wahrgenommene Risiko, das von den befragten Personen mit einzelnen E-Health-Anwendungen in Verbindung gebracht wird. Die zwei letztgenannten Faktoren wurden hierbei durch die Studienteilnehmer fast durchgehend kritisch bewertet, wodurch letztlich deren Akzeptanz gegenüber E-Health geschmälert wird. Dementsprechend sollten die Akteure des deutschen Gesundheitswesens die aufgeführten Faktoren bei der Konzeption und Ausgestaltung von E-Health-Anwendungen berücksichtigen. Dadurch kann eine mögliche Ablehnung von E-Health durch den Endverbraucher, die ihren Ursprung in den aufgezählten Faktoren hat, vermieden werden. Literatur Anderson JG (2007) Social, ethical and legal barriers to e-health. Int J of Med Inform 76(5–6):480–483 Bass BM, Cascio WF, O’Connor EJ (1974) Magnitude estimations of expressions of frequency and amount. J Appl Psychol 59(3):313–320 Brosius F (2011) SPSS 19. mitp, Heidelberg Bundesministerium für Gesundheit (2013) Glossarbegriff eHealth. http://www.bmg.bund.de/ glossarbegriffe/e/ehealth.html. Zugegriffen: 26. Aug. 2015 David S, Neumann K, Friedl M (2009) E-Health. Wachstumsperspektiven für die Telekommunikationsbranche. Roland Berger Strategy Consultants GmbH, Berlin Destatis (2014) Gesundheitsausgaben 2012 übersteigen 300 Milliarden Euro. https://www.destatis. de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/Aktuell.html. Zugegriffen: 26. Aug. 2015 European Commission (2007) Accelerating the development of the eHealth market in europe. eHealth Taskforce report 2007. European Commission, Luxembourg European Commission (2012a) Communication from the Commission to the European parliament, the council, the European economic and social committee and the committee of the regions. eHealth Action Plan 2012–2020 – Innovative healthcare for the 21st century. European Commission, Brüssel European Commission (2012b) Commission staff working document. eHealth action plan 2012– 2020 – innovative healthcare for the 21st century. European Commission, Brüssel Eysenbach G (2001) What is e-health? J Med Internet Res 3(2):e20 Gagnon M-P, Cloutier A, Fortin J-P (2004) Quebec population and telehealth: a survey on knowledge and perceptions. Telemed J E Health 10(1):3–12 Häckl D (2010) Neue Technologien im Gesundheitswesen. Rahmenbedingungen und Akteure. Gabler Research: Schriftenreihe der HHL – Leipzig Graduate School of Management. Gabler, Wiesbaden Hendrikx HCAA, Pippel S, Wetering R van de, Batenburg RS (2013) Expectations and attitudes in eHealth: a survey among patients of Dutch private healthcare organizations. Int J Healthc Manag 6(4):263–268 356 S. Scholz und N. Roth Kaye R, Kokia E, Shalev V, Idar D, Chinitz D (2010) Barriers and success factors in health information technology: a practitioner’s perspective. J Manag Mark Healthc 3(2):163–175 Meier CA, Fitzgerald MC, Smith JM (2013) eHealth: extending, enhancing, and evolving health care. Annu Rev Biomed Eng 15(1):359–382 Oh H, Rizo C, Enkin M, Jadad A (2005) What is eHealth (3): a systematic review of published definitions. J Med Internet Res 7(1):e1 Pwc (2012) Emerging mHealth: paths for growth. A global research study about the opportunities and challenges of mobile health from the perspective of patients, payers and providers. Pwc, New York Schlereth D, Gentner A, Böhm K (2011) Telekommunikationsdienste von morgen. Vertikale Wachstumsstrategien auf dem Prüfstand. Deloitte & Touche GmbH, Berlin Valeri L, Giesen D, Jansen P, Klokgieters K (2010) Business models for eHealth. Final report. Prepared for ICT for Health Unit, DG Information Society and Media. European Commission. RAND Europe, Cambridge Verhoef PC (2003) Understanding the effect of customer relationship management efforts on customer retention and customer share development. J Mark 67(4):30–45 Weiber R, Mühlhaus D (2014) Strukturgleichungsmodellierung. Eine anwendungsorientierte Einführung in die Kausalanalyse mit Hilfe von AMOS, SmartPLS und SPSS. Springer Gabler, Berlin Wilson EV, Lankton Nancy K (2004) Modeling patients’ acceptance of provider-delivered e-health. J Am Med Inform Assoc 11(4):241–248 Wong P (2010) Breaking down the walls of healthcare. In: Bithell S, Read M (Hrsg) eHealthcare: patient management without walls. Oracle Healthcare, Redwood Shores, S 3 World Health Organization (2011) mHealth. New horizons for health through mobile technologies. Global observatory for eHealth series. World Health Organization, Geneva Zöpfgen D (2013) Elektronische Gesundheitskarte – Realität versus Visionen. In: Goetz CF-J, Grode A (Hrsg) Thesenpapier zur Gesundheitstelematik. Ziele, Strategien und Impulse wichtiger Stakeholder für eine funktionelle Gesundheitstelematik in Deutschland. TeleTrusT – Bundesverband IT-Sicherheit e.V., Berlin, S 55–56 Über die Autoren Dr. Stefanie Scholz  leitet die Marketingabteilung eines mittelständischen Healthcare-Unternehmens und ist im Zuge dessen auch für wissenschaftliche Studien zum Thema Homecare zuständig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themen „E-Health aus Konsumenten- und Patientenperspektive“, „Bedürfnisse älterer Patienten“ und „Arzt-Patienten-Kommunikation“. Sie ist Lehrbeauftragte an der Universität Bamberg und an der Hochschule Fulda – Fachbereich Gesundheits- und Pflegemanagement zum Thema „Health Care Marketing“. Kontakt: Stefanie.Scholz@uni-bamberg.de Determinanten der E-Health-Akzeptanz bei Verbrauchern 357 Nils Roth, M.Sc. war studentischer Forschungsassistent am Lehrstuhl für Marketing der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Im Zuge seiner Tätigkeit unterstützte er unter anderem das Forschungsprojekt „E-Health aus Verbrauchersicht“. Kontakt: NilsRoth1@gmx.net Apps im Gesundheitswesen – echter medizinischer Nutzen oder der Weg zum gläsernen Patienten? Veronika Strotbaum und Beatrix Reiß 1 Status quo Ob kontinuierliche Aufzeichnung des Blutdrucks, das digitale Ernährungstagebuch für Personen mit Essstörungen oder die Apotheken-App zum Check von Medikamentenwechselwirkungen – ein Blick in die App-Stores von Google, Apple & Co macht es deutlich: Es gibt mittlerweile für jedes Krankheitsbild und Gesundheitsbedürfnis kostenfreie und kostenpflichtige Apps. Schätzungen zufolge gab es im Jahr 2015 in den App-Stores (Google Play Store, Apple AppStore, …) ungefähr 103.000 verschiedene Apps aus den Bereichen Gesundheit und Medizin. Allein die beiden größten App-Stores von Google und Apple weisen jeweils mehr als 70.000 Apps aus dem Gesundheitsbereich auf, wobei viele Apps auch auf verschiedenen Plattformen zum Download angeboten werden (vgl. Research2Guidance 2015). Inzwischen dürfte die Zahl deutlich höher liegen, da praktisch täglich neue Apps auf den Markt kommen. Der Markt wird geradezu mit Apps, die einen medizinischen Hintergrund besitzen, überschüttet. Für viele Menschen in Deutschland und anderen Ländern hat sich das Smartphone bereits zum digitalen Gesundheitshelfer entwickelt und dient zur Aufzeichnung von Puls, Blutdruck, täglicher Laufstrecke, etc. Dabei ist das Profil gesunder Menschen ebenso spannend wie das von Patienten/ innen. Denn über die gemessenen Vitalparameter werden Aussagen über den individuellen Lebensstil, die eigene Leistungsfähigkeit und sogar über psychologische Aspekte möglich. Waren Marketingagenturen vor Jahren noch fokussiert auf das allgemeine V. Strotbaum (*)  ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, Bochum, Deutschland E-Mail: v.strotbaum@ztg-nrw.de B. Reiß  ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, Bochum, Deutschland E-Mail: b.reiss@ztg-nrw.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_19 359 360 V. Strotbaum und B. Reiß Konsum- und Verbraucherverhalten in Kombination mit soziodemografischen Merkmalen, so ist mittlerweile fast jedes Individuum über seine Onlineaktivitäten mehr oder weniger qualifizierbar. Vor allem Apps und die damit verbundenen Geschäftsmodelle im Smartphone-Markt spielen im Bereich des Datentrackings eine bedeutende Rolle. Apps sind auch bereits in der Welt der privaten Krankenversicherungen angekommen. Es gibt erste Versicherungsunternehmen, die ihren Kunden/innen Rabatte oder Sonderleistungen beispielsweise in Form von Gutscheinen anbieten, wenn sich diese im Gegenzug bereit erklären, ihre gemessenen Vitalparameter regelmäßig an die Versicherung zu senden und damit quasi bereitwillig sensible Daten von sich preisgeben. Für weitere Unternehmen in der Branche sind entsprechende Modelle vorstellbar (vgl. Gröger 2014). Es stellen sich neue Player und neue Allianzen auf. So wird beispielsweise das Konzept der Apple-Watch, welche über den HealthKit Vitalparameter von Menschen aufnimmt, zusammenführt und für weitere Analysen aufbereitet und verkettet, derzeit von verschiedenen Anbietern kopiert. Die beiden großen US-amerikanischen Technologie-Unternehmen IBM und Apple wollen bei der Nutzung von Gesundheitsdaten zusammenarbeiten. IBM möchte von den Patienten/innen generierte und von den Applegeräten aufgezeichnete Gesundheitsdaten auswerten, Versicherungsunternehmen und Ärzte/Ärztinnen sollen dann auf die Daten zugreifen können (vgl. Spiegel Online 2015). Datenschützer warnen schon lange vor einem sorglosen Umgang mit entsprechenden Applikationen – schließlich zählen Patienten- bzw. Gesundheitsdaten zu den sensibelsten Daten überhaupt (vgl. Haas 2005, S. 216 f.). Insgesamt sind die Folgen des häufig unvorsichtigen Umgangs für den Einzelnen schon heute weder kontrollier- noch abschätzbar. Auf der anderen Seite sind mit den Möglichkeiten, die Apps im medizinischen Umfeld bieten, vielfältige Chancen für ein besseres Management von Erkrankungen verbunden: Langzeit-Monitoring, welches relevante Daten aus dem Alltag der Patienten/ innen analysiert und für den Arzt/die Ärztin verfügbar macht, birgt das Potenzial, den Therapieverlauf und auch die Compliance des Erkrankten individuell zu optimieren. Der „Point-of-Care“ verlagert sich näher an einen „Point-of-Need“, Reaktionszeiten verkürzen sich aufgrund des früheren Erkennens von Verschlechterungstendenzen. Sogar das proaktive Eingreifen in Risikosituationen wird dank mobiler Technologie möglich. Die Patienten/innen werden stärker in den Behandlungsprozess eingebunden und erhalten die Chance, bei der Behandlung aktiv mitzuarbeiten. Insofern können Gesundheitsprofile und -verläufe zum Wohle und im Interesse der Patienten/innen gründlicher und individueller ausgewertet werden (vgl. Abb. 1). Doch aus verschiedenen Gründen, u. a. auch aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken, haben sich abseits der Self-Tracking-Bewegung Apps im medizinischen Alltag von niedergelassenen und stationär tätigen Ärzten/innen und Therapeuten/innen noch nicht durchsetzen können. Zu wenige Apps setzen auf das Zusammenspiel von Arzt/Ärztin und Patient/in, nicht zuletzt wegen fehlender Abrechnungsmöglichkeiten, unklarer Nutzenpotenziale sowie datenschutzrechtlicher Bedenken. Von den zur Verfügung stehenden Apps mit Gesundheitsbezug richten sich somit lediglich 21 % speziell an Personen aus medizinischen Fachkreisen und 15 % an Ärzte/innen (vgl. Funk 2013). Apps im Gesundheitswesen … Point of Care weniger Unsicherheit 361 Point of Need mehr (Lebens-/Entscheidungs-/Behandlungs-)Qualität Abb. 1  Nutzen von Apps im Gesundheitswesen Die skizzierten Vorteile können also nur erreicht werden, wenn die IT-Sicherheit in höchstem Maße beachtet wird, die zugrunde liegende Technik benutzerfreundlich sowie ein klarer Nutzen für die Anwender/innen vorhanden ist und es sich bei den Apps damit nicht nur um eine technische „Spielerei“ handelt. Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend ein Überblick über Apps im Gesundheitswesen gegeben werden, wobei der Schwerpunkt auf Apps für den Gebrauch im medizinischen Bereich und weniger auf Self-Tracking-Applikationen liegt. Nach einer Definition und Abgrenzung von medizinischen Apps werden die funktionalen Grundlagen erläutert und beispielhafte Anwendungsfelder aufgezeigt. Anschließend werden Nutzenparameter auf der einen und Risiken der App-Nutzung auf der anderen Seite formuliert. Das Thema Datenschutz nimmt dabei eine wichtige Rolle ein. Weiterhin wird das Thema Vergütung betrachtet, da die Erwartung an eine vorhandene Vergütungsvereinbarung einen wichtigen Erfolgsfaktor für eine flächendeckende Verbreitung im medizinischen Alltag darstellt. In diesem Zusammenhang wird auf das Thema der Evaluation von Apps eingegangen, da es zunehmend schwierig ist, einen Überblick in diesem Markt zu gewinnen. Bewertung und Evaluation stellen Instrumente dar, mit Hilfe derer erfolgversprechende Apps von eher bedeutungslosen Anwendungen abgrenzbar werden. Zum Abschluss folgen das Fazit und ein Ausblick auf die wohl weiterhin dynamische Entwicklung in diesem Bereich. 2 Grundlagen medizinischer Apps 2.1 Begriffsbestimmung: Medizinische Apps = GesundheitsApps? Bei der Beschäftigung mit dem Thema fällt auf, dass die beiden Begriffe GesundheitsApps und Medizin-Apps häufig synonym verwendet werden. Eine Gleichsetzung der beiden Begrifflichkeiten ist jedoch unscharf. Analog zu vielen anderen E-Health-Anwendungen konnte sich bisher für keine der beiden Kategorien eine einheitliche wissenschaftliche Definition durchsetzen. 362 V. Strotbaum und B. Reiß Grundsätzlich bezeichnet die Gruppe der Gesundheits-Apps mobile Anwendungen, die das Ziel verfolgen, das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden positiv und nachhaltig auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beeinflussen. Medizinische Apps bzw. „Medical Apps“ konzentrieren sich dagegen auf die Diagnostik, Therapie und Prävention von Krankheiten und Verletzungen und bedienen somit ureigene medizinische Themen (vgl. Albrecht 2014, S. 102; Gehring et al. 2014, S. 1403). Häufig werden Gesundheits-Apps nicht zu Apps aus den Bereichen Wellness und Fitness abgegrenzt. Hier wird umfassender der Begriff Mobile Health (mHealth) verwendet, welcher den Einsatz mobiler Informations- und Kommunikationstechnologien in der Gesundheitsförderung, Prävention und der medizinischen Versorgung als eine Teilmenge von E-Health umfasst (vgl. Rossmann und Karnowski 2014). mHealth wird von Endl et al. auf Basis der Definition der WHO ergänzt, womit „medizinische Verfahren sowie Maßnahmen der privaten und öffentlichen Gesundheitsfürsorge, die durch Mobilgeräte wie Mobiltelefone, Patientenüberwachungsgeräte, persönliche digitale Assistenten (PDA) und andere drahtlos angebundene Geräte unterstützt werden“ beschrieben (Endl et al 2015 S. 4). Diese Definition ist breiter angelegt und schließt explizit um Sensorik erweiterbare Lifestyle- und Gesundheits-Apps, sonstige persönliche Assistenzsysteme (z. B. SMSHinweise), sowie drahtlos bereitgestellte Telemedizindienste mit ein. Mittlerweile positionieren sich innovative Start-ups auf dem ersten und zweiten Gesundheitsmarkt, wie der 2. Digitale Gesundheitsreport deutlich macht (vgl. EHealthCom 2015). Im Folgenden jedoch werden Apps für das Gesundheitswesen entlang der Definition nach Albrecht et al. (2015) eingegrenzt, da es nach Auffassung der Autoren auf ihre Eignung im Kernbereich der klassischen Versorgungsmodelle ankommt und ihr Nutzenversprechen demzufolge immer auch darin besteht, das Arzt-Patienten-Verhältnis und in diesem Zusammenhang die interprofessionelle Interaktion und Kollaboration zu unterstützen. Differenzierungsmerkmale von Gesundheits- und Medizin-Apps bestehen hinsichtlich der anvisierten Zielgruppe, dem Zweck, der Funktionalitäten sowie der rechtlichen Rahmenbedingungen. Rossmann und Karnowski (2014, S. 279) benennen als Unterscheidungsmerkmale Anbieter, Adressat, kommerzielles Interesse, Präventionsstufe, Gesundheitsbereich, Aktivitäts- und Interaktivitätsgrad. Medizinische Apps konzentrieren sich auf klare medizinische Funktionalitäten und richten sich an medizinische und pflegerische Fachkräfte. Sie unterliegen dem Medizinproduktegesetz. Anwendungsbeispiele sind medizinische Nachschlagewerke, Rechner (z. B. Arzneimitteldosierung) oder die Sicht auf medizinische Dokumente und Bilder. Gesundheits-Apps hingegen richten sich vorwiegend an gesundheitsinteressierte, medizinische Laien. Diese Nutzergruppe lässt sich weiter segmentieren, in ihr sind auch Patienten/innen und chronisch erkrankte Menschen vertreten. Entspannung, Ernährung bzw. Wellness sowie die Begleitung des körperlichen Trainings sind typische Einsatzbereiche. In der Regel werden Gesundheits-Apps kostenfrei in Apps-Stores angeboten, unterliegen weder einer Qualitätskontrolle durch offizielle Stellen noch dem Medizinproduktegesetz. Sowohl Medizin- als auch Gesundheits-Apps sind für alle Betriebssysteme wie Android, Apple iOS und Windows verfügbar (vgl. Gehring et al. 2014, S. 1403). Apps im Gesundheitswesen … 363 2.2 Funktionen medizinischer Apps Dokumentationsfunktion reagiert auf Eingaben des Nutzers und kann Hinweise geben und ggf. erste Diagnosen ableiten. Therapie Bereitstellung von Informationen und Dokumentationsfunktion; Nutzer kann Eintragungen vornehmen, z.B. in ein digitales Blutdrucktagebuch Coaching Dem Nutzer (Patienten und Fachberufe) wird ein Informationsspektrum bereitgestellt, über Krankheitsbilder, Therapien, etc. Dokumentation Information Smartphone-Modelle besitzen eine Reihe integrierter Funktionalitäten (beispielsweise Onlinefähigkeit, Social Plugins, Foto- und Videokamera, Bluetooth, QR-/StrichcodeScanner, Gyroskop, GPS) und lassen sich prinzipiell beliebig um Sensoren zur Messung von Blutzucker, Temperatur, Blutdruck, PeakFlow, EKG, Gewicht, INR, etc. erweitern. Für den Einsatz durch medizinisches Fachpersonal interessant sind Erweiterungen wie eine aufsetzbare, hochauflösende Kamera, um beispielsweise in der Dermatologie Bilder zur Diagnose und Therapie von (chronischen) Wunden zu erhalten. Sowohl von ihrer inhaltlichen Ausrichtung als auch vom Funktionsumfang her variieren Apps teils sehr stark. Zum einen existieren Apps, die für ein bestimmtes Betriebssystem optimiert sind und demzufolge nur auf der dazugehörigen Plattform zu erwerben sind. Andere Applikationen hingegen sind plattformunabhängig. Es gibt sowohl kostenlose als auch kostenpflichtige Angebote. Manche Apps sind ausschließlich mit vorhandener Internetverbindung nutzbar, andere funktionieren auch offline, wenn auch mit zum Teil eingeschränktem Funktionsumfang. Bei Betrachtung des Gesundheitsbereiches lassen sich Apps zur Interaktion zwischen Ärzten/innen (doc2doc) oder Gesundheitsfachkräften untereinander sowie zwischen Ärzten/innen und Patienten/innen (doc2patient) differenzieren. Apps unterstützen verschiedene Phasen des Versorgungsprozesses, indem sie innovative Konzepte für Prävention (Bewusstsein, Verhalten, Veränderung), Diagnose (Entscheidungsunterstützung, zeitgerechte Intervention), Therapie (mobiles Monitoring, logistisch optimierte Begleitung) und Nachsorge (Verlaufsbeobachtung, Früherkennung von Verschlechterungstendenzen oder Risiken) bieten (vgl. Reiß 2012, S. 120). Ein wichtiges Differenzierungsmerkmal ist das jeweilige zugrunde liegende inhaltliche Angebot der App. Die Applikationen lassen sich je nach Funktion unterschiedlichen Kategorien zuordnen. Unterteilt werden können Apps in vier Kategorien (s. Abb. 2) (vgl. Enste et al. 2013, S. 8 f.): Umsetzung gesundheitsbezogener Anwendungen auf Grundlage von Funktionen des Smartphones • Akustische Signale werden z.B. therapeutisch genutzt Abb. 2  Kategorien medizinischer Apps. (In Anlehnung an Enste et al. 2013, S. 9) 364 V. Strotbaum und B. Reiß 2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen Apps als Medizinprodukt In einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen spielen rechtliche Aspekte eine wichtige Rolle. Ebenso wie Medizintechnik oder Heilmittel kann auch Software unter den Regulierungsbereich der Medizinprodukte fallen. Software kann als Stand-AloneProdukt oder als Teil eines Medizinproduktes vorkommen. Daher haben auch medizinische Apps grundsätzlich das Potenzial, als Medizinprodukt klassifiziert zu werden, sofern die Zweckbestimmung der Applikation durch den Hersteller/Eigentümer klar auf Diagnostik und/oder Therapie gemäß dem deutschen Medizinproduktegesetz (vgl. Gärtner 2010) ausgelegt ist. Medizinprodukte müssen ein sogenanntes Konformitätsverfahren durchlaufen. Die jeweiligen Normen, die mit der Nutzung als Medizinprodukt verbunden sind, müssen erfüllt werden. Bekannte Beispiele dafür sind: • • • • DIN EN ISO 14971 (Risikomanagement) DIN EN ISO 13485 (Qualitätsmanagement) DIN EN 62366 (Gebrauchstauglichkeit) DIN EN 62304 (Software-Lebenszyklus-Prozess) (vgl. Gärtner 2010). Einige Apps sind de facto Medizinprodukte, ihre Zweckbestimmung wird vom Hersteller jedoch anders deklariert. Hersteller umgehen somit den aufwendigen Konformitätsnachweis und verschieben Haftungsaspekte auf die Anwender/innen. Es ist unklar, wie viele Apps tatsächlich unter das Medizinproduktegesetz fallen würden. Im (klinischen) Alltag dürfen Ärzte/innen Apps zwar grundsätzlich einsetzen. Ist eine Anwendung jedoch nicht mit dem CE-Kennzeichen ausgezeichnet, also kein deklariertes Medizinprodukt, hat dies Auswirkungen bei der Übernahme von Haftung und wettbewerbsrechtlicher Verantwortung, der Hersteller zeichnet sich dann nicht für die Eigenschaften der Applikation verantwortlich (vgl. Hillienhof 2015). Trotz aller Bemühungen fallen klare Abgrenzungen und die Identifizierung des Regulierungsbedarfs schwer: Wann genau ist die App „nur“ ein verwaltendes oder verbindendes, technisches Hilfsinstrument – und ab wann entfaltet sie konkreten gesundheitsbezogenen und damit therapeutisch relevanten Nutzen? Auf welche Daten, Inhalte oder Funktionen der App stützt sich eine beispielsweise im Monitoring angepasste Therapieentscheidung tatsächlich? Ohne die Innovationskraft dieser disruptiven Technologie unnötig zu beschränken, wird die Diskussion zur Frage, ab wann eine Software und insbesondere eine mobile App ein Medizinprodukt ist, in Deutschland – vor allem angesichts des zunehmenden Einsatzes von Sensoren und vernetzten, intelligent analysierenden und kommunizierenden Medizinprodukten – noch differenzierter geführt werden müssen. Apps im Gesundheitswesen … 365 Datenschutz und Geschäftsmodelle Neben der Frage des Medizinproduktegesetzes spielen datenschutzrechtliche Aspekte eine zentrale Rolle. Um eine App verwenden zu können, muss die Nutzerin oder der Nutzer dem Smartphone Daten anvertrauen. Dabei wird bewusst oder unbewusst eingewilligt, dass einer App bestimmte Zugriffsrechte gewährt werden. Diesen Umstand und die weite Verbreitung von Smartphones haben Unternehmen und Werbenetzbetreiber bereits für sich entdeckt. Während der/die Patient/in üblicherweise durch die Schweigepflicht der/des Mediziners/in geschützt ist, ist bei zahlreichen Apps hingegen nicht ersichtlich, wer welche Daten einsehen kann, was mit ihnen geschieht und ob sie beispielsweise an Dritte weitergegeben werden. Jede digitale Aktivität zieht eine Datenspur und ist – sofern nicht geschützt – weiter nutzbar. Insbesondere im Falle von Applikationen, die kostenfrei erhältlich sind, gründen privatwirtschaftliche Geschäftsmodelle auf der Sammlung, Weitergabe und Auswertung von Daten. In den letzten Jahren haben solche Modelle aus der Datenwirtschaft vor der Gesundheitsbranche nicht haltgemacht, im Gegenteil. Allianzen zwischen Herstellern sowie der Trend zu Big Data unterstreichen die Entwicklung, im Umfeld von Gesundheit mit Datenhandel, -integration, -aggregation, -analyse und -verkettung sowie nutzerbezogenen Diensten auch kommerzielle Interessen zu verfolgen. Im Kontext von Gesundheits-Apps ist das sogenannte User-Profiling (auch UserModelling), übersetzt „Benutzerprofil- oder Benutzermodell-Erstellung“, interessant. Der Ansatz nutzt verschiedene Data-Mining-Techniken mit dem Ziel, bewusst oder unbewusst übertragene Nutzerinformationen zu analysieren und ein aussagekräftiges UserProfil zu erstellen (vgl. Weber 2009). Bei kostenfreien Diensten, häufig über Freemium-Modelle distribuiert, zahlen die Nutzer/innen quasi als Gegenleistung für den kostenlosen Download mit ihren Daten. Die Geschäftsmodelle im E-Commerce realisieren üblicherweise Umsatz mit Werbeeinnahmen, Sponsorenbeiträgen, Abonnentengebühren oder Einkommen aus Transaktionen (z. B. Provisionen für die Weiterleitung von Kunden). Problematisch bei einem Transfer auf Modelle mit Gesundheitsdaten ist die fehlende Transparenz und damit letztlich die fehlende Kontrolle sowie die fehlende Kenntnis aller Folgezusammenhänge durch die Nutzer/innen, denn Daten können in der digitalen Welt leicht in falsche Hände geraten. Grundsätzlich erlauben die Voreinstellungen einzelner Apps häufig umfassendere Zugriffe als tatsächlich benötigt, was im Sinne eines auf Datentracking ausgerichteten Geschäftsmodells vorteilhaft sein kann. Die Nutzer/innen müssen die Berechtigungen einer App aktiv in den individuellen Einstellungen kontrollieren und etwaige unerwünschte oder unnötige Zugriffe deaktivieren. Weiter sicherheitskritisch sind mangelhafte und wenig verschlüsselte Passwortfunktionen, sodass es unbefugten Dritten leicht gemacht wird, Daten abzufangen (vgl. Schuster 2014). Viele Apps aus den Bereichen Gesundheit und Medizin sind gegen sogenannte „Man-in-the-Middle“-Attacken nur unzureichend geschützt. Dabei besteht die Gefahr, dass Unbefugte den Datentransfer zwischen zwei Kommunikationspartnern ungeschützt einsehen und sogar manipulieren können. Viele Apps arbeiten ohne SSL-Verschlüsselung (vgl. Klein 2015). 366 V. Strotbaum und B. Reiß Problematisch wird es dann, wenn deutsche Datenschutzgesetze nicht greifen, weil sich Server im Ausland befinden. Ein umsichtiger Umgang mit Apps und ein kritisches Bewusstsein sind daher stets empfehlenswert. Noch gibt es keine offizielle Prüfstelle, die systematisch, unabhängig und umfassend kontrolliert, ob und welche Apps Möglichkeiten des Datenmissbrauches bieten (vgl. Albrecht et al. 2012; Neumaier 2014, S. 20 ff.). Anhand welcher Kriterien erkennbar ist, ob es sich um eine vertrauenswürdige App handelt oder nicht, wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags erläutert. 2.4 Vorteile und Chancen versus Risiken und Grenzen Wie jede andere Technologie auch bieten medizinische Applikationen Chancen für eine Optimierung von Prozessen im Gesundheitswesen, aber auch Risiken, die sich durch ihren Gebrauch ergeben können. Die Potenziale sind dabei durchaus vielfältig: Zunächst ist wie bei anderen E-HealthTechnologien auch der verbesserte, auf Wunsch permanente Zugang zu unterschiedlichen und örtlich voneinander getrennten Informationen zu nennen. Diese digitale Datenbasis bildet den Ausgangspunkt für alle weiteren Mehrwerte, die mit dem Zugriff und dem Teilen von Daten zusammenhängen. Als vielversprechend ist die Möglichkeit zu betrachten, eine verbesserte und technisch wie semantisch einheitliche Kommunikationsbasis zu schaffen. Vorteile sind vor allem mit Blick auf die Verfügbarkeit und Qualität von Daten zu erwarten, da ereignisbasiert oder krankheitsschuborientiert dokumentiert bzw. kommuniziert werden kann. Hierbei ist insbesondere das (Langzeit-)Monitoring im Alltag der Patienten/innen vielversprechend. Solche Analysemöglichkeiten sind in heutigen Versorgungsmodellen, die sich auf wenige Arzt-Patienten-Kontakte begrenzen, schlicht nicht möglich. Die in der App vorhandenen Informationen sind jederzeit und überall, idealerweise in Echtzeit, abrufbar. Brüche im Informationsfluss, bei Übergängen oder durch verzögerte Informationen, beispielsweise weil der weiterbehandelnden Einrichtung ein benötigtes Dokument noch nicht vorliegt, können vermieden werden, ebenso wiederholte Rückfragen per Telefon oder Fax. Dies geht mit einer Zeitersparnis einher. Ebenso bieten Apps je nach Ausgestaltung die Möglichkeit, diverse Funktionen innerhalb einer Anwendung bzw. mit einem Gerät nutzen zu können. Hier können Tagebuchfunktionen, die Zusammenschau von Bildern, die Abnahme von EKG-Daten, die Darstellung von Verläufen oder die Visualisierung großer Datenmengen als übersichtliche Diagramme, usw. genannt werden. Diese bessere Sicht auf Daten führt zu einer einheitlicheren Informationsbasis und unterstützt gezielt die Therapieplanung und -überwachung. Insbesondere in Notfallsituationen stehen wichtige Informationen bereit (Checklisten bezüglich Erster Hilfe, Informationen über Allergien, Medikation, etc.). Ebenso wird über entsprechende Apps eine Verknüpfung zu medizinischen Leitlinien und Krankheitsbildern möglich, sodass medizinische Fachkräfte im Bedarfsfall unabhängig von Büchern auf Spezialwissen zurückgreifen können. Dies fördert die Behandlungsqualität. Einher geht damit auch, Apps im Gesundheitswesen … 367 dass der Kommunikationsfluss zwischen verschiedenen beteiligten Gesundheitseinrichtungen und ihren Patienten/innen verbessert sowie die Chancen für interdisziplinären Austausch erhöht werden (vgl. Enste et al. 2013, S. 9 ff.; Haas 2005, S. 202 ff.). Für die Ausgestaltung stärker kooperativ ausgerichteter Zusammenarbeit wird die Modellierung einer Kompetenzkaskade, die sich an den Kernkompetenzen und -aufgaben der verschiedenen Akteure ausrichtet und datenbasiert steuerbar ist, möglich. Nicht zuletzt erhält der/die Patient/in durch den Umgang mit den Daten und dem besseren Draht zum Arzt/zur Ärztin die Chance, aktiver in das eigene Krankheitsmanagement eingebunden zu werden. Die Beschäftigung mit der Erkrankung und der Einblick in Verläufe der Krankheit fördern das Verstehen von Zusammenhängen und das Verständnis für therapeutische Maßnahmen, wodurch positive Effekte auf die Compliance erhofft werden. Speziell der interaktive Charakter der Anwendungen beeinflusst positiv Faktoren wie Lernen, Selbstwirksamkeitserleben und Kontrollüberzeugungen (Hawkins et al. 2007; Neuhauser und Kreps 2003). Bestimmte Personenkreise können mitunter gezielter angesprochen werden als bei der konventionellen Behandlung. Zusammengefasst besteht die Chance, dass Apps ihren Beitrag in praktisch allen Phasen eines am Patienten orientierten Versorgungsprozesses leisten. Technologische und organisatorische Innovationen können gerade in der Anfangszeit der Nutzung jedoch auch Gefahren bergen. Zunächst sind Datenschutzrisiken zu analysieren. Vor allem international entwickelte und vermarktete Apps unterliegen nicht zwangsläufig deutschen Datenschutzgesetzen. Ein Datenmissbrauch ist im Falle ungeprüfter oder intransparenter Apps nicht auszuschließen. Unterliegen Apps mit einer eher medizinischen Zweckbestimmung nicht dem Medizinproduktegesetz, birgt ihre Nutzung unter Umständen haftungsrechtliche Probleme für die Anwender/innen (vgl. Albrecht et al. 2012). Ebenso stellt sich die Frage nach der Haftung sowie dem Verfahren für den Umgang mit selbst erhobenen Daten, wie z. B. Blutdruck, die ein Patient/eine Patientin, gegebenenfalls ungefragt, an seine Hausarztpraxis sendet. Hier fehlt den meisten Apps ein klar definiertes Zusammenspiel zwischen Behandler/in und Patient/in. Während in telemedizinischen Szenarien zur Sicherstellung einer hochwertigen 24-h-Begleitung der erkrankten Person ein telemedizinisches Servicezentrum zwischengeschaltet wird, sehen viele App-Konzepte keine Einbettung in Prozesse und Strukturen der klassischen Versorgung vor (vgl. Reiß 2014, S. 40 f.). Patientendaten dürfen nur bei ausreichendem Schutz und unter bestimmten Voraussetzungen bearbeitet werden, deshalb kann mangelnde Datensicherheit Probleme verursachen. Die Kommunikationspartner müssen sicher sein, mit der richtigen Person verbunden zu sein. Eine ausreichende Verschlüsselung und die Zugriffskontrolle über eine Nutzerauthentifizierung sind essenziell, um einen unzulässigen Zugriff zu vermeiden oder beispielsweise die Risiken im Falle eines Verlusts des Gerätes zu minimieren (vgl. Albrecht et al. 2013). Werden Apps in der Praxis oder insbesondere im Krankenhaus eingesetzt, spielen Hygieneanforderungen eine Rolle, da Displays durch die ständige Berührung mit den Händen verschiedener Mitarbeiter/innen Krankheitserreger übertragen können. Daher müssen die verwendeten Geräte desinfizierbar sein (vgl. Albrecht et al. 2013). 368 V. Strotbaum und B. Reiß Da die Applikationen auch mit dem Ziel eingesetzt werden, eine Interaktion zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und auch Geräten zu ermöglichen, stellt mangelnde Interoperabilität1 einen hemmenden Faktor dar. Vor allem dann, wenn möglichst viele unterschiedliche Geräte miteinander kommunizieren sollen, muss eine Integration in Hinblick auf die technische Infrastruktur, die Datenbasis, die Funktionalitäten sowie auf semantischer Ebene (Benutzung gleicher Begriffe und Abkürzungen) geleistet werden, was mit einem hohen Aufwand einhergeht (vgl. Haas 2005, S. 68 f.). Schnelllebige und nicht integrierbare Apps stehen sogar echter Arbeitserleichterung entgegen. Es ist zu konstatieren, dass die enorme Vielfalt der zum Teil sehr interessanten Lösungen heute noch nicht den tatsächlichen Bedarf von Anwendern/innen im Gesundheitswesen deckt. Diese haben hohe Erwartungen an mobile Dienste, insbesondere möchten sie interprofessionell und beliebig vernetzt zusammenarbeiten. Trotz aller Vorteile mobiler Technologie löst diese allein nicht bestehende Grenzen zwischen Behandlern/innen in unterschiedlichen Sektoren auf. Ein sich zunehmend verschärfendes Problem ist die fehlende Transparenz des AppMarktes hinsichtlich Geschäftsmodell, Datenschutz, medizinischen Anwendungsbereichen und Zielen und damit letztlich des medizinischen Nutzens einer Applikation. Damit einhergehend stellt sich die Schwierigkeit, qualitativ hochwertige Apps von anderen unter angemessenem Zeitaufwand zu unterscheiden. Angesichts der Fülle verfügbarer Apps und der Problematik ihrer Präsentation und Selektionsmöglichkeiten in den AppStores ist es für Nutzer/innen schwer, auf Basis einer guten Beurteilungsgrundlage die jeweilige Qualität der Anwendung und den zu erwartenden Nutzen vor Installation einer App bewerten zu können. In den Anfangszeiten des E-Commerce stellten User-Bewertungen eine vielversprechende Methodik dar, Produktangaben und Werbeversprechen von Herstellern einzuordnen. Heute ist die Methodik insbesondere von Nutzerbewertungen in Apps-Stores angreifbar und folglich wenig zuverlässig. Teils sind nicht ausreichend aussagekräftige Bewertungen vorhanden, oft ist nicht nachvollziehbar, wer die Bewertungen mit welchem Interesse verfasst hat (vgl. Enste et al. 2013, S. 13). Es gibt nach einer Studie des US-Informatikprofessors Bing Liu Hinweise darauf, dass bis zu einem Drittel der Empfehlungen im Internet gefälscht sein könnten und statt der „Intelligenz des Schwarms“ ein Heer an Auftragsschreibern verdeckte PR inszeniert (vgl. Gast 2014). Neben einem fehlenden Bewusstsein für die besonderen Anforderungen von Apps im Umfeld von Gesundheit und Medizin gibt es derzeit keinen breiten Konsens über verbindliche Transparenzkriterien und Qualitätsmerkmale. Viele Apps erhalten keine Informationen zu den Themen Datenschutz, Herstellerangaben, Finanzierungsquellen sowie allgemeine Produktangaben und können daher kaum als vertrauenswürdig eingestuft werden (vgl. Krüger-Brandt 2012). 1Unter Interoperabilität wird die Fähigkeit von Systemen bzw. Software verstanden, mit anderen Systemen zusammenzuarbeiten und zu kommunizieren (vgl. Haas 2005, S. 716). Apps im Gesundheitswesen … 369 Die fehlende Vertrauenswürdigkeit in Bezug auf die Qualität der Inhalte und den Nutzen einer Anwendung ist nur ein kritischer Aspekt. Der andere, wesentlich problematischere, besteht darin, dass von einer App sogar ein medizinisches Risiko ausgehen kann. Dies gilt für rein automatisierte Diagnosefunktionalitäten. So wurden in einer dermatologischen Studie der Universität Pittsburgh vier Apps zur Erkennung von Vorstufen des schwarzen Hautkrebses untersucht. Diese sollten über mit der Handykamera aufgenommene Fotos und mittels einer speziellen Erkennungssoftware Krebs erkennen können. Drei der vier Angebote erwiesen sich als unzuverlässig, selbst die beste Applikation entschied noch bei 30 % der malignen Melanome auf gutartig (vgl. Wolf und Moreau 2013, S. 1). Für den Laien kann die Erstellung von Eigendiagnosen mithilfe von Software und ohne medizinische Expertise schwerwiegende Folgen besitzen, beispielsweise dann, wenn eine schwere Erkrankung nicht erkannt oder eine noch heilbare Erkrankung in der App als nicht behandlungsbedürftig dargestellt wird. So vorteilhaft eine frühzeitige ärztliche Intervention ist, so nachteilhaft ist bei grundsätzlich zeitkritischen Maßnahmen die verspätete Therapieeinleitung oder -veränderung. Nicht immer birgt die Applikation selbst ein spezielles Risiko, auch ein falscher Umgang ist problematisch. Zentral ist vor allem die richtige Einschätzung über Möglichkeiten und Grenzen einer App: Nutzer/innen müssen wissen, dass heutige Apps nur eine Behandlungsunterstützung darstellen und keinesfalls den Weg zum Arzt/zur Ärztin ersetzen können. Für die Fachkräfte ist es wichtig, trotz zunehmend automatisierter Prozesse niemals auf Plausibilitätskontrollen sowie den menschlichen Sachverstand zu verzichten und sich insofern auf technische Instrumente nur ergänzend zu stützen. Deshalb ist es im Umfeld von Medizin und Gesundheit unerlässlich, dass Anwender/ innen Einsatzbereiche und Grenzen einer App und damit ihren Qualitätsanspruch eindeutig und differenziert einschätzen können müssen. Abb. 3 fasst die Vor- und Nachteile noch einmal zusammen. Ͳ 'ĞŵĞŝŶƐĂŵĞ /ŶĨŽƌŵĂƟŽŶƐͲ ƵŶĚ <ŽŵŵƵŶŝŬĂƟŽŶƐďĂƐŝƐ Ͳ sĞƌŶĞƚnjƵŶŐ Ͳ >ĞŝĐŚƚĞƌĞƌtŝƐƐĞŶƐnjƵŐĂŶŐ Ͳ <ƌĂŶŬŚĞŝƚƐŵĂŶĂŐĞŵĞŶƚͬ ŽŵƉůŝĂŶĐĞ Ͳ ͣŝŵŵĞƌnjƵƌ,ĂŶĚ͞ Ͳ ZĞĐŚƚůŝĐŚĞWƌŽďůĞŵĞ Ͳ ,LJŐŝĞŶĞͲŶĨŽƌĚĞƌƵŶŐĞŶ Ͳ /ŶƚĞƌŽƉĞƌĂďŝůŝƚćƚ Ͳ DĂŶŐĞůŶĚĞdƌĂŶƐƉĂƌĞŶnj Ͳ &ĞŚůĞŶĚĞ YƵĂůŝƚćƚƐŬŽŶƚƌŽůůĞ Ͳ ƉƉƐĂůƐƌnjƚĞƌƐĂƚnj Abb. 3  Chancen und Risiken von medizinischen Apps 370 V. Strotbaum und B. Reiß Die genannten Chancen und Risiken sind für jede Applikation individuell zu bewerten, ihre Gewichtung kann abhängig vom Anwendungskontext variieren. Entscheidend sind zwei Aspekte: 1. Der stets differenzierte und kritische Umgang mit digitalen Gesundheitshelfern. 2. Das Bewusstsein, dass Apps nur ein komplementäres Instrument darstellen und menschliche Expertise niemals ersetzen können. 3 Einsatz von medizinischen Apps im Gesundheitswesen 3.1 Situation in Deutschland Apps oder ganz allgemein mHealth werden nicht nur vielfältige Potenziale mit Blick auf die Optimierung der Patientenversorgung zugesprochen, sondern auch in Hinblick auf die Gesundheitswirtschaft. Unternehmen aus der Pharma- sowie Medizintechnik-Branche und Einrichtungen aus dem Kern des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Praxen, …) erhalten die Möglichkeit, Mehrwertdienste auf Grundlage neuer Geschäftsmodelle zu entwickeln. So wird beispielsweise die Verbindung zwischen Social Media und Pharmakovigilanz oder die Entwicklung neuer Medikamente, verknüpft mit einer verbesserten Datenbasis und personalisierter Medizin, gesehen. Auf diese Art und Weise erhalten Firmen neue Marketing- und Absatzmöglichkeiten und Patienten/innen die Option auf idealerweise besser verträgliche Medikamente sowie Therapien. Insbesondere die in den letzten Jahren sprunghafte angestiegene Verbreitung von Tablets und Smartphones sowie die Tatsache, permanent online sein zu können, geben mHealth einen Aufschwung. Das Beratungsunternehmen AT Kearney beziffert in seiner Studie das Marktpotenzial von mHealth auf drei Mrd. Euro im Jahr 2017 – wenngleich solche Schätzungen natürlich stets mit Unsicherheiten behaftet sind (vgl. Scheel et al. 2013, S. 4). Fachkräfte im Gesundheitswesen stehen der Nutzung von medizinischen Apps inzwischen zunehmend positiv gegenüber. In einer Studie von DocCheck (2012) gaben zwei Drittel der Befragten (Ärzte/innen, Apotheker/innen, Heilpraktiker/innen) an, medizinische Apps zu nutzen. Die Apps „Arznei aktuell“ und „Medikamente (Rote Liste)“ wurden dabei weiterempfohlen. Unter Ärzten/innen werden facharztspezifische Apps und medizinische Kalkulationsprogramme/Formelrechner am meisten genutzt (vgl. DocCheck 2012, S. 10). Eine Befragung unter angehenden Ärzten/Ärztinnen hat gezeigt, dass die potenzielle Nutzungsabsicht durchaus hoch ist. Der Großteil wünscht sich jedoch im Vorfeld einer vorstellbaren Nutzung mehr Informationen zu Vor- und Nachteilen medizinischer Apps. Diese Befragungsergebnisse unterstreichen, dass Mediziner entgegen mancher Vorurteile keineswegs technikfeindlich sind. Sie formulieren mit der noch zögerlichen Nutzung von Apps eher ihren besonders hohen Anspruch an die Apps im Gesundheitswesen … 371 Qualität dieser Instrumente, die ihre Arbeit absichern und unterstützen sollen und dabei ausreichend sicher sind (vgl. Eggers et al. 2015, S. 26 ff.). Angesichts einer starken Marktregulierung hat es trotz boomender Gesundheitswirtschaft bis dato keine einzige medizinische App in die flächendeckende Regelversorgung geschafft. Die gesetzlichen Krankenkassen zeigen sich aktuell noch zögerlich, bisher (Stand November 2015) gibt es nur drei Apps, für die es für gesetzlich Versicherte eine Vergütungsregelung gibt (vgl. Caterna Vision GmbH 2015; Techniker Krankenkasse 2015; Institut der Kasseler Stottertherapie 2015): • Caterna Sehschule für Amplyopie-Patienten/innen (Schwachsichtigkeit eines Auges) (➔ Barmer GEK) • Tinnitracks App für Tinnitus-Patienten/innen (➔ Techniker Krankenkasse) • Kasseler Stottertherapie mit drei altersgerecht gestalteten Apps (➔ verschiedene Krankenkassen, u.a. AOK, DAK Gesundheit, mhplus,...) Damit konzentriert sich die derzeit berücksichtigte, typische Nutzergruppe auf gesunde 20–45-Jährige, ungeachtet der Chancen medizinischer Apps speziell für chronisch kranke Personen (vgl. Scheel et al. 2013, S. 5). Die Gründe für den langsamen Adoptionsprozess sind zunächst auf die (unklaren) rechtliche Rahmenbedingung zurückzuführen. Im Gegensatz zu den USA können die Hersteller hierzulande selbst entscheiden, ob es sich bei ihrem Produkt um ein Medizinprodukt handelt oder nicht. In den USA müssen medizinische Apps von der FDA (Food and Drug Administration) zugelassen werden (vgl. aerzteblatt.de 2015; Yetisen et al.2014, S. 1 ff.). Die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen halten mit den raschen und dynamischen Entwicklungen auf dem Markt nicht mit, was den Einsatz im medizinischen Umfeld erschwert. Eine weitere Herausforderung bezüglich des Einsatzes medizinischer Apps in Deutschland stellen – analog zu den meisten anderen E-Health-Anwendungen – die bisher fehlende Regelung zur Vergütung/Abrechnung und fehlende, patientenorientierte Geschäftsmodelle dar. Eine klare Vergütungsregelung ist unverzichtbar auf dem Weg hin zu einem flächendeckenden Angebot über das GKV-System. Grundlage für die Aufnahme mobiler Anwendungen in medizinische Vergütungskataloge ist der Nachweis eines gesundheitsökonomischen Nutzens für die Anwender/innen. Insbesondere der Nachweis des Nutzens bei Apps wird von vielen Experten/innen als komplex angesehen und ist bisher nur in geringem Maße erbracht bzw. wissenschaftlich diskutiert worden. Dennoch: Mobile Applikationen werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach (etwa über den zweiten Gesundheitsmarkt) schneller verbreiten als andere E-Health-Technologien. Auch durch diesen Akzeptanzvorsprung bieten sie vielleicht die Chance, weiteren digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen als Wegbereiter zu dienen. Hier existieren einige Anwendungsszenarien, von denen Patienten/innen auch in Deutschland profitieren könnten. 372 V. Strotbaum und B. Reiß 3.2 Anwendungsszenarien Für mobile Applikationen im Gesundheitswesen gibt es grundsätzlich viele denkbare Anwendungsfelder. Das Spektrum für Einsatzbereiche erstreckt sich von der simplen Medikamentenerinnerung bis hin zur anspruchsvollen mobilen Workstation, Funktionsumfang und Komplexität von Anwendungen und deren Kombination sind nahezu unbegrenzt (vgl. Reiß 2012, S. 284). Aufgrund der noch immer vorherrschenden Interoperabilitätsproblematik zwischen Daten verarbeitenden Systemen in verschiedenen Einrichtungen und Sektoren sind mobile Dokumentations- und Erfassungsvorgänge ein erster interessanter Schritt. Kombiniert mit Webanwendungen, ergibt sich so die Basis für komplexere Anwendungskonzepte (vgl. Maryschok und Schöffski 2011, S. 317). Nachfolgend sollen zwei beispielhafte Apps vorgestellt werden, von denen die Erste speziell Patienten/innen und die Zweite insbesondere Ärzte/innen fokussiert (s. Abb. 4 und 5). Abb. 4   Steps-Tagebuch. (Otsuka Pharma GmbH 2014) Apps im Gesundheitswesen … 373 Abb. 5  App „DHL Leitlinien“. (Boerm Bruckmeier Verlag GmbH 2015) 1. Steps-Tagebuch für psychisch kranke Patienten Diese App ist ein mobiler Begleiter für psychisch kranke Patienten/innen (mit Fokus auf Schizophrenie und bipolaren Störungen), die eine Dokumentationsfunktion mit einer ­Erinnerung an die tägliche Medikamenteneinnahme verbindet. Um den Verlauf der Erkrankung patientenseitig zu erfassen und diesen auch dem Arzt/der Ärztin sichtbar machen zu können, können Betroffene täglich die einzelnen Phasen ihrer Erkrankung durch die Tagebuchfunktion aufzeichnen und grafisch darstellen lassen. Beispiele für Eintragungen sind Schlafdauer, innere Unruhe, subjektive Belastungen, etc. So erhalten die Erkrankten einen Überblick über den Verlauf einzelner Symptome und die Möglichkeit, ihre Krankheit besser zu verstehen und Selbstvertrauen im Umgang mit dieser zu entwickeln. Daneben gibt es noch eine Erinnerungsfunktion für die tägliche Medikamentendosis sowie allgemeine Informationen zu den Erkrankungen Schizophrenie und bipolare Störung. Für die Nutzung sind keine persönlichen Daten anzugeben (vgl. Mitternacht 2012). Die Applikation ist kostenlos und sowohl im Google Play Store als auch bei Apple im App-Store erhältlich. 2. DHL Leitlinien Bei dieser App handelt es sich um die mobile Applikation der Deutschen Hochdruckliga e. V. Die App unterstützt Mediziner/innen bei der Diagnostik und Therapie von 374 V. Strotbaum und B. Reiß Hypertonie und stellt dafür vielfältige Instrumente bereit. Die Applikation beinhaltet Leitlinientexte zur Diagnose und Therapie des Bluthochdrucks und stellt dazu eine Schlagwort- bzw. Volltextsuche bereit. Sie ist eine mobile Adaption der im Jahre 2013 erschienenen Leitlinie der European Cardiology Society (ESC) und der European Society of Hypertension (ESH) und begründet sich auf den internationalen Leitlinien zur Behandlung des Bluthochdrucks. Neben der Bereitstellung von Informationen bietet sie interaktive Tools, beispielsweise in Form von Kalkulationen, Scores, Diagnose- und Therapiealgorithmen. Beispielsweise hilft die App anhand von Checklisten bei der Beantwortung der Frage, ob eher eine Mono- oder eine Kombitherapie besser geeignet ist (vgl. Boerm Bruckmeier Verlag GmbH 2015). Die Applikation steht sowohl im Google Play Store als auch im App-Store von Apple zum Download bereit und ist kostenlos. Eine gute exemplarische Darstellung von mobilen Lösungen im ambulanten Bereich, im Chronic Care Monitoring sowie in der der Langzeitbetreuung älterer Menschen (Telehome Monitoring) bieten Endl et al. (2015, vgl. S. 32 ff.). 4 Evaluation von medizinischen Apps Mit der zunehmenden Verbreitung von Apps wird auch die Frage nach deren Nutzen lauter. Dem Vorwurf von Technikverliebtheit und Spielerei steht der unerlässliche Anspruch nach Evaluation von Nutzen und Risiken in medizinischen Settings gegenüber. Bei der Beschäftigung mit dem Thema fällt vor allem die Diskrepanz zwischen der hohen Dynamik der kommerziellen bzw. technischen Entwicklung und der vergleichsweise geringen Intensität zugehöriger wissenschaftlicher Forschung auf. De la Vega und Miró haben in ihrem 2014 erschienenen Review (de la Vega und Miro 2014, S. 3) Apps zur Unterstützung von Schmerzpatienten/innen sowohl in wissenschaftlichen Datenbanken als auch in den App-Stores miteinander verglichen. Bemerkenswert dabei war, dass zu keiner von den 283 in den App-Stores gefundenen Applikationen in einem wissenschaftlichen Journal bzw. in einer wissenschaftlichen Datenbank publiziert wurde. Umgekehrt waren von den 34 in den wissenschaftlichen Datenbanken gefundenen schmerzassoziierten Apps keine in den fünf untersuchten App-Stores zu finden. Dies zeigt deutlich, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und Wissenstransfer zu faktisch genutzten Apps offensichtlich Lücken aufweist. Trotz des hohen Anspruchs an Produkte laufen Wissenschaft, medizinisch-technische Forschung und Wirtschaft bzw. App-Entwicklung unverbunden nebeneinander her. Dabei könnten Austausch und gemeinsame Lernerfahrungen sich besonders in diesem Innovationsfeld als vorteilhaft erweisen. In diesem komplexen Feld ist es nicht trivial, Erkenntnisse zwischen dem vermuteten Wirkprinzip und möglichen Zusammenhängen zu gewinnen. Hier wären interdisziplinäre Forschungsansätze ebenso vorteilhaft wie auch eine Einbindung von Patient/innen. Insgesamt können die wissenschaftliche Begutachtung und die qualitative Bewertung von Apps nicht mit der schnellen technischen Entwicklung mithalten (de la Vega und Miro 2014, S. 8). Apps im Gesundheitswesen … 375 Nach Rossmann und Karnowski (2014, S. 281) „fehlt es an einem klaren Verständnis darüber, wie mHealth eingesetzt werden muss, um optimale Ergebnisse zu erzielen (etwa im Hinblick auf die notwendige Dosis, Kontaktfrequenz und Dauer der Intervention, die Gestaltung der Botschaften sowie den Einfluss maßgeschneiderter, interpersonaler und interaktiver Kommunikation) […]“. Häufig eher aus technischem Interesse als von gesundheitspsychologischen Erkenntnissen getriebenen mHealth-Interventionen und Modellen wird weiter eine mangelnde theoretische Fundierung vorgehalten (Tomlinson et al. 2013). Forderungen nach einem evidenzbasierten Nutzennachweis von mHealth stehen im Raum, im Hinblick auf Prozessverbesserungen und/oder Kostenreduktionen wurden Nutzenparameter bisher nicht systematisch untersucht. Nach einer Studie der europäischen Kommission konnte die Rehospitalisierungsrate von COPD-Patienten/ innen durch die Unterstützung mobiler Lösungen um die Hälfte und die Betreuungskosten um 25 % gesenkt werden (vgl. Endl et al. 2015, S. 37). Das Apps zugeschriebene Potenzial im medizinischen Bereich wird sich erst im Sinne einer verbesserten Patientensicherheit und Versorgungsqualität entfalten können, wenn die mit den für die Akzeptanz kritischen Faktoren Qualität und Nutzen einhergehenden Probleme interdisziplinär diskutiert und im Einzelnen angegangen werden. Während Arzneimittel wie auch Medizinprodukte vor einer Zulassung sowohl ihren Nutzen als auch ihre Risikolosigkeit in teils aufwendigen Studien nachweisen müssen, gibt es bisher keine klaren normativen Anforderungen an Apps. Sicherlich sind diese häufig nicht vergleichbar mit den Herausforderungen der klinischen Forschung. Es stellt sich hier die Frage nach Erforderlichkeit und Aussagekraft eines solchen Prozesses für mobile Applikationen. Wo genau liegt ihr Wirkprinzip? Ist ein Nutzennachweis stets in Form von randomisiert kontrollierten Studien (RCTs) zu erbringen? Welche pragmatischen Ansätze gibt es? Der Zeitverlust im Falle echter Innovationen, das begrenzte Untersuchungsfeld, methodische und ethische Probleme sowie die hohen Kosten für RCTs sprechen auch für andere Ansätze bzw. alternative Formen der Evaluation. Apps unterscheiden sich nämlich teils deutlich hinsichtlich ihrer Funktionen und möglichen Auswirkungen auf medizinische Verfahren und Entscheidungen und sollten daher auch differenziert betrachtet werden. Einige Apps digitalisieren „nur“ bereits existierende Prozesse. Dies trifft teils auf Apps mit Tagebuchfunktion zu, bei welchen einfach täglich die gemessenen Werte oder Befindlichkeiten eingetragen werden und die darüberhinaus keine weiteren Funktionalitäten bieten. Andere hingegen bieten umfassendere medizinische Funktionen und können eine tragende Säule bei der Diagnostik und Therapie einnehmen, indem sie Werte fachgerecht analysieren, Diagnoseempfehlungen geben oder Arzneimittel auf Wechselwirkungen hin überprüfen. Das Spektrum der notwendigen Evaluationsdesigns ist daher abhängig vom Einsatzbereich enger oder weiter zu fassen und kann von einfachen Machbarkeits- und Akzeptanzanalysen bis zu gesundheitsökonomischen Evaluationen und sogar RCTs reichen. Letzteres nämlich in den Fällen, in denen durch eine App ein kompletter neuer medizinischer Prozess bzw. eine neue medizinische Methode initiiert wird, deren zugrunde liegendes medizinisches Modell (= Gesamtheit der eingesetzten medizinischen Verfahren) noch nicht bestätigt ist. 376 V. Strotbaum und B. Reiß Evaluationen sind insgesamt als wichtig anzusehen, nicht zuletzt deshalb ist ein Mindestmaß an Qualität und Regulation zu fordern. Einfache Ansätze, wie etwa Nutzerbewertungen im Internet und die Selbstverpflichtung der Industrie reichen dabei nicht aus. Sie erlauben eine erste Einschätzung von Nutzerfreundlichkeit und Funktionalitäten. Da es kaum flächendeckend genutzte Leitfäden für die Bewertung medizinischer Apps gibt, besitzt die eigene Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit einer App und damit die Medienkompetenz der Nutzer/innen eine hohe Bedeutung. Verschiedene wissenschaftliche Institutionen haben sich auf internationaler Ebene mit dem Thema auseinandergesetzt. Es sind Bestrebungen mit durchaus unterschiedlicher Aussagekraft zu beobachten, unabhängige Prüfkataloge bzw. Qualitätssiegel zu entwickeln. Als eine der führenden Institutionen in Deutschland zum Thema mHealth ist sicherlich die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) anzusehen. Das Team um Dr. ­Albrecht hat eine App-Synopsis für Gesundheits- und medizinische Apps entworfen, die umfassende Beurteilungsdimensionen und -kriterien auflistet und operationalisiert. Die App-Synopsis fokussiert dabei folgende Themenbereiche: • Impressum (Metadaten wie beispielsweise das Betriebssystem, Hersteller, S­ ponsoring/ Werbung) • Rationale (Medizinprodukt ja/nein, Nutzergruppen, Setting: ambulant/stationär, ­Nutzen/ Zweck) • Funktionalität (Funktionen und Features, Anwendungseinschränkungen/Limitationen, Usability) • Validität/Zuverlässigkeit (Inhalt wie beispielsweise Qualifikationen der Autoren, Angaben über die Qualitätssicherung) • Informationsabfrage und Verwaltung (Umfang mit den erfassten Daten, Angaben zum Datenschutz)2 Bestimmte Kriterien sind gewichtiger als andere, beispielsweise kommt dem Datenschutz und der Validität eine besonders hohe Bedeutung zu (Albrecht et al. 2013). Eine Checkliste, die speziell die rechtlichen Rahmenbedingungen (Schweigepflicht, Datenschutz) von mobilen Applikationen fokussiert, ist die „Checkliste zur Vermeidung rechtlicher Probleme“ der Deutschen Diabetes Hilfe.3 In allen Ansätzen ist die hohe Bedeutung von nachvollziehbaren Transparenzangaben unverkennbar. Beispielsweise ist das Vorhandensein eines Prozesses für das Fehlermanagement zwischen Nutzer/in und Hersteller/Entwickler aussagekräftig. Es muss deutlich werden, in welchem Umfang welche Personen für die App verantwortlich zeichnen 2Für mehr Informationen siehe App-Synopsis der MHH Hannover, online verfügbar unter http:// www.plrimedapplab.de/. 3Für mehr Informationen siehe Deutsche Diabetes Hilfe (diabetesDE), online verfügbar unter http://www.diabetesde.org/fileadmin/users/Patientenseite/PDFs_und_TEXTE/Infomaterial/Checkliste_Praxen_Datenschutz_Ebert_2015.pdf. Apps im Gesundheitswesen … 377 und wie sie kontaktiert werden können. Die Nachvollziehbarkeit der inhaltlichen Qualität einer App endet nicht mit der frühzeitigen Einbeziehung nachweisbarer medizinischer Expertise. Das ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin mit Sitz in Bochum etwa setzt sich seit Jahren mit Chancen und Risiken von Apps auseinander und hat eine Vielzahl von Apps einer Prüfung unterzogen. Dabei wurde deutlich, dass viele der über App-Stores angebotenen Apps nur unzureichend bis gar nicht die geforderten Transparenzkriterien erfüllen. Für einen Einsatz in der Medizin hält es ZTG für wertvoll, dass das Datenschutz- und Datennutzungskonzept offengelegt wird. Ein vertrauenswürdiger Dienstleister wird sorgfältig zwischen maximalem Datenschutz und attraktivem Funktionsumfang von Apps und Diensten abwägen. Um den aktuellen Herausforderungen effektiv begegnen zu können, ist Zweierlei erforderlich: Zum einen die intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung für eine (händelbare) Bewertung von Apps, zum anderen die Befähigung zur Bewertung durch den/die Anwender/in sowie eine generelle Stärkung ihrer Mediennutzungskompetenz. Rossmann und Karnowski (2014, S. 278) stellen zu den Grenzen von Bewertungsansätzen durch Dritte fest, dass Maßnahmen „nur dort greifen, wo die Anbieter auch gewillt sind, sich einer Qualitätskontrolle zu unterziehen, und wo die Nutzer in der Lage und motiviert sind, Qualitätssiegeln auch Berücksichtigung zu schenken.“ Wünschenswert, auch für andere E-Health-Anwendungen, wäre ein Verfahren analog zum Hannoveraner Konsens für gesundheitsökonomische Evaluationen (vgl. Schulenburg J-MG, Greiner W et al. 2007). Es darf nicht vergessen werden, dass Apps, auch wenn sie tendenziell eher mit geringen Risiken behaftet sind, Schaden anrichten können. Unabhängige, wissenschaftlich basierte, aber dennoch praxistaugliche Empfehlungen und Kriterien sind letztlich entscheidend für den sinnvollen Einsatz medizinischer Apps im deutschen Gesundheitswesen. 5 Ausblick Apps als Teil von Digitalisierungskonzepten im Gesundheitswesen können einen attraktiven Beitrag für passgenauere Schritte in Diagnostik und Therapie sowie für ein besser abgestimmtes Zusammenspiel zwischen den Beteiligten leisten. Die Einbeziehung von Patienten/innen erweist sich als große Chance, auch mit Blick auf stärker kooperativ ausgerichtete Angebote und interprofessionelle Versorgungsmodelle. Da ein Großteil der durchaus spannenden Ansätze im Bereich der Apps noch nicht am tatsächlichen Bedarf professioneller Anwender/innen in der Medizin orientiert ist, besteht eine Forderung deshalb in der strategischen Einbettung von Apps in Gesundheitsziele und Gesamtkonzepte wie telemedizinische Versorgungssettings, sichere Kommunikationsinfrastrukturen und elektronische Patientenaktensysteme, damit Datenintegration, -verfügbarkeit und -sicherheit gewährleistet werden können. Aufgrund der hohen Beliebtheit und Verbreitung von Smartphones in Deutschland, auch bei älteren Personen, besteht eher noch als bei anderen E-Health-Anwendungen die 378 V. Strotbaum und B. Reiß Chance, möglichst vielen Erkrankten Zugang zu passgenauen, innovativen Versorgungskonzepten zu ermöglichen. Von Vorteil sind dabei die überschaubaren Kosten für etwaige technische Erweiterungen des Smartphones, von Nachteil hingegen die derzeit fehlende Orientierung an Standards und die ausbaufähige Orientierung an wissenschaftlichen Fragen und Erkenntnissen. Ein interessanter Aspekt besteht in der Gelegenheit, über Apps bisher schwer erreichbare Zielgruppen zu adressieren, z. B. Kinder und Jugendliche, die heute bereits in jungen Jahren digital ansprechbar und gut vernetzt sind. So gehört für 85 % der 12–13-Jährigen das Smartphone zum täglichen Begleiter, bei den 6–7-Jährigen nutzt schon ein Fünftel ein solches Gerät (vgl. Bitkom 2014). Vielversprechend sind spielerische und motivierende Ansätze, die zu Gesundheitsförderung und -erhaltung sowie zur frühzeitigen Prävention beitragen können. Neben App-Anbietern stellen sich Unternehmen und Start-ups aus dem Bereich serious games auf. Wünschenswert wäre auch hier, dass medizinische Expertise mit Kompetenz in der Softwaregestaltung verbunden wird. Zentral wird die Frage werden, was aus den massenhaften Daten über den Gesundheitszustand nun zum Wohle der Patienten/innen gelernt werden kann. Dazu braucht es grundsätzlich einen gesellschaftlichen Diskurs, mehr Mut zur Beantwortung ethischer Fragen im Zusammenhang mit digitalen Gesundheitsdaten und eine Beschäftigung der Player des ersten Gesundheitsmarktes mit den innovativen Konzepten der Gesundheitsunternehmen. Ob Big-Data-Konzepte vor dem Hintergrund des Leitsatzes der Datensparsamkeit an sich zielführend sind, erscheint fraglich. Ziel sollte sein, die relevanten Daten zur richtigen Zeit den richtigen Stellen im Gesundheitswesen und dem Betroffenen selber im Sinne der informationellen Selbstbestimmung verfügbar zu machen. Ansätze, bei denen es nicht um Massendaten, sondern um Smart Data geht, werfen interessante Lösungsmöglichkeiten für das skizzierte Dilemma auf und konzentrieren sich darauf, welche Daten tatsächlich medizinisch relevant sind. Beispielhaft lässt sich das an derzeit vorherrschenden Forschungsansätzen oder den Leistungen des GKV-Systems illustrieren, die zugunsten bestimmter, größerer Gruppen auf Partikularansätze verzichten. Obgleich die Settings klinischer Studien derzeit unter methodischen Gesichtspunkten einem stärker demokratisierten Forschungsansatz überlegen sind, könnten Daten aus erkenntnisschwächeren Bereichen, wie z. B. zur Arzneimitteltherapie von Kindern oder Jugendlichen, über eine strukturierte Einbeziehung des Erfahrungswissens dieser Zielgruppen für wissenschaftliche Zwecke nutzbar gemacht werden. Meldungen und Daten könnten auf anonymer Basis in Zusammenarbeit mit Betroffenen und ihren Ärzten/innen und zum Nutzen der Erkrankten fundiert ausgewertet werden. Die Chance auf strukturierte Zusammenarbeit, sogar in Grenzbereichen des heutigen Systems, und auf echte Partizipation, würde ein deutlich positiveres Signal setzen als die derzeitige Situation. Diese ist von hoher Unsicherheit geprägt und es ist möglich, dass (unstrukturierte) Social-Media-Aktivitäten ohne Kenntnis der Betroffenen durch Agenturen und beispielsweise im Interesse allein der pharmazeutischen Industrie auswertbar sind. In diesem Spannungsfeld kommen Wissenstransfer und Qualitätssicherung besondere Bedeutung zu. Gesundheitsservices, die auf Daten als Ware gründen, stehen den überwiegend durch Apps im Gesundheitswesen … 379 Vertrauen gekennzeichneten klassischen Versorgungsangeboten entgegen – es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies allen heutigen Nutzern/innen von Apps in der Form bewusst ist. Aus diesem Grund sind das Erkennen von Regulierungsbedarf und die Herstellung von Transparenz über Angebote für Bewertung von Qualität und Nutzen unerlässlich. Neben der Förderung von Beurteilungs- und Medienkompetenz der Anwender/innen ist es weiter wegweisend, angemessene Evaluationsformen zu entwickeln und anzuwenden. Die Frage nach einer Nutzenbewertung von Apps spielt für das Thema der Vergütung so lange eine besondere Rolle, wie positive Nutzennachweise Bedingung für Abrechnungsmöglichkeiten im GKV-System sind. Hier wird es eine Herausforderung darstellen, das richtige Maß in dem Bestreben nach Sicherheit (im Sinne eines ausschließlich evidenzbasierten Nutzennachweises) zu finden, ohne zu hohe Hürden für Gesundheitsinnovationen aufzubauen. Dass Apps eine eigene Vergütungsziffer im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (Gesetzliche Krankenversicherung) bzw. in der Gebührenordnung für Ärzte/innen (Private Krankenversicherung) erhalten, ist eher unwahrscheinlich, solange sie selbst nur Teil digitale medizinischer Prozesse sind. Auch die beste Anwendung sollte stets mit Mehrwert und als ergänzendes Instrument eingesetzt – und keinesfalls dazu missbraucht werden, den persönlichen Arzt-PatientenKontakt vollständig zu ersetzen. Mehr Flexibilität, Mobilität, Individualität, Motivation, Partizipation und Kooperation in Versorgungsprozessen können – in medizinischer, ökonomischer und organisatorischer Hinsicht – Impulse für den kontinuierlichen Fortschritt im deutschen Gesundheitswesen setzen: „Mobile-Health-Anwendungen sind ein neuer, sich rasch entwickelnder Bereich, der das Potenzial hat, den Umbau der Gesundheitsfürsorgesysteme mitzubestimmen und deren Qualität und Effizienz zu steigern.“ (vgl. Europäische Kommission 2015, S. 3). Nach der ersten Euphorie über die Potenziale von Apps ist es nun an der Zeit, sichere, mobile und hochwertige Anwendungen mit echtem medizinischem Mehrwert zu erproben, und das Potenzial dieser leistungsfähigen mobilen Schnittstelle zur Interaktion zwischen Gesundheitsfachkräften oder Ärzten/innen mit und für ihre Patienten/innen zu erschließen. Literatur Albrecht U-V (2014) Vertrauenswürdige Gesundheits-Apps- Trau, schau, wem? Forum Med Dok Med Inform 2014(3):102–104 Albrecht U-V, Pramann O, Jan U von (2012) Medical Apps – App-gehört – Datenschutzrisiken. Dtsch Arztebl 109(44). http://www.aerzteblatt.de/archiv/132100/Medical-Apps-App-gehoertDatenschutzrisiken. Zugegriffen: 31. Juli 2015 Albrecht U-V, Falck C von, Pramann O (2013) Röntgen-Apps – Einsatz in der Grauzone. Dtsch Arztebl 110(14). http://www.aerzteblatt.de/archiv/136904/Roentgen-Apps-Einsatz-in-der-Grauzone. Zugegriffen: 21. Juli 2015 Albrecht U-V, Pramann O, Jan U von (2015) App-Synopsis. http://www.plrimedapplab.de/. Zugegriffen: 21. Juni 2015 380 V. Strotbaum und B. Reiß Ärzteblatt.de (Hrsg) (2015) Viele medizinische Apps sind ungeprüft. http://www.aerzteblatt.de/ nachrichten/62281/Viele-medizinische-Apps-sind-ungeprueft. Zugegriffen: 31. Juli 2015 BITKOM (Hrsg) (2014) Smartphone und Internet gehören für Kinder zum Alltag. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Smartphone-und-Internet-gehoeren-fuer-Kinder-zum-Alltag. html. Zugegriffen: 27. Aug. 2015 Boerm Bruckmeier Medien GmbH (Hrsg) (2015) DHL-Leitlinien. http://www.media4u.com/de/ dhl-leitlinien-android/ sowie https://play.google.com/store/apps/details?id=com.bbi.deutsche_ gesellschaft_fuer_hypertonie_und_praevention (Link zum Google Play App-Store). Zugegriffen: 19. Nov. 2015 Caterna Vision GmbH (2015) Kostenerstattung für Barmer GEK-versicherte Kinder. http://caterna. de/barmer-gek/. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 De la Vega R, Miró J (2014) mHealth: a strategic field without a solid scientific soul: a systematic review of pain-related apps. PLOS One 9(7):3–8 DocCheck GmbH (Hrsg) (2012) DocCheck Online Studie 2012: Dr. Mobile im Zukunftstest. DocCheck GmbH, Köln Eggers N, Strotbaum V, Reiß B (2015) Medizinische Apps – mehr Informationen, bitte! E-HEALTH-COM 2015(1):26–30 EHealthCom (Hrsg) (2015) Studie „Digitaler Gesundheitsmarkt Report“ zeigt: Startups und Apps erobern das Gesundheitssystem. 11.11.2015. http://www.e-health-com.eu/details-news/studiedigitaler-gesundheitsmarkt-report-zeigt-startups-und-apps-erobern-das-gesundheitssystem/969e 9de796501b65db9e892da61d05fa/. Zugegriffen: 26. Nov. 2015 Endl R, Jäschke T, Thiel C, Wickinghoff, DV (2015) mHealth im Kontext des elektronischen Patientendossiers. Eine Studie im Auftrag von eHealth Suisse. FHS Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen Enste P et al (2013) Gesundheit aus der Hosentasche? Chancen und Grenzen gesundheitsbezogener Apps. Forschung Aktuell, Ausgabe vom 23.11.2010, Institut Arbeit und Technik der Fachhochschule Gelsenkirchen Europäische Kommission (2015) GRÜNBUCH über Mobile-Health-Dienste („mHealth“), {SWD(2014) 135 final}. http://ec.europa.eu/information_society/newsroom/cf/dae/document. cfm?doc_id=5186. Zugegriffen: 25. Nov. 2015 Funk C (2013) Mobile Softwareanwendungen (Apps) im Gesundheitsbereich – Entwicklung, Marktbetrachtung und Endverbrauchermeinung. Ibidem, Stuttgart Gärtner, A (2010) Software als Medizinprodukt: Auf der sicheren Seite. Dtsch Arztebl 107(46):A2302. http://www.aerzteblatt.de/archiv/79307/Software-als-Medizinprodukt-Auf-der-sicherenSeite. Zugegriffen: 20. Aug. 2015 Gast R (2014) Netz der Lügner, Bewertungen im Internet. Süddeutsche Zeitung, 11. Juni. http:// www.sueddeutsche.de/digital/bewertungen-im-internet-das-netz-der-luegner-1.1993407. Zugegriffen: 20. Nov. 2015 Gehring H, Pramann O et al (2014) Zukunftstrend „Medical Apps“: Vom App-Store direkt in die medizinische Anwendung? Bundesgesundheitsbl 2014(57):1402–1410 Gröger A-C (2014) Generali erfindet den elektronischen Patienten. Süddeutsche Zeitung, 21. Nov. http://www.sueddeutsche.de/geld/neues-krankenversicherungsmodell-generali-erfindet-denelektronischen-patienten-1.2229667. Zugegriffen: 20. Aug. 2015 Haas P (2005) Medizinische Informationssysteme und Elektronische Krankenakten. Springer, Berlin Hawkins RP, Han J-Y, Pingree S, Shaw BR, Baker TB, Roberts LJ (2007) Interactivity and presence of Three eHealth interventions. Präsentiert auf der 57. Jahrestagung der International Communication Association, San Francisco, 24.–28. Mai 2007 Hillienhof A (2015) Medical Apps: Trotz größter Möglichkeiten ist Vorsicht geboten. Dtsch Arztebl 112(14). http://www.aerzteblatt.de/archiv/169032/Medical-Apps-Trotz-grosser-Moeglichkeiten-ist-Vorsicht-geboten. Zugegriffen: 20. Aug. 2015 Apps im Gesundheitswesen … 381 Institut der Kasseler Stottertherapie (2015) Kostenübernahme durch Direktverträge. http://www. kasseler-stottertherapie.de/stottertherapie/kostenuebernahme/. Zugegriffen: 27. Febr. 2016 Klein M (2015) Gesundheits-Apps: Datenschutz-Fehlanzeige. eGovernment computing vom 19.04.2015. http://www.zeit.de/online/2007/41/Datenkraken-Stopp. Zugegriffen: 23.Nov. 2015 Krüger-Brandt H (2012) Gesundheits-Apps: Wie lässt sich Qualität erkennen? Dtsch Arztebl 109(51–52). http://www.aerzteblatt.de/archiv/133793/Gesundheits-Apps-Wie-laesst-sich-Qualitaet-erkennen. Zugegriffen: 10. Aug. 2015 Maryschok M, Schöffski O (2011) Innovativer Einsatz von Smartphones im Gesundheitswesen. In: Amberg M, Lang M (Hrsg) Innovation durch Smartphone & Co – Die neuen Geschäftspotenziale durch mobile Endgeräte. Symposium, Düsseldorf Mitternacht K (2012) Per Fingertipp zum Patiententagebuch. Ärzte Zeitung, 6. Sept. http://www. aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/w_specials/gesundheitsapps2011/article/821154/appsgesundheitswesen-per-fingertipp-patienten-tagebuch.html. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 Neuhauser L, Kreps GL (2003) The advent of e-health. How interactive media are transforming health communication. Medien Kommun 51:541–556 Neumaier K (2014) Smartphone Apps – Gesundheitshelfer mit Risiken. PSO aktuell 2014(Dezember) Otsuka Pharma GmbH (2014) STEPS-App. http://www.meine-steps.de/steps-app.html. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 Reiß B (2012) Vertrauenswürdige Apps finden. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2013 Informationstechnologien und Telematik im Gesundheitswesen. Medical future, Solingen Reiß B (2014) Most apps lack information on medical expertise. HIMMS EUROPE. Insights 2(2):40–41. http://www.himssinsights-digital.com/insights/vol_2_number_2?pg=43#pg43. Zugegriffen: 27. Nov. 2015 research2guidance (2015) research2guidance’s mHealth app developer economics 2015. research2guidance, Berlin Rossmann C, Karnowski V (2014) eHealth und mHealth – Gesundheitskommunikation online und mobil. In: Hurrelmann K, Baumann E (Hrsg) Handbuch Gesundheitskommunikation, 1. Aufl. Huber, Bern, S 271–285 Scheel O, Reincke E (2013) Mobile Health: Fata Morgana oder Wachstumstreiber? Kearney, Düsseldorf Schulenburg J-MG, Greiner W et al (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation – dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens Schuster N (2014) Gesundheits-Apps – Bemuttert vom Smartphone. Pharmazeutische Zeitung, 28. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=53090. Zugegriffen: 23. Nov. 2015 Spiegel Online (Hrsg) (2015) Healthkit: IBM will Gesundheitsdaten von Apple-Nutzern auswerten. http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/apple-healthkit-ibm-will-gesundheitsdatenauswerten-a-1028426.html. Zugegriffen: 29. Febr. 2016 Techniker Krankenkasse (Hrsg) (2015) Tinnitus-Therapie mit Tinnitracks. http://www.tk.de/tk/spezielle-behandlungsangebote/apps-telemedizin/020-tinnitracks/746400. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 Tomlinson M, Rotheram-Borus MJ, Swartz L, Tsai AC (2013) Scaling up mHealth: where is the evidence? PLoS Med 10:e1001382 Weber M (2009) User Profiling – Benutzermodelle und mobile Endgeräte. GRIN, München. http:// www.grin.com/de/e-book/127724/user-profiling-benutzermodelle-und-mobile-endgeraete. Zugegriffen: 26. Aug. 2015 Wolf JA, Moreau JF (2013) Diagnostic inaccuracy of smartphone applications for melanoma detection. JAMA Dermatol 149(4):422–426 Yetisen KA, Martinez-Hurtado JL (2014) The regulation of mobile medical applications. Lab Chip 2014(14):833–840 382 V. Strotbaum und B. Reiß Über die Autoren Veronika Strotbaum  B.A. Gerontologie und M.A. Management im Gesundheitswesen, ist Projektmitarbeiterin E-Health beim ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin in Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Evaluationsmethoden, gesundheitsökonomische Analysen von telemedizinischen Anwendungen, medizinischen Apps und Elektronischer Akten, die Konzeption von Versorgungsmodellen sowie die Durchführung von Seminaren/Schulungen zur Telemedizin. Sie ist Mitglied der GMDS sowie des Ausschusses „E-Health und Gesundheitswirtschaft“ der DGGÖ. Kontakt: v.strotbaum@ztg-nrw.de Beatrix Reiß  ist Senior E-Health-Beraterin und als Prokuristin in der Geschäftsführung der ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH tätig. Dort verantwortet sie die Bereiche Organisation, Vertrieb und Personal. Fachliche Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Telemedizin, Mobile Health und Social Media. Beatrix Reiß ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin e. V. Ihr Interesse gilt der Entwicklung zukunftsweisender Strategien zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung durch vernetzte Informationsprozesse und darauf aufsetzende, intelligente Anwendungen. Kontakt: b.reiss@ztg-nrw.de Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? Josef Schepers und Sebastian Semler 1 Einleitung In seinem Gutachten 2007 mit dem Titel „Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung“ stellte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) fest: Es wird letztlich darauf ankommen, Routinedaten, die in vielfacher Form vorliegen und anfallen, und zwar bei Kassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern, aber auch bei niedergelassenen Ärzten und im Rehabilitationsbereich, zielorientiert zusammenzuführen, so dass ein besserer Überblick über das Versorgungsgeschehen und dessen Qualität verfügbar wird (SVR Gesundheit 2007). Auch im SVR-Gutachten 2014 mit dem Titel „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“ ist wieder an einigen Stellen von schlechter Datenlage die Rede. Genannt werden u. a. anderem Informationslücken zum vertragsärztlichen Angebot für eine angemessene Versorgung spezifischer Bevölkerungsgruppen, zur regionalen Verteilung von Pflegebedürftigkeit, zu den gegebenen Versorgungsstrukturen und zur wirtschaftlichen Lage von Krankenhäusern im ländlichen Raum. Es wird ein Bedarf an Versorgungsmonitoring und dabei insbesondere an Pflegemonitoring mit weitreichenden Konsequenzen postuliert: J. Schepers (*) · S. Semler  TMF — Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland E-Mail: Josef.Schepers@tmf-ev.de S. Semler E-Mail: Sebastian.Semler@tmf-ev.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_20 383 384 J. Schepers und S. Semler Für die kommenden Jahre ist zu erwarten, dass sich infolge der Auswirkungen des demografischen Wandels auch in Deutschland der Handlungsdruck zur Sicherstellung einer flächendeckenden und wohnortnahen (Grund-)Versorgung weiter erhöhen wird. Um notwendige Neuorganisationen der Gesundheitsversorgung in ländlichen, strukturschwachen Gebieten zukünftig zu erleichtern, wäre es denkbar, im Rahmen eines Versorgungsmonitorings im Fall einer Feststellung einer Unterversorgung oder drohender Unterversorgung ein für diesen Fall zu beauftragendes Gremium regelhaft mit der Planung und Umsetzung einer datengestützten, sektorenübergreifenden, umfassenden, multiprofessionell ausgerichteten und auf die jeweilige Region abgestimmten Versorgungsplanung zu betrauen. Auf der Planungsebene ist eine sektorenübergreifende Versorgungsplanung auf Bundeslandebene zu empfehlen, die über einzelne Gesundheitsprofessionen hinausgeht. Die Einrichtung gemeinsamer Landesgremien nach § 90a SGB V sollte verpflichtend im Sinne einer ‚Muss‘-Regelung sein. Im Falle von drohender Unterversorgung – wobei hier homogenere Kriterien als bisher zu entwickeln sind – fiele diesen der Sicherstellungsauftrag zu. Regionale bzw. kommunale Gesundheits- und Pflegekonferenzen wären daran anschließend mit den kontinuierlichen Aufgaben von Versorgungsplanung und -monitoring zu beauftragen, um eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Akteure zu gewährleisten. Die Aufgaben würden u. a. ein Pflegemonitoring beinhalten, in dessen Kontext es einer Verbesserung der Datenlage zur regionalen Verteilung von Pflegebedürftigkeit, der sozialen Situation Pflegebedürftiger und ihres sozialen Umfelds sowie zu den gegebenen Versorgungsstrukturen bedarf (SVR Gesundheit 2014). In einem verwandten Sinne benennt die Bayerische Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheitsversorgungsforschung (LAGeV) in ihrem Memorandum 2015 „die Schnittstellen- und Vernetzungsforschung“ als das wichtigste Zukunftsthema in der Versorgungsforschung: Das prioritäre Zukunftsthema Schnittstellen- und Vernetzungsforschung „… zielt auf die Strukturen des Gesundheitssystems in Deutschland, welches traditionell durch eine starke Trennung der Sektoren und auch der Professionen geprägt ist. Hier stellt sich die zentrale Frage, wie sich die Schnittstellen insbesondere zwischen den Bereichen Kuration, Rehabilitation und Pflege sowie zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor mithilfe der Versorgungsforschung überwinden lassen“ (Hollederer et al. 2015). In den Zitaten werden zum einen Versorgungsmonitoring und zum anderen Versorgungsforschung angesprochen. Unter „Versorgungsmonitoring“ ist die periodisierte Beschreibung der Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihrer Rahmenbedingungen in einer Region anhand von Versorgungsindikatoren zu verstehen. Darauf können regionales Versorgungsmanagement und allgemeine Versorgungsforschung aufbauen. Schwerpunkt des Managements ist die zielorientierte Disposition der zur Verfügung stehenden Ressourcen, während die Forschung stets nach „abgeleiteten Innovationen …“ strebt, die „… Gegenstand der Erprobung und Evaluierung unter Routinebedingungen“ werden. „Hierfür hat die Versorgungsforschung ein auf einem soliden theoretischen Fundament aufbauendes breites methodisches Instrumentarium entwickelt.“ (Wegscheider et al. 2015). Im vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns im Wesentlichen auf die vom SVR Gesundheit geforderte Verbesserung des „Versorgungsmonitoring“ – unabhängig von den nachfolgenden Schritten. Unseres Erachtens steht, wie wir erläutern werden, die Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 385 Befassung mit großen Datenmengen nicht im Widerspruch zur Würdigung von kommunalen Gesundheitskonferenzen in kleinräumlichen Regionen mit drohender Unterversorgung. Unabhängig von der Einschätzung der Relevanz des Ausbaus von Versorgungsmonitoring besteht ein breiter Konsens, dass die Anforderung weiterer Dokumentationen bei den Leistungserbringern im Gesundheitssystem einer maximal kritischen Abwägung bedarf und de facto nicht mehr zumutbar ist. So rücken zwei Begriffe ins Blickfeld, die eine Verbesserung der Datenlage versprechen: • Zusammenführung von Routinedaten und/oder • Big-Data-Processing unter beliebiger Nutzung aller verfügbaren Daten Bemerkenswerterweise bezieht sich im Jahre 2015 die bayerische Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsversorgungsforschung (LAGeV) in ihrem Memorandum auf das einleitend zitierte Dictum des SVR Gesundheit aus dem Jahre 2007, indem sie die Nutzung von zusammengeführten Routinedaten als zwölften Punkt in den Kanon ihrer zwölf prioritären Zukunftsthemen aufgenommen hat. (Hollederer et al. 2015): 1. Schnittstellen- und Vernetzungsforschung forcieren, 2. Innovative Versorgungskonzepte entwickeln, 3. Versorgung von multimorbiden Patienten verbessern, 4. Versorgung von chronisch Kranken optimieren, 5. Evaluation von Innovationen, Prozessen und Verfahren verstärken, 6. Patienten- und Nutzerorientierung intensivieren, 7. soziale und regionale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung reduzieren, 8. Versorgung von psychisch Kranken anpassen, 9. Indikatoren zur Versorgungsqualität identifizieren und weiterentwickeln, 10. regionale Bedarfsplanung weiterentwickeln, 11. praktische Wirksamkeit der Versorgungsforschung verbessern und 12. wissenschaftliche Nutzung von Routinedaten ermöglichen. Die LAGeV ruft nicht nach Big-Data-Processing – als befänden wir uns derzeit nicht in einer digitalen Revolution, als gäbe es nicht die Studie von McKinsey zu den Chancen für Big Data im Gesundheitssystem, als wäre nicht die Vermessung von Mensch und Welt in aller Munde – aber auch: als habe es in 2004 kein Gesundheitsmodernisierungsgesetz und in 2012 keine Datentransparenzverordnung gegeben. Die erste Zurückhaltung – das Ignorieren der Big-Data-Versprechungen – kann auch hier anhand unserer Ausführungen in Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“ und des von Wegscheider und Koch-Gromus im Big-DataHeft des Bundesgesundheitsblattes beschriebenen Verständnisses nachvollzogen werden. Die beiden Autoren sehen die Big-Data-Technologien und Methoden lediglich als „informatisch geprägten, unabhängigen neuen Zugangsweg zu dem Inhalt großer Datensätze“. Sie bestätigen zwar das Potenzial von Big Data, „bei klassischen Aufgaben wie Datenverknüpfung, Abbildung von Versorgungspfaden, schnellem Zugriff auf aktuelle 386 J. Schepers und S. Semler Versorgungsdaten oder auf Daten zum Inanspruchnahmeverhalten sowie zur Prädiktion und zur Hypothesengenerierung hilfreich zur Seite zu stehen.“ (Wegscheider et al. 2015) Aber mehr auch nicht. Ferner ist bei ihnen mit der Nutzung von Big-Data-Technologien und Methoden natürlich nicht der beliebige Einsatz von Big Data im engeren Sinne gemeint, da – wie Gerd Antes vermerkt hat – „hierzulande die rechtlichen Einschränkungen für Datenzugriff und unkontrollierte Datenverwendung eine Realisierung der Versprechungen von Big Data schon auf dieser Ebene verhindern.“ (Antes 2015). Auch die zweite Zurückhaltung – die fehlende Erwähnung Bereitstellung von Daten über 70 Millionen GKV-Versicherte durch das DIMDI auf der Basis der Datentransparenzverordnung aus dem Jahre 2012 – können bezogen auf die aktuell verfügbare Datentiefe nachvollziehen und kommen darauf im Abschn. 2 und im Abschn. 4 Fazit zurück. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Vorstellung von Daten im deutschen Gesundheitssystem, die routinemäßig erhoben und routinemäßig zu großen Datenmengen akkumuliert werden sowie Bezug zu einem bereits laufenden oder zu einem möglichen Versorgungsmonitoring haben. Das besondere Augenmerk liegt auf der Frage, welche Routinedaten wie und wo zusammengeführt werden sollten, um Versorgungsmonitoring im Sinne von Sachverständigenrat (SVR Gesundheit) und anderen weiterentwickeln zu können, also einen besseren Überblick über das Versorgungsgeschehen und dessen Qualität zu gewinnen – sowohl kommunal als auch regional als auch überregional. Hierzu setzen wir zunächst die in Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“ begonnene Beschreibung der klinischen und administrativen Daten fort, die – wie der SVR Gesundheit vermerkt hat – „in vielfacher Form vorliegen und anfallen, und zwar bei Kassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern, aber auch bei niedergelassenen Ärzten und im Rehabilitationsbereich.“ Auf dieser Beschreibung aufbauend schlagen wir komplementär zum Datentransparenzverfahren (DaTraV) beim DIMDI ein „System integrierter Basisdatensätze (SIntBaD)“ zur Diskussion vor. Während das DaTraV-Verfahren eine klassische Sekundärnutzung vorhandener, nur bedingt beeinflussbarer Daten der GKV-Systems darstellt, sollen im Rahmen des SIntBaD-Verfahren die vorhandenen Routinebasisdaten mehr oder weniger direkt sektoren- und sozialsystemübergreifend bei den Leistungserbringern erhoben und zu relevanten, großen Routinedatenbeständen regional und überregional für verschiedene Zwecke zusammengeführt werden, um das Nebeneinander unterschiedlich großer, isolierter Informationsinseln zu überwinden. 2 Datenbestände im deutschen Gesundheitssystem 2.1 Das Datennetz im Gesundheitssystem Die Datenbestände im deutschen Gesundheitssystem und deren Zugänglichkeit sind wesentlich bestimmt durch die besondere, historisch gewachsene Organisation und Finanzierung der Versorgung. Das Versorgungssystem ist geprägt durch das Gegenüber von überwiegend privatwirtschaftlich organisierten, teilweise korporativ miteinander Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 387 Abb. 1  Das Gesundheitsökonomische Dreieck als Kern des deutschen Gesundheitssystems verbundenen Leistungserbringern auf der einen Seite zu überwiegend sozialwirtschaftlich organisierten, gleichwohl im Wettbewerb stehenden Versicherungen auf der anderen Seite. Die Abb. 1 zeigt im Kern das gesundheitsökonomische Dreieck aus Bürgern, Leistungserbringern (Behandler) und Leistungsträgern (überwiegend Sozialversicherungen). Hinzu treten ergänzende Elemente wie Selbstverwaltung, Lieferanten, Forschungseinrichtungen und staatliche (gebietskörperschaftliche) Behörden. Allerdings dürfen die Kreise in der Abb. 1 nicht als gesammelte Datenbestände interpretiert werden – nicht bei den Leistungserbringern, nicht bei den Versicherungen und erst recht nicht bei den Bürgern. Wir werden zeigen, dass es einige interessante Datenzusammenführungen gibt, aber keinen umfassenden Datenbestand, der alle Bereiche der Versorgung und deren Schnittstellen einschlösse. Die Leistungserbringer sind aufgrund ihrer Pflichten aus dem Bürgerlichem Gesetzbuch1 und aus dem Sozialgesetzbuch, jede Behandlung zu dokumentieren und bei der Abrechnung auch medizinische Angaben über ihre Patienten an die Leistungsträger zu übermitteln, die wichtigsten Erheber von Daten über Gesundheit und Versorgung. Die Erhebung fließt aber nicht in eine zentrale Dokumentation aller Behandler ein, wie dies in einem Nationalen Gesundheitsdienst oder einem staatlichen Gesundheitswesen relativ leicht organisiert werden kann. Vielmehr müssen die Leistungserbringer in Deutschland – insbesondere auch im Hinblick auf ihre Datenbestände – als Einzeleinrichtungen in 1Patientenrechtegesetz: BGB §§ 630a ff. 388 J. Schepers und S. Semler Form von rund 2.000 Krankenhäusern, rund 200.000 ambulant tätigen Ärzten und rund 2.000.000 sonstigen einschließlich Heimen, ambulanten Pflegediensten, Apotheken, Therapeuten, Hebammen, Rettungsdiensten, Optikern, orthopädischen Schuhmachern und weiteren Gesundheitsdienstleistern gesehen werden, die jeweils eigene Dokumentationen über ihre Patienten, Bewohner und/oder Kunden führen. Die in Tab. 1 des Kapitels „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“ hinsichtlich der Zugänglichkeit für Auswertungen differenzierten Datenkategorien haben auch für das Versorgungsmonitoring große Relevanz – nicht nur für den Bereich der Universitätsklinika, sondern für alle Leistungserbringer. Am wichtigsten sind immer wieder die Kategorien /a/ und /b/, die insbesondere durch Bundesgesetze der Jahre 1995 und 2002 standardisierten digitalen Basisdatensätze. Das führende Moment für die Standardisierung der Kategorie /a/ ist die Abrechnung, da in diesem Zusammenhang auch Patientendaten mit medizinischen Inhalten wie Diagnosen an die weit über 100 verschiedenen Leistungsträger maschinenlesbar übermittelt werden müssen – von einem bestimmten Leistungserbringer an die meisten Abrechnungsstellen für die meisten Fälle immer im gleichen Format. Tab. 1  Liste möglicher Basisdatensätze von Leistungserbringern Nr. Leistungserbringer Durch Basisdaten beschriebene Leistungen, Handlungsebene Fallkonzept 1 Krankenhäuser nach § 108 SGB V Krankenhausversorgung, Aufenthalt (modi- Land fizierter DRG-Datensatz) 2 Niedergelassene Ärzte Ambulanten Versorgung, Einzelleistungen (wie Quartalsabrechnung) Bund 3 Apotheken Arzneimittel auf Rezept und OTC Bund 4 Heime (Krankenheime, Pflegeheime) Unterbringung, Betreuung, Pflege Land 5 Häuslicher Pflegedienst Pflege im häuslichen Bereich nach Abrechnungsperioden Bund 6 Rettungsdienst Notfallrettung, Einsatzprotokolle Land 7 BG-/Unfallkliniken (GUV) Versorgung Berufsunfälle und -krankheiten Bund 8 Vorsorge- und Rehakliniken (GRV) Vorsorge und Rehabilitation Bund 9 Hebammen Dienstleistungen, Betreuung, Geburt Bund 10 Physiotherapeuten, Ergoth., Heilmittel: Dienstleistungen von Logopäden Therapeuten Bund 11 Optiker, Schuster, Sanitätshäuser… Hilfsmittel: Brillen, Schuhe, Prothesen… Bund 12 Meldewesen Sterbemeldung Bund Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 389 Je nach Honorarform – DRG-Fallpauschalen im stationären Sektor, Einzelleistungsvergütung im ambulanten Sektor, ein Mischsystem in der Pflege – sehen die übermittelten Datensätze unterschiedlich aus. Sie enthalten aber regelhaft Diagnosen, Leistungen und eine Reihe von Medikationsangaben. Auch wenn die Abrechnungsdaten von Sektor zu Sektor verschieden sind, garantiert ihre deutschlandweit intrasektoral homogene Form eine große Vergleichbarkeit der aus ihnen abgeleiteten Versorgungsindikatoren – auch bei der Sektoren übergreifenden Zusammenführung verschiedener Formen. Mehrere Ansätze von (fragmentarischen) Zusammenführungen solcher Daten stellen wir im Laufe des Beitrags vor. Beginnen können wir mit der angesprochenen Übermittlung von Abrechnungsdaten und mit deren routinemäßigem Zusammenfluss bei den Leistungsträgern. Für die Leistungsträger, im Wesentlichen sind dies Sozialversicherungen, stellt die Entgegennahme der Abrechnungsdaten die wichtigste Quelle für den Aufbau von Datenbeständen mit medizinischen Inhalten dar. Die Daten werden in den Informationssystemen der Versicherungen versichertenbezogen zusammengeführt – gewissermaßen im Sinne des SVR Gesundheit, nur, dass die Bestände eingeschränkt für das Versorgungsmonitoring zur Verfügung stehen. Aufgrund der Kassenvielzahl entsteht bei den Versicherungen kein die gesamte Bevölkerung umfassender Datenbestand. Vielmehr verteilen sich die Datenkörper auf knapp 120 gesetzliche Krankenkassen (GKV), 40 private Krankenversicherungen (PKV), die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV), die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und weitere Einrichtungen. Besonderheiten finden sich bei den elf an Bundesländergrenzen orientierten Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) mit einem gemeinsamen Datenbestand von über 24 Mio. Mitgliedern, den drei großen bundesweit tätigen Ersatzkassen Neue Barmer, DAK und TK mit jeweils acht bis zehn Millionen Versicherten, der Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) mit Pflichtmitgliedschaft, die auch Unfall- und Rentenversicherung ist, und der Knappschaft, die die gleichen Eigenschaften wie die LKK hat und darüber hinaus eigene Krankenhäuser betreibt. Eigene Versorgungseinrichtungen sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ansonsten untersagt, aber Teil des Systems von Gesetzlicher Unfall- und Gesetzlicher Rentenversicherung (GUV & GRV). Die Organisation der Pflegeversicherung, die als eigenständige Pflichtversicherung zur Absicherung des Risikos, pflegebedürftig zu werden, 1995 in Deutschland eingeführt wurde, ist auch hinsichtlich der Daten an die Krankenversicherungen angeschlossen. Die Rettungsdienste mit ihren Notfalldokumentationen werden überwiegend nicht durch die Sozialversicherungen, sondern durch regionale öffentliche Haushalte finanziert. Diese historisch gewachsenen, nicht immer logisch nachvollziehbaren Besonderheiten spielen eine Rolle, wenn im Sinne vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit), der bayerischen LAGeV und anderer über eine zielorientierte Datenzusammenführung nachgedacht werden soll. Weitere Datenbestände, die für Gesundheits- und Versorgungsmonitoring eine Rolle spielen oder spielen könnten und von denen wir einige im Laufe des weiteren Textes 390 J. Schepers und S. Semler kurz vorstellen, finden sich bei verschiedenen Behörden, Selbstverwaltungseinrichtungen, Forschungseinrichtungen, in der Industrie und im Internet (insbesondere durch Onlinefunktionen im Zweiten Gesundheitsmarkt). Bei einer Vielzahl dieser Datenbestände handelt es sich nicht um eigenständige Erhebungen, sondern um Mehrfachverwendungen von Basisdaten aus dem Versorgungsbereich. Eine Topologieskizze oder Datennetzkarte hierzu findet sich in der Abb. 2. Die Darstellung folgt der Struktur der Abb. 1, nimmt aber eine feinere Unterteilung vor. Insbesondere sind die Leistungserbringer entsprechend der deutschen Besonderheit in einen stationären Sektor (2.000 Krankenhäuser), einen ambulanten Sektor (120.000 bis 200.000 niedergelassene Ärzte) und in sonstige Leistungserbringer (rund zwei Mio.) unterteilt. Die Vielzahl ist in der Abb. 2 durch jeweils viele abgegrenzte Kreise als Symbole für abgegrenzte Datenbestände repräsentiert. Entsprechend ist auch die Fraktionierung der Leistungsträger in 120 GKV-Kassen, 40 PKV-Unternehmen, GUV, GRV und sonstige sowie die Fraktionierung ihrer Datenbestände durch einige getrennte Kreise symbolisiert. Die Verbindungspfeile von den Leistungserbringern zu den Versicherungen stehen daher nicht für Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, sondern für vereinfacht abgebildete, komplexe m:n-Beziehungen, innerhalb derer praktisch jeder der m Leistungserbringer mit jedem der n Leistungsträger in den Austausch treten kann – dann jedoch praktisch immer unter Nutzung der jeweils gültigen, bundesgesetzlich vorgeschriebenen, standardisierten Variante der Datenkategorie /a/. Abb. 2  Topologie der Datenbestände im deutschen Gesundheitssystem Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 391 Durch weitere Verbindungslinien sind Datenübermittlungen von Krankenhäusern, von niedergelassenen Ärzten und von den Bürgern selbst an Forschungseinrichtungen, das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG), an Gesundheitsämter, an Standesämter, an Statistikämter, an das Robert-Koch-Institut und an das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte beziehungsweise an das Paul-Ehrlich-Institut repräsentiert. Übermittelt werden Daten aus Befragungen, zu ausgewählten Merkmalen von Tracer-Konstellationen, Geburten, Sterbefällen, Infektionen, onkologische Erkrankungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und so weiter, die mitunter einmalig sind, sehr oft aber auch in personenbeziehbaren Formate der Kategorie /b/ gespeichert und verarbeitet werden. Auf einige Datenkörper von in Abb. 2 ergänzend abgebildeten Institutionen wie des Krankenhaussektors (InEK, LKGs, destatis), der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV und KBV), einer einzelnen GKV-Kasse, des DIMDI und der Statistischen Ämter werfen wir im Abschn. 2.2 einen kurzen, näheren Blick mit Fragen nach Umfang, Zweck, Rechtsgrundlage und Mehrfachverwendung. 2.2 Ausgewählte große Gesundheitsdatenbestände in Deutschland Bei dem Blick auf die in Abb. 2 repräsentierten patientenbezogenen Datenkörper finden sich hinsichtlich der Datenvolumina sehr unterschiedliche Bestände. Die Dateigrößen reichen von einigen Gigabyte bis in den Terabyte-Bereich und weit darüber hinaus. Für einige ausgewählte medizin-relevante Datensammlungen in Deutschland, die in der Abb. 2 eine Korrespondenz finden, versucht die Abb. 3, ohne Maßstabstreue anstreben zu können, Größe im Sinne einer abstrakten Informationsfülle abzubilden. Größe entsteht dabei entweder durch sehr große Fallzahlen oder bei mittleren Fallzahlen auch durch sehr große Informationsfülle je Fall. Ausgewählt wurden für die Abb. 3 (und im Vordergrund der Abbildung gestapelt wiedergegeben) 1. die Daten der Bevölkerungs- und Todesursachenstatistik. 2. die jährlichen DRG-Daten für 19 Mio. Krankenhausfälle beim InEK und im Statistischen Bundesamt, 3. die jährlichen Abrechnungsdaten von 500 Mio. Quartalsfällen bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, 4. die Datenbestände des Datentransparenzverfahrens im DIMDI zu 70  Mio. GKV-Versicherten, Im Mittelgrund symbolisieren die Balken mit den Beschriftungen KK1 und folgende 392 J. Schepers und S. Semler Abb. 3  Ausgewählte Medizinische Dokumentationen mit großer Informationsfülle 5. die Datenbestände von Krankenkassen mit 24 Mio. Versicherten in den elf AOK-Kassen, drei Ersatzkassen mit jeweils rund 10 Mio. Versicherten und rund hundert weiteren mit teilweise weniger als 10.000 Mitgliedern. Im Hintergrund sind sehr viele Spitzen von schmalen Balken zu sehen. Diese repräsentieren 6. Versorgungsdokumentationen (Patientenakten) der Leistungserbringer, 7. Data-Waresysteme des Controllings und der Forschung sowie 8. Register, Kohortendokumentationen und Surveys. Große amtliche Datensammlungen Die Skizze Abb. 3 deutet mit dem unteren Balken an, dass es in Deutschland eine wesentliche Statistik über Krankheit, Gesundheit, Leben und Sterben gibt, die so weit wie möglich die gesamte Bevölkerung erfasst: die Bevölkerungs- und Todesursachenstatistik der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Die letzte Erhebung des Bevölkerungsbestandes erfolgte im Zensus 2011. Zugänge und Abgänge durch Geburten, Wohnortwechsel (auch ins Ausland) und Sterbefälle werden von Standes-, Einwohnermelder- und Gesundheitsämtern auf der Basis von Statistikgesetzen des Bundes und der Länder erhoben. Der Beitrag der Gesundheitsämter an der großen Statistik besteht in den meisten Bundesländern in der Erfassung des vertraulichen Teils der Totenscheine, auf denen die Todesursachen samt Kausalkette bescheinigt sind. Die Untergliederung der Sterbefälle und des Bevölkerungsbestandes nach Alter, Geschlecht, Raumordnungskategorie (Gemeinde, Kreis, Bezirk, Land) sowie die Differenzierung der Todesursachen Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 393 nach den Kategorien und Subkategorien der ICD2 erlaubt die Berechnung von Sterbeziffern und Lebenserwartungen – auch differenziert nach Regionen und im Zeitverlauf. Auf Basis dieser relativ wenigen Daten für den einzelnen Bürger stellt die Bevölkerungs- und Todesursachenstatistik wichtige Eckdaten für die Planung des Gesundheitswesens und die medizinische Forschung zur Verfügung. Durch eine positive Annahme können wir die amtliche Statistik zu einer Gruppe erweitern, in der es ansatzweise mindestens zwei weitere Vollerhebungen gibt oder geben wird – nämlich die Infektionsstatistiken auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes und die epidemiologischen Krebsregister auf der Basis des Krebsregistergesetzes. Eine Vollerhebung unterstellen wir, indem wir für jeden nicht-erfassten Fall die Negation der Merkmale annehmen, also „nicht verstorben“, „nicht infiziert“, „nicht onkologisch erkrankt“. Groß oder voluminös ist bei den großen amtlichen Datensammlungen eigentlich nur die Bezugsgröße von etwa 82 Mio. Bundesbürgern. Die Zahl der Geburten und Sterbefälle liegt beispielsweise jeweils in einer Größenordnung von einer Mio. und führt bei den wenigen miterfassten Merkmalen nicht zu einer Big-Data-Konstellation mit der Erfüllung aller Kriterien zu Volumen, Vielfalt und Geschwindigkeit (s. Big-Data-Kriterien in Abschn. 13.2.1). Erwähnenswert sind diese großen amtlichen Datensammlungen als Beispiele für die gesetzliche Erlaubnis und Pflicht, sensible Gesundheitsdaten von Ärzten und Krankenhäusern erheben zu lassen, wenn ein hinreichender Grund in einem Gesetz als Zweck benannt werden konnte. DRG-Daten beim InEK, den Selbstverwaltungsgremien und in Statistischen Ämtern Als die Datensammlung mit der zweitgrößten Bezugsgröße weist Abb. 3 die Daten der Krankenhausfälle aus, die unter der Bezeichnung DRG-Daten sowohl im Statistischen Bundesamt (destatis) als auch im Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) sowie bei einigen Stellen der Selbstverwaltung für Auswertungen zur Verfügung stehen. Auch hier können wir bei inzwischen über 19 Mio. Fällen pro Jahr eine Vollerhebung unterstellen, da beinahe jeder nicht-erfasste Bürger auch tatsächlich keine Krankenhausbehandlung erfahren hat. Es handelt sich um den einzigen Datenbestand aus dem Versorgungsbereich, der sowohl die gesetzlich-versicherten als auch die privat versicherten Patienten umfasst. Der Wermutstropfen dieser Quasi-Vollerhebung besteht darin, dass stationäre Patienten mit Unfällen und Berufskrankheiten, deren Versorgung durch die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) finanziert wird und die zum Teil in eigenen Einrichtungen der Berufsgenossenschaften versorgt werden, nicht vollständig in der Liste aller Krankenhausfälle bei destatis und InEK enthalten sind. 2Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitszustände. 394 J. Schepers und S. Semler Der DRG-Datensatz und seine Nutzung im gesamtdeutschen Projekt der DRG-Kalkulation beruht auf einer spezialgesetzlichen Regelung mit dem Mittelzweck, das Fallpauschalenentgeltsystem der Krankenhäuser jährlich weiterzuentwickeln, und mit dem Zielzweck, eine gerechte Ressourcenallokation zu erreichen. Dies lässt erkennen, welches Datenvolumen mit einem Basisdatensatz der Kategorie /a/ bei einer konzertierten Aktion im deutschen Gesundheitssystem zur Erfüllung einer definierten Aufgabe bewegt werden kann (Tab. 1). Darüber hinaus werden die DRG-Daten für eine Reihe von Sekundärauswertungen wie Benchmarking, Qualitätssicherung mit Routinedaten und der Feststellung der regionalen Variation von Eingriffshäufigkeiten herangezogen. In Tab. 2 ist ein Ausschnitt aus einer exemplarischen Auswertung des Statistischen Bundesamtes über den Zusammenhang zwischen Wohnort und Leistungsort im Krankenhaussektor wiedergegeben. Ambulante Abrechnungsdaten bei den Kassenärztlichen Vereinigungen Der über dem „DRG-Krankenhaus-Balken“ liegende etwas schmalere „KV-Balken“ steht für einen vergleichbaren Datenkörper des ambulanten Sektors, die Sammlung der Tab. 2  Zusammenhang zwischen Wohnort und Leistungsort im Krankenhaussektor (Ausschnitt). (Quelle: Statistisches Bundesamt H 1 – Gesundheit, DRG-Statistik/© Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2016) DRG-Statistik (2014) – Aus dem Krankenhaus entlassene vollstationäre Patienten (einschl. Sterbeund Stundenfälle) 2014 nach dem Wohn- und Behandlungsland (Die Erhebung erstreckt sich auf alle Krankenhäuser, die nach dem DRG-Vergütungssystem abrechnen und dem Anwendungsbereich des § 1 KHEntgG unterliegen.) Vervielfältigung und Verbreitung, auch auszugsweise, mit Quellenangabe gestattet Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 395 Abrechnungsdaten bei den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) beziehungsweise bei ihren Bundeseinrichtungen KBV und Zentralinstitut (ZI). Auch hier wird auf der Basis von Bestimmungen im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) für jeden Fall ein Basisdatensatz erfasst und zu einer zentralen Sammlung zusammengeführt. Der Balken ist schmaler, weil nur die Abrechnung der niedergelassenen Ärzte mit den GKVKassen über KVen läuft, nicht aber die Abrechnung mit den Privatversicherungen. Da immer noch über 90 % der Bürger Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse sind, handelt es bei dem bundesweiten Bestand mit jährlich 500 Mio. Quartalsfällen und 200 Mio. Datensätzen um einen sehr großen Datenbestand, wegen seiner Strukturierung aber nicht um Big Data. Auch diese Datenkörper werden nicht nur für die Abrechnung, sondern insbesondere durch das ZI auch für epidemiologische und verwandte Analysen benutzt. Datenbestände von Gesetzlichen Krankenversicherungen Bevor wir auf den in Abb. 3 über dem „KV-Balken“ liegenden „MorbiRSA/DaTraV-Balken“ eingehen, betrachten wir die dahinterstehenden Säulen der Krankenkassen. Die Datenkörper der Krankenkassen werden auf der Basis des SGB V durch Zusammenführung von Abrechnungsdaten aus sehr vielen Leistungsbereichen des Gesundheitssystems gefüllt – aber immer nur für die jeweiligen Versicherten der Krankenkasse (vgl. Ohlmeier et al. 2014). Da sie fallbezogene Zusammenführungen von stationären und ambulanten Versorgungsinformationen darstellen, sind sie im Bildmittelgrund fußend höher als die davorliegenden Balken wiedergegeben, wegen der Beschränkung auf die eigenen Versicherten aber schmaler als die anderen Balken. Neben dem Hauptzweck der Abrechnung werden die Daten innerhalb der Versicherungen auch vielfältig für Planungs- und Steuerungszwecke genutzt. Bei einigen Kassen werden sie dazu in pseudonymisierter Form und mit hohen Sicherheitsvorkehrungen an eigene Forschungsinstitute wie das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (WIdO) weitergeleitet. Zu den relevanten Projekten zählen die „Qualitätssicherung mit Routinedaten“ der AOK-Gruppe, die immerhin auf den Daten von ungefähr 25 Mio. Versicherten fußt, und die Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen. Eine umfangreiche Darstellung der Sekundärnutzung von Routinedaten findet sich in Swart et al. (2014). Eine besondere Zusammenführung der Daten von 17 Mio. Versicherten wird in der Forschungsdatenbank GePaRD des Bremer Leibniz-Institutes für Prävention und Epidemiologie – BIPS (s. Abschn. 3.6 in Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“) genutzt. Die umfassendste Zusammenführung könnte zukünftig durch die Weiterentwicklung des Datentransparenzverfahrens entstehen, womit wir zum „MorbiRSA/DaTraV-Balken“ in Abb. 3 zurückkommen. DIMDI-Datenbestand des Datentransparenzverfahrens Der „MorbiRSA/DaTraV-Balken“ repräsentiert die Datenzusammenstellung des Datentransparenzverfahrens des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Das DIMDI stellt Gesundheitsdaten von ungefähr 70 Mio. GKVVersicherten aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) 396 J. Schepers und S. Semler zusammen, der einen Finanzausgleich zwischen den unterschiedlich finanzstarken gesetzlichen Krankenkassen herstellt, ohne Beteiligung der Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) und ohne Berücksichtigung von GUV und GRV. Da nur ausgewählte Daten (bestimmte Diagnosen und Medikamente) für die Bemessung des Finanzausgleichs verwendet werden, ist das Analysepotenzial eingeschränkt und ausbaufähig. Entsprechend flach ist der Balken in Abb. 3 dargestellt. Durch das ursprüngliche Datentransparenzgesetz im Rahmen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes wurden bereits im Jahre 2004 die §§ 303a–f in das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) eingefügt und auch zeitnah durch eine Drei-Prozent-Stichprobe mit Daten aus dem Jahr 2002 von allen Kassen umgesetzt, die noch heute beim Statistischen Bundesamt abgerufen werden kann. Dabei blieb es aber dann, bis im Jahr 2012 durch die Datentransparenzverordnung der Schalter in Richtung Morbi-RSA-Daten umgelegt wurde. Nutzungsberechtigt sind neben Planungsbehörden und Selbstverwaltungseinrichtungen auch Hochschulen und sonstige Einrichtungen mit der Aufgabe unabhängiger wissenschaftlicher Forschung. Für das Versorgungsmonitoring bietet das DaTraV-Verfahren große Chancen, wenn das an sich vorhandene Datenvolumen der GKV-Kassen umfänglicher ausgeschöpft wird, wie die im Abschn. 2.2 über „Datenbestände von Gesetzlichen Krankenversicherungen“ genannten Referenzbeispiele „Qualitätssicherung mit Routinedaten“ und Forschungsdatenbank GePaRD in Bremen belegen. Die Abb. 4 gibt den Datenfluss von den Patienten über Leistungserbringer, Krankenkassen und Bundesversicherungsamt zum DIMDI und dessen Abnehmern wieder. Abb. 4  Datenfluss im DIMDI-DaTraV-Verfahren Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 397 Sonstige Neben den genannten Datenkörpern gibt es viele weitere, durch die mit Fokussierung auf ausgewählte Konstellationen und/oder durch Stichproben die Generierung von Aussagen zu Gesundheit und Versorgung unterstützt werden. Es kann an dieser Stelle nur auf weiterführende Literatur und Internetpräsentationen zu Gesundheitssurveys des Robert-Koch-Institutes, zum Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes, zu Qualitätssicherungsprojekten des Institutes für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG), zur Nationalen Kohorte (NAKO) und zum Sozioökonomischen Panels (SOEP) sowie auf Übersichtsarbeiten zur Sekundärnutzung von Routinedaten hingewiesen werden. Viele Studiensysteme, Register und Kohortendokumentationen sowie Biomaterialbanken ergänzende Datensammlungen müssen unerwähnt bleiben. Da aber keiner der Ansätze umfassend die Idee eines datengestützten, Sektoren übergreifenden, multiprofessionell ausgerichteten, regional skalierbaren Versorgungsmonitorings unter Berücksichtigung von Schnittstellen, Vernetzung und Langzeitverläufen aufgreift, erlauben wir uns, ein Modell mit integrierten Basisdatensätzen aus vielen Leistungsbereichen als machbare Option für ein solches Gesundheits- und Versorgungsmonitoring zur Diskussion zu stellen. 3 Integrierte Basisdatensätze fürs Versorgungsmonitoring 3.1 Zusammenführung von Routinedaten Durch Hinweis auf große amtliche Datensammlungen, DRG-Kalkulation, Qualitätssicherung mit Routinedaten, die Forschungsdatenbank GePaRD (in Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“), externe Qualitätssicherungsmaßnahmen und das Datentransparenzverfahren im DIMDI lässt sich prinzipiell zeigen, dass es in Deutschland möglich ist, auf der Basis von entsprechenden spezialgesetzlichen Regelungen große strukturierte Gesundheitsdatensammlungen anzulegen – wahlweise als Primärerhebungen oder in Form nachrangiger Sekundärdatennutzung. Die vom SVR Gesundheit angestoßene Idee der Zusammenführung von Routinedaten für die kontinuierliche Aufgabe eines auf Regionen abgestimmten Versorgungsmonitorings inklusive Pflege- und Rehabilitationsmonitoring interpretieren wir als überregionale Aufgabenstellung, für die die Anlage einer neuen großen strukturierten Datensammlung für ganz Deutschland oder eines Systems föderierter Datensammlungen sinnvoll erscheint. Um einen umfassenden Überblick über das gesamte Gesundheitssystem und alle Versorgungsprozesse geben zu können, sollte es über den alleinigen Rückgriff auf GKV-Daten wie im QSR-, DaTraV- und GePaRD-Modell hinausgehen. Ein umfassenderer Ansatz unter Einbeziehung von GUV, GRV, Rettungsdienstes und privat finanzierten Leistungen dürfte auch besser in der Lage sein, belastbare „homogene Kriterien“ für drohende Unterversorgung abzubilden (s. Kapitel „Einleitung“). 398 J. Schepers und S. Semler Unter Zusammenführung könnte das Nebeneinanderlegen weiterhin getrennter Datenbestände verstanden werden. Damit kann, so wie es bereits vielfältig geschieht, einer großen Zahl relevanter Fragestellungen nachgegangen werden. Mit getrennt ausgewerteten Datenbeständen aus verschiedenen Bereichen können aber beispielsweise Längsschnittanalysen über längere Zeiträume, Analysen von Behandlungsabläufen und Analysen des Sektoren übergreifenden Versorgungsgeschehens zum Erkennen von Fehlentwicklungen und von Ansatzpunkten für Reformen (Über-, Unter- und Fehlversorgung)3 nicht immer adäquat reliabel, objektiv und valide durchgeführt werden. Vielmehr ist für solche Auswertungen in der Regel die Verknüpfung von verschiedenen Datenbeständen auf der Personenebene erforderlich. Beispielsweise müssen für die Analyse der Zusammenarbeit von Ärzten und Heimen oder Heimen, Rettungsdiensten und Krankenhäusern oder Hausärzten, Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen bürgerbezogen immer die ganzen Behandlungsverläufe der Bürger mit Informationen aus verschiedenen Sektoren abgebildet sein. Aussagen des Pflegemonitorings werden substanzieller, wenn neben dem reinen Pflegeverlauf – sei es zu Hause, sei es im Heim – auch Kontakte zu Ärzten, Einsätze von Rettungsdiensten, Aufenthalte in Krankenhäusern und Kuren in Reha-Einrichtungen in einer integrierten Datengrundlage dokumentiert beziehungsweise zusammengeführt sind. Alternativ zu vorhandenen partikularen Ansätzen – möglicherweise aber auch evolutionär an das DIMDI-Verfahren anknüpfend – schlagen wir einen anderen Weg vor: die parallele Abholung von Basisdatensätzen bei den Leistungserbringern, die Auslassung des Umweges über die Versicherungen und die Zusammenführung in regionalen Datenzentren, eventuell auf Bundeslandebene. Wir stellen dieses Modell unter dem Arbeitstitel „System integrierter Basisdatensätze (SIntBaD)” zur Diskussion und malen das Modell auch durch einige organisatorische, technische und juristische Überlegungen aus. Eine Skizze zu dieser Konstellation findet sich in Abb. 5. Das SIntBaD-Verfahren sieht die Zusammenführung und pseudonymisiert-personenbezogene Verknüpfung von abgestimmten Basisdatensätzen der Leistungserbringung aus möglichst vielen Versorgungsbereichen vor. Die in Krankenhäusern, in Heimen und bei ambulanten Versorgern zu erhebenden Basisdaten sollen sich weitgehend an den etablierten Routineabrechnungsdaten orientieren, um merkliche Zusatzbelastungen für Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten zu vermeiden. Basisdaten werden fallbezogen erhoben. Sie umfassen nicht alle Informationen und Dokumente der Leistungserbringung, sondern nur Eckpunkte zur Beschreibung der Versorgung wie die Abrechnungsdatensätze gemäß § 21 KHEntgG und § 295, 300, 301, 302 SGB V. Basisdaten sind bei ihrer Erstellung immer fall- und patientenbezogen, leistungserbringerbezogen und zeitraumbezogen. Sie enthalten nach Möglichkeit und Sinn Angaben zu Diagnosen – in der Regel ICD-10-codiert – und zu Therapien – ausgedrückt 3§ 303e (2) SGB V. Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 399 Abb. 5  Integration von Leistungsbasisdaten in Regionalen Datenzentren durch Prozedurcodes (OPS-Codes), Leistungsziffern (EBM, GOÄ) oder Medikationsnummern (ATC-Codes). In der Tab. 1 findet sich eine Vorschlagsliste für zu berücksichtigende Leistungserbringer, von denen beispielsweise einmal im Jahr eine Sammellieferung ihrer Basisdatensätze angefordert werden soll. In der Spalte Handlungsebene ist die Ebene der Gebietskörperschaft genannt, auf der vorrangig die Gesetzgebungskompetenz geprüft werden sollte. Die konkrete Datensatzbeschreibung für jedes Element soll sich so weit wie möglich an vorhandenen Routinedaten der Abrechnung orientieren – einige Modifikationen wie eine bessere Differenzierung von Diagnosen und vollständigere Erfassung von Medikationen sollten angestrebt werden. 3.2 Zwecke der Datenzusammenführung und des Versorgungsmonitorings Hinsichtlich der Inhalte ähnelt der für das SIntBaD-Modell vorgeschlagene Datenbestand sehr den bei den einzelnen GKV-Kassen vorliegenden Beständen. Durch die Erhebung bei den Leistungserbringern für die gesamte Bevölkerung und die gesamte Gesundheitsversorgung soll aber ein neues Gesamtbild entstehen, das auch die PKV-, 400 J. Schepers und S. Semler GRV-, GUV-, Pflegeversicherungs-, kommunal, Sozialamts-, Beihilfe- und selbst finanzierten Leistungen einschließen soll. Dieses würde auch neue Perspektiven Sektoren übergreifender und longitudinaler Betrachtungen erlauben, obwohl nur für relativ wenige Bürger mehr Daten als bei seiner Krankenkasse gespeichert würden – zudem anders als bei der Krankenkasse nicht in personenbezogener Form, sondern nur in pseudonymisierter Form. Zu den Auswertungsoptionen gehören die folgenden Ansätze: • Weiterentwicklung von Versorgungsindikatoren und homogenen Kriterien zum Erkennen von Fehlentwicklungen und von Ansatzpunkten für Reformen (Über-, Unter- und Fehlversorgung) • Feststellung bestehender oder drohender lokaler Unterversorgung • regionale Verteilung von Krankheitshäufigkeiten4 (bisher bereits möglich), • regionale Variation von Eingriffen5 (bisher nicht vollständig möglich), • Zugänge zur Gesundheitsversorgung6 (Ort und Zeit der Erstdiagnose; bisher nicht vollständig möglich), • regionale Arbeitsteilung der Sektoren (ambulant, stationär, ASV, Reha, BG; bisher nicht möglich), • regionale Variation in Schnittstellen der Versorgung und Verzahnung (bisher nur partiell möglich), • regionale Variation in der Inanspruchnahme von Heimen (bisher bedingt möglich), • regionale Variation von Anschlussheilbehandlungen7 (bisher bedingt möglich), • Längsschnittanalysen über längere Zeiträume, Analysen von Behandlungsabläufen, Analysen des Versorgungsgeschehens zum Erkennen von Fehlentwicklungen und von Ansatzpunkten für Reformen (bisher nur eingeschränkt möglich). Die Abb. 6 skizziert den durch das SintBaD-Verfahren angestrebten Informationsumfang im Vergleich zu anderen zuvor vorgestellten Datenbeständen. Je Person sind im Durchschnitt nur wenig mehr Informationen als bei ihrer Krankenkasse zusammengeführt, über alles ergibt sich aber für das ganze Land oder ausschnittweise lokal für Versorgungsgebiete zu Händen der zuständigen kommunalen Gesundheitskonferenzen ein deutlich transparenterer Überblick über das Versorgungsgeschehen. 4U. a. als Merkmal für Bedarf von Primärprävention zur Verhinderung von Erkrankungen und zur Ressourcenallokation in der Versorgung. 5Zur Ermittlung von Zugangschancen und Indikationsqualität in der Diskussion um Unter-, Überund Fehlversorgung; ähnlich wie im Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann Stiftung, aber auch „sektorenübergreifend“. 6Auch im Sinne von Sekundärprävention bei bereits eingetretenen Erkrankungen. 7Auch im Sinne der Unterstützung des klinischen Entlassungsmanagements und der Tertiärprävention nach der Behandlung von Erkrankungen. Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 401 Abb. 6  Informationsfülle der integrierten Basisdatensätze im Vergleich 3.3 Juristische Hinweise Bei den Routinebasisdaten, die für das erweiterte Versorgungsmonitoring genutzt werden sollen, handelt es sich ungeachtet der vielen Zusammenhänge, in denen sie bereits getrennt verwendet werden, um hochsensible persönliche Daten von Bürgern und Patienten. Sie unterliegen auch in der Ausweitung der Mehrfachverwendung dem Datenschutzrecht und der Schweigepflicht, zwei strafrechtlich bewehrten Verboten mit Erlaubnisvorbehalt. Zu beachten sind auch die systemkonformen Geheimhaltungsinteressen der Leistungserbringer und der Leistungsträger im Hinblick auf ihre Betriebskennzahlen. Da aus methodischen Gründen zwar eine formale Deidentifizierung, aber keine Anonymisierung möglich ist, bedarf es bei der – im Zweifel neuerlichen – Zusammenführung der Daten entweder der Erlaubnis durch die Einwilligung aller Betroffener oder der Erlaubnis durch eine gesetzliche Grundlage. Da die Einholung der unzähligen Einwilligungen zu aufwendig wäre und trotz mehrerer ähnlicher Konstellationen keine direkt anwendbare gesetzliche Regelung besteht, führt voraussichtlich an der Verabschiedung neuer Gesetze kein Weg vorbei. Ungeachtet der Idee des SVR Gesundheit, die Daten regional zu erheben, um sie Landesgremien gemäß § 90a SGB V und/oder „regionalen bzw. kommunalen Gesundheits- und Pflegekonferenzen für die kontinuierlichen Aufgaben von Versorgungsplanung und -monitoring“ zur Verfügung zu stellen, genügt es nicht, sich mit Landesgesetzen zu 402 J. Schepers und S. Semler befassen. Zwar liegt die Verantwortung für Krankenhäuser, Heime und Rettungsdienste mit entsprechenden Kompetenzen bei den Bundesländern, für die niedergelassenen Ärzte und viele weitere Leistungserbringer kann nur Bundesgesetzgeber Nutzungserlaubnisse für Daten formulieren, die den vorbehaltlichen Verboten von Datenschutz und Schweigepflicht unterliegen. Die Benennung der Handlungsebene in Tab. 1 beruht auf der Gültigkeit des Bundesdatenschutzrechts für niedergelassene Ärzte, Apotheker, ambulante Pflegedienste, Einrichtungen von GUV und GRV, Hebammen, Therapeuten sowie Hilfsmittellieferanten, das nicht durch Erlaubnisse auf Landesebene neutralisiert werden kann. Um eine Verknüpfung von Basisdaten zur Übersicht sowohl über das ganze Gesundheitswesen samt Schnittstellen und Vernetzung als auch nur für ein breit angelegtes Pflegemonitoring zu erlauben, ist also im Wesentlichen der Bundesgesetzgeber gefordert. Wie bereits zuvor angedeutet, liegen nicht seitens der Patienten Schutzinteressen vor, sondern auch bei Leistungserbringern und Leistungsträgern. Insbesondere bei kleinräumlichen Analysen ist es jedoch inhaltlich schwierig, die angesprochenen systemkonformen Betriebsgeheimnisse der Versorgungspartner und das Recht der Öffentlichkeit auf Transparenz in Einklang zu bringen. Hier sollten in den Gesetzestexten ausgleichende Verfahren vorgesehen werden. 3.4 Organisatorische Hinweise Die Datenerhebung an der Basis soll bei den Behandlern und anderen Leistungserbringern erfolgen, diese aber so wenig wie möglich belasten. Dies ist der Grund, warum als Datenformat für die Basisdatensätze der meisten Bereiche zunächst einmal Kopien vorhandener Routinedaten vorgeschlagen werden. Für den Krankenhausbereich sind die Datensätze gemäß § 21 KHEntgG naheliegend, die eine große Übereinstimmung mit den Abrechnungsdatensätzen aufweisen, in den anderen Bereichen sind es die Abrechnungsdaten selbst. Sinnvolle Änderungen oder Erweiterungen wie die bessere Abbildung von Nebendiagnosen (einschließlich „present-at-admission-Kennzeichen“) und die differenziertere Berücksichtigung von Medikationen müssen gegen höheren Aufwand bei der Erhebung abgewogen werden. Die Lieferung soll nach dem Leistungsortprinzip erfolgen; das bedeutet, dass jeder Leistungserbringer genau einer Region zugeordnet wird und ihm für diese Region genau eine Datenannahmestelle benannt wird. Ähnlich wie bei den Verfahren der Sektoren übergreifenden externen Qualitätssicherung des IQTiG kann es geboten sein, Vertrauensstellen in die Datenflüsse zu integrieren. Solche Vertrauensstellen können bei Kassenärztlichen Vereinigungen, Landeskrankenhausgesellschaften und/oder unabhängigen Treuhändern eingerichtet werden. Im föderalen System Deutschlands wird eine angemessene Zuordnung zu Bundes- und Landesebene sowie zu Gebietskörperschaft und Selbstverwaltung zu finden sein. Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 403 Sofern bei der Abwägung der Alternativen eine Entscheidung für regionale Datenbestände getroffen wird – ähnlich wie bei den Kassenärztlichen Vereinigungen und den epidemiologischen Krebsregistern –, muss wie bei den genannten die Mobilität der Bürger beachtet werden. Bei der Erarbeitung der vom SVR Gesundheit angemahnten „homogenen Kriterien“ zur Feststellung von Unterversorgung werden Entfernungen vom Wohnort zum Leistungsort eine Rolle spielen, aber an vielen Stellen nicht Kreis- und Ländergrenzen. Die Tab. 2 zeigt in einer DRG-Daten-Auswertung des Statistischen Bundesamtes für ausgewählte Bundesländer die Mobilität von Krankenhauspatienten im Umfeld von Stadtstaaten. Jeweils mehr als zehn Prozent der Schleswig-Holsteiner und der Brandenburger nutzen die Krankenhauskapazitäten von Hamburg und Berlin. Die Niedersachsen verhalten sich ähnlich in Bezug auf Bremen und Hamburg. Kleinräumliche Untersuchungen kommen für Flächenländer zu entsprechenden Ergebnissen. So findet die Krankenversorgung des bayerisch-schwäbischen Kreises NeuUlm ungeachtet der napoleonischen Grenzziehung vor zweihundert Jahren zu über 40 % im württembergisch-schwäbischen Ulm statt. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Zusammenführung der Basisdatensätze in einem bundesweit zuständigen Institut wie dem öffentlich-rechtlichen DIMDI oder dem privat-rechtlichen IQTiG erfolgen sollte. Sollte dennoch aus guten Gründen eine Lösung mit regionalen Datenbanken gewählt werden, ist ein hinreichend vollständiges Bild der Versorgung der Bevölkerung – insbesondere in Grenzregionen – nur darstellbar, wenn komplementäre Daten auch grenzüberschreitend zur Verfügung stehen, möglicherweise auf der Basis einer Koordinierungsfunktion von DIMDI und IQTiG, beziehungsweise BMG und G-BA. Bei der Entwicklung von Versorgungsindikatoren für die kommunale Gesundheitsberichterstattung ist auch die Einbeziehung des Robert-Koch-Institutes und die Abstimmung in der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Gesundheitsbehörden der Länder (AOGL) sinnvoll. Durch Standardisierung und Harmonisierung der Versorgungsindikatoren stünden für das kommunale Monitoring dann sinnvolle Referenzwerte zur Verfügung und es wäre leichter, die vom SVR Gesundheit geforderten „homogenen Kriterien“ für Unterversorgung zu definieren. 3.5 Technische Hinweise Die Zusammenführung von Leistungsvektoren aus allen Bereichen der Versorgung für die gesamte Bevölkerung hätte vor einigen Jahren noch eine technische Herausforderung dargestellt – im Jahre 2016 ist dies nicht mehr der Fall. Selbst bei einer bundesweiten Lösung mit einer einzigen Datenbank fände zwar eine Verarbeitung von großen Datenmengen statt. Es würde sich aber nicht um Big-Data-Processing im engeren Sinne handeln, da die Daten zwar bedingt vielfältig ausfallen würden, aber dem Grunde nach sehr strukturiert eingestellt würden. 404 J. Schepers und S. Semler Tab. 3  SWOT-Tabelle des Systems der Integrierten Basisdatensätze (SIntBaD) Stärken (Strength) • Umfassende Abbildung der Gesundheitsleistungen in Regionen und in ganz Deutschland • Einbeziehung der Pflege, Abbildung des Zusammenwirkens von Heimen; Krankenhäusern und ambulanter Versorgung • Behandlungsverläufe • Sektoren übergreifend • Schnittstellenerfassend • Regional skalierbar • Wenig zusätzlicher Erfassungsaufwand Schwächen (Weakness) • Hoher Gesetzgebungsaufwand • Territorialschlupf an den Grenzen bei lokal begrenzten Auswertungen • Keine Erfassung von Gesundheitsverhalten • Keine leistungsunabhängige Gesundheitserfassung •… Chancen (Opportunities) • Verbesserte Qualitätssicherung • Sektoren übergreifende Verbesserungsprozesse • Unterstützung der Verzahnung aller Sektoren • Bottom-up-Entwicklung neuer Versorgungsmodelle in Gesundheitsregionen Risiken (Threats) • Blockade durch Interessengruppen • Datenfriedhof • Datendiebstahl trotz Sicherheitsniveau Wie in Abb. 4 skizziert, würden die Informationsmengen je Fall im Durchschnitt nur geringfügig höher liegen als bei den Krankenkassen und bezogen auf die größten Datenbestände dort nur die ungefähr dreifache Fallzahl betreffen. In Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“ haben wir auf ähnlich große oder größere Projekte im internationalen Rahmen wie beispielsweise das US-amerikanische Mini-Sentinel-Initiative8 mit den Daten von fast 200 Mio. Bürgern verteilt über 18 Partner-Datenbanken hingewiesen. 3.6 SWOT-Tabelle Die Tab. 3 gibt eine Übersicht über die von den Autoren identifizierten wesentlichen Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken des vorgestellten Modells wieder. 4 Fazit Der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) hat in seinem Gutachten 2014 die Beauftragung von regionalen beziehungsweise kommunalen Gesundheits- und Pflegekonferenzen mit kontinuierlichen 8http://mini-sentinel.org/about_us/MSDD_At-a-Glance.aspx. Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 405 Aufgaben von Versorgungsplanung und Versorgungsmonitoring (mit Einschluss von Pflege-, Schnittstellen- und Vernetzungsmonitoring) empfohlen – mindestens für den Fall drohender oder bestehender Unterversorgung. Der vorliegende Beitrag vertritt die Auffassung, dass diese Beauftragungen ein ausgewogenes Verhältnis von dezentralen und zentralen Politikmaßnahmen erfordern und eine gründliche, abgestimmte Vorbereitung zu belastbareren Ergebnissen führt. Die Auswahl der lokal vordringlichen Themen sollte im Wesentlichen von den Konferenzen vor Ort bestimmt werden. Versorgungsindikatoren, die Anregungen zur Themenfokussierung liefern können, dürfen in der überregional abgestimmten Gesundheitsberichterstattung der Länder kontinuierlich präsentiert werden. Die Datenkonzepte sollten nicht überall parallel entwickelt werden, sondern zumindest im Kern auf einem bundesweiten Standard aufbauen, der dann auch „homogene Kriterien“ zur Bemessung von Unter-, Über- und Fehlversorgung im Sinne des SVR Gesundheit erlauben würde. Das hierfür vorgeschlagene Modell der „Integrierten Datensätze (SintBaD)“ würde trotz der kleinräumlichen Zielgebiete ein nationales Großprojekt mit der Verarbeitung großer Mengen von Gesundheitsdaten darstellen. Es wäre nach Auffassung der Autoren hinsichtlich Wert und Aufwand in einer Gruppe mit der DRG-Kalkulation des InEK, der einrichtungs- und Sektoren übergreifende Qualitätssicherung (Qesü) von G-BA und IQTiG, den epidemiologischen Krebsregistern und der Todesursachenstatistik zu sehen. Regionale Pionierarbeiten können sinnvoll sein, ihr Potenzial aber nur entfalten, wenn eine Bundesperspektive entwickelt wird. Das SintBad-Modell soll im Wesentlichen auf der Wiederverwendung bereits mehrfach genutzter Routinedaten aufsetzen, um eine merkliche Zusatzbelastung der Leistungserbringer – insbesondere der Ärzte und Pflegekräfte vor Ort – auszuschließen und um trotzdem eine hohe, belastbare Aussagekraft zu erreichen. Bei der Umsetzung des regionalen und überregionalen Versorgungsmonitoring auf den angestrebten großen Datenbeständen dürfen auch Technologien und Methoden aus der Toolbox des Big-Data-Processing in angemessener, domestizierter Form eingesetzt werden. Um krudes Big Data im engeren Sinne würde es sich – wie in Kapitel „Große Datenmengen in der medizinischen Forschung – Big Data?“ erläutert – nicht handeln, da ein strukturiertes, stringentes Vorgehen zur Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit im Vordergrund stünde. Auf der Schlussgeraden dieses Beitrags kommen wir – wie angekündigt – noch einmal auf das Datentransparenzverfahren beim DIMDI auf der Basis des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes aus dem Jahre 2004 und der Datentransparenzverordnung aus 2012 zurück. Dieses Verfahren weist viele Parallelen zum hier vorgeschlagenen Modell der Integrierten Basisdatensätze auf, wobei das DaTraV-Verfahren den Umweg und die Filterung durch das GKV-System in Kauf nimmt, während das SIntBaD-Verfahren den direkteren Weg anstrebt, flexibler sein kann, aber wahrscheinlich mehr Aufwand verursacht. Die beiden Verfahren sollten nicht als einander negierende Konkurrenten gesehen werden, sondern als zwei Quellen eines Flusses, der sich im Laufe der nächsten Jahre entwickeln muss. 406 J. Schepers und S. Semler „Angesichts des in Deutschland infolge der Auswirkungen des demografischen Wandels“ erwarteten „Handlungsdruckes zur Sicherstellung einer flächendeckenden und wohnortnahen (Grund-)Versorgung“ halten die Autoren den Aufwand für die Entwicklung und den Betrieb eines regionalen und überregionalen Versorgungsmonitorings nicht nur für die Konstellationen drohender Unterversorgung, sondern allgemein zum Zwecke der optimalen Allokation der verfügbaren Ressourcen für angemessen, zweckmäßig und notwendig. Literatur Antes G (2015) Eine neue Wissenschaft-(lichkeit)? Laborjournal 2015(10). http://www.laborjournal.de/editorials/981.lasso. Zugegriffen: 5. Nov. 2015 Hollederer A, Braun GE, Dahlhoff G, Drexler H, Engel J, Gräßel E, Häusler E, Heide H, Heuschmann PU, Hörl G, Imhof H, Kaplan M, Kasperbauer R, Klemperer D, KolominskyRabas P, Kuhn J, Lang M, Langejürgen R, Lankes A, Leidl R, Liebl B, Loss J, Ludewig K, Mansmann U, Melcop N, Nagels K, Nowak D, Pfundner H, Reuschenbach B, Schneider A, Schneider W, Schöffski O, Schreiber W, Voigtländer S, Wildner M, Zapf A, Zellner A (2015) Memorandum „Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgungsforschung in Bayern aus Sicht der Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheitsversorgungsforschung: Status quo – Entwicklungspotenziale – Strategien“. Gesundheitswesen 77. Thieme, Stuttgart. doi:http://dx.doi. org/10.1055/s-0034-1389915. Zugegriffen: 25. Nov. 2014 (ISSN 0941-3790) Ohlmeier C, Frick J, Prütz F, Lampert T, Ziese T, Mikolajczyk R, Garbe E (2014) Nutzungsmöglichkeiten von Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Bundesgesundheitsblatt −Gesundheitsforschung −Gesundheitsschutz 57(4):464–472 SVR Gesundheit (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) (2007) Gutachten 2007 – Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Nomos, Baden-Baden, Berlin SVR Gesundheit (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) (2014) Gutachten 2014 – Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche. Nomos, Baden-Baden, Berlin Swart E, Ihle P, Gothe H, Matusiewicz D (Hrsg) (2014) Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse: Grundlagen, Methoden, Perspektiven. 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2005. Huber, Mannheim Wegscheider K, Koch-Gromus U (2015) Die Versorgungsforschung als möglicher Profiteur von Big Data. Bundesgesundheitsblatt −Gesundheitsforschung −Gesundheitsschutz 58(8):806–812 Große Datenmengen im Versorgungsmonitoring – Big Data? 407 Über die Autoren Dr. Josef Schepers ist Mediziner und Gesundheitsökonom, vielfältige Projekte in Medizininformatik und Gesundheitssystemmanagement im Universitätsklinikum Benjamin Franklin, im HIS-Institut der 3M Deutschland GmbH und in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er ist Genossenschaftsmitglied im HCMB Institute for Health Care Systems Management Berlin eG. Kontakt: Josef.Schepers@tmf-ev.de Sebastian C. Semler Seit 2004 ist Sebastian C. Semler (Wissenschaftlicher) Geschäftsführer der TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. Neben der Außenvertretung und Repräsentanz der TMF obliegt ihm die fachliche Begleitung von Arbeitsgruppen und TMF-Projekten u. a. zu den Themen Biobanken, klinische Studien, Datenschutz und Datenstandardisierung. Sebastian Claudius Semler ist approbierter Arzt mit dem Zertifikat Medizinische Informatik der GMDS/GI und war viele Jahre als Lehrbeauftragter am Institut für Molekularbiologie & Biochemie der Freien Universität Berlin bzw. Charité Berlin tätig. Kontakt: Sebastian.Semler@tmf-ev.de Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in E-HealthAnwendungen Myriam Lipprandt und Rainer Röhrig 1 Einleitung E-Health als Oberbegriff für vernetzte und mobile IT im Gesundheitswesen kann zur Sektor übergreifenden Gesundheitsversorgung beitragen und neue Versorgungsformen etablieren (Henke et al. 2011). Technische Innovationen wie z. B. Telemedizin, Ambient Assisted Living (AAL) oder die häusliche Intensivpflege setzen wieder Prozessinnovationen in Gang, die zu einer Erweiterung von Leistungen führen und eine umfassende Versorgung gewährleisten können. Innerhalb der E-Health-Domäne können die Grenzen zwischen Medizin, Pflege und den Gesundheitsleistungen jenseits der Sozialversicherung verschwimmen. Im Hinblick auf die Patientensicherheit ergeben sich für den E-Health-Bereich neue Herausforderungen. Die Sektor übergreifenden Prozesse bieten Patienten die Möglichkeit einer Versorgung vom stationären Aufenthalt bis zur intensivmedizinischen Pflege im häuslichen Umfeld. Hierbei werden vermehrt stationäre Leistungen in den Pflegebereich übertragen. Der Umgang mit dem Patienten und der Medizintechnik ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit, die medizinische Kenntnisse, technische Versiertheit und praktische Erfahrung beim Umgang mit medizinischen Komplikationen sowie technischen Fehlern umfasst. Eine Fehlfunktion oder Fehlentscheidung kann zu erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen oder sogar zum Tod des Patienten führen. In Huckvale et al. (2015) wurden Smartphone-Apps zur Berechnung Insulin-Dosen einer M. Lipprandt (*) · R. Röhrig  Carl von Ossietzky Universitaet Oldenburg, Oldenburg, Deutschland E-Mail: Myriam.Lipprandt@uni-oldenburg.de R. Röhrig E-Mail: Rainer.Roehrig@uni-oldenburg.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_21 409 410 M. Lipprandt und R. Röhrig systematischen Prüfung unterzogen. Die Mehrzahl der von den Apps berechneten Dosen waren nicht korrekt und könnten daher zu einem Schaden führen: The majority of insulin dose calculator apps provide no protection against, and may actively contribute to, incorrect or inappropriate dose recommendations that put current users at risk of both catastrophic overdose and more subtle harms resulting from suboptimal glucose control (Huckvale et al. 2015). Der nicht-zertifizierte Wellnessbereich umfasst Wearables, mobile Messgeräte und Apps mit einer unerschöpflichen Anwendungsbreite, deren Abgrenzung zum diagnostisch medizinischen Bereich nicht immer gegeben ist. Wearables wie z. B. die Apple Watch oder das Fitbit können zur Bestimmung der körperlichen Aktivität herangezogen werden. Auch die Welt der Apps für mobile Endgeräte bietet fast zu jeder Erkrankung weitreichende Möglichkeiten zum Krankheitsmanagement (z. B. Apps zur Selbsthilfe) oder als Dokumentationsprogramm. Vom Migränekalender, einem Depressionstest über FitnessAnwendungen bis zur Bestimmung der Fruchtbarkeit sind die meisten der Apps keine Medizinprodukte. Es können Fehlfunktionen durch Berechnungsfehler oder Probleme in der Bedienbarkeit zu unerwünschten Ergebnissen führen. Im Falle von Fertilität-Apps können ungewollte Schwangerschaften aufgrund unzureichender Usability oder fehlerhafter physiologischer Modelle als Risiken (Albrecht et al. 2015) aufgeführt werden. Der beabsichtigte Nutzen bestimmt, wann ein Produkt zum Medizinprodukt wird. Sie unterliegen besonderen regulatorischen Anforderungen, da sie zur Diagnose, Heilung oder Linderung von Krankheiten eingesetzt werden (Leitgeb 2010). Nach § 3 Begriffsbestimmung Abs. 1 des Medizinproduktegesetzes – MPG – werden Medizinprodukte wie folgt definiert: Medizinprodukte sind alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Software, Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen oder andere Gegenstände einschließlich der vom Hersteller speziell zur Anwendung für diagnostische oder therapeutische Zwecke bestimmten und für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinproduktes eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen mittels ihrer Funktionen zum Zwecke a. der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, b. der Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen, c. der Untersuchung, der Ersetzung oder der Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs oder d. der Empfängnisregelung zu dienen bestimmt sind und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologisch oder immunologisch wirkende Mittel noch durch Metabolismus erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 411 Zur Beurteilung, ob Software, insbesondere Apps als Medizinprodukte einzustufen sind, helfen auch Stellungnahmen der Europäischen Kommission (European Commission 2012; European Commission 2015, Kap. 9, S. 63–67). Als vereinfachtes Fazit kann man formulieren: Wenn eine Software (einschließlich Apps) aktive Berechnungen durchführt oder proaktiv Anwender informiert mit dem Ziel, den Anwender in einer für die Erkennung, […], Behandlung […] zu beeinflussen, ist diese als Medizinprodukt einzustufen. In dem Fall müssen grundlegenden Anforderungen erfüllt und dies durch ein Konformitätsbewertungsverfahren nachgewiesen werden. Ist die Zweckbestimmung z. B. der Trainings- oder Fitnesszustand, so gelten „nur“ die allgemeinen Sorgfaltspflichten und die Produkthaftung. Die anfallenden Daten können zwar gesundheitsrelevant sein und in einen medizinischen Prozess integriert werden, der wie in der aktuellen Diskussion auch für Krankenkassen von Interesse ist. Der Datenschutzaspekt ist durch die intransparente Weitergabe und Speicherung der Daten nicht hinreichend geklärt (Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) 2015). E-Health kann die Brücke für einen neuen Bedarf an Versorgungskontinuität und Patientensicherheit über die sektoralen Grenzen hinweg schlagen. Die Einführung neuer Technologien in erweiterten Behandlungsprozesse mit zum Teil neuartigen mobilen Geräten und Schnittstellen birgt einerseits ein großes Potenzial an kontinuierlichen Versorgungsmöglichkeiten, andererseits muss die Verwendung der neuen technischen Systeme im Hinblick auf deren Gebrauchstauglichkeit und der Patientensicherheit entwickelt und evaluiert werden. 2 Gebrauchstauglichkeit in der medizinischen Domäne Gebrauchstauglichkeit wird in der DIN EN 62366 als „Eigenschaft der Benutzer-Produktschnittstelle, die die Effektivität, Effizienz sowie die Lernförderlichkeit und Zufriedenstellung des Benutzers umfasst“ DIN EN 62366 (2008) definiert. Eine unzureichende Gebrauchstauglichkeit kann sich unmittelbar negativ auf die Sicherheit des Patienten auswirken. Alle Prozesse zur Vermeidung von unerwünschten Ereignissen (Hölscher et al. 2014) am Patienten werden unter dem Begriff der Patientensicherheit zusammengefasst und adressieren die Minimierung von Risiken. Dabei stehen das Gerät, der Mensch, die Interaktion zwischen Mensch und Gerät – auch Mensch-Maschine-Interaktion genannt – sowie übergeordnete organisatorische Zusammenhänge im Fokus. Vernetzte E-Health-Anwendungen können als soziotechnisches System, in dem alle beteiligten Ressourcen (Mensch-Mensch, Mensch-Maschine, Maschine-Maschine) in interaktiver Form zusammenarbeiten, angesehen werden. Um einen Überblick über die aufkommenden Risiken bei unzureichender Gebrauchstauglichkeit in E-Health-Anwendungen zu bekommen, werden in dem Abschn. 2.1 die negativen Auswirkungen bei Geräte- und Benutzungsfehlern aufgeführt. In Abschn. 2.2 werden Fehlerklassen von Medizingeräten 412 M. Lipprandt und R. Röhrig und Interaktionen kategorisiert und in Abschn. 2.3 die zugehörigen Handlungen in normale und anormale Benutzung eingeteilt. In Abschn. 2.4 sind dann Vorschläge zur Dialoggestaltung gegeben. Der gesamte Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher Medizinprodukte wird in Abschn. 2.5 beschrieben, um einen Überblick über die regulatorischen Anforderungen, die auch im E-Health-Bereich relevant sind, zu geben. 2.1 Negative Auswirkungen bei Geräte- und Benutzungsfehlern Die Miniaturisierung und Erschwinglichkeit von Sensoren führt zu mobilen Medizinprodukten, die orts- und zeitunabhängige Messungen ermöglichen. Somit ist es möglich, im ambulanten und privaten Bereich Diagnose und therapierelevante Informationen zu generieren. Die Verlässlichkeit des Medizinprodukts ist entscheidend für die Patientensicherheit, sowie die Gebrauchstauglichkeit, die eine sachgerechte Benutzung erst ermöglicht. In einer stichprobenartigen Analyse der erfassten Risiken durch Medizinprodukte des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde ausschließlich nach mobilen Blutzuckermessgeräten mit und ohne Insulinpumpen gesucht, da diese Geräte im häuslichen Umfeld unter zum Teil unklaren Bedingungen und von sehr unterschiedlichen Benutzergruppen verwendet werden. Im Kontext von E-Health-Anwendungen wird es in Zukunft vermehrt solche Messgeräte im häuslichen Umfeld geben, deren Anwendbarkeit robust gegenüber Fehlern und Fehlbenutzungen sein muss, um eine adäquate Patientensicherheit zu gewährleisten. Hierbei ergaben sich Gerätefehler bei der alltäglichen Verwendung. Mögliche Fehler waren: • beim Batteriewechsel (BfArM 6264/14), • beim Ändern der Bildschirmausrichtung des Smartphones bei einer Diabetes-App (BfArM 7227). Alle Gerätefehler führten zu einer falschen Berechnung oder fehlerhaften Anzeige des Blutzuckermesswertes. Es wurden entweder veraltete Messwerte angezeigt oder sie waren signifikant zu hoch oder zu niedrig. Auch die Datums- und Uhrenanzeige war bei einer Insulinpumpe betroffen, die zu einer Insulinabgabe zur falschen Zeit führte. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen Anwenderfehler und Anwendungsfehler. Ein Anwendungsfehler besteht in der Anwendung mit einem Medizinprodukt, deren Ursache nicht allein beim Anwender liegt. Wohingegen ein Anwenderfehler allein in der Verantwortung des Nutzers liegt. Eine klare Identifizierung, ob es sich nun um einen Anwender- oder Anwendungsfehler handelt, ist nicht immer möglich (Hölscher et al. 2014). In Abschn. 2.2 werden daher zuerst Anwendungsfehler kategorisiert, die in Gerätefehler und Mensch-Maschine-Interaktionsfehler unterteilt werden. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 413 2.2 Fehlerklassifikationen von Medizingeräten und in der Mensch-Maschine-Interaktion Das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik ist mit einem Risiko für den Patienten behaftet, da es durch unzureichende Gebrauchstauglichkeit zu Fehlbedienungen kommen kann. Für eine Verbesserung der Patientensicherheit in E-Health-Anwendungen ist eine Dokumentation und Analyse der entstandenen Schäden oder Gefährdungssituationen unerlässlich. Magrabi et al. (2010) hat in 123 computerassoziierten Vorfällen insgesamt 32 Klassifikationen für Fehler identifizieren können. Hierbei wird wie in Abb. 1 aufgeführt, zwischen Mensch-Maschine-Interaktionsfehler und Maschinenfehler unterschieden. Die Kategorie Input/Eingabe umfasst die meisten Fehler mit 31 % der Vorfälle und wird in der Mensch-Maschine-Interaktion durch die Manipulation bei der Dateneingabe und Speicherung hervorgerufen. Der Nutzer des Systems kann eine fehlerhafte Auswahl treffen wie beispielsweise die Wahl des falschen Patienten, der Diagnose oder der Medikation. Auch eine fehlerhafte textuelle Eingabe kann zu weitreichenden Folgen führen. Hierbei können korrekte klinische Informationen dem falschen Patienten zugeordnet werden oder umgekehrt. Zudem umfassen Inputprobleme auch die Aktualisierung der Daten und die Datenvollständigkeit (Magrabi et al. 2010). Mensch Mensch-Maschine-Interaktion Aus-und Weiterbildung begünstigende Faktoren Fehlende Daten Nicht erledigt Unterbrechung begünstigende Faktoren Falsche Eingabe mentale Belastung begünstigende Faktoren Multitasking Aufgaben nicht erfüllt Manipulation von Dateneingabe und -speicherung falsche Daten abgerufen nicht abgemeldet fehlende Daten Fehler beim Datenabruf nicht weitergemeldet Output / Ausgabe Input / Eingabe Output / Ausgabefehler Übermittlung Datenübernahme nicht verfügbar nicht weitergemeldet Daten nicht verfügbar Bedienungselemente des Systems Netzwerk ohne Funktion oder zu langsam nicht wahrgenommen Ausgabegerät nicht verfügbar Allgemeine technische Fehler Computersystem ohne Funktion oder zu langsam Maschine Erreichbarkeitsproblem Funktionsumfang Software nicht verfügbar Konfiguration des Systems Software-Problem Bedienungselemente eines Geräts Datenverlust Konfiguration des Netzwerks Abb. 1  Klassifikation von Fehlern beim Einsatz von IT-Systemen in der Medizin nach Magrabi et al. (2010) 414 M. Lipprandt und R. Röhrig An zweiter Stelle treten mit 20 % der Vorfälle Übermittlungsfehler (s. Abb. 1 Übermittlung) auf. Sie beinhalten Netzwerkprobleme sowie durchgeführte Routinetätigkeiten wie z. B. bei Updates. Hierbei kann es zu einem Ausfall von Systemkomponenten für einen unvorhersehbaren Zeitraum kommen. Bei der Systemintegration z. B. neuer Abteilungen kann es bei nicht korrekter Anbindung anderer Systeme zu Übermittlungsproblemen kommen. Die angeforderten Daten sind dann nicht verfügbar und müssen mündlich oder telefonisch eingeholt werden (Magrabi et al. 2010). Das Output-Problem (s. Abb. 1 Output/Ausgabe) bezieht sich auf Vorfälle, die durch Darstellungsprobleme entstehen. Hierbei können Peripheriegeräte wie Monitor, Lautsprecher oder Drucker die Ursache für Probleme sein, da sie durch Fehlfunktionen die Informationen nicht adäquat oder gar nicht darstellen. Die Ausgabe bezieht sich auch auf die Repräsentation der Information, die einer Fehlinterpretation entgegenstehen sollte. Hierbei werden Mensch-Maschine-Interaktionsfehler beim Datenabruf durch nicht wahrgenommene oder fehlende Daten begünstigt (Magrabi et al. 2010). Die allgemeinen technischen Probleme belaufen sich auf 24 % der Vorfälle und umfassen die Performance, die Erreichbarkeit, die installierte bzw. nicht verfügbare Software und deren Probleme als auch den Datenverlust. Zu langsame Computer, fehlende oder inkorrekte Software als auch der Datenverlust führen innerhalb der klinischen Arbeitsprozesse zu einer Verzögerung des gesamten Ablaufs. Prozess zum Umgang und Bewältigung allgemeiner technischer Probleme führen zu einem Mehraufwand und einer hohen Frustration beim Team (Magrabi et al. 2010). Die Kategorie begünstigende Faktoren im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion können unmittelbar zu einem Risiko für den Patienten führen, da der „Faktor Mensch“ (Human Faktor) (Badke-Schaub et al. 2008, S. 308–321; Pierre et al. 2005, S. 17–18) als begrenzender Faktor im soziotechnischen System eine entscheidende Rolle spielt. Fehler begünstigende Faktoren können u. a. Unwissenheit bzw. fehlende Qualifikation und mentale Belastung sein, die durch Multitasking und Unterbrechungen hervorgerufen werden können (Magrabi et al. 2010). Bei der Verwendung und Einführung von E-Health-Geräten und Versorgungsprozessen ist für eine sichere Handhabung, neben der Kategorisierung möglicher Fehlerquellen, auch die Handlung und Motivation des Nutzers entscheidend. Daher wird im Abschn. 2.3 die Fehlerklassifikationen von Handlungen des Benutzers nach DIN EN 62366 (2008) aufgeführt. 2.3 Fehlerklassifikationen von Handlungsprozessen Die Patientensicherheit ist auch in E-Health-Anwendungen inhärent mit der direkten oder indirekten Benutzung des technischen Systems verbunden. Daher werden nach DIN EN 62366 (2008) die Benutzerhandlungen zur Identifikation der möglichen risikobehafteten Nutzungsszenarien kategorisiert. Die Kategorisierung der Benutzungsfehler ermöglicht es, den Ursprung eines Fehlers zu identifizieren und geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 415 Wie in Abb. 2 dargestellt, können Handlungen in beabsichtigt und unbeabsichtigt eingeteilt werden. Eine beabsichtigte Handlung entspricht entweder einem bestimmungsgemäßen Gebrauch, der nach DIN EN 62366 als „normaler Gebrauch ohne Benutzungsfehler“ definiert wird oder einem anormalen Gebrauch. Der anormale Gebrauch wird hingegen als vorsätzliche Handlung angesehen, die außerhalb der angemessenen Möglichkeit des Herstellers zur Risikobeherrschung liegt (DIN EN 62366:2008, S. 7). Eine Zuwiderhandlung des vom Hersteller bereitgestellten Sicherheitshinweises und Zweckbestimmung ist nicht mehr bestimmungsgemäß und kann damit als anormal angesehen werden. Hierbei kann es neben dem vorsätzlichen Gebrauch zur Sabotage auch zu einem gut gemeinten anormalen Gebrauch kommen, der u. a. auf Grundlage fehlenden Wissens des Nutzers zustande kommen kann. Beispiele für anormalen Gebrauch sind Missachtung von Warnleuten und Wartungsintervallen sowie das Ignorieren von Alarmen und unsachgemäßer Gebrauch. Die unbeabsichtigten Handlungen umfassen Irrtum, Erinnerungs- und Aufmerksamkeitsfehler. Sie werden als Varianten von Benutzerfehlern definiert, die zum normalen Gebrauch gehören und daher vom Risikomanagementprozess beachtet werden müssen. Ein Erinnerungsfehler umfasst alle Arten von Gedächtnisausfällen, die in Form von Unterlassen geplanter Vorgänge oder Vergessen von geplanten Absichten auftreten können. Die Aufmerksamkeitsfehler können sich auch durch Unterlassen einer geplanten Tätigkeit bemerkbar machen, aber auch durch Veränderungen des Ablaufs. Ein Irrtum kann als Fehler in der Zielerreichung angesehen werden. Sie können bei Anwendung einer korrekten Regel zum falschen Zeitpunkt oder umgekehrt auftreten. Anormaler Gebrauch Beabsichtigte Handlung Bestimmungsgemässer Gebrauch Benutzungsfehler Handlung Erinnerungsfehler Unbeabsichtigte Handlung Normaler Gebrauch Aufmerksamkeitsfehler Irrtum Abb. 2  Handlungskategorien von Benutzern nach DIN EN 62366. (Details s. Bild B.1 in DIN EN 62366 (VDE 0750-241) 2008-09) 416 M. Lipprandt und R. Röhrig Im Rahmen einer E-Health-Anwendung wie beispielsweise eines vernetzten Diabetesmessgerätes kann es zu unbeabsichtigten Handlungsfehlern kommen, die es für eine Verbesserung der Patientensicherheit zu evaluieren gilt. Das Verwechseln von Knöpfen, das Verwenden des Geräts mit dreckigen Fingern, Lagerung des Geräts auf der Fensterbank in der Sonne sind alles Beispiele für eine normale Verwendung mit unbeabsichtigten Handlungsprozessen. Die Ursachen von Benutzerfehlern müssen daher im Risikomanagementprozess nach DIN EN 14971 (DIN ISO 14971) und dem gebrauchstauglichkeitsorientierten Entwicklungsprozess nach DIN EN 62366 (2008) berücksichtigt und behandelt werden. 2.4 Gebrauchstauglichkeit als Dialog zwischen Mensch und Maschine Für die Analyse, Gestaltung und Bewertung beabsichtigter Handlungen fokussiert die Normenreihe DIN EN ISO 9241 „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“ mit dem Teil 110 „Grundsätze der Dialoggestaltung“ (ISO 9241-110:2006) auf die Systeminteraktion. Diese Normenreihe wird nicht speziell bei Medizinprodukte angewendet und sollte auch im Wellnessbereich beachtet werden. Unabhängig von der Technik, dem Medium oder der Modalität werden Grundsätze zur Gestaltung der Interaktion zwischen Benutzer und einem interaktiven System beschrieben. Diese sieben Grundsätze dienen der Vermeidung irreführender Information, unerwarteter Antworten des Systems oder der Einschränkungen bei der Navigation während des Nutzungsprozesses. Im Folgenden sind die sieben Grundsätze aufgeführt. • Die Aufgabenangemessenheit beschreibt die Fähigkeit, den Benutzer in seinen angestrebten Aufgaben zu unterstützen. Hierbei können die Arbeitsschritte bis zur Zielerreichung aufgeführt werden. In Internet-Shops wird oft der Prozess vom Warenkorb bis zum Kaufabschluss in der Anzahl der Schritte angegeben. Bei einer Blutzuckermessung können die bis zum Ziel notwendigen Schritte angegeben werden. • Die Selbstbeschreibungsfähigkeit vermittelt dem Nutzer die Stelle an dem er sich im Prozess befindet. Bei einer laufenden Messung muss dem Nutzer Feedback über den andauernden Messvorgang gegeben werden. • Die Erwartungskonformität beschreibt die Erwartung eines Nutzers. Entsprechend dem Nutzungskontext sind fachgerechte Terminologie, passende Icons, Feedback zu dem derzeitigen Prozess und Länge des Prozesses Aspekte einer guten Dialogführung. Unverständliche Meldungen, kulturell missverständliche Icons oder kein Feedback bei längeren Berechnungsprozessen können zu einer Missinterpretation und falschen Benutzung führen. • Die Lernförderlichkeit unterstützt den Nutzer beim Erlernen des Systems. Hierbei sind Hilfefunktionen oder das Rückgängigmachen von Operationen Möglichkeiten den Nutzer zu unterstützen. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 417 • Die Steuerbarkeit eines Dialogs überlässt das Starten, den Ablauf und das Tempo dem Nutzer. Bei Messungen kann die Vorbereitungszeit variieren, hierbei soll das System auf den Nutzer „warten“ können. • Eine Fehlertoleranz ist gegeben, wenn ein Ziel trotz fehlerhafter Eingabe erreicht werden kann. Eine Möglichkeit zur Korrektur sollte gegeben sein. Die Fehlererkennung, -korrektur oder ein Umgang mit Fehlern sollte im Dialog implementiert sein. Die syntaktische Analyse von Texteingaben bei beispielsweise E-Mail-Adressen ist allgegenwärtig, aber auch das Testen realistischer Werte bei der manuellen Eingabe von Vitalwerten oder Insulin sollte geprüft werden. • Die Individualisierbarkeit gibt einem Nutzer die Möglichkeit, die Interaktion auf seine Bedürfnisse anzupassen. Anpassung von Schriftgrößen oder die Hervorhebung oft benutzter Funktionen können die Barrieren für die Zugänglichkeit herabsetzen. 2.5 Gebrauchstauglichkeitsorientierter Entwicklungsprozess von Medizinprodukten Der gebrauchstauglichkeitsorientierte Entwicklungsprozess besteht aus einem iterativen Vorgehen (s. Abb. 3). Je nachdem ob es eine Anpassung oder komplette Neuentwicklung ist, werden alle oder nur anteilig diese Schritte angewendet. Der iterative Prozess ist nicht als strenge Abfolge seriell ausgeführter Schritte zu verstehen, vielmehr laufen sie parallel ab und beeinflussen sich gegenseitig. In der Regel beginnt der Entwicklungsprozess mit einer Benutzeranalyse und Konzepterstellung. Sie beinhaltet oft eine Analyse des medizinischen Bedarfs und einer Analyse des Nutzerkreises, die mit dem Medizinprodukt interagieren werden. Hierbei muss beachtet werden, dass nicht ausschließlich Benutzerwünsche, sondern die konkreten Bedarfe ermittelt werden. Methoden wie Fokusgruppenbefragung können eingesetzt werden, wobei zu beachten ist, dass der Bedarf besonders durch eine Expertenanalyse im klinischen Umfeld ermittelt werden kann. In der Spezifikation der Anwendung werden die grundlegenden Eigenschaften, Funktionalitäten und Benutzungsarten des Medizinprodukts festgelegt, sie dient somit auch der DIN EN 14791 (DIN ISO 14971) als Teilmenge des bestimmungsgemäßen Gebrauchs. Die Anwendung eines Blutzuckermessgeräts definiert beispielsweise den Einsatz zu Hause, für den nicht-professionellen Bereich. Für die Sichtbarkeitsbedingungen des Umfeldes, damit das Display gut abgelesen werden kann, sind die Beleuchtungsstärke und der Beleuchtungsabstand definiert. Darüber hinaus werden physikalische Umgebungsparameter wie Temperatur und Lautstärke sowie Benutzungsfrequenz mit angegeben. Die Spezifikation der Anwendung bestimmt auch die vorhersehbaren Gefährdungen. Hierbei werden häufig benutzte Funktionen eines Systems ermittelt, um sie gebrauchstauglich zu gestalten. Eine unzureichende Gebrauchstauglichkeit der oft benutzten Funktionen kann die Wahrscheinlichkeit von Benutzungsfehler erhöhen. Häufig benutzte Funktionen sind beispielsweise das An-/Ausschalten oder das Betätigen 418 M. Lipprandt und R. Röhrig Anwenderuntersuchung Benutzeranalyse / Konzepterstellung • Spezifikation der Anwendung • Häufig benutzte Funktionen • Ermittlung sicherheitsbezogener Merkmale • Ermittlung bekannter oder vorhersehbarer Gefährdungen und Gefährdungssituation Konzeptdesign Einsatz Iterativer Zyklus Erprobung Test Bewertung des Designs • Verifizierung und Validierung der Gebrauchstauglichkeit • Ermittlung bekannter oder vorhersehbarer Gefährdungen und Gefährdungssituationen Detailentwicklung und Spezifikation • Gestaltung und Verwirklichung der Benutzer-ProduktSchnittstelle Design & Spezifikation (detailliert) Anforderungund Kriterienentwicklung Ableitung der Forderungen und Kriterien • Hauptbedienfunktionen • Spezifikation der Gebrauchstauglichkeit • Validierungsplan für Gebrauchstauglichkeit Abb. 3  Entwicklungszyklus von gebrauchstauglichen Medizinprodukten nach DIN EN 62366. (Details s. Bild D.1 in DIN EN 62366 (VDE 0750-241) 2008-09) des Messvorgangs. Durch uneindeutige oder unzureichende Beschriftung, mehrdeutige Bedienelemente, unleserliche Skalen und sich ständig ändernde Menüstrukturen kann es zu einer Erhöhung der Arbeitsbelastung kommen, die wiederum zu Benutzerfehler führen können. Das Ablesen eines Messwertes auf einer Anzeige, der Batteriewechsel oder die Reinigung sind sicherheitsbezogene Funktionen. Gemäß DIN EN 14971 (DIN ISO 14971) müssen sie im Risikomanagementprozess einer Risikoanalyse unterzogen werden. Eine unbeabsichtigte Handlung des Medizinprodukts muss innerhalb des Risikomanagementprozesses dokumentiert werden. Im Rahmen der Gebrauchstauglichkeit umfasst dieser Schritt eine Analyse der Benutzer, eine Kontextanalyse, ein konzeptuelles Modell und eine vergleichende Analyse. Durch eine Benutzeranalyse, wie schon vorher erwähnt, werden die Anwender des Systems erfasst und in den Entwicklungsprozess mit eingebunden. Gestaltungsrelevante Aspekte werden schon im Entwicklungsprozess den Nutzern beispielhaft gezeigt und mit ihnen evaluiert. Hieraus kann der vorgesehene Benutzer mit seinen Eigenschaften definiert werden. Dieses Benutzerprofil kann die Angabe des Ausbildungsstands, das Alter, das Sprachverständnis, die Erfahrung und die zulässigen Einschränkungen (z. B. bei Sehfähigkeit) beinhalten. Die Kontextanalyse umfasst die Beschreibung der Gebrauchsumgebung, in die das Produkt eingesetzt wird. Das konzeptuelle Modell beinhaltet verschiedene Beschreibungsformen der Anwendung. Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 419 Hierbei können Szenarienmodellierung, Storyboards und Use Cases sowie Ablaufdiagramme zum Einsatz kommen. Auch eine vergleichende Studie mit schon bestehenden Medizinprodukten oder Vorläufermodellen gehört zur Ermittlung sicherheitsbezogener Merkmale. Die Ermittlung von bekannter und vorhersehbarer Gefährdung umfasst das Erstellen einer Aufgabenanalyse, eine Einschätzung der Arbeitsbelastung und qualitativer Befragungsmethoden. Für die Aufgabenanalyse werden systematisch alle sequenziellen und parallelen Arbeitsschritte erfasst, um die Anforderungen und mögliche Prozesse zu analysieren und gegebenenfalls auch zu ändern. Die Arbeitsbelastung beeinflusst die Leistungsfähigkeit des Nutzers, sodass deren Erfassung und der Abgleich mit kognitiven Kapazitäten des Nutzers einen Schutz vor Überlastung bietet. Mittels Befragungsmethoden können gezielt zu Gefährdungssituationen Experteninterviews durchgeführt werden oder Designalternativen durch offene Fragen erfasst werden. Somit werden aus verschiedenen Informationsquellen und methodischen Ansätzen wie Risikoanalyse, der Literatur zum Stand der Technik, den Reklamationsunterlagen mögliche Gefährdungen ermittelt. Hierbei kann zwischen Benutzungsfehler „Batterie falsch eingesetzt“, Umgebung „Überhitzung, daher keine Anzeige möglich“ und weiteren Kategorien der Gefährdung unterschieden werden. Sobald das Design und die Konzepte für das Medizinprodukt erstellt sind, können daraus die Anforderungen und die Kriterienentwicklung abgeleitet werden. Vor der Anforderungsanalyse ist eine Ermittlung der Erfordernisse notwendig. Sie wird definiert als „eine notwendige Voraussetzung, die es ermöglicht, den in einem Sachverhalt des Nutzungskontextes enthaltenen Zweck effizient zu erfüllen“ (Akkreditierungsstelle 2010, S. 199). Im Kontext einer Blutzuckermessung kann so z. B. der messende Patient erwarten, dass die Messung ein korrektes Ergebnis anzeigt (Voraussetzung), um die geeignete Menge Insulin spritzen zu können (Zweck). Aus den Erfordernissen werden dann die Nutzungsanforderungen an die Benutzeraktionen hergeleitet. Hierbei stehen die Ermittlung der Hauptbedienfunktionen, die Spezifikation und der Validierungsplan für Gebrauchstauglichkeit im Fokus. Zur Ermittlung der Hauptbedienfunktionen wird eine Funktionsanalyse angewendet, die alle Funktionen und Ereignisse darstellt. Sie dient somit der Zuordnung von Funktionen zu Menschen oder Maschinen und umfasst eine Analyse der Prozesse, in denen das Medizinprodukt eingesetzt wird. Sie besteht aus einer Auflistung der oft benutzten Funktionen und den sicherheitsbezogenen Funktionen wie z. B. „Platzieren des Teststreifens im Gerät“ oder Batteriewechsel. Bei der Spezifikation der Gebrauchstauglichkeit werden die Akzeptanzkriterien, anhand derer die Hauptbedienfunktionen verifiziert und validiert werden, erstellt. Diese Kriterien stellen die akzeptierbaren Risiken dar, die nach einer Risikoanalyse nicht eingeschätzt werden können. Nach dem Risikomanagementplan nach DIN EN 14791 (DIN ISO 14971) werden identifizierbare Risiken nach Schwere und Auftreten eingeteilt und Gegenmaßnahmen zur Risikobeherrschung eingeleitet. Das verbleibende Restrisiko muss im Hinblick auf seine Akzeptanz bzw. Vertretbarkeit untersucht werden. In die 420 M. Lipprandt und R. Röhrig Entscheidung zu Akzeptanz des Restrisikos fließen der Stand der Technik, die Erfahrungen mit ähnlichen Medizinprodukten und Vorkommnisse mit ein. Wird das Risiko als nicht-akzeptabel eingestuft, müssen weitere Maßnahmen zur Beherrschung anwendet werden. Wenn das Restrisiko akzeptabel ist, muss der Hersteller entscheiden, welche Risiken in den Begleitpapieren offenzulegen sind. Der Validierungsplan des Herstellers spezifiziert die Methoden und Kriterien für die Validierung der Hauptbedienfunktionen, die in der Spezifikation des Produktes ermittelt wurden. Die Validierung dient der Prüfung und der Sicherstellung, dass das Medizinprodukt die Zweckbestimmung erfüllt. Hierbei können qualitative und quantitative Methoden zum Einsatz kommen, die Benutzerszenarien in häufigen Anwendungssituationen und die ungünstigen Benutzungssituationen repräsentieren. Die Validierung kann unter realen Bedingungen oder im Labor simuliert werden. Eine Verifizierung hingegen prüft die einzelnen Produkteigenschaften. Die Verifikation einer Spezifikation eines Blutzuckermessgeräts umfasst u. a. die Angabe des Wertes innerhalb eines Intervalls „der gemessene Blutzuckerwert wird mit einer tolerierbaren Fehlerrate angezeigt“ (Verifizierung erfolgreich). Der nächste Schritt beinhaltet die Gestaltung und Umsetzung der MenschMaschine-Schnittstelle gemäß der Spezifikation der Gebrauchstauglichkeit. Bei der Spezifikation des Designs kommen verschiedene Verfahren und Hilfsmittel zum Einsatz. Bei der Spezifikation einer Hardware können Layout-Zeichnungen und die Beschreibung der konkreten Interaktionen der Benutzer mit den Bedienelementen spezifiziert werden. Bei Softwareschnittstellen können Mockups des Bildschirm-Layouts (Modelle des Layouts als beispielsweise PDF) und Style Guides zum Einsatz kommen, anhand derer die Schnittstelle Design wird. Abschließend wird das Design bewertet und getestet. Hierbei werden die Spezifikationen der Gebrauchstauglichkeit (Verifizierung) und die Validierung im realen Einsatz getestet. Durch die Erprobung können die Rahmenbedingungen des Nutzungskontextes wie z. B. Räumlichkeit, Arbeitsumfeld und die Benutzer-Produkt-Schnittstelle unter Realbedingungen getestet werden. Bei Entwicklung und Einführung neuer Technologien und Prozesse in die medizinisch-pflegerische Versorgung muss eine Sensibilisierung bezüglich möglicher Interaktionsschwierigkeiten geschaffen werden. Eine isolierte Betrachtung der Geräte oder der Prozesse ist im Hinblick auf einen sicheren Einsatz nicht ausreichend. Nur mit einer hinreichenden Analyse des gesamten soziotechnischen Systems ist eine Entwicklung sicherer Systeme und Prozessunterstützung gewährleistet. Hierfür muss der E-Health-Bereich die bestehenden Normen oder Prozesse zur gebrauchstauglichen Entwicklung beachten. Literatur Albrecht U-V, Pramann O, Jan U von (2015) Familienplanung 2.0: Besondere Risiken von Fertilitäts-Apps. Dtsch Arztebl International 112(15):A-658. http://www.aerzteblatt.de/int/article. asp?id=169142. Zugegriffen: 13. März 2016 Gebrauchstauglichkeit und Patientensicherheit in … 421 Badke-Schaub P, Hofinger G, Lauche K (2008) Human factors. Springer, Berlin Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (Hrsg) (2014a) Sicherheitshinweis zum Batteriewechsel der Accu-Chek® Spirit Combo Insulinpumpe, Roche Diagnostics Diabetes Care. Referenznummer 6264/14. http://www.bfarm.de/SharedDocs/Kundeninfos/ DE/07/2014/6264-14_Kundeninfo_de.pdf?__blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen: 18. März 2016 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (Hrsg) (2014b) Sicherheitsinformation zur Accu-Chek® Connect App Version 1.0.3.4, Roche Diagnostics Deutschland GmbH. Referenznummer 7227/14. http://www.bfarm.de/SharedDocs/Kundeninfos/DE/07/2014/7227-14_ Kundeninfo_de.pdf?__blob=publicationFile&v=3. Zugegriffen: 13. März 2016 Deutsche Akkreditierungsstelle (2010) „Leitfaden Usability V1. 3“ Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) (2015) Andrea Voßhoff warnt vor dem Einsatz von Fitness-Apps durch Krankenkassen. Bonn/Berlin. http://www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Pressemitteilungen/2015/18_WarnungVorFitnessapps. html?nn=5217154. Zugefriffen: 13. März 2016 DIN ISO 14971: DIN EN ISO 14971:2013-04: Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte (ISO 14971:2007, korrigierte Fassung 2007-10-01); Deutsche Fassung EN ISO 14971:2012 DIN EN 62366:2008: DIN EN 62366:2008-09: Medizinprodukte – Anwendung der Gebrauchstauglichkeit auf Medizinprodukte (IEC 62366:2007); Deutsche Fassung EN 62366:2008 European Commission (Hrsg) (2015) Manual on borderline and classification in the community regulatory framework for medical devices (Version 1.17). ec.europa.eu/DocsRoom/documents/12867/attachments/1/translations/en/renditions/pdf. Zugegriffen: 13. März 2016 European Commission: DG Health and Consumer – Directorate B, Unit B2 “Health Technology and Cosmetics” (Hrsg) (2012) Guidelines on the qualification and classification of stand alone software used in healthcare within the regulatory framework of medical devices. MEDDEV 2.1/6. http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/10362/attachments/1/translations/en/renditions/native. Zugegriffen: 20. März 2016 Henke K-D, Troppens S, Braeseke G, Dreher B, Merda M (2011) Innovationsimpulse der Gesundheitswirtschaft – Auswirkungen auf Krankheitskosten, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsprojektes im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Berlin. http://www.bmwi.de/DE/Mediathek/publikationen,did=461672.html. Zugegriffen: 13. März 2016 Hölscher UM, Rimbach-Schurig M, Bohnet-Joschko S, Juditzki I, Siebert H (2014) Patientensicherheit durch Prävention medizinprodukt-assoziierter Risiken. Teil 1: aktive Medizinprodukte, insbesondere medizintechnische Geräte in Krankenhäusern. Aktionsbündnis Patientensicherheit. www.aps-ev.de. Zugegriffen: 22. Nov. 2015 Huckvale K, Adomaviciute S, Prieto JT, Leow MK-S, Car J (2015) Smartphone apps for calculating insulin dose. A systematic assessment. BMC Med 13(1):573. doi: 10.1186/ s12916-015-0314-7 ISO 9241-110:2006: ISO 9241-110:2006; Deutsche Fassung EN ISO 9241-110:2006 Leitgeb N (2010) Sicherheit von Medizingeräten: Recht-Risiko-Chancen. Springer, Berlin Magrabi F, Ong M-S, Runciman W, Coiera E (2010) An analysis of computer-related patient safety incidents to inform the development of a classification. J Am Med Inform Assoc 17(6):663–670. doi: 10.1136/jamia.2009.002444 Pierre MS, Hofinger G, Buerschaper C (2005) Notfallmanagement. Human Factors in der Akutmedizin. Springer Medizin, Heidelberg 422 M. Lipprandt und R. Röhrig Über die Autoren Dr.-Ing. Myriam Lipprandt  studierte Informatik mit dem Nebenfach Medizin an der Universität Hamburg. Seit 2014 arbeitet sie als Verwalterin einer Professur an der Jade Hochschule in der Abteilung „Technik und Gesundheit für Menschen“ (TGM) und als Post-Doc an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg in der Abteilung Medizinischen Informatik. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Usability und Risikomanagement. In ihren Forschungsaktivitäten befasste sie sich mit Standardisierung im Bereich in Ambient Assisted Living (AAL) und Interoperabilität im Gesundheitswesen. Dr.-Ing. Lipprandt promovierte 2014 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg in der Abteilung Automatisierungs- und Messtechnik (AMT). Kontakt: Myriam.Lipprandt@uni-oldenburg.de Univ.-Prof. Dr. Rainer Röhrig  erhielt 2014 den Ruf auf die Professur für Medizinische Informatik an der Carl von Ossietzky Universität. Einer der Forschungsschwerpunkte ist die Patientensicherheit durch und beim Einsatz von Informa­ tionstechnologie in der Medizin. Er engagiert sich in verschiedenen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften, insbesondere in der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds), der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Technologie und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF). Kontakt: Rainer.Roehrig@uni-oldenburg.de Teil VI Projekte, Evaluationen, Positionen zu E-Health im System der Gesundheitsversorgung Der technische Aufbau eines Verbundes ist eine zentrale Aufgabe. Welche Nutzen sind bei den agierenden Akteuren zu erwarten? Dieser Frage geht der erste Artikel nach. Das zweite Beispiel führt das Thema „Struktur-, Prozess- und Kostenparameter“ an, das insbesondere im Bereich der Versorgungsforschung und einer Erstattung erbrachter Gesundheitsleistungen relevant ist. Im dritten Beispiel werfen wir einen Blick auf die künftigen Herausforderungen an die medizinische Versorgungsqualität, wenn es insbesondere darum geht, den Kern der Telemedizin, die Überbrückung von Raum und Zeit, zu nutzen und in den Versorgungsalltag mit aufzunehmen. Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen in der Praxis Philipp Wöstmann und Marcus Kremers 1 Einleitung Der Westdeutsche Teleradiologieverbund (TRV) ist ein offenes und herstellerunabhängiges Netzwerk zwischen Akteuren des Gesundheitswesens, das den Sprung aus dem Pilotin den Regelbetrieb Anfang 2012 geschafft hat. Die zentrale Aufgabe des überregional agierenden Verbundes besteht in der Bereitstellung einer einheitlichen Telematikplattform für einen schnellen und sicheren Bilddatenaustausch in der Medizin1. Bis zum Sommer 2015 schlossen sich bereits über 200 Kliniken und Radiologische Praxen dem Verbund an. Damit ist der TRV das am schnellsten wachsende und mittlerweile größte teleradiologische Netzwerk seiner Art in Deutschland. Der Verbund expandiert bedingt durch mehrere Faktoren quantitativ und qualitativ stetig. Konventionell steigt mit dem kontinuierlichen Mitgliederwachstum das Potenzial zur Vernetzung in der Breite. So sind mittlerweile zahlreiche und auch maßgebliche Universitätskliniken, Krankenhäuser und radiologische Praxen in weiten Teilen NordrheinWestfalens und darüber hinaus erreichbar.2 Die Anzahl versendeter Bilder über das System und parallel dazu der „Traffic“ steigen kontinuierlich. Diese Entwicklung wird nicht nur durch die steigende Teilnehmerzahl erklärt, sondern auch durch die erhöhte 1http://www.medecon-telemedizin.de. 2http://www.medecon-telemedizin.de/verbund/teilnehmer.html, letzter Zugriff im August 2015. P. Wöstmann (*)  Selm, Deutschland E-Mail: Philipp.Woestmann@web.de M. Kremers  MedEcon Telemedizin GmbH, Bochum, Deutschland E-Mail: m.kremers@medecon-telemedizin.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_22 425 426 P. Wöstmann und M. Kremers Abb. 1  Nutzung des Bilddatentransfers im TRV. (Quelle: MedEcon Telemedizin GmbH) Nutzung der bestehenden Anwender (Abb. 1). Weiterhin wächst der TRV qualitativ durch die inhaltliche Optimierung der bestehenden und den Ausbau weiterer Anwendungsszenarien. Eine adäquate Nutzung der telematischen Plattform trägt dazu bei, die medizinischen und ökonomischen Versorgungsprozesse der teilnehmenden Institutionen im Rahmen der aktuellen technischen Möglichkeiten zu verbessern. Durch das immer dichter werdende Netzwerk ergeben sich auch weitere Kooperationsmöglichkeiten, die in der Regel sporadisch sind, sich aber auch professionell etablieren können. 2 Hintergrund Auf der politischen Ebene wird in Deutschland seit längerer Zeit gefordert, dass mithilfe der Telematik eine transparente, koordinative und integrationsfördernde Lösung für das Gesundheitssystem entwickelt wird, die zudem die medizinische Versorgungssituation im Alltag verbessert (Schröder 2004, S. 185 ff.). Die Diskussion hat aktuell, begleitet durch die Vertiefung der E-Health-Gesetzesinitiative und der darin geforderten Öffnung der nationalen Telematikinfrastruktur, noch einmal Fahrt aufgenommen. Sektoren übergreifende Versorgungsstrukturen erfordern ganzheitliche Ansätze, die sowohl Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 427 qualitätsorientierte als auch kostenoptimale Formen der Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Leistungserbringern im Markt ermöglichen. Von den aktuell rund 300 telemedizinischen Projekten in Deutschland haben viele einen innovativen und technisch umsetzbaren Ansatz, sind aber nach der Pilotphase nicht marktfähig. Das liegt zum einen an der unzureichenden Integration in etablierte Netzwerkstrukturen, die entweder an technischen oder an wettbewerblichen Aspekten scheitert. Zum anderen wird der Marktzugang durch Koordinationsprobleme zwischen den relevanten politischen Institutionen beeinflusst, die eine freie Entfaltung hemmen (Nusser und Lindner 2010, S. 713). 3 Zielsetzung Im Kern sind die übergeordneten Zielsetzungen folgende: a) Verbesserter Workflow b) Verringerte Kosten c) Flexible Arbeitszeitmodelle Durch die Organisation im TRV ergeben sich für die teilnehmenden Institutionen bedeutende Verbesserungen des Zeitmanagements. Weniger postalisch versendete CD’s/DVD’s sowie die Verkürzung der Wartezeiten auf bereits erstellte Voraufnahmen, die mit dem Bilddatenversand einhergehen, stellen unmittelbare Vorteile dar. Gerade ältere Patienten vergessen nicht selten mitgegebene DVDs und Befunde. Zudem ist festzustellen, dass Datenträger gelegentlich defekt sind, falsche bzw. nicht vollständige Datensätze erhalten oder nicht eingelesen werden können. Der digitale Bilddatenversand über ein teleradiologisches Netzwerk spart an dieser Stelle Zeit und Geld. Gemäß den Angaben eines Anwenders können zu der Alternative – brennen und postalischer Versand einer CD – bis zu fünf Minuten Zeit eingespart werden. So ergeben sich beispielsweise in der radiologischen Gemeinschaftspraxis in Herne, bei einem Aufwand von etwa 400 über den TRV versendeten Untersuchungen im Monat Zeitersparnisse von über 30 h, allein durch den Wegfall des Erstellens und Versendens von Datenträgern. Hinzu kommt der zeitliche Aufwand für das Einlesen von ca. 200 CDs und DVDs sowie als weiterer maßgeblicher Nutzen die Vermeidung von Doppeluntersuchungen. Die somit gewonnene Zeit ist für wesentliche Angelegenheiten im medizinischen Alltag verfügbar und impliziert damit indirekt Auswirkungen auf die Qualität des Versorgungsprozesses. Für die optimale Ausschöpfung dieser Potenziale müssen die logistischen Prozesse innerhalb des Arbeitens mit dem TRV barrierefrei aufeinander abgestimmt sein. Sind die Strukturen hinsichtlich der Ansprechpartner und Entscheidungskompetenzen in den Einrichtungen transparent geregelt und verbundweit zentral kommuniziert, so wird in der Konsequenz eine spürbare Verbesserung des medizinischen Workflows erreicht. 428 P. Wöstmann und M. Kremers 3.1 Kostenseite Um an dem Netzwerk des Verbundes zu partizipieren, entstehen in der Regel nur geringe einmalige Anschaffungskosten für die Bereitstellung der notwendigen Hardware. Hinzu kommt die Installation der DICOM-Mail-Poststelle in Höhe von ca. 1400 EUR. Sofern bereits DICOM-fähige Systemvoraussetzungen vorhanden sind, kann hier aufgesetzt werden. Die laufenden variablen Kosten für die Teilnahme liegen in den zu entrichtenden monatlichen Beiträgen. Sie belaufen sich bei einer Einzelplatzlösung auf ca. 300 EUR und bei einer Mehrplatzlösung auf ca. 500 EUR pro Monat. Diese verhältnismäßig geringe Investition ist auch eine Konsequenz der standardbasierten Ausrichtung des Verbundes. Da der DICOM-Standard in den Kliniken und Praxen etabliert ist, kann das System problemlos integriert werden, ohne weitere Schnittstellenkosten zu verursachen. 3.2 Nutzenseite Ein Beispiel: Eine außerhalb des Ruhrgebiets gelegene radiologische Praxis nutzt die Einzelplatzlösung im TRV und verschickt in Notfällen Untersuchungen an Fachkliniken in Bochum oder Dortmund. Durch den Versand der Aufnahmen via Taxi entstehen im Durchschnitt Kosten von 40 EUR nur für die Fahrt. Nach dieser Rechnung sind die monatlichen Kosten bereits bei zwei Fahrten pro Woche gedeckt. Die beispielhaft erwähnte radiologische Praxis versendet alleine an eine kooperierende Klinik in Bochum monatlich 50 Untersuchungen über den TRV. Darüber hinaus entfallen auch Material- und Portokosten für nicht benötigte DVDs. Anwender des TRV gehen an dieser Stelle von bis zu 60 % weniger gebrannten Datenträgern aus. Insgesamt ergibt sich folglich eine durchaus relevante Ersparnis, die für Beispielpraxen bei jährlich bis zu 10.000 EUR liegen kann. Alternativ besteht die Möglichkeit mit den relevanten Partnern Eins-zu-eins-Verbindungen (VPN) einzurichten und den elektronischen Austausch darüber vorzunehmen. Dies setzt allerdings die Bereitschaft beider Seiten voraus, die Verbindung einzurichten und zu pflegen. Leicht erkennbar ist, dass der einmalige Anschluss und die umfassende Vernetzung über den TRV die ökonomischere Lösung ist, wenn die maßgeblichen und insgesamt möglichst viele Partner in das Netzwerk eingebunden sind. 4 Diskussion Diese einfache Rechnung verdeutlicht sehr plastisch das Potenzial. Neuere Studien beschränken sich darauf, die Kosten für teleradiologische Leistungen im Krankenhaus pro Fall zu berechnen. Als kostenminimale Grenze für konventionelle radiologische Leistungen lassen sich damit Rückschlüsse auf die Kosten-Effektivität ziehen. Die Ergebnisse reichen aufgrund der Komplexität der zu berücksichtigenden Faktoren von Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 429 durchschnittlich ca. 60 EUR (Rosenberg et al. 2013) bis zu ca. 300 EUR pro teleradiologisch unterstützten Fall (Plathow et al. 2005). Rosenberg et al. (2013) konzentrieren sich auf den radiologischen Wertschöpfungsprozess unter Berücksichtigung von Telekonsilleistungen, aber vernachlässigen das Gesamtbild. Kosten mindernde Effekte, die beispielsweise durch die Vermeidung von Doppeluntersuchungen und Netzwerkeffekte entstehen, werden nicht berücksichtigt. Letztere lassen sich mit den gegenwärtigen Methoden nur schwer quantifizieren. Gefordert sind weitere Analysen und alternative Ansätze, um verlässliche Aussagen im Hinblick auf die Kosten-Effektivität treffen zu können. Auch wenn etwaige Erlöspotenziale teleradiologischer Leistungen buchhalterisch adäquat von der Gesamtkostenrechnung zu trennen sind, können diese bei entsprechender Aufrechnung zu einem gesamtrechnerischen Effekt führen. Anhand eines Beispiels gestaltet sich der Gedanke wie folgt: Für das ländlich gelegene Krankenhaus A ohne eigene Radiologie führt die Nutzung eines teleradiologischen Netzwerks zur Erstellung und Befundung eines Thorax-CTs sowie dessen diagnostischen Einsatz zu einem positiven Kosteneffekt. Die Anbindung an das teleradiologische System ermöglicht daneben die telekonsiliarische Tätigkeit eines angestellten Facharztes, durch die zusätzliche Erlöse generiert werden. Gesamtrechnerisch wird das Betriebsergebnis damit zusätzlich positiv beeinflusst. Ohne konkrete Zahlen zu nennen, gilt als gesichert, dass die (Tele-) Radiologie als Querschnittsfach maßgeblich am medizinischen und ökonomischen Erfolg eines Krankenhaues beteiligt ist (Braun und Mariaschk, 2013, S. 288). Nichtsdestotrotz fehlen insbesondere in Deutschland Studien, die entsprechende Einsparpotenziale adäquat quantifizieren. 4.1 Vereinbarkeit von Familie und Beruf Der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der steigenden Bedeutsamkeit einer persönlichen Work-Life-Balance kann mit dem Angebot flexibler Arbeitszeitmodelle begegnet werden. Neben der klassischen Heimarbeit sind mobile Arbeitszeitmodelle für Urlaubsvertretungen, Nachtdienste und Jobsharing-Varianten interessant. Rund 85 % der angestellten Arbeitnehmer in Deutschland befürworten die Möglichkeit dazu im eigenen Unternehmen (Maier et al. 2014, S. 16). Die Arbeitgeber sehen auf der einen Seite zwar die Vorteile, aber bieten auf der anderen Seite in der Regel nicht die entsprechenden Voraussetzungen. Der TRV bietet mit der Möglichkeit zur Teleradiologie nach Röntgenverordnung die technischen und rechtlichen Voraussetzungen zum mobilen Arbeiten. In einer Befragung von Radiologen und medizinisch-technischen Angestellten im Jahr 2012 wird deutlich, dass sich die Mehrzahl der Befragten vertragsgemäße und flexibel gestaltbare Arbeitszeitmodelle wünschen, um Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können (Bundy et al. 2012, S. 273 ff.). Das erscheint insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass Frauen in Gesundheitsberufen zunehmend die Mehrheit darstellen (Gould 2009; Sonnet 2010; Ärzteblatt 2010). 430 P. Wöstmann und M. Kremers 4.2 Mehr Zeit, mehr Qualität – ein fließender Übergang Die Anwendungsszenarien im TRV zeigen, dass die alternative Nutzung frei gewordener zeitlicher Kapazitäten die Qualität der Versorgung positiv beeinflussen kann. Z. B. kann der Rat eines Kollegen schneller erfolgen und insgesamt schneller entschieden werden, wo der Patient am besten aufgehoben ist. Die optimale Abstimmung zwischen niedergelassener Radiologie, Schwerpunkt-, Regel- und Maximalversorger sowie der Rehabilitationsklinik im Behandlungsprozess bedingt neben der telefonischen in der Regel auch eine teleradiologische Kommunikation. Die bereits erwähnte Beschleunigung bei der digitalen Übermittlung der Bilddaten führt dabei zu einer aus Qualitätssicht relevanten Entschleunigung des Befundungsvorgangs. „Wenn wir das Bildmaterial verschickt haben und mit dem Konsilarzt telefonieren, dann haben beide Seiten die Bilder vor sich. Diese Konstellation ermöglicht es, dass man sich für den Moment explizit diesem einen Fall widmet“, erklärt Dr. Andreas Grundmeier, Leiter der Zentralen Aufnahme im Klinikum Essen-Mitte. Telekonsile sind bei fachgerechter Durchführung, stetiger Verfügbarkeit sowie der nachvollziehbaren Dokumentation eine Bereicherung für die medizinische Versorgung. Insbesondere in Notfallsituationen hat die schnelle Reaktion auf medizinische Anforderungen unmittelbare Konsequenzen auf den Behandlungserfolg und die Lebensqualität des einzelnen Patienten. Im Knappschaftskrankenhaus Bochum beziehen sich die Anfragen zu einem Telekonsil über den TRV in rund 95 % der Fälle auf neurovaskuläre Fragestellungen. Diese sind wiederum zu einem großen Anteil zeitkritischer Natur. „Die Kollegen, die bei uns eine zweite Meinung einfordern sind zumeist Neuroradiologen, die einen Eingriff vorbereiten oder die selbst vor Ort nicht die entsprechende Expertise haben“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Werner Weber, Chefarzt der ansässigen diagnostischen und interventionellen Radiologie. Dabei müssen erbrachte telekonsiliarische Leistungen einwandfrei dokumentiert werden, um haftungsrechtlichen Anforderungen justiziabel verlässlich zu genügen. Eindeutige Verhältnisse ermöglichen an dieser Stelle implizit die Realisierung von Qualitätspotenzialen, da der klinische Prozess und seine medizinischen Entscheidungen lückenlos nachvollzogen werden können. Die Vermeidung von Doppeluntersuchungen und -befundungen wurde aus Kostensicht bereits erwähnt und hat auch aus der Qualitätsperspektive eine große Bedeutung. Reduzierte gesundheitsschädliche Untersuchungen (z. B. Röntgenbestrahlung) sorgen bei Personal und Patient für eine sicherere Behandlung und einen geringeren Aufwand. Die physische und psychische Belastung ist damit für alle Beteiligten geringer. Grundsätzlich hat die Nutzung sinnvoller telemedizinischer Anwendungen das Potenzial, die Qualität der medizinischen Versorgung positiv zu beeinflussen. Es wird allerdings davor gewarnt „Illusionen nachzuhängen“, die implizieren, dass Telemedizin die ärztliche Leistung vor Ort vollständig ersetzen kann (Koch und Kray 2013, S. 60). Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 431 4.3 Netzwerkeffekte auf allen Versorgungsebenen Als Voraussetzung für Netzwerkanwendungen wird generell der für alle Seiten gewinnbringende Wissensaustausch gesehen (Oberholzer et al. 2010, S. 73 ff.). Das geht mit Anforderungen an die transparente Organisation und Struktur einer telemedizinischen Anwendung einher. Damit ist gemeint, dass alle Beteiligten über die Möglichkeiten und die Anwendungsszenarien bestmöglich informiert sein müssen. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass es an der Kommunikation in den einzelnen Einrichtungen hapert und viele potenzielle Nutzer des TRV gar nicht über dessen Einsatz informiert sind. Auch die persönliche Kommunikation zwischen zwei Einrichtungen führt immer wieder zu Reibungsverlusten, weil die Workflows an der einen oder anderen Stelle nicht aufeinander abgestimmt sind. Im TRV haben sich dennoch über die Organisation und Koordination im Verbund zahlreiche Anwendungsszenarien in der Zusammenarbeit etabliert. Diese sind u. a.: • Einholung von Zweitmeinungen • Erbringung von telekonsiliarischen Leistungen • Anforderung von Voraufnahmen • Verlegungsvorbereitender und verlegungsbegleitender Versand von Untersuchungen • … Weitere Anwendungen sind in der Vorbereitung oder Erprobung, so z. B. • Ambulante Voruntersuchungen • Flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Heimarbeit) • Teleradiologie nach Röntgenverordnung • Kombinierte Bild und Befundübermittlung • … Die Gründe für die schnelle Etablierung dieser Szenarien sind einleuchtend. Einerseits wollen kleine und nicht spezialisierte Kliniken und Radiologische Praxen Patienten, sofern erforderlich, schnell und sicher verlegen. Ob die Verlegung angemessen ist und ob die entsprechende Klinik den Patienten aufnehmen will und kann, muss dabei abgestimmt werden. Der elektronische Bilddatenversand ist hierbei ein optimales Werkzeug, um dies direkt zu klären. Der Versand von CDs/DVDs oder gar die direkte, unabgestimmte Verlegung des Patienten ist nicht nur ökonomisch, sondern auch medizinisch nachteilig. Zur Verfügung stehende Voraufnahmen helfen den weiterbehandelnden Einrichtungen, die entsprechenden Maßnahmen schneller und genauer einzuleiten. Nicht selten können Doppeluntersuchungen, zum Teil mit einer erneuten gesundheitlichen Belastung für den Patienten, vermieden werden. Auch im Rehabilitationsbereich ist man über 432 P. Wöstmann und M. Kremers vollständige Vorinformationen dankbar. Eine Reha-Klinik in Bad Sassendorf erhält monatlich rund 200 Untersuchungen von Patienten bereits vor deren Aufnahmen und kann die Maßnahmen in der Folge besser vorbereiten. Mit rund 40 beteiligten Kliniken und Radiologischen Praxen hat sich dieses Kooperationsmodell bereits etabliert. In Rehabilitationseinrichtungen laufen die Daten unterschiedlicher medizinischer Spezialisten zusammen. Durch die Vermeidung von Doppeluntersuchungen und den schnellen Zugriff auf Voruntersuchungen kann der Krankheitsverlauf des Patienten schneller und sicherer bewertet werden. In Einzelfällen kann dies als Unterstützung bei den Entscheidungsprozessen zur Vermeidung von Krankenhausaufenthalten führen, da rasche Entscheidungen über die Verlegung eines Patienten getroffen werden können. Auch insgesamt wird „die telemedizinische Verzahnung von ambulanter, stationärer und rehabilitatorischer Behandlung immer wichtiger“, erklärt auch Frau Dr. Barbara Luka, Leiterin der Radiologie des HELIOS-Klinikums in Hagen-Amrock. Auch Zweitmeinungen sind immer wieder hilfreich. Sei es, weil junge Mediziner mit wenig Erfahrung sich absichern wollen oder weil der Blick eines Spezialisten das letzte Quäntchen Unsicherheit ausschließen soll. Bemerkenswert ist, dass all diese Szenarien auch ohne Abrechnungsziffern oder bilaterale Verträge funktionieren können. Alleine der medizinische und betriebswirtschaftliche Nutzen rechtfertigt demnach die Investition in ein neues System. Die elektronische Vernetzung verschiedener Institutionen im Gesundheitswesen ermöglicht Kooperationen, die tendenziell unabhängig von geografischen Distanzen sind. Die Erreichbarkeit möglichst vieler Mitglieder in einem möglichst großen Gebiet ist von klassischer Bedeutung für die Organisation in einem Verbund. Auch im TRV wird der flächendeckenden Expansion gemeinhin eine große Bedeutung zugeschrieben. Nichtsdestotrotz basieren viele Formen des kooperativen Arbeitens im TRV nicht auf der Nutzung der Verbundmöglichkeiten in der Breite, sondern in der bewussten Konzentration auf lokale und regionale Partnerschaften. Insbesondere in ambulanten Notfallszenarien ergibt sich ein mit der Distanz wachsender Qualitätsverlust für die Versorgung. Die Gemeinschaftspraxis für Radiologie in Iserlohn sieht sich in der heutigen Zeit als Notfallmanager. Gerade in zeitkritischen Situationen können neben der Befundung auch weitere Schritte der Arbeitsteilung zwischen Krankenhaus und Radiologie erfolgen. So sind die beteiligten Ärzte in der Lage, sich auf ihre entsprechenden Kernkompetenzen und situativ bedingten medizinischen Anforderungen zu konzentrieren. Diverse Motive machen verschiedene Kooperationsformen zwischen ambulanten Radiologiepraxen und Krankenhäusern lohnenswert. Beide profitieren beispielsweise von einer Abwendung der variablen Kosten hin zu kalkulierbaren Fixkosten sowie der Zugangsmöglichkeit zu den jeweiligen Über- und Einweisungsnetzwerken. Kliniken können dem gegenwärtigen Investitionsstau zudem mit gezielten Outsourcing-Strategien begegnen. (Ossege 2011, S. 303; Schmidt-Toploff 2005, S. 129 ff.). Niedergelassene Radiologen sehen einen mit der Nutzung der Teleradiologie einhergehenden klaren Wettbewerbsvorteil, der darüber hinaus zu einer Imageverbesserung führen kann. Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 433 „Vernetzung ist eine Voraussetzung dafür, in Zukunft erfolgreich zu sein. Praxen, die Angebote wie den TRV nicht nutzen, werden zukünftig wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, auf dem Markt zu bestehen“, meint Dr. Christoph Labisch von der radiologischen Gemeinschaftspraxis Herne. Im Netzwerk des TRV ergeben sich allerdings nicht nur neue Kooperationen, sondern bestehende werden durch technische Updates und Verbesserungen in der Benutzerfreundlichkeit stetig vereinfacht. Durch den Wandel der Krankenhauslandschaft hin zu einer Spezialisierung und Zentralisierung haben Universitätsklinken als überregionale Zentren enorme Bedeutung für die Sicherstellung und die hohe Qualität der medizinischen Versorgung einer Region. Da sie häufig auf die Voraufnahmen der überweisenden Kliniken angewiesen sind, fungieren sie in vielen Fällen als Koordinator telemedizinischer Organisationsformen. Das Universitätsklinikum in Münster sieht drei Stufen der Vernetzung: 1) VPN-Verbindungen mit den ausgewählten Partnern, 2) Netzwerkstrukturen wie die des TRV zur Ermöglichung der intersektoralen Kommunikation im Verbund sowie 3) Ad-hoc-Kommunikationsmöglichkeiten mit Kliniken, die keinem Netzwerk angeschlossen sind und mit denen keine VPN-Verbindung besteht. Die beteiligten Krankenhäuser und radiologische Praxen im TRV sind aufgrund der beschriebenen Organisations-, Qualitäts- und Netzwerkvorteile persönlich daran interessiert, strategisch bedeutsame Partner an den Verbund zu binden. Diese von der Betriebsgesellschaft des TRV unabhängige Mundpropaganda hat einen positiven Effekt auf die weitere Expansion und spricht für den Nutzen des Verbundes. 5 Ausblick Die Telemedizin hat aufgrund der schnellen Überbrückung großer räumlicher Distanzen sowohl aus medizinischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht signifikante Vorteile gegenüber oder zur Unterstützung von konservativen Methoden (vgl. Tab. 1). Darüber hinaus unterstützen telemedizinische Anwendungen im Zeitalter der Digitalisierung die Entwicklung der Patienten hin zu mündigen, informierten und aktiv mitbestimmenden Konsumenten von Gesundheitsgütern (Nusser und Lindner 2010, S. 711). Eine mittelfristige aber deutlich spürbare Entwicklung, auf die sich Marktakteure einstellen und vorbereiten müssen. Dennoch ist es wichtig, die persönliche „Arzt-Patienten-Beziehung“ nach wie vor als Fokus der medizinischen Behandlung zu erhalten und den Einsatz telemedizinischer Behandlungsmethoden als unterstützendes und nicht als ersetzendes Element zu verstehen. Der TRV wird sich auf technischer und Anwendungsebene stetig weiterentwickeln, um ganzheitliche, über die Radiologie hinausgehende Vernetzungsstrukturen zu schaffen. Das erfolgt im Einklang mit allen vom Gesetzgeber gestellten Anforderungen und Bestimmungen. Im Rahmen der aktuellen E-Health-Gesetzesinitiative werden die Möglichkeiten der Telemedizin überprüft und gefördert. Dabei sollen Anreize für die zügige 434 P. Wöstmann und M. Kremers Tab. 1  Darstellung der positiven Effekte Nutzen Beschreibung Kostenvorteile • Reduktion der Materialkosten • Reduktion der postalischen und Taxiversandkosten • Reduktion von Doppeluntersuchungen und -befunden Netzwerkvorteile • Verbessertes Zeitmanagement • Verbesserung des medizinischen Workflows • Erlöspotenziale durch Vergütungsvereinbarungen • Regionale und überregionale Kooperationsmodelle Zeit- und Qualitätsvorteile • Verbesserung der Patienten-Compliance • Entschleunigung des Befundungsprozesses • Beschleunigung des Behandlungsprozesses Einführung und Nutzung medizinischer und administrativer Anwendungen wie beispielsweise den elektronischen Entlassbrief/Arztbrief geschaffen werden. Nach aktuellen Planungen sollen von den Krankenkassen ab Januar 2016 0,55 EUR pro digital versendeten Arztbrief gezahlt werden. Ab Mitte 2016 sollen auch der digitale Versand und Empfang des Entlassbriefes mit 1,00 EUR bzw. 0,50 EUR vergütet werden. Auf der anderen Seite sind Sanktionen für nicht erreichte Ziele geplant. Z. B. müssen niedergelassene Ärzte ab Mitte 2018 mit einer Budgetkürzung von einem Prozent rechnen, sofern sie nicht online sind. Des Weiteren wird neben der Öffnung und Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur die Interoperabilität bestehender Systeme verbessert. Sogenannte „Insellösungen“ sollen dabei explizit vermieden werden. Ganz in diesem Sinne strebt der TRV an, sich zu einem ganzheitlichen Netzwerk zu entwickeln, das über die Teleradiologie hinausgeht und möglichst viele Institutionen des Gesundheitswesens miteinander verbindet. Hierbei ist auch der Anschluss von Industriepartnern denkbar, der es Krankenhäusern ermöglicht, teure Techniken wie z. B. Emphysemdiagnostik, Tumorstaging nach Recist oder Volumetrierungen in Auftrag geben zu können. Weiterhin sollen Anreize dafür geschaffen werden, mehr niedergelassene Ärzte an den Verbund zu binden. Diese benötigen oftmals nicht ein komplettes radiologisches Schnittbild, sondern ausgewählte Bilddaten. „Niedergelassene Ärzte haben nicht viel Zeit. Sie müssen schnell und auf den Punkt an Informationen kommen“, meint Frau Dr. Marietta Garmer vom Grönemeyer Institut für Mikrotherapie in Bochum. Ökonomische Aspekte und Möglichkeiten stehen oft auch im Mittelpunkt der Anwendertreffen des Westdeutschen Teleradiologieverbundes. Weitere Anwendungsszenarien und die Ausweitung der potenziellen Teilnehmerschaft schaffen schnell Mehrwerte, ohne zwingend einen höheren Aufwand zu verursachen. So wird in der (sporadischen) Kommunikation mit Niedergelassenen ein Vorteil gesehen, dem möglichen Austausch mit Kliniken, die außerhalb des Verbundes liegen und auch die Patienten-Arzt-Kommunikation rückt stärker in den Fokus. Aus diesen Marktimpulsen heraus wurden bereits Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 435 Lösungen entwickelt, die in Testphasen auf ihre praktische Relevanz hin überprüft werden. Aktuell beispielsweise die Übertragung an Niedergelassenen mittels KVsafenet oder die Einbindung einer Portallösung, die es grundsätzlich jedem Internetnutzer ermöglicht, Untersuchungen an einen Teilnehmer des Verbundes zu senden. Ob dies vor dem Hintergrund von organisierten Zweitmeinungen tatsächlich marktfähig werden wird, bleibt abzuwarten. Zweifellos werden sich daraus aber individuelle Möglichkeiten ergeben, diese Verbreiterung der Kooperationsbasis als Wettbewerbsvorteil ökonomisch zu nutzen. Die durchgeführte Analyse führte im Einzelnen zu folgenden Erkenntnissen: Neben den beschriebenen Zeiteffekten lassen sich direkte Kostenersparnisse durch die Mitgliedschaft im TRV realisieren. Tab. 2 kann als Kalkulationsgrundlage dienen, mit der die Einsparpotenziale durch die Mitgliedschaft individuell nachvollzogen werden können. Tab. 2  Metamodell für die ökonomische Analyse von E-Health Vorgehen Beschreibung Untersuchungsgegenstand Der Westdeutsche Teleradiologieverbund (TRV). Fragestellung: Trägt der TRV dazu bei, die medizinischen und ökonomischen Versorgungsprozesse der teilnehmenden Institutionen zu verbessern? Ziel Aufdeckung medizinischer und ökonomischer Nutzendimensionen der teleradiologischen Versorgung Perspektive Anwender des TRV Evaluationsform Retrospektive Nutzenanalyse Vergleichsalternativen Entfällt Zeit, Raum, Material Betrachtungszeitraum: 03/2012–09/2015 Anwender-Befragung: 05/2014–08/2014 Raum: NRW und angrenzende Regionen Material: Anwender-Fragebogen, direkte persönliche Interviews, TRV-Statistiken Input Kostendaten des TRV und dessen Anwender in der empirischen Diskussion Nutzendaten aus der Anwenderbefragung Transformation Kosten- und Nutzendiskussion als „Anleitung“ für eigenständige Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen Output – Outcome – Impact Positiver Effekt insbesondere Arbeitszeitmodell Diskontierung Keine, da keine intertemporale Analyse Sensitivitätsanalyse, Szenarioanalyse Nicht durchgeführt Benchmarks Keine ermittelt Ergebnis, Empfehlung, Publikation Der TRV als teleradiologisches Netzwerk, das zur Realisierung von Nutzen- und Wirtschaftlichkeitsreserven beiträgt 436 P. Wöstmann und M. Kremers Literatur Ärzteblatt (2010) Familiengerechte Arbeitsplätze im Gesundheitswesen gefordert. Deutsches Ärzteblatt. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/41992/. Zugegriffen: 31. Aug. 2015 Braun GE, Mariaschk M (2013) Kooperation zwischen Krankenhaus und niedergelassener Radiologie – Steuerungsmöglichkeiten mithilfe der Balanced Scorecard. In: Bouncken RB, Pfannstiel MA, Reuschl AJ (Hrsg) Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus. Springer Gabler, Wiesbaden, S 289–315 Bundy BD, Bellemann N, Burkholder I, Heye T, Radeleff BA et al (2012) Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Umfrage unter Radiologen und medizinisch-technischen Angestellten in Kliniken unterschiedlicher Ausrichtung. Radiologe 52:267–276 Gould P (2009) Data show shift towards more women in radiology departments. Diagn Imaging Eur 25(4):9 Koch C, Kray R (2013) Legitimation durch Recht – Interview mit Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer. In: Kray R, Koch C, Sawicki PT (Hrsg) Qualität in der Medizin dynamisch denken. Springer Gabler, Wiesbaden, S 45–77 Maier C, Laumer S, Eckhart A, Weinter C, Stetten A von, Weinert C (2014) Bewerbungspraxis 2014: Eine empirische Untersuchung mit über 10.000 Stellesuchenden oder Arbeitsinteressierten im Internet. http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/wiai_lehrstuehle/isdl/ Bewerbungspraxis_2014.pdf. Zugegriffen: 31. Aug. 2015 Nusser M, Lindner R (2010) Gestaltungsoptionen für eine zukunftsorientierte Innovationspolitik in der Medizintechnik. Z Evid Fortbild Qual Gesundh 104:709–714 Oberholzer M, Kehrer B, Ettlin RA, Haroske B, Kunze K-D (2010) Globalisierung in der Chirurgie. Telemedizin – ein Instrument zur globalen Vernetzung. Z Herz Thorax Gefäßchir 24:73–84 Ossege M (2011) Öffentliche Ausschreibung radiologischer Krankenhausleistungen. Fortschr Röntgenstr 183(3):302–308 Plathow C, Walz M, Essig M, Engelmann U, Schulz-Ertner D, Delorme S et al (2005) Teleradiologie: Betriebswirtschaftliche Analyse von CT-Untersuchungen eines kleineren Krankenhauses. Fortschr Röntgenstr 177:1016–1026 Rosenberg C, Kroos K, Rosenberg B, Hosten N, Flessa S (2013) Teleradiology from the provider’s perspective – cost analysis for a mid-size university hospital. Eur Radiol 23:2197–2205 Schmidt-Tophoff J (2005) Kooperation in der Radiologie: 10 Empfehlungen zum Co-Sourcing von Radiologieabteilungen. In: Eiff W von, Klemann A (Hrsg) Unternehmensverbindungen. Strategisches Management von Kooperationen, Allianzen und Fusionen im Gesundheitswesen. WIKOM-Verlag, Wegscheid, S 123–140 Schröder KT (2004) Die elektronische Gesundheitskarte – Schlüssel zur Modernisierung des Gesundheitswesens. In: Lehr A (Hrsg) Forum für Gesundheitspolitik Juli/August, S 185–188 Sonnet C (2010) Die Ärztinnen sind da. Frankfurter Allgemeine Zeitung. http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/medizin-die-aerztinnen-sind-da-1999359.html. Zugegriffen: 31. Aug. 2015 Der Westdeutsche Teleradiologieverbund und sein Nutzen … 437 Über die Autoren Philipp Wöstmann studierte Humanmedizin in Bochum, Betriebswirtschaftslehre in Münster (Abschluss: Bachelor of Science) und Health Care Management in Hamburg (Abschluss: Master of Science). Im Rahmen verschiedener Praktika befasste er sich intensiv mit telemedizinischen Netzwerken und speziell dem Westdeutschen Teleradiologieverbund, den er im Rahmen einer größeren, empirischen Untersuchung analysierte und dabei auch zahlreiche Interviews mit teilnehmenden Ärzten und betreuenden IT-Verantwortlichen führte. Kontakt: Philipp.Woestmann@web.de Marcus Kremers Seit 2012 ist Kremers Geschäftsführer der MedEcon Telemedizin GmbH, die den Westdeutschen Teleradiologieverbund managt. Abschluss des Studiums der Volkwirtschaftslehre in Köln im Jahre 1997. Seit 2010 arbeitet er für die Firma VISUS u. a. im Bereich Geschäftsfeldentwicklung und Datenschutz. Kontakt: m.kremers@medecon-telemedizin.de Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender, telemedizinisch gestützter Versorgungskonzepte für herzinsuffiziente Patienten – ein modulares Referenzmodell Uta Augustin, Bettina Zippel-Schultz, Cornelia Henschke, Silke Steinbach und Thomas M. Helms 1 Einleitung In Deutschland leiden rund 40 % der Bevölkerung an einer oder mehreren chronischen Krankheiten (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2000/2001). Für eine qualitativ hochwertige Versorgung dieser Patienten1 ist es erforderlich, eine kontinuierliche und ganzheitliche Betreuung über die verschiedenen Sektoren und Arztdisziplinen hinweg zu realisieren. Verschiedene Studien (z. B. Schoen et al. 2009; Schoen et al. 2011) haben gezeigt, dass dieses Erfordernis bisher nur unzureichend umgesetzt wird. Dabei erweisen sich die sektorale Trennung zwischen stationärem und ambulantem Sektor sowie die intrasektorale, Arztdisziplinen separierende Organisationsstruktur als wesentliche Barrieren. Das deutsche Gesundheitssystem ist – aus der 1Für eine bessere Lesbarkeit wird das generische Maskulinum als Schreibweise verwendet. Gemeint sind stets beide Geschlechter. U. Augustin (*) · B. Zippel-Schultz · T. M. Helms  Deutsche Stiftung für chronisch Kranke, Berlin, Deutschland E-Mail: augustin@dsck.de B. Zippel-Schultz E-Mail: zippel-schultz@dsck.de C. Henschke  Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: cornelia.henschke.1@tu-berlin.de S. Steinbach  Fraunhofer IESE, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: steinb@hotmail.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_23 439 440 U. Augustin et al. Perspektive der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre – nach dem Prinzip der funktionalen Aufbauorganisation gestaltet, bei welchem die Funktion der einzelnen Institutionen im Vordergrund steht. Die Versorgung chronisch kranker Patienten erfordert jedoch eine Fokussierung auf den gesamten Behandlungsprozess: vom Hausarzt, über den Facharzt, bis hin zum Krankenhaus und gegebenenfalls der Pflegeeinrichtung. Notwendig ist folglich eine Reorganisation der Leistungserbringung – weg vom einzelinstitutionellen hin zum institutionenübergreifenden Ansatz. Ein großes Problem von funktional organisierten Systemen sind vor allem die Schnittstellenprobleme (Wilhelm 2007). Auch im deutschen Gesundheitssystem kommen diese weitreichend zum Tragen: Die informationstechnische Infrastruktur ist geprägt durch eine organisatorisch dezentrale Vorhaltung von Behandlungsdaten sowie weitestgehend nicht interoperablen Informationstechnologien. Dies birgt die Gefahr, dass einem behandelnden Arzt relevante Informationen für Therapieentscheidungen nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. In einer Untersuchung des Commonwealth Fund, gaben ein Drittel der befragten deutschen Patienten an, dass ihr Facharzt keine Kenntnis der Patientenhistorie durch die Informationsweitergabe von mitbehandelnden Ärzten erlangt hatte, sondern lediglich durch Schilderungen des Patienten selbst (Schoen et al. 2009). Ferner wurde eine regelmäßige Überprüfung der umfangreichen Medikation chronisch Kranker nur bei etwa der Hälfte der Patienten durchgeführt (Schoen et al. 2009). Dies führt zu einer unzureichenden Versorgungskontinuität und damit auch -qualität chronisch kranker Patienten, die im schlimmsten Fall in Behandlungsfehler mündet (Moore et al. 2003; Ommen et al. 2007). Neben organisationsbezogenen Problemen wird die Versorgungskontinuität und -qualität chronisch herzinsuffizienter Patienten seit einigen Jahren zusätzlich durch strukturelle Veränderungen im Angebot und in der Nachfrage von Gesundheitsleistungen negativ beeinflusst: Während der demografische Wandel und die zunehmende Multimorbidität ein höheres Leistungsangebot erfordern, führt die Überalterung der Ärzteschaft zu einem Rückgang an ärztlicher Expertise (Böhm und Mardorf 2009; Heymann et al. 2012). Die Überalterung der Ärzteschaft sowie geänderte Niederlassungsansprüche des medizinischen Nachwuchses (Kopetsch 2010) führen zudem zu einem zunehmenden Ungleichgewicht in der Verfügbarkeit von (Fach-)Ärzten zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Mit dem im Jahr 2012 erlassenen GKV-Versorgungsstrukturgesetz sollten neue Anreize zur Niederlassung von jungen Ärzten in ländlichen Regionen geschaffen werden. Jedoch haben diese Anreize bisher nicht die erhoffte Besserung gebracht. Auch die derzeitig praktizierte Bedarfsplanung, welche die Höchstzahl der ärztlichen Zulassungen in einer Region festlegt, erweist sich als Hindernis für die Verbesserung der ärztlichen Verfügbarkeit bzw. Verteilung. Die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen wird u. a. durch das Alter, sozioökonomische und morbiditätsbezogene Merkmale der Bevölkerung, aber auch durch technologische Entwicklungen bestimmt. Allerdings berücksichtigt die derzeitige Ausgestaltung der Bedarfsplanung gerade diese Faktoren nicht (Knieps et al. 2012). Des Weiteren leisten viele Patienten bisher noch einen zu geringen Eigenbeitrag zum Erhalt und zur Verbesserung ihres Gesundheitszustandes. Ein großes Problem liegt darin, Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 441 dass Patienten oft nicht genügend über ihre Erkrankung, die Symptome sowie Selbstmaßnahmen zur Sekundär- und Tertiärprävention informiert sind (Strömberg 2005). Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Notwendigkeit, innovative Versorgungskonzepte zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Patienten beitragen, indem • sektoren- und Arztdisziplinen übergreifende Kooperationen sowie deren Kommunikation gefördert werden (Netzwerkbildung), • die informationstechnische Infrastruktur und das Schnittstellenmanagement zwischen Leistungserbringern verbessert werden, • innovative Medizintechnik und Informations- und Kommunikationstechnologien (z. B. im Rahmen telemedizinischer Anwendungen) berücksichtigt werden, und • der Patient stärker in das Therapiemanagement einbezogen wird. Die Umsetzung von Innovationen bringt jedoch oftmals Veränderungen mit sich, die in bestehende Strukturen und Prozesse eingreifen. Dieses Kapitel zielt darauf 1) wichtige, innovative Ansätze zur Verbesserung der Versorgung chronisch herzinsuffizienter Patienten aufzuzeigen und 2) relevante Struktur-, Prozess- und Kostenparameter eines sektorenübergreifenden telemedizinisch gestützten Versorgungskonzeptes darzustellen sowie zu berücksichtigende Kontext- und Einflussfaktoren zu diskutieren. Zur Darstellung der Struktur-, Prozess- und Kostenparameter dient ein modulares Referenzmodell, welches auf Basis von zwei anwendungsorientierten Forschungsprojekten aus dem Bereich der Kardiologie zur Betreuung herzinsuffizienter Patienten (E.He.R. und MERGEIT) entwickelt wurde. 2 Neue Wege in der Versorgung chronisch herzinsuffizienter Patienten 2.1 Telemonitoring und zentrales Datenmanagement Telemetriefähige Geräte ermöglichen die kontinuierliche sowie zeit- und raumunabhängige Erfassung, Übertragung und Analyse von Gesundheitsinformationen (Telemonitoring). Die Möglichkeiten reichen im Bereich der Kardiologie von externen Geräten, wie beispielsweise Blutdruckmessgeräten oder Körperwaagen, bis hin zu implantierten kardialen Geräten (Herzschrittmacher, CRT-Geräte2, ICD-Geräte3 und Ereignisrekorder), die kontinuierlich medizinische Daten und technische Informationen (z. B. den Batteriestatus) erfassen und senden. 2CRT 3ICD = Cardiac Resynchronisation Therapy; Geräte zur kardialen Resynchronisationstherapie. = Implanted Cardioverter-Defibrillator; implantierte Kardioverter-Defibrillatoren. 442 U. Augustin et al. Die Daten werden an die Telemonitoring-Plattform des jeweiligen Anbieters (Hersteller, Dienstleister) weitergeleitet. Bei den implantierten kardialen Geräten haben die betreuenden Ärzte die Möglichkeit, jederzeit Einsicht in die erfassten Daten zu nehmen. Ferner ermöglichen es moderne Algorithmen in den Systemen, Auffälligkeiten automatisch zu erkennen und zu melden. Ein großer Vorteil des Telemonitorings ist, dass a) kontinuierlich und nicht nur punktuell im Rahmen der Nachsorgetermine Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten zur Verfügung stehen, b) Verschlechterungen des Gesundheitszustandes frühzeitig erkannt und c) weite Anfahrtswege zum betreuenden Facharzt im Sinne des Patienten reduziert werden können. Gleichzeitig wird eine höchstmögliche Versorgungssicherheit gewährleistet. Bisher noch nicht optimal gelöst ist die Problematik, dass die Informationen aus den Plattformen nicht direkt und automatisiert in die Primärsysteme aller Leistungserbringer übertragbar sind. Ärzte, die Patienten mit telemetriefähigen Implantaten betreuen, müssen gegenwärtig noch auf verschiedene Herstellerplattformen zugreifen, da ihre Patienten oftmals Implantate verschiedener Hersteller haben. Dies ist für den betreuenden Arzt mit einem erhöhten Zeitaufwand verbunden. Ebenso sind die automatisch generierten, direkt an den Leistungserbringer übersandten Protokolle der Hersteller bisher noch nicht standardisiert. Erste Softwarelösungen, die die Daten plattformunabhängig zusammenführen können, sind in der Entwicklung und partiellen Umsetzung. Für die Verbesserung der Versorgung von chronisch herzinsuffizienten Patienten, stellt die Zusammenführung der patientenbezogenen Behandlungsinformationen in einem zentralen Datenmanagementsystem, wie beispielsweise einer institutionenübergreifenden elektronischen Patientenakte, ein besonders hohes Potenzial zur Verbesserung der Versorgungskontinuität und -qualität dar. Behandlungsdaten aus Präsenzkontakten, die aktuelle Medikation, aber auch die durch das Telemonitoring erhobenen Daten sollten zentral organisiert sein und im optimalen Fall allen am Behandlungsprozess Beteiligten zur Verfügung stehen sowie durch diese wiederum ergänzt werden. Mehr Informationen über den Patienten bedeuten für einen Arzt mehr Sicherheit bei seinen Therapieentscheidungen. 2.2 Stärkung des Patienten und der Arzt-Patienten-Beziehung Ein wesentlicher Punkt in der Weiterentwicklung von Versorgungskonzepten besteht in einer stärkeren Förderung und Forderung des Patienten. Kenntnisse über den Einfluss bestimmter Lebensgewohnheiten auf die Erkrankung sowie über Symptome, welche Veränderungen des Gesundheitszustands anzeigen, sind dabei essenziell. Der Patient kann somit aktiv einen Beitrag für seine Gesundheit leisten. Die Praxis zeigt jedoch, dass gegenwärtig immer noch viele Patienten Symptome nicht richtig erkennen und kritische Situationen unterschätzen. In der Folge kommt es häufig zu schweren Dekompensationen, die sich negativ auf die Gesamtprognose auswirken. Informierte Patienten verstehen zudem Therapieentscheidungen des Arztes besser. Das Wissen um die Bedeutung der Therapie hat daher direkte Auswirkungen auf die Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 443 Compliance des Patienten. Insofern ist die Informiertheit des Patienten ein zentraler Aspekt in der Krankheitsbehandlung. Entgegen bestehender Diskussionen über die Entmenschlichung der Arzt-Patienten-Beziehung durch den Einsatz von Technik, offerieren das Telemonitoring und die zentrale Datenführung eine Intensivierung und Verbesserung der Qualität der Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Detaillierte und kontinuierliche Daten zum gesundheitlichen Status des Patienten auf Seiten des Arztes sowie ein hoher Informationsstand auf Seiten des Patienten führen zu einem präziseren und verbesserten Dialog. Der Patient wird somit vielmehr zu einem Partner im Versorgungsprozess. Der Einsatz des Telemonitoring führt darüber hinaus zu einer Stärkung der Rolle des Arztes im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprävention. Während Präventionsmaßnahmen ohne den Technikeinsatz bisher eine deutlich stärkere Initiative seitens des Patienten erfordern – das heißt, der Patient muss sich beispielsweise um die Einhaltung von Vorsorge-/Nachsorgeterminen kümmern – wird durch das Telemonitoring die Aktivität des betreuenden Arztes oder des beteiligten Telemonitoring-Anbieters stärker gefordert. Im Falle detektierter Vorkommnisse wird der Patient durch den Arzt oder sein Personal aktiv zur Vorstellung im Krankenhaus oder in der Arztpraxis aufgefordert. Das Telemonitoring erweist sich somit als Werkzeug, um die Arzt-Patienten-Zusammenarbeit im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprävention zu stärken. Zugleich kann das Telemonitoring einen Beitrag zur Entlastung des Arztes leisten, indem vorgelagerte Tätigkeiten wie die kontinuierliche Dateneinsicht an nicht-ärztliches Personal delegiert werden können. 2.3 Neuordnung und Neuetablierung von Akteuren, Zuständigkeiten sowie Informations- und Kommunikationsprozessen In der klassischen Versorgung von herzinsuffizienten Patienten besteht das Beziehungsdreieck aus dem Patienten, seinem Hausarzt und/oder niedergelassenem Facharzt sowie dem betreuenden Arzt im Krankenhaus (vgl. Abb. 1). Der Patient erhält bei jeder Institution die institutionsspezifische Leistung – im besten Fall mit klar abgegrenzten Aufgaben der einzelnen Leistungserbringer. Die punktuell im Rahmen der Nachsorgetermine oder bei Akutzuständen erhobenen Behandlungsinformationen werden institutionsgebunden aufgenommen und gespeichert. Der Austausch der Behandlungsinformationen zwischen den Institutionen erfolgt nach dem Pull-Prinzip, das heißt, ein Arzt muss bei einem anderen Arzt die Behandlungsinformationen anfordern4. Um den damit verbundenen Problemen in der Versorgungskontinuität und -qualität zu begegnen, bietet sich die Nutzung moderner Medizintechnik (z. B. telemetriefähige kardiale Implantate oder externe telemetriefähige Geräte wie Blutdruckmessgeräte) und 4Ausgenommen sei hier der Arztbrief nach einer Behandlung im Krankenhaus, welcher direkt dem mitbehandelnden Hausarzt oder niedergelassenen Kardiologen übersandt bzw. dem Patienten übergeben wird. 444 U. Augustin et al. ,ĂƵƐĂƌnjƚ WĂƚŝĞŶƚ DĞĚŝnjŝŶŝƐĐŚĞƌ ĞŚĂŶĚůƵŶŐƐƉƌŽnjĞƐƐ &ĂĐŚĂƌnjƚ <ůŝŶŝŬ /ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶƐƉƌŽnjĞƐƐnjǁŝƐĐŚĞŶ ĚĞŶ>ĞŝƐƚƵŶŐƐĞƌďƌŝŶŐĞƌŶ ‡ƌŚĞďƵŶŐƵŶĚ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐŐĞƐƵŶĚŚĞŝƚƐďĞnjŽŐĞŶĞƌĂƚĞŶŶƵƌďĞŝWƌćƐĞŶnjǀŽƌƐƚĞůůƵŶŐ ‡ĂƚĞŶĂƵƐƚĂƵƐĐŚĂƵĨŶĨƌĂŐĞ;WƵůůͲWƌŝŶnjŝƉͿƵŶĚďĞŝŶƚůĂƐƐƵŶŐĂƵƐĚĞŵ<ƌĂŶŬĞŶŚĂƵƐ ‡ŬĞŝŶƵƐƚĂƵƐĐŚĂůůĞƌĞŚĂŶĚůƵŶŐƐŝŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶ͊ ‡ŬĞŝŶĞnjĞŶƚƌĂůĞƐĂƚĞŶŵĂŶĂŐĞŵĞŶƚ͊ Abb. 1  Behandlungs- und Informationsprozesse in der klassischen Versorgung herzinsuffizienter Patienten der Einsatz von sektorenübergreifenden Informations- und Kommunikationslösungen an. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Lösungsansätze sowohl die Akteursstruktur und die Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure als auch die informationstechnische Infrastruktur (von der Informationserfassung über die Informationsweitergabe bis hin zur Informationsspeicherung und -zugänglichkeit) sowie deren prozessuale Integration in das Versorgungsprozedere beeinflussen. Für die Durchführung der telemonitorischen Dienstleistung kann ein sogenanntes Telemedizinisches Zentrum (TMZ) eingerichtet werden, welches die Überwachung der telemetrisch erfassten Daten und die Ausübung der vorab definierten Informationsdiffusion, beispielsweise im Falle von Notfällen, vornimmt. Diese Aufgaben müssen nicht vom Arzt selbst durchgeführt werden, sondern können durch Personal wahrgenommen werden, welches sorgfältig auf die Bewertung der eingehenden Daten für die spezifische Indikation geschult ist. Für bestehende Berufsfelder wie medizinische Fachangestellte oder Gesundheits- und Krankenpfleger kann sich somit auch ein neues Berufsfeld eröffnen. Organisatorisch können TMZs entweder direkt an ein Krankenhaus angegliedert sein, durch einen externen Dienstleister bereitgestellt werden oder durch ein Ärztenetz betrieben werden. Darüber hinaus sind Kooperationen zwischen den Anbietern denkbar. Kooperationen kommen dann zum Einsatz, wenn beispielsweise die Betreuungszeiten eines an einem Krankenhaus angegliederten Zentrums sich auf die werktäglichen Arbeitszeiten beschränken, jedoch ein 24/7-Service zur Verfügung gestellt werden soll. In diesem Fall kann es für ein Krankenhaus oder ein Ärztenetz betriebswirtschaftlich vorteilhaft sein, eine Kooperation mit einem externen Dienstleister einzugehen. In einer Befragung zu den Präferenzen von Kardiologen hinsichtlich der organisatorischen Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 445 Verankerung und Ausgestaltung von TMZs sprachen sich die teilnehmenden Ärzte sehr häufig für ein kooperatives Organisationsmodell aus (vgl. Augustin et al. 2016). Die Umsetzung eines zentralen Datenmanagements über eine institutionenübergreifende elektronische Patientenakte schafft eine einheitliche und schnelle Informationsverfügbarkeit bei allen am Versorgungsprozess beteiligten Leistungserbringern. Ärzte werden durch die umfassenden und aktuellen Informationen im diagnostischen und therapeutischen Entscheidungsprozess unterstützt. Für die Patienten wird damit eine Verbesserung der Versorgungsqualität erreicht. Erforderlich ist dafür eine IT-Lösung, die jedem am Versorgungsprozess beteiligten Leistungserbringer die Einsicht und Speicherung der Behandlungsdaten in einem zentralen System ermöglicht. Die im ambulanten und stationären Sektor derzeitig existierenden IT-Lösungen arbeiten bisher überwiegend autark und sind größtenteils nicht interoperabel. Ziel muss es daher sein, entweder die Interoperabilität der bestehenden IT-Systeme zu erreichen oder aber neue, z. B. webbasierte Lösungen, einzusetzen. Webbasierte Lösungen nutzen die durch das Internet bereits gegebene Infrastruktur. Sie bieten den Vorteil, dass sie keine gesonderte Software erfordern. Jedoch müssen webbasierte Lösungen aufgrund der Sensibilität der Daten höchste Datenschutzanforderungen erfüllen. Die Umsetzung eines zentralen Datenmanagements über elektronische, institutionenübergreifende Patientenakten führt letztlich zu einer Veränderung der bestehenden Informationsprozesse. Die bereits erkannte Notwendigkeit der Kooperation und Kommunikation zwischen den Leistungserbringern hat bereits verschiedene indikationsspezifische regionale Lösungen entstehen lassen. Auf Bundesebene wird mit der Telematikinfrastruktur und der elektronischen Gesundheitskarte seit mehreren Jahren an der Entwicklung und Einführung einer bundeseinheitlichen Lösung gearbeitet. Bisher ist die flächendeckende Realisierung jedoch nicht absehbar. Aber auch auf Seiten der Ärzteschaft gibt es bei vielen Leistungserbringern noch Bedenken und Ablehnung. Die Gründe sind dabei vielfältig und reichen von der Angst vor einem zusätzlichen Verwaltungsaufwand über die Unsicherheit hinsichtlich des Schutzes der sensiblen Patientendaten bis hin zur Ablehnung aufgrund der damit entstehenden Kontrollierbarkeit. Ein institutionenübergreifendes Datenmanagement bildet einen wichtigen Grundstein in der Förderung der Netzwerkbildung zwischen Leistungserbringern. Die technische Möglichkeit allein impliziert jedoch nicht gleichzeitig eine Anwendungsbereitschaft. Vielmehr erfordern der Aufbau und die Pflege von Ärztenetzwerken ein zentrales Management, welches die vielfältigen Koordinations- und Kommunikationsmaßnahmen mit den Beteiligten umsetzt. Wichtig ist daher, ein strukturiertes Netzwerkmanagement zu etablieren. Dieses kann dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut, Verbesserungsvorschläge generiert und die tatsächliche Nutzung gefördert werden. Mit Blick auf die Patientenschulungen, welche bisher primär im Aufgabenspektrum des Leistungserbringers lagen, besteht die Möglichkeit der Delegation auf geschultes nicht-ärztliches Personal. Die ärztlichen Leistungserbringer erhalten somit zusätzliche Ressourcen für die direkte medizinische Behandlung. 446 U. Augustin et al. Sektorenübergreifende, innovative Versorgungsmaßnahmen bringen das Erfordernis mit sich, bestehende Organisationsstrukturen und -prozesse aufzubrechen und zu reorganisieren. Dies verläuft nicht immer konfliktfrei – insbesondere dann, wenn die Innovation aus einer Prozessoptimierung heraus entsteht und eine Adaption etablierter Strukturen erfordert. Seitens der Anwender ist dafür ein hohes Maß an Engagement und auch Adaptionswillen erforderlich. Es ist wichtig noch einmal festzuhalten, dass durch die prozessualen Veränderungen und Neuordnungen von Akteuren und Aufgaben, die das Telemonitoring, das zentrale Datenmanagement, der Netzwerkaufbau und die Patientenschulungen mit sich bringen, kein Eingriff in die medizinische Behandlung per se stattfindet. Die ärztliche Therapiehoheit bleibt also weiterhin in vollem Umfang gewahrt. 3 E.He.R. und MERGEIT – Zwei regionale, anwendungsorientierte Forschungsprojekte Zwei regionale anwendungsorientierte Forschungsprojekte, die sich den zuvor beschriebenen Maßnahmen zur Etablierung einer sektorenübergreifenden, telemedizinisch gestützten Versorgung chronisch herzinsuffizienter Patienten widmen, sind die beiden Projekte E.He.R. und MERGEIT. Das Projekt E.He.R.5 wurde im Bundesland Rheinland-Pfalz in der Region Westpfalz durch die Deutsche Stiftung für chronisch Kranke, die Westpfalz-Klinikum GmbH, das Fraunhofer IESE, die vitaphone GmbH und das Institut Arbeit und Technik (IAT) geplant und umgesetzt. Ziel des Projektes war es, durch die elektronische Übermittlung und Überwachung von Daten sowohl externer Geräte, wie Körperwaage und Blutdruckmessgerät, als auch implantierter Geräte zur kardialen Resynchronisationstherapie (CRT) oder Kardioverter-Defibrillatoren (ICD) kritische Veränderungen des Gesundheitszustandes der teilnehmenden Patienten rechtzeitig zu erkennen und adäquate Maßnahmen zeitnah einzuleiten. Die Betreuung erfolgte in Kooperation durch ein am Klinikum etabliertes telemedizinisches Zentrum und außerhalb der werktäglichen Arbeitszeit durch das Telemedizinische Servicezentrum der vitaphone GmbH. Das Monitoring der Daten wurde durch strukturierte Interviews ergänzt. In den Telefonaten wurden die Patienten durch Studienschwestern des TMZs zu ihrer Erkrankung geschult. Auch konnten die Patienten bei Fragen zu ihrer Erkrankung einen Ansprechpartner im TMZ rund um die Uhr (24/7) erreichen. Der behandelnde (Haus-)Arzt, als primäre Kontaktperson des Patienten, wurde in regelmäßigen Berichten über den Krankheitsverlauf informiert. Zudem wurde der fachliche Austausch zwischen dem Westpfalz-Klinikum und dem behandelnden (Haus-) Arzt gefördert (vgl. Abb. 2). Basierend auf den in Abb. 1 dargestellten Behandlungs- und Informationsprozessen zeigt Abb. 2 schematisch die Erweiterung im Rahmen des 5Gefördert durch das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz. Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 447 <ŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌĨĂƐƐƵŶŐƵŶĚmďĞƌƚƌĂŐƵŶŐǀŽŶĂƚĞŶ  <ĂƌĚŝĂůĞƐ /ŵƉůĂŶƚĂƚ ;dDͲ ĨćŚŝŐͿ ,ĂƵƐĂƌnjƚ ZĞŐĞůŵćƘŝŐĞ ĞƌŝĐŚƚĞ  WĂƚŝĞŶƚ WŽƌƚĂůĞĚĞƌDĞĚŝnjŝŶͲ ƚĞĐŚŶŝŬŚĞƌƐƚĞůůĞƌ ŝŶƐŝĐŚƚĚĞƌ /ŵƉůĂŶƚĂƚĚĂƚĞŶ Θ ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐĚĞƌ ĂƚĞŶ &ĂĐŚĂƌnjƚ džƚĞƌŶĞ 'ĞƌćƚĞ <ƌĂŶŬĞŶͲ ŚĂƵƐ  /ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶŝŵ &ĂůůĞǀŽŶ ƵĨĨćůůŝŐŬĞŝƚĞŶ dD <ůŝŶŝŬ dD ĞdžƚĞƌŶĞƌ ŝĞŶƐƚůĞŝƐƚĞƌ  <ŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌĨĂƐƐƵŶŐƵŶĚmďĞƌƚƌĂŐƵŶŐǀŽŶĂƚĞŶ ^ĐŚƵůƵŶŐĞŶƐŽǁŝĞ<ŽŶƚĂŬƚŝĞƌƵŶŐŝŵ&ĂůůĞǀŽŶƵĨĨćůůŝŐŬĞŝƚĞŶ DĞĚŝnjŝŶŝƐĐŚĞƌ ĞŚĂŶĚůƵŶŐƐƉƌŽnjĞƐƐ /ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶƐƉƌŽnjĞƐƐĞ ‡ŬŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌŚĞďƵŶŐƵŶĚ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐŐĞƐƵŶĚŚĞŝƚƐďĞnjŽŐĞŶĞƌĂƚĞŶ ‡ƌĞŐĞůŵćƘŝŐĞ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĚĞƌďĞŚĂŶĚĞůŶĚĞŶ>ĞŝƐƚƵŶŐƐĞƌďƌŝŶŐĞƌƺďĞƌĚŝĞƌŐĞďŶŝƐƐĞĚĞƌ ƚĞůĞŵŽŶŝƚŽƌŝƐĐŚĞŶ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶ;WƵƐŚͲsĞƌĨĂŚƌĞŶͿ Abb. 2  Behandlungs- und Informationsprozess im Projekt E.He.R. Projektes E.He.R. Ersichtlich wird die Erweiterung der Informationsprozesse. Das Versorgungskonzept wurde im Jahr 2014 erfolgreich evaluiert und wird nun gemeinsam mit lokalen Akteuren in den Eifelkreis Bitburg-Prüm übertragen. Das Forschungsprojekt MERGEIT 6 wird im Bundesland Bayern in der Region Niederbayern in Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke mit dem Krankenhaus Landshut-Achdorf, dem Klinikum Landshut, der Klinik Bogen, dem Klinikum Passau und der internistischen Gemeinschaftspraxis Steiner Thor sowie den Haus- und Fachärzten der Region durchgeführt. Auch hier erfolgt eine telemonitorische Nachsorge von herzinsuffizienten Patienten mit kardialem Implantat sowie eine regelmäßige Schulung der Patienten hinsichtlich der Erkrankung und dem Erkennen von Verschlechterungen im Gesundheitszustand. Der Schwerpunkt des Forschungsprojektes liegt neben der Patientenschulung aber vor allem auf dem Aufbau einer vernetzten Versorgung durch die Verbesserung des intra- und intersektoralen Datenaustauschs. Im Rahmen des Projektes wurde hierzu eine indikationsbezogene, webbasierte Patientenakte entwickelt, in welche die Behandlungsinformationen der Präsenzvisiten sowie die 6Gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. 448 U. Augustin et al. <ŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌĨĂƐƐƵŶŐƵŶĚmďĞƌƚƌĂŐƵŶŐǀŽŶĂƚĞŶ <ĂƌĚŝĂůĞƐ /ŵƉůĂŶƚĂƚ ;dDͲ ĨćŚŝŐͿ ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐĂůůĞƌ ĞŚĂŶĚůƵŶŐƐͲ ŝŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶ ,ĂƵƐĂƌnjƚ WĂƚŝĞŶƚ &ĂĐŚĂƌnjƚ <ƌĂŶŬĞŶͲ ŚĂƵƐ WŽƌƚĂůĞĚĞƌDĞĚŝnjŝŶͲ ƚĞĐŚŶŝŬŚĞƌƐƚĞůůĞƌ  ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐĚĞƌ ƚĞůĞŵĞĚ͘ĂƚĞŶ /ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶŝŵ&ĂůůĞǀŽŶ ƵĨĨćůůŝŐŬĞŝƚĞŶĂŶĚŝĞ ƌnjƚĞ ŝŶƐŝĐŚƚĚĞƌ /ŵƉůĂŶƚĂƚĚĂƚĞŶ dĞůĞŵĞĚŝnjŝŶŝƐĐŚĞƐ ĞŶƚƌƵŵ ^ĐŚƵůƵŶŐĞŶƐŽǁŝĞ<ŽŶƚĂŬƚŝĞƌƵŶŐŝŵ&ĂůůĞǀŽŶƵĨĨćůůŝŐŬĞŝƚĞŶŝŶŬů͘ ŽŬƵŵĞŶƚĂƚŝŽŶ DĞĚŝnjŝŶŝƐĐŚĞƌ ĞŚĂŶĚůƵŶŐƐƉƌŽnjĞƐƐ /ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶƐƉƌŽnjĞƐƐĞ ‡ŬŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌŚĞďƵŶŐƵŶĚ^ƉĞŝĐŚĞƌƵŶŐĂůůĞƌƌĞůĞǀĂŶƚĞŶĞŚĂŶĚůƵŶŐƐĚĂƚĞŶ ƐŽǁŝĞĚĞƌƚĞůĞŵŽŶŝƚŽƌŝƐĐŚĞƌĨĂƐƐƚĞĂƚĞŶ ‡ŬŽŶƚŝŶƵŝĞƌůŝĐŚĞƌƵƐƚĂƵƐĐŚĚĞƌ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶƺďĞƌĞŝŶnjĞŶƚƌĂůĞƐ ĂƚĞŶŵĂŶĂŐĞŵĞŶƚͲ^LJƐƚĞŵ;WƵůůͲƵŶĚWƵƐŚͲsĞƌĨĂŚƌĞŶͿƐŽǁŝĞ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĚĞƌ ďĞŚĂŶĚĞůŶĚĞŶ>ĞŝƐƚƵŶŐƐĞƌďƌŝŶŐĞƌŝŵ&ĂůůĞǀŽŶƵĨĨćůůŝŐŬĞŝƚĞŶ;WƵƐŚͲsĞƌĨĂŚƌĞŶͿ Abb. 3  Behandlungs- und Informationsprozess im Projekt MERGEIT telemonitorisch erhobenen Daten eingetragen werden. Jeder den Patienten behandelnde Leistungserbringer kann somit zu jeder Zeit Einsicht in den aktuellen Behandlungsstatus nehmen. Die Abb. 3 visualisiert die veränderten Informationsprozesse, bei denen die webbasierte elektronische Patientenakte als zentrales Informationsmedium aller am Versorgungsprozess beteiligten Leistungserbringer eingesetzt wird. 4 Modulares Referenzmodell der Struktur-, Prozess- und Kostenparameter einer telemonitorischen Nachsorge herzinsuffizienter Patienten Auf Basis der Erkenntnisse der beiden anwendungsorientierten Forschungsprojekte E.He.R. und MERGEIT wurde ein modulares Referenzmodell für die Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender, telemedizinisch gestützter Versorgungskonzepte für herzinsuffiziente Patienten abgeleitet. Das Modell soll potenziellen Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 449 Initiatoren und Anwendern die Möglichkeit geben, einen Überblick über relevante Struktur-, Prozess- und Kostenparameter zu erhalten. Die einzelnen Komponenten des Referenzmodells, wie die einzusetzenden Geräte oder aber die Zusammensetzung der Akteure, sollen als modular verstanden werden. Dies liegt darin begründet, dass der konkrete Erfolg eines derartigen Versorgungskonzeptes vielfach von Kontextfaktoren abhängt, die sich beispielsweise in den regionalen und institutionellen Gegebenheiten und den Ausgestaltungswünschen der Anwender widerspiegeln. So kann es beispielsweise sein, dass die Aufgaben der Auswertungs- und Steuerungsinstitution, aber auch die Tätigkeiten des TMZs und Technikdienstleisters jeweils durch eine Organisation erbracht werden. Die Aufteilung der Aufgaben sollte den Kontextbedingungen angepasst und zwischen den Partnern ausgehandelt werden. Die Abb. 4 verdeutlicht grafisch die relevanten Struktur- und Prozessparameter während der Initiierungs- und Umsetzungsphase (vgl. Abschn. 4.1) anhand einer Prozesslandkarte. Im oberen Teil der Grafik ist der konkrete medizinische Versorgungsprozess für eine sektorenübergreifende, telemedizinisch gestützte Versorgung dargestellt. Der Patient erhält nach der Aufklärung durch den Arzt das erforderliche Equipment, um telemonitorisch betreut werden zu können. Die im Rahmen der telemonitorischen Nachsorge erhobenen Daten werden entweder zusammen mit den weiteren Behandlungsinformationen zentral in einer Akte zusammengeführt (Aktentyp B) oder dezentral bei den medizinischen Leistungserbringern und dem TMZ vorgehalten (Aktentyp A). Horizontal sind die Akteure, ihre Aufgaben (rechteckige Kästchen) sowie die prozessualen Beziehungen zu den jeweils anderen Akteuren (dicke Pfeile) jeweils farblich einheitlich dargestellt. Die Ziffern an den Aufgaben kennzeichnen die Reihenfolge der einzelnen Schritte. So muss beispielsweise in Schritt 1 der Patient vor der Ausstattung mit dem entsprechenden Equipment aufgeklärt werden. Einige dieser Aufgaben fallen im Rahmen des Versorgungsprozesses nur einmalig an. Andere Aufgaben wiederum – wie beispielsweise die Datensichtung – werden regelmäßig über den gesamten Prozess hinweg ausgeführt. Die regelmäßig anfallenden Aufgaben sind mit dem Buchstaben R gekennzeichnet. Zur Wahrung der Übersichtlichkeit werden die Kostenparameter gesondert tabellarisch dargestellt (vgl. Abschn. 4.2). 4.1 Struktur- und Prozessparameter Struktur- und Prozessparameter sind bei der Gestaltung eines Versorgungskonzeptes eng miteinander verbunden. Die Struktur stellt den Handlungsrahmen dar, in dem der Prozess agiert. Während in funktional organisierten Systemen die Prozesse der Struktur folgen, ist dies in prozessorientierten Organisationsstrukturen umgekehrt: ausgehend von einem idealtypischen Prozess wird die Struktur des Systems entsprechend organisiert. Für die Gestaltung intersektoraler Versorgungsansätze, bei denen die prozessorientierte Organisationsform als Optimum angesehen werden kann, muss daher zunächst der Prozess, der die „zielgerichtete, zeitlich-logische Abfolge von Aufgaben abbildet“ Abb. 4  Modulares Referenzmodell der Struktur- und Prozessparameter sektorenübergreifender, telemedizinisch gestützter Versorgungskonzepte für herzinsuffiziente Patienten 450 U. Augustin et al. Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 451 (Gadatsch 2013), analysiert und gestaltet werden. Anschließend ist zu bestimmen, welche formale Struktur den gewünschten Versorgungsprozess optimal unterstützt. Für die Strukturgestaltung erweist sich der Rückgriff auf die sechs Dimensionen einer Organisationsstruktur – Konfiguration, Spezialisierung, Standardisierung, Formalisierung, Zentralisierung und Partizipation (vgl. Schulte-Zurhausen 2010) – als zielführend. In einem ersten Schritt werden die einzubindenden Akteure und deren Aufgaben bestimmt (Konfiguration). Dabei muss definiert werden, welchen Spezialisierungsgrad die einzelnen Akteure vorweisen müssen (Spezialisierung). Beispielsweise ist für die Erstbewertung telemonitorischer Daten nicht zwingend ärztliches Personal erforderlich. Speziell geschultes, nicht-ärztliches Personal könnte diese Aufgabe übernehmen. Gleichzeitig sollte geprüft werden, insbesondere mit Blick auf eine möglichst hohe Ressourceneffizienz, zu welchem Ausmaß Tätigkeiten standardisiert erbracht werden können (Standardisierung) und welche Tätigkeiten ein hohes Maß an flexibler Reaktionsfähigkeit oder individueller Bearbeitung bedürfen. Dies geht einher mit dem Ausmaß schriftlich fixierter Vorschriften. Sie beeinflussen maßgeblich die Handlungsfreiheit der einzelnen Akteure (Formalisierung), sind jedoch für die Qualitätssicherung unabdingbar. Weiterhin muss die Verteilung der hierarchischen Kompetenzen und das Ausmaß der Partizipation zwischen den Partnern festgelegt werden. Es muss definiert werden, ob es ein Leitungsgremium, beispielsweise in Form einer Steuerungsinstitution, gibt (Zentralisierung) bzw. zu welchem Grad die Akteure an (Leitungs-)Entscheidungen partizipieren (Partizipation). Die Prozesse müssen sowohl die Erfüllung der medizinischen Aufgabe als auch die vorgelagerten und begleitenden Prozesse der Abstimmung, Steuerung und Evaluation abbilden. Ein besonderes Augenmerk muss dabei sowohl auf die Schnittstellen zwischen den Akteuren als auch zum Patienten gelegt werden. Eine fehlende Abstimmung führt zu Mehrfach- oder Nacharbeiten (Schulte-Zurhausen 2010) und mindert somit die Effektivität und Effizienz. Wesentlich ist, dass der eigentlichen Umsetzungsphase eine Initiierungsphase vorausgeht. In der Initiierungsphase werden die Grundlagen zur effektiven und effizienten Umsetzung des Versorgungskonzeptes gelegt. Dazu gehören: • • • • • • die Planung und Umsetzung des Konzeptes, der Netzwerkaufbau, die Beschaffung und Implementierung der technischen Komponenten, die Sicherstellung der Datenschutzkonformität, die Einholung behördlicher Genehmigungen, die Bestimmung und Vorbereitung von Prozess begleitenden Bewertungsinstrumenten sowie • die Etablierung der Prozessabläufe und Implementierung der technischen Systemkomponenten in den einzelnen Institutionen. 452 U. Augustin et al. Die Initiierungsphase ist somit ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Etablierung und nachhaltige Umsetzung eines sektorenübergreifenden Versorgungskonzeptes. Der medizinische Versorgungsprozess stellt die Kernkomponente des neuen Versorgungskonzeptes dar. Durch ihn sollen die anvisierten Versorgungsziele, wie beispielsweise eine bessere Kontinuität und Qualität in der Versorgung, erreicht werden. Zudem stellt er die Grundlage für die Struktur hinsichtlich der einzubeziehenden Akteure und der zu erfüllenden Aufgaben. Bei einem sektorenübergreifenden, telemedizinischen Versorgungskonzept für herzinsuffiziente Patienten sollten beispielsweise sowohl der betreuende Hausarzt und/oder ambulante Kardiologe als auch das betreuende Krankenhaus als medizinische Leistungserbringer eingebunden werden. In den genannten Forschungsprojekten oblag ihnen die Ansprache und Aufklärung der Patienten, die Weiterleitung der Informationen an das TMZ, die Ausstattung der Patienten mit den erforderlichen Geräten sowie die regelmäßige Dokumentation von Behandlungsdaten. Dem TMZ können die folgenden Aufgaben übertragen werden: das Anlegen sowie die Pflege der Patientenakten, die Erstsichtung der telemonitorisch erhobenen Daten, die Information der zuständigen Ärzte bei Alarmen sowie die Schulung der Patienten. Sowohl für die Bereitstellung externer Geräte als auch einer institutionenübergreifenden Patientenakte erweist es sich als sinnvoll, einen Technik- und Service-Dienstleister einzubeziehen. Neben Aufgaben, wie die Sicherstellung der Datenschutzkonformität, kann der externe Dienstleister die Ausstattung mit externen Monitoring-Geräten übernehmen und den technischen Support für eine institutionenübergreifende Patientenakte bereitstellen. Da intersektorale Ansätze einen hohen Koordinations- und Kommunikationsaufwand erfordern, der aufgrund der begrenzten Ressourcen bei den einzelnen medizinischen Leistungserbringern nur bedingt realisierbar ist, ist es zudem sinnvoll, eine Steuerungsinstitution zu etablieren und einzubinden. Ihre Aufgabe wäre das übergeordnete Projektmanagement. Dazu gehören u. a. die Planung und die leitende Abstimmung zwischen den Akteuren, die Netzwerkpflege aber auch das Monitoring und Controlling, also die kontinuierliche Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben (z. B. Prozessabläufe). Ferner empfiehlt es sich, zur kontinuierlichen Überprüfung der Effektivität und Effizienz des Versorgungskonzeptes, eine Auswertungsinstitution einzubeziehen. Diese kann organisatorisch entweder direkt an die Steuerungsorganisation angegliedert sein oder aber durch einen weiteren externen Dienstleister realisiert werden. Der Vorteil der Evaluation durch die Steuerungs- oder Auswertungsinstitution ist die Sicherstellung der Objektivität und Validität der Evaluationsergebnisse. Mögliche Konflikte, die auf einem Wettbewerbsgedanken der einzelnen medizinischen Leistungserbringer beruhen, können so umgangen werden. Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 453 4.2 Kostenparameter Ein wesentliches Entscheidungskriterium bei der Erwägung, ob und wie ein sektorenübergreifendes, telemedizinisch gestütztes Versorgungskonzept eingeführt werden soll, sind die Kosten für die Vorbereitung, Implementierung und den Betrieb. Da die Kosten jedoch in starkem Maße von den vorhandenen Kontextfaktoren – wie beispielsweise der Anzahl der teilnehmenden medizinischen und nicht-medizinischen Leistungserbringer, der Anzahl der teilnehmenden Patienten oder der Qualifizierung der ausführenden Mitarbeiter – abhängen, wird an dieser Stelle auf die verschiedenen Kostenarten, die neben der medizinischen Behandlung anfallen, eingegangen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einmalig anfallenden Kosten (Investitionskosten in der Initiierungsphase) sowie regelmäßigen Kosten bei der Umsetzung des sektorenübergreifenden telemonitorischen Versorgungsansatzes. Differenziert nach den unterschiedlichen Akteuren und deren zuvor ausgeführten Aufgaben (vgl. Abschn. 4.1) stellt die Tab. 1 die unterschiedlichen Kostenarten während der Initiierungs- und Umsetzungsphase differenziert nach den einzelnen Akteuren dar. Bisher nicht berücksichtigt sind die Kosten der Medizintechnikhersteller für die Bereitstellung und den Betrieb der telemetrischen Übertragungsgeräte für implantierte kardiale Geräte sowie die Portale, auf denen die Daten zusammenlaufen sowie voranalysiert werden. Im Rahmen von Forschungsprojekten werden diese Kosten häufig von Tab. 1  Kostenarten im Rahmen der Initiierungs- und Umsetzungsphase differenziert nach den beteiligten Akteuren Akteur Kosten in der Initiierungsphase Kosten aller Akteure • Personalkosten (siehe Ausführun• Personalkosten für Netzgen bei den einzelnen Akteuren) werkaufbau und -treffen, Prozess- und Systemplanung und • Sachkosten – Betriebskosten für -implementierung die Informations- und • Sachkosten Kommunikationsinfrastruktur* – Reisekosten für Netzwerkauf– Verwaltungs- und bau und -treffen Gebäudekosten – Technik (PC)* – Informations- und Kommunikationsinfrastruktur* – Verwaltungs- und Gebäudekosten Krankenhaus Kosten in der Umsetzungsphase • Personalkosten (ärztliches und/ oder nicht-ärztliches Personal) für die Patientenaufklärung, Bewertung von auffälligen Monitoring-Daten und Dokumentation von Behandlungsinformationen (Fortsetzung) 454 U. Augustin et al. Tab. 1   (Fortsetzung) Akteur Kosten in der Initiierungsphase Kosten in der Umsetzungsphase Hausarzt/Facharzt • Personalkosten (ärztliches und/oder nicht-ärztliches Personal) für die Patientenaufklärung, (Bewertung von auffälligen Monitoring-Daten und) Dokumentation von Behandlungsinformationen TMZ • Personalkosten (nicht-ärztliches Personal, ggf. ärztliches Personal, ggf. technisches Personal) für die primäre und regelmäßige Datensichtung und Schulung der Patienten Technik-Dienstleister • Zusätzliche Personalkosten für Programmierungstätigkeiten; Datenschutzinstrumente (z. B. Zertifikate), Erstellung technischer Prozesspläne, Erstellung von Datenschutzplänen • Zusätzliche Sachkosten: – Materialkosten z. B. für die Software (bei Einkauf) – Gebühren für behördliche Genehmigungen – Dienstleistungskosten Dritter (Hosting) • Personalkosten (technisches Personal) für den technischen Support • Zusätzliche Sachkosten: – Dienstleistungskosten Dritter (Hosting) – Kosten für externe Übertragungsgeräte (falls diese über den Technikdienstleister gestellt werden) Auswertungsinstitution • Zusätzliche Personalkosten für die Planung der Evaluation • Zusätzliche Sachkosten: – Gebühren wie Lizenzkosten zur Erstellung von Evaluationsinstrumenten, Kosten für Auswertungssoftware • Personalkosten (wissenschaftliches Personal) für die Erhebung von Daten zur Evaluation • Zusätzliche Sachkosten: – Reisekosten zur Durchführung von Evaluationsmaßnahmen Steuerungsinstitution • Personalkosten (kaufmännisches und wissenschaftliches Personal) für das Projektmanagement • Zusätzliche Sachkosten: – Reisekosten z. B. zur Wahrnehmung von Monitoring-Aufgaben • Zusätzliche Personalkosten für die Konzepterstellung sowie Koordinations- und Kommunikationsmaßnahmen Zusätzliche Sachkosten: – Erstellung von Umsetzungsunterlagen, eventuell auch Versicherungen * in den meisten Einrichtungen gegeben Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 455 den Herstellern getragen. Für die nachhaltige und langfristige Umsetzung in der Versorgungsrealität ist es jedoch erforderlich, geeignete Vergütungsmodelle zu entwickeln. 5 Fazit und Herausforderungen Die Notwendigkeit der sektorenübergreifenden, kontinuierlichen Versorgung chronisch herzinsuffizienter Patienten ist unbestreitbar. Innovative Medizin, Informations- und Kommunikationstechnik bieten die Möglichkeit, diesem Erfordernis im Rahmen ganzheitlicher Versorgungskonzepte gerecht zu werden. Sektorenübergreifende Versorgungskonzepte erfordern das Umdenken von der bisher funktional ausgerichteten Organisation der gesundheitlichen Versorgung hin zu einer prozessorientierten Organisation. Ohne ein Umdenken weg von der Einzelleistungserbringung hin zu einer akteursübergreifenden, prozessorientierten Leistungserbringung – auch in einem wettbewerbsorientierten System – sind sektorenübergreifende Versorgungsansätze zum Scheitern verurteilt. Erforderlich für die erfolgreiche Umsetzung sektorenübergreifender Versorgungskonzepte ist die klare Definition des Versorgungsprozesses, der Akteure und ihrer Aufgaben sowie der Abstimmungsprozesse. Der multipersonelle und -institutionelle Ansatz erfordert umfangreiche Kooperations- und Kommunikationsmaßnahmen. Die Einbindung externer, neutraler Institutionen, welche die Steuerungsfunktion und den Aufbau sowie die Pflege der Netzwerkstrukturen übernehmen, bietet sowohl aus Ressourcengründen als auch zur Wahrung des Interessenausgleichs zwischen den einzelnen Akteuren einen deutlichen Mehrwert. Beim Einsatz technischer Lösungen muss darauf geachtet werden, dass diese den Bedürfnissen und Voraussetzungen der Anwender entsprechen. Eine Einbindung der Leistungserbringer in den Entwicklungsprozess bildet einen wesentlichen Erfolgsfaktor für die tatsächliche Anwendung. Zu guter Letzt hängt die langfristig erfolgreiche Realisierung natürlich von den Finanzierungsmöglichkeiten, insbesondere der Finanzierung der Betriebskosten, ab. Mit der öffentlichen Förderung von Forschungsprojekten wird ein wichtiger Grundstein für die Deckung von Kosten für Initiierungs- und Implementierungsmaßnahmen gelegt. Für die Deckung der Betriebskosten wäre nach positiver Evaluation perspektivisch eine Finanzierung über die Krankenkassen wünschenswert. Daher ist es notwendig – auch im Rahmen von geförderten Forschungsprojekten – eine begleitende Evaluation der Programme durchzuführen. Literatur Augustin U, Zippel-Schultz B, Schwab JO, Perings C, Zugck C, Müller A, Helms TM (2016) Organisatorische Verankerung und Ausgestaltung von Telemonitoring-Zentren für die Betreuung von herzinsuffizienten Patienten aus Sicht der medizinischen Leistungserbringer. Aktuelle Kardiologie 5:129–134 456 U. Augustin et al. Böhm K, Mardorf S (2009) Wie teuer wird das Altern? Ökonomische Chancen und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. In: Statistisches Bundesamt, Deutsches Zentrum für Altersfragen, Robert-Koch-Institut (Hrsg) Gesundheit und Krankheit im Alter. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEMonografie_derivate_00000153/Gesundheit_und_Krankheit_im_Alter.pdf% 3Bjsessionid=756BDD3B1DEDADFFE9C287CA17413B89 Gadatsch A (2013) IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Springer, Wiesbaden Heymann R, Buchberger B, Wasem J (2012) Herausforderungen für die hausärztliche Versorgung und Lösungsansätze zum Umgang mit drohender medizinischer Unterversorgung. In: Kirch W, Hoffmann T, Pfaff H (Hrsg) Prävention und Versorgung. Thieme, Stuttgart, S 506–525 Knieps F, Amelung VE, Wolf S (2012) Die ambulant-stationäre Schnittstelle in der medizinischen Versorgung: Grundlagen, Definitionen, Problemanalyse. G+S 2012(6):8–19 Kopetsch T (2010) Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus! Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlenentwicklung, 5. Aufl. http://www.kbv.de/media/sp/Arztzahlstudie_2010.pdf. Zugegriffen: 27. Aug. 2015 Moore C, Wisnivesky J, Williams S, McGinn T (2003) Medical errors related to discontinuity of care from an inpatient to an outpatient setting. J Gen Intern Med 18(8):646–651 Ommen O, Ullricht B, Janßen C, Pfaff H (2007) Die ambulant-stationäre Schnittstelle in der medizinischen Versorgung. Med Klin 102(11):913–917 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002) Gutachten 2000/2001 – Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bd III. Nomos, Baden-Baden Schoen C, Osborn R, How SKH, Doty MM, Peugh J (2009) In chronic condition: Experiences of patients with complex health care needs, in eight countries, 2008. Health Aff 28(1):w1–w16 Schoen C, Osborn R, Squires D, Doty M, Pierson R, Applebaum S (2011) New 2011 survey of patients with complex care needs in eleven countries finds that care is often poorly coordinated. Health Aff 30(12):2437–2448 Schulte-Zurhausen M (2010) Organisation. Vahlen, München Strömberg A (2005) The crucial role of patient education in heart failure. Eur J Heart Fail 7(3):363–369 Wilhelm R (2007) Prozessorganisation. Oldenbourg, München Über die Autoren Uta Augustin  ist bei der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke für den Bereich Forschungsvorhaben zuständig. Zu ihren Aufgaben gehören u. a. die Versorgungsforschung im Bereich der chronischen Krankheiten mit der Identifizierung von relevanten Forschungsthemen, der Konzeptionierung und praktischen Umsetzung von Forschungsvorhaben sowie deren Evaluation. Kontakt: augustin@dsck.de Struktur-, Prozess- und Kostenparameter sektorenübergreifender … 457 Dr. Bettina Zippel-Schultz  ist bei der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke für den Bereich Innovationsmanagement zuständig. In ihrem Verantwortungsbereich liegt die Planung, Durchführung und Koordination sowie die wissenschaftliche Evaluation von Projekten zu innovativen Versorgungskonzepten. Zudem plant und koordiniert sie klinische Studien, insbesondere in den Bereichen Kardiologie und Suchtmedizin Kontakt: zippel-schultz@dsck.de Dr. Cornelia Henschke, Dipl.-Kffr.  ist an der Technischen Universität Berlin am Fachgebiet Management im Gesundheitswesen als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt. Sie koordiniert die Aktivitäten des gesundheitsökonomischen Zentrums Berlin HECOR. Zu ihren Forschungsgebieten zählen u. a. der Bereich (innovativer) Gesundheitstechnologien sowie deren Finanzierung im Gesundheitswesen, wobei zu den Gesundheitstechnologien im weiteren Sinne Arzneimittel, Medizinprodukte sowie Behandlungsprogramme/-konzepte (z. B. telemedizinische Monitoring-Systeme) zu zählen sind. Darüber hinaus beschäftigt sich Frau Henschke mit der Evaluation gesundheitspolitischer Maßnahmen, die Gesundheitstechnologien betreffen. Kontakt: cornelia.henschke.1@tu-berlin.de Silke Steinbach, Dipl.-Päd.  Silke Steinbach ist am Fraunhofer IESE als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt. Ihr Kerngebiet ist die empirische Begleitung und Evaluation der Technikeinführung in verschiedene Anwendungsdomänen. Dazu gehört die Durchführung von Bedarfs- und Anforderungsanalysen, das Design und die Durchführung von Maßnahmen des Akzeptanz- und Change Management für Unternehmen und im Bereich der Politikberatung (eGovernment) und die Planung, Organisation und Durchführung von wirkungsorientierten Evaluationen in verschiedenen Technikeinsatzgebieten (Assisted Living und eHealth, technologiegestütztes Lernen und Arbeiten, Optimierung und Unterstützung von Workflows) sowie die Moderation von Workshops. Kontakt: steinb@hotmail.de 458 U. Augustin et al. Dr. Thomas M. Helms ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie mit langjähriger klinischer Erfahrung sowie mehreren beruflichen Auslandsaufenthalten in den USA/UCSF und den Niederlanden. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der klinisch invasiven Kardiologie sowie der Elektrophysiologie. Seit 2004 ist er zudem Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Deutschen Stiftung für chronisch Kranke. Er ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Gesellschaften wie der ESC (European Society of Cardiology) der IMSA (International Medical Science Academy) sowie der DGK (Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V.), in welcher er u. a. als Mitglied in der „AG1“ – Rhythmologie und als stellvertretender Sprecher der „AG 33“ – Telemonitoring tätig ist. Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft mithilfe der Telemedizin bewältigen Veronika Strotbaum 1 Warum Tele-Intensivmedizin? Das Thema der Gesundheitsversorgung gewinnt in Deutschland vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Alterung der Bevölkerung immer mehr an Bedeutung. Der demografisch-epidemiologische Wandel beeinflusst dabei ebenso wie der medizinisch-technische Fortschritt nahezu alle Bereiche des deutschen Gesundheitswesens, insbesondere jedoch den stationären Sektor. Nach dem aktuellen Gesundheitsbericht der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zählen die steigenden Behandlungszahlen im stationären Sektor zu den maßgeblichen Einflussgrößen für die Stabilität und Nachhaltigkeit im deutschen Gesundheits- und Pflegesystem (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2013). Biermann et al. (2010, S. 876) schätzen, dass die Zahl der stationären Krankenhausaufenthalte zwischen 2010 und 2040 um knapp zwölf Prozent steigen wird. Neben dem Anstieg der absoluten Zahlen wird sich auch die Patientenstruktur ändern. Die Patienten/innen werden älter und vermehrt an chronischen Erkrankungen leiden. Dies führt zu insgesamt komplexeren Behandlungen mit der Notwendigkeit einer intensiveren Betreuung. Diese Entwicklungen werden auch auf den intensivmedizinischen Bereich übergehen, welcher schon vom Grundsatz her ressourcen- und kostenintensiv ist. Das sich dadurch ergebene Erfordernis an zunehmend intensivmedizinischen Kapazitäten und die steigenden Anforderungen an das medizinische und pflegerische Personal stellen insbesondere – aber nicht nur – ländliche bzw. strukturschwache Regionen mit V. Strotbaum (*)  ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, Bochum, Deutschland E-Mail: v.strotbaum@ztg-nrw.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_24 459 460 V. Strotbaum mehrheitlich kleineren Krankenhäusern vor die Herausforderung, auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige Versorgung sicher zu stellen. Diese Umstände machen neue und innovative Versorgungsangebote unerlässlich, um die zu erwartenden Versorgungsdefizite ausgleichen zu können. Informations- und Telekommunikationstechnologien (IKT), zu denen telemedizinische Verfahren gehören, können dazu beitragen, zielgerichtete Versorgungsangebote zu entwickeln und zu implementieren. Erfahrungen aus Projekten und internationalen Studien konnten bereits vielfältige positive Effekte nachweisen, worauf in den nachfolgenden Abschnitten noch eingegangen wird. Die Notwendigkeit einer Nutzung telemedizinischer Anwendungen wird vor allem dann deutlich, wenn die intensivmedizinischen Abteilungen vieler Kliniken betrachtet werden. Der personellen Ausstattung kommt bei der Behandlungsqualität eine große Bedeutung zu, sie ist von den intensivmedizinischen Fachgesellschaften als wesentlicher Qualitätsindikator für die Versorgungsqualität identifiziert worden. Die ständige Präsenz einer/s erfahrenen Intensivmedizinerin/Intensivmediziners im Rahmen einer 24-stündigen Bereitschaft hat nach Studienergebnissen einen positiven Einfluss auf die medizinischen Ergebnisse (vgl. DIVI 2010, S. 6 f.). Eine Klinik darf eine intensivmedizinische Komplexbehandlung nur dann abrechnen, wenn ein/e Intensivmediziner/in ständigen Bereitschaftsdienst auf der Station hat (vgl. Berner 2013). In den USA wird die Zahl der jährlich vermeidbaren Todesfälle auf Intensivstationen durch mangelnde intensivmedizinische Präsenz mit knapp 55.000 Patienten/innen angegeben (vgl. Lwin 2008, S. 6). Andersherum kann die Anwesenheit intensivmedizinisch ausgebildeter Fachärzte/innen das Risiko für Intensivpatienten/innen zu sterben, um 40 % reduzieren (vgl. The Leapfrog Group 2015). Insbesondere in kleineren Krankenhäusern sowie außerhalb der werktäglichen Schichten sind die geforderten Anforderungen im realen Klinikalltag jedoch eher schwerlich umzusetzen. Durch eine telemedizinische Mitbehandlung, die z. B. in Form von Telekonsilen zwischen spezialisierten Zentren und kleineren Häusern stattfindet, wird es möglich, den personellen Standard einzuhalten und Intensivpatienten/innen eine zusätzliche Qualität und Sicherheit anzubieten (vgl. Krüger-Brand 2015). Vor diesem Hintergrund soll es in den nachfolgenden Abschnitten darum gehen, zunächst das teleintensivmedizinische Szenario zu beschreiben und die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implementierung zu benennen. Hierauf folgt eine Darstellung des Projektes „Telematik in der Intensivmedizin“ (TIM) des Universitätsklinikums Aachen. Im Anschluss daran werden Nutzen und Risiken der Tele-Intensivmedizin beleuchtet, worauf noch eine Betrachtung der Voraussetzungen für eine flächendeckende und Nutzen stiftende Anwendung der Tele-Intensivmedizin folgt. Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 461 2 Tele-Intensivmedizin in der Praxis 2.1 Wie sieht das Szenario aus? Tele-Intensivmedizin bezeichnet den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in der Intensivmedizin, um unabhängig von Ortsgrenzen (und gegebenenfalls auch Zeitgrenzen) medizinische Daten und Bilder zu übertragen. Dies geschieht häufig in Form von Telekonsultationen, bei welchen sich Mediziner/in/innen verschiedener stationärer Einrichtungen über räumliche Distanzen hinweg mithilfe von Videokonferenzsystemen austauschen können. Ziel ist es, hoch spezialisierte intensivmedizinische Expertise in die Fläche zu bringen. Die Tele-Intensivmedizin ist somit den „doc2doc“Anwendungen zuzuordnen. Die Abb. 1 verdeutlicht das Versorgungsszenario: Im dargestellten Modell findet eine regelmäßige Videoübertragung bzw. ein Livestream zwischen dem tele-intensivmedizinischen Zentrum (z. B. der Universitätsklinik) und regionalen Krankenhäusern in der Umgebung statt. Dies kann täglich zu festgelegten Zeiten oder auch bedarfsgerecht erfolgen. In diesem Rahmen kann eine gemeinsame Visite stattfinden oder das Telemedizinzentrum und die peripheren Krankenhäuser tauschen sich in Bild und Ton bezüglich der weiteren Behandlung aus, z. B. wenn es sich um einen besonders komplexen medizinischen Fall handelt. Während der Televisiten werden die aktuellen Entwicklungen und der momentane Gesundheitszustand der Patienten/innen besprochen, beispielsweise unklare Befunde, notwendige Modifikationen der Medikation oder mögliche Überweisungen in ein spezialisiertes Zentrum. Die teilnehmenden Mediziner/innen haben dabei die Möglichkeit, auf dem Bildschirm in hochauflösender Qualität sowohl die/den Patientin/Patienten, die/den Ärztin/Arzt des anderen Krankenhauses als auch den Monitor mit Verlaufskurven zu sehen, um sich so ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand der Person zu machen. Tele-Intensivmedizinisches Zentrum EFA PMDS Abb. 1  Szenario der Tele-Intensivmedizin Ärzte/-innen in peripheren Kliniken 462 V. Strotbaum Alle beteiligten Projektpartner bzw. Häuser haben innerhalb des Netzwerkes die Möglichkeit, auf eine gemeinsame elektronische Fallakte (EFA) bzw. ein gemeinsames Patientendatenmanagementsystem (PMDS) zuzugreifen, um einen kontinuierlichen Daten- und Kommunikationsaustausch zu gewährleisten. Möglich ist auch, dass das Szenario um Telemonitoring ergänzt wird, sodass kontinuierlich intensivmedizinisch bedeutsame Vitalparameter (Blutdruck, Temperatur, etc.) der Patienten/innen übertragen werden. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass telemedizinische Anwendungen nicht die Behandler vor Ort ersetzen sollen, sondern nur deren Unterstützung dienen (vgl. KrügerBrand 2015 sowie Forschungszentrum Jülich 2014, S. 74). Damit ein solches Modell im Klinikalltag funktioniert, sind die notwendigen Voraussetzungen technischer und organisatorischer Art zu schaffen. Zu den Voraussetzungen technischer Art zählt die Bereithaltung von in Bild und Ton hochwertigen Videokonferenzsystemen, die sowohl in einer festen Einheit in dem Telemedizinzentrum als auch als mobile Einheit (Tele-ICU-Mobile) in den peripheren Krankenhäusern verfügbar sind. So können diese zielgerichtet am Patientenbett genutzt werden. Es gibt verschiedene Anbieter (telemedizinischer) Videokonferenzsysteme, sodass vor dem Hintergrund der individuellen Bedürfnisse des Klinikums und der vorhandenen Ressourcen auszuwählen ist. Die Systeme müssen den gesetzlichen und medizinischen Anforderungen des intensivmedizinischen Klinikalltags genügen, beispielsweise müssen sie leicht zu desinfizieren sein. Die verwendeten Systeme sollten standardkonform sein und eine Integration der EFA oder von PMDS-Systemen ermöglichen. Weiterhin kommt der Datensicherheit und dem Datenschutz eine tragende Rolle zu. Es muss für eine sichere Datenübertragung, z. B. über VPN (Virtual Private Network), gesorgt werden. Zudem sollen nur berechtigte Nutzer/innen Zugang zum System über eine entsprechende Nutzerauthentifizierung finden. Neben diesen technischen Voraussetzungen müssen ebenso die organisatorischen Voraussetzungen stimmen. Telemedizin bedeutet nicht einfach nur die Implementierung von Technik, sondern auch die Initialisierung neuer Prozesse und organisatorischer Maßnahmen. Das Personal vor Ort muss im Umgang mit der Technik geschult werden und einen festen Ansprechpartner bei Problemen haben. Es muss eine Führungspersönlichkeit geben, die tele-intensivmedizinische Anwendungen im Team initiiert und vorantreibt sowie zusammen mit dem Team die Erfahrungen mit der Fachwelt bzw. interessierten Öffentlichkeit teilt, um mögliche Vorbehalte abzubauen. Zudem ist sicherzustellen, dass das telemedizinische Zentrum die notwendigen personellen Voraussetzungen sicherstellen kann, das heißt die Verfügbarkeit einer/s intensivmedizinischen Spezialistin/-en über 24h/7d. Auch bei krankheitsbedingten Ausfällen müssen die personellen Ressourcen vorhanden sein. Das setzt ein investitionsbereites und innovationsfreundliches Management des Krankenhauses voraus. Dies bedingt auch die Bereitstellung der finanziellen Mittel und gegebenenfalls zu Beginn die Nutzung von Fördertöpfen (beispielsweise der EU), da sowohl die erstmalige Investition als auch der laufende Betrieb Kosten verursachen. Die frühzeitige Integration von Kooperationspartnern, insbesondere den Kostenträgern bzw. Krankenkassen, ist für eine Verstetigung unverzichtbar. Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 463 2.2 Das Projekt „TIM“ am Universitätsklinikum Aachen Das Universitätsklinikum Aachen nimmt mit seinem Projekt „Telematik in der Intensivmedizin“ (TIM) sicherlich eine Vorreiterrolle in Deutschland bezüglich der TeleIntensivmedizin ein. Ausgehend von positiven Erfahrungen in anderen Ländern, wie beispielsweise den USA, wurden im Rahmen des Projektes die Machbarkeit, die Akzeptanz und der Nutzen tele-intensivmedizinischer Anwendungen in einem deutschen Versorgungssetting überprüft. Getestet wurde, ob sich die lokale intensivmedizinische Versorgung der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen durch regelmäßige telemedizinische Visiten verbessern lässt. Es handelte sich um ein Gemeinschaftsprojekt der Klinik für Intensivmedizin und Intermediate Care des Universitätsklinikums Aachen, des Franziskushospitals Aachen und des St. Elisabeth Krankenhauses Jülich sowie weiterer (technischer) Kooperationspartner. Das im Projekt aufgebaute Versorgungsszenario verbindet die peripheren Kliniken über ein Netzwerk, das durch die FallaktePlus aufgebaut ist, mit dem Tele-ICU-Center Aachen. Kleineren Krankenhäusern wird ermöglicht, sich zügig mit anderen Intensivmedizinern/ innen in Verbindung zu setzen. Darüber hinaus soll es möglich sein, das Wissen der ärztlichen Mitarbeiter/innen auch außerhalb der Dienstzeit zu nutzen. Wenn Ärzte/innen beispielsweise aufgrund ihrer familiären Situation in Teilzeit beschäftigt sind, kann deren Wissen auch dann genutzt werden, wenn sie gerade nicht im Dienst sind (vgl. Uniklinik RWTH Aachen 2015). Das Projekt wurde im Rahmen des Förderwettbewerbs „IuK Gender Med. NRW“ mit Fördermitteln des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes NRW (MGEPA) initiiert und lief über insgesamt drei Jahre von 2012 bis Mitte 2015. Zentraler Bestandteil des Projektes war die Entwicklung einer telemedizinischen Plattform unter Nutzung der Basisinfrastruktur der EFA. Die Plattform soll der Übertragung audiovisueller Daten dienen und damit Telekonsultationen bzw. die Herstellung von Videokonferenzen ermöglichen. Die telemedizinischen Möglichkeiten wurden dabei rege genutzt. So gab es beispielsweise im Jahre 2014 insgesamt 2423 Televisiten, zudem wurden 437 diagnostische und 680 therapeutische Empfehlungen ausgesprochen (vgl. Uniklinik RWTH Aachen 2015). Die Kooperation soll nun nach und nach auf weitere geeignete Krankenhäuser ausgedehnt werden. Zudem wird die Entwicklung eines finanziell tragfähigen Betriebskonzeptes angestrebt, damit das Modell in die Regelversorgung übergeht. TIM wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Karl Storz Telemedizinpreis 2014 und als „Bestes digitales Projekt in Deutschland im Bereich Gesundheit“ von der „Initiative Intelligente Vernetzung“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (vgl. Uniklinik RWTH Aachen 2015). 3 Welche Vorteile und welche Risiken gibt es? Chancen und Vorteile Wird eine innovative telemedizinische Anwendung gestartet, so muss diese beweisen, dass die Investitionen in diese gerechtfertigt sind und sie für das Gesundheitswesen 464 V. Strotbaum und dabei insbesondere für die Patienten/-innen Nutzen stiftend ist. Im Falle der TeleIntensivmedizin hat es vor allem in den USA bereits erfolgreiche Pilotprojekte und vielversprechende Studien gegeben. Diese weisen positive Nutzenparameter sowohl für die Intensivstationen kleinerer Krankenhäuser als auch für Häuser mit mehr als zehn intensivmedizinischen Betten nach. Positive Effekte zeigten sich vor allem in Hinblick auf die Mortalität und auf die Verweildauer („Lenght of stay: LOS“) auf der Intensivstation und im Krankenhaus. In eine hochpublizierte Studie von Lilly et al. (2014, S. 502 f.) wurden 118.990 Patienten/innen aus 56 Intensivstationen in 32 Krankenhäusern in den USA eingeschlossen. In einem Vorher-nachher-Vergleich zeigte sich, dass nach Einführung tele-intensivmedizinscher Maßnahmen zum einen die Mortalität sank. Zum anderen reduzierte sich die Liegedauer sowohl Im Krankenhaus als auch auf der Intensivstation. Abb. 2 verdeutlicht dies: In einer anderen Studie mit knapp 6300 Patienten/innen konnten die Autoren zeigen, dass die Leitlinienadhärenz zur Verhinderung von Sepsis und Lungenentzündungen (Pneumonien) nach Nutzung der Telemedizin gesteigert werden konnte (vgl. Lilly et al. 2011, S. 2179). Dies zeigt Abb. 3: Es wird von einer Sepsis gesprochen, wenn die Erreger oder von ihnen produzierte Gifte bei einer Infektionskrankheit den ursprünglichen Entzündungsherd verlassen und sich über das Blut im Organismus ausbreiten. Dadurch entwickelt sich im gesamten Körper eine heftige Reaktion, die außer Kontrolle gerät. Folge kann ein septischer Schock sein, bei dem das Kreislaufsystem, die Blutgerinnung und die Organe versagen. Am häufigsten lösen Bakterien eine Sepsis aus, seltener auch Pilze oder Parasiten (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015). 0 -0.5 ≥7 Tage ICU ≥14 Tage ICU -0.5 -1 -1.5 ≥ 30 Tage ICU -1 -1.1 -2 -2.5 ICU Tage -2.5 Krankenhaus Tage -3 -3.5 -3.6 -4 -4.5 -4.5 -5 Abb. 2  Reduktion der Liegedauer durch Tele-Intensivmedizin. (Vgl. Lilly et al. 2014, S. 503) Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 14% 465 13% 12% 10% 8% Ohne Telemedizin 6% Tele-intensivmedizin 4% 2% 0% 1.60% Pneumonie 1% 0.60% Sepsis Abb. 3  Auftreten von Pneumonie und Sepsis mit und ohne Telemedizin In der genannten Studie konnte ferner gezeigt werden, dass die Sterblichkeit auf den Intensivstationen von 10,7 % auf 8,6 % und die Sterblichkeit im Krankenhaus von 13,6 % auf 11,8 % gesenkt werden konnte (vgl. Lilly et al. 2011, S. 2179). Ein weiteres wichtiges Ergebnis betrifft die langfristige Lebensqualität der Patienten/innen, welche durch Tele-Intensivmedizin langfristig verbessert werden kann. Es konnten acht Prozent mehr Patienten/innen nach Hause entlassen werden und mussten nach überlebter kritischer Krankheit nicht in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht werden (vgl. Lilly et al. 2011, S. 2181). Zurückzuführen sind diese Effekte dabei vor allem auf die zeitnahe Diagnose von Komplikationen durch intensivmedizinische Spezialisten/innen sowie die Detektion sich verschlechternder Vitalparameter. Durch die unmittelbare Kommunikation mit intensivmedizinischen Spezialisten/innen in Bild und Ton werden – gemäß dem Prinzip, das vier Augen mehr als zwei sehen – mögliche Warnzeichen früher erkannt und die Expertise der behandelnden Mediziner/innen durch den kontinuierlichen Austausch gestärkt sowie Lernerfahrungen ausgebaut. Die Videokonferenz bietet dabei einen Zusatznutzen gegenüber dem schon vorher üblichen telefonischen Austausch zwischen intensivmedizinischen Experten/innen und dadurch die Möglichkeit, zügiger eine zielgerichtete Therapie einleiten zu können. Zusätzlich zu den telemedizinischen Anwendungen bietet sich die Option einer Optimierung der klinischen Prozesse mit dem Ziel, die Leitlinienadhärenz bei der Behandlung intensivmedizinischer Krankheitsbilder zu erhöhen. Beim TIM-Projekt, wie auch bei anderen telemedizinischen Vorhaben, haben sich sogenannte „Bundles“, also definierte fachspezifische Maßnahmenbündel, als effektiv erwiesen, um die Behandlung zu verbessern. Die Leitlinienadhärenz ist dabei auch immer eine Frage der personellen Ressourcen. Die zusätzlich zur Verfügung stehenden personellen Möglichkeiten durch die Integration eines Intensivmediziners via Televisite helfen dabei, die leitliniengerechte Behandlung zu stärken. 466 V. Strotbaum Am Beispiel der individuell wie gesundheitsökonomisch bedeutsamen Sepsis (Blutvergiftung) kann dies erläutert werden. Schätzungen gehen von einer jährlichen Anzahl von 79.000 neu diagnostizierten Sepsis-Fällen aus, bei der schweren Sepsis von 75.000 Fällen. Die Krankenhaussterblichkeit bei der schweren Sepsis liegt bei über 55 % (vgl. Engel et al. 2007, S. 613). Für die Behandlung auf der Intensivstation werden jährliche Kosten von ca. 1,7 Mrd. EUR veranschlagt, die indirekten Kosten (z. B. durch Arbeitsausfälle oder Frühverrentung) noch nicht mit eingerechnet (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015). Bei Personen mit geschwächtem Immunsystem, beispielsweise bei chronisch Kranken, Hochbetagten, frisch Operierten sowie Intensivpatienten/innen, ist die Entwicklung einer Sepsis eine ernst zu nehmende Bedrohung. Eine Sepsis ist nicht selten als Begleiterkrankung beispielsweise bei Lungenentzündungen oder Harnwegsinfekten vorzufinden. Da die Symptome zunächst nicht eindeutig sind, ist die Diagnose komplex und eine Herausforderung für das medizinische Personal, obwohl einer frühzeitigen Behandlung eine entscheidende Bedeutung zukommt. Sie hat maßgeblichen Einfluss auf die Überlebenschancen der Betroffenen. Je früher eine Sepsis umfassend therapiert wird, desto größer sind die Chancen auf einen milderen Krankheitsverlauf. Das gesamte Programm der Intensivmedizin (Anlegen von Blutkulturen, rasche Antibiotikatherapie, Kreislaufstabilisierung, Sicherung bzw. Ersatz von Organfunktionen sowie, falls möglich, die operative Entfernung des Entzündungsherdes) muss in kurzer Zeit schnell und effektiv durchgeführt werden (vgl. Borchard-Tuch 2012 sowie Dellinger et al. 2013). Mithilfe eines geeigneten telemedizinischen Ansatzes in der Intensivmedizin eröffnen sich verbesserte Therapieoptionen für die Erkrankten. Durch Sicherstellung einer telemedizinisch unterstützten, leitliniengerechten Intensivtherapie können sowohl im ländlichen Raum, wie auch zu Zeiten kritischer Personalausstattung, tendenziell Todesfälle vermieden werden. Aufgrund der schnelleren Genesung der Patienten/innen besteht die Option, Kosten für die intensivmedizinische Betreuung deutlich zu reduzieren, die Überlebenswahrscheinlichkeit und nicht zuletzt die Lebensqualität der Betroffenen zu erhöhen. Patienten/-innen in peripheren Krankenhäusern können bei therapeutischer Notwendigkeit früher in ein spezialisiertes Zentrum verlegt werden, ebenso sind Rückverlegungen dieser Patienten/innen nach überstandener Akutphase durch die telemedizinische Kooperation bei gleichbleibender Behandlungsqualität früher möglich. Dadurch werden intensivmedizinische Zentren bei Erhalt der Autonomie der Kooperationskrankenhäuser entlastet. Die Patientenzufriedenheit wird durch die Kombination wohnortnaher intensivmedizinischer Versorgung mit dem 24-stündigen Angebot einer Zweitmeinung aus einem universitären Zentrum gesteigert. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass durch den Einsatz von Tele-Intensivmedizin eine Reihe von Vorteilen erzielt werden kann: • • • • Reduktion der Mortalität Reduktion der Morbidität Geringere Verweildauer Verbesserter interdisziplinärer Austausch Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 467 • Kosteneinsparungen • Verbesserung der Lebensqualität nach Verlassen der Intensivstation (vgl. Marx und Beckers 2014, S. 28). Risiken und Nachteile Bei einer Auseinandersetzung mit tele-intensivmedizinischen Versorgungskonzepten müssen, trotz aller vorhandenen Nutzenparameter für Erkrankte und Gesundheitseinrichtungen, auch potenzielle Risiken beachtet werden. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass telemedizinische Leistungen insgesamt nur mit geringen Risiken verbunden sind, wenngleich sie nicht komplett risikolos sind. Ein tendenzielles Risiko stellen z. B. technische Teil- oder Komplettausfälle dar. Diese beeinträchtigen eine wirkungsvolle Telekonsultation. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass es sich bei der telemedizinischen Visite auf der Intensivstation um eine Zusatzleistung handelt und bei technischen Ausfällen die Versorgung auf der jeweiligen Intensivstation in keiner Weise beeinträchtigt wird. Es findet also keine Verschlechterung gegenüber dem Istzustand statt, nur die zusätzliche Qualität durch Telemedizin kann nicht bzw. nur in eingeschränkter Form erreicht werden. Die Einbindung einer externen Spezialistin oder eines externen Spezialisten zusätzlich zum täglichen Routinebetrieb auf der Intensivstation geht mit keinem höheren Risiko einher. Anders sähe es aus, wenn die intensivmedizinischen Spezialisten/ innen vor Ort, beispielsweise aufgrund ökonomischer Überlegungen, durch eine/n ausschließlich telemedizinisch eingebundene/n Ärztin/Arzt ersetzt werden soll und die/der Erkrankte keinen persönlichen Kontakt mehr zu einer Fachärztin oder einem Facharzt für Intensivmedizin hätte. In diesem Zusammenhang wird mitunter auch befürchtet, dass einer Distanzmedizin der Weg geebnet wird und Telemedizin Auswirkungen auf das medizinpsychologische Feld der Arzt-Patientenbeziehung hat, da ein technisches Medium zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient tritt (vgl. Schmidt und Koch 2003, S. 2 f.). Zu beachten ist jedoch, dass die Konstellation der telemedizinischen Ersetzung einer Ärztin/eines Arztes in bisherigen Projekten nicht stattgefunden hat und auch im Regelbetrieb nicht vorgesehen ist. Ein reales Risiko stellt auf jeden Fall fehlende IT-Sicherheit dar. Gerade im sensiblen Bereich der medizinischen Daten ist auf höchste IT-Sicherheitsstandards und umfangreiche Schutzmaßnahmen zu achten. Maßnahmen der IT-Sicherheit müssen sicherstellen, dass etwaige Bedrohungen und Schwachstellen (beispielsweise Missbrauch persönlicher Daten) der verwendeten Informationstechnik auf ein möglichst geringes Maß reduziert werden können und die Vertraulichkeit, Integrität und Datensicherheit personenbezogener Daten gewährleistet sind (vgl. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Hrsg. 2013). Daneben sind auch ökonomische Aspekte zu beachten. So bietet die Tele-Intensivmedizin zwar viele (gesundheitsökonomische) Vorteile, bedeutet aber auch Investitionen in gewisser Höhe. Neben den Investitionen in die Technik (z. B. mobile Visitenwagen) kommt es durch die häufigeren Visiten zu einem erhöhten Personaleinsatz und zu einer höheren personellen Ressourceneinbindung. 468 V. Strotbaum Insgesamt jedoch bietet die Tele-Intensivmedizin viele Chancen für die Sicherstellung einer erhöhten Behandlungsqualität auf Intensivstationen und für die Reduktion von Kosten für das Gesundheitswesen, insbesondere durch die frühzeitige Einleitung einer qualifizierten Therapie und die Verringerung vermeidbarer und langfristiger Komplikationen. Die positiven Effekte, die sich in verschiedenen Studien gezeigt haben, weisen auf Verbesserungen der intensivmedizinischen Qualität hin, die verglichen mit anderen Innovationen im intensivmedizinischen Bereich in den letzten Jahren ihresgleichen suchen. 4 Voraussetzungen für eine Nutzen stiftende und flächendeckende Anwendung der Tele-Intensivmedizin Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass telemedizinische Anwendungen in einem klar umrissenen Szenario vielfältige Chancen bieten und dazu beitragen können, die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der intensivmedizinischen Versorgung zu bewältigen. Tele-Intensivmedizin ist dennoch kein Selbstläufer. Um eine breite Diffusion der Tele-Intensivmedizin zu erreichen, müssen die folgenden notwendigen Voraussetzungen beachtet werden. Regionale Versorgungsnetzwerke Die Tele-Intensivmedizin lebt von der Vernetzung vieler Krankenhäuser. Der kontinuierlichen Akquise geeigneter Kliniken kommt eine wichtige Bedeutung zu. Die Vorhaltung einer telemedizinischen Infrastruktur und der zusätzlichen ärztlichen Ressourcen rechnet sich dann, wenn eine gewisse Anzahl an Krankenhäusern in einem Netzwerk zusammengeschlossen ist. Durch die technischen Möglichkeiten muss das nicht unbedingt auf die eigene Region beschränkt bleiben – wenngleich die Stärkung der regionalen Vernetzung und der bereits vormals schon lokal bestehenden Kontakte unter den Kliniken eine wichtige Leitidee bei der Tele-Intensivmedizin in Deutschland ist. Dem Aachener Vorbild werden sicherlich weitere Universitätskliniken mit tele-intensivmedizinischen Projekten folgen, wie im September 2015 das Universitätsklinikum Würzburg (vgl. Universitätsklinikum Würzburg 2015). Individuelle Anpassungen, die sich am konkreten Bedarf vor Ort orientieren, können notwendig werden, z. B. in Hinblick auf die technischen Systeme oder organisatorische Strukturen. In diesem Zusammenhang muss bedacht werden, dass (periphere) Häuser bestimmte Merkmale aufweisen müssen, um in einem möglichen Regelbetrieb Leistungen mit den Kostenträgern abrechnen zu können. Dies betrifft eine Mindestanzahl intensivmedizinischer Betten, die Vorhaltung einer tele-intensivmedizinischen Infrastruktur (mobiler Visitenwagen, etc.), die Verpflichtung zu einer leitliniengerechten Behandlung und die Teilnahme an Schulungsmaßnahmen. Wichtig im Rahmen des Netzwerkgedankens ist die Einrichtung qualitätssichernder Maßnahmen bzw. die Einrichtung eines Qualitätsnetzwerkes, da telemedizinische Maßnahmen ja explizit eine zusätzliche Qualität generieren sollen. Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 469 Datenschutz Datenschutzrechtliche Aspekte sind, beispielsweise hinsichtlich eines Einsatzes der mobilen Videokonferenzsysteme, von großer Bedeutung. Eine kontinuierliche Analyse von Bedrohungen und ein umfassendes Risikomanagement in allen teilnehmenden Kliniken sind sicherlich wichtige Bedingungen für eine weitere Verbreitung tele-intensivmedizinischer Leistungen. Datenschutzrechtliche Diskussionen sind jedoch mitunter interessengeleitet und datenschutzrechtliche Bedenken sollten nicht einen solchen Umfang einnehmen, dass Nutzen stiftende Anwendungen keine Chance auf eine breite Diffusion haben. Wie bei medizinischen Maßnahmen auch, sind im Sinne einer Wertediskussion stets Nutzen und Risiko gegeneinander abzuwägen. Es gilt, dass je höher der medizinische Nutzen für die Patienten/innen ist, desto eher sind gewisse datenschutzrechtliche Risiken akzeptabel. Zu betonen ist an dieser Stelle auch, dass heutzutage effektive Verschlüsselungstechnologien für ein hohes Maß an Datenschutz zur Verfügung stehen. Evaluation von Kosten und Nutzen Bedingung für eine nachhaltige Etablierung sind ebenso die Durchführung von Evaluationen und die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. Die teilnehmenden Kliniken müssen ihre Tätigkeiten in Hinblick auf Prozess, Struktur und vor allem Ergebnisse analysieren, um Stärken und Schwächen sowie Verbesserungspotenziale aufzeigen zu können. Es handelt sich bei der Tele-Intensivmedizin um ein recht komplexes Verfahren, bei welchem die einzelnen Aspekte nur schwerlich voneinander getrennt betrachtet werden können. Vor diesem Hintergrund wird ein individuelles methodisches Verfahren benötigt, welches die Outcome-Größen, die Wahl der Vergleichsgruppe, etc. festlegt. Für die Outcome-Größen sind einerseits intensivmedizinische Zielparameter wichtig. Dazu gehören die Zielgrößen Mortalität und insbesondere die Adhärenz zu den Leitlinien, beispielsweise in der Sepsisbehandlung. Anderseits sind (gesundheits-)ökonomische Größen zu bedenken, wozu beispielsweise die Liegedauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus insgesamt gehört. Bezüglich der Leitlinienadhärenz bei der Behandlung der Sepsis sind erste Evaluationsergebnisse des TIM-Projektes ermutigend, zeigen sie doch eine verbesserte Behandlung in den zeitkritischen Intervallen der ersten drei und der ersten sechs Stunden nach Diagnosestellung. Weiterhin sollten regelmäßig die medizinischen und pflegerischen Fachkräfte und insbesondere die Patienten/innen sowie gegebenenfalls ihre Angehörigen nach der Zufriedenheit und Akzeptanz befragt werden. Die Akzeptanz der technischen und organisatorischen Innovation ist nicht zu unterschätzen bei der weiteren Adaption und als integraler Bestandteil einer umfassenden Evaluation zu sehen. Erste Erfahrungen des TIM-Projektes sind hier vielversprechend, nahezu 90 % der Befragten stimmen zu, dass eine zusätzliche Televisite die Behandlung verbessert, und über 90 % der in dem Projekt 470 V. Strotbaum befragten Patienten/innen stimmen überein, dass ihr „Heimatkrankenhaus“ weiterhin Telemedizin anbieten soll (vgl. Uniklinik RWTH Aachen 2015). Eine weitere entscheidende Aufgabe in Zukunft wird die Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung und die Gestaltung eines tragfähigen Geschäftsmodells sein. Eine Finanzierungszusage durch die Krankenkassen bzw. die Generierung einer Komplexziffer kann sicherlich als von grundsätzlicher Bedeutung angesehen werden. So ist an ein Zusatzentgelt zu denken, bei der die teilnehmenden peripheren Kliniken einen festgelegten Beitrag zusätzlich zur sonstigen intensivmedizinischen Behandlung einlösen können und das Telemedizin-Zentrum dann wiederum seine Leistungen beim peripheren Klinikum in Rechnung stellt. Vorbild kann hier die OPS-Ziffer für teleneurologische Behandlungen bei Schlaganfällen sein.1 Ferner ist eine Unterstützung durch die Politik mit der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen unabdingbar. Dazu gehört u. a. auch die Versorgung ländlicher Regionen mit einer sicheren und schnellen Internetverbindung, was selbstverständlich auch für andere wegweisende telemedizinische Vorhaben von Nöten ist. Wenn die Voraussetzungen stimmen, können tele-intensivmedizinische Verfahren eine wirkliche Unterstützung darstellen und sich flächendeckend verbreiten. Den Zeitraum für die Etablierung in der Fläche auf fünf bis zehn Jahre zu schätzen, ist sicherlich nicht unrealistisch, wenngleich Prognosen gerade in einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen stets schwierig sind. In Bezug auf ökonomische Aspekte gilt es zu bedenken, dass telemedizinisch gestützte Versorgungssettings stets langfristig angelegte Vorhaben sind, bei welchen die Kosten heute entstehen, die Einsparungen aber erst in Zukunft sichtbar werden – gerade bei komplexen Krankheitsbildern wie der Sepsis – und dies auch für die einzelnen Akteure im Gesundheitswesen (Kostenträger, Krankenhäuser, Patienten/innen, Steuerzahler, etc.) in jeweils unterschiedlicher Höhe. Ökonomische Analysen von zeitlich begrenzten und eher kurzfristigen Projekten machen nur bedingt Sinn bzw. sind mit Vorsicht zu betrachten, da die anfallenden Kosten pro Patient mitunter überschätzt werden. Nichtsdestotrotz sind ökonomische Analysen ein wichtiger Schritt hin auf dem Weg zu einem wirtschaftlich tragfähigen Telemedizin-Netzwerk. Diese müssen auch erforschen, in welchen Regionen bzw. unter welchen Voraussetzungen Tele-Intensivmedizin insbesondere Nutzen stiftend und wirtschaftlich ist, beispielsweise in demografisch bzw. strukturell problematischen Regionen. Arzt-Patienten-Verhältnis Ferner sind Forschungen zum Einfluss telemedizinischer Verfahren auf die Arzt-Patienten-Beziehung, die bisher eher rar sind, ein wichtiger Bestandteil der weiteren Implementierung innovativer Verfahren. Je nach eingesetzter Technik und Anwendungsgebiet 1OPS 8-98b.01: Andere neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls, mit Anwendung des Telekonsils. Die intensivmedizinischen Herausforderungen der Zukunft … 471 sowie anvisierter Patientengruppe können telemedizinische Leistungen die Art und Qualität des Arzt-Patienten-Verhältnisses beeinträchtigen oder fördern (vgl. Schmidt und Koch 2003, S. 3). Die hohe Akzeptanz der befragten Patienten/innen im Rahmen des TIM-Projektes zeigt jedoch, dass Telemedizin von der Mehrheit nicht als Störfaktor erlebt wird, sondern vielmehr mit einem erhöhten Sicherheitsgefühl einhergeht. Bezüglich der bisherigen und geplanten Gestaltung der Tele-Intensivmedizin in Deutschland ist festzuhalten, dass die ärztliche Versorgung für Patienten/innen gefördert wird. Die Verfügbarkeit von medizinischem Expertenwissen für medizinische Fachkräfte und Patienten unabhängig von Zeit und Raum zusätzlich zur persönlichen Therapie ist der entscheidende Vorteil tele-intensivmedizinischer Anwendungen. Unabhängig davon gilt aber, dass Technologie nie dazu missbraucht werden darf, medizinisches Personal vor Ort zu ersetzen und bestimmten Patientengruppen persönliche Arztkontakte vorzuenthalten und damit eine Medizin der Distanz zu fördern. Telemedizin ist ein Mittel der Rationalisierung, nicht der Rationierung. Literatur Berner B (2013) Abrechnung intensivmedizinischer Komplexbehandlungen. http://www.aerzteblatt. de/archiv/152480/Abrechnung-intensivmedizinischer-Komplexbehandlungen. Zugegriffen: 29. Mai 2015 Biermann J, Neumann A et al (2010) Einfluss der demographischen Entwicklung auf die stationären Fallzahlen und Kosten deutscher Krankenhäuser. Med Klin 2010(105):876–881 Borchard-Tuch C (2012) Sepsis – Gefährliches Gefecht im Körper. Pharmazeutische Zeitung, 4. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/?id=40662. Zugegriffen: 2. Aug. 2015 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (Hrsg) (2013) Glossar und Begriffsdefinitionen. https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/ITGrundschutz/ITGrundschutzKataloge/Inhalt/Glossar/glossar_node.html. Zugegriffen: 31. Juli 2015 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2015) Sepsis fordert viel mehr Todesopfer als gedacht. http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/774.php. Zugegriffen: 27. Mai 2015 Dellinger PR, Levy MM et al (2013) Surviving Sepsis Campaign: Internationale Leitlinien zur Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks: 2012. Crit Care Med 41(2):580–637 Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (Hrsg) (2010) Empfehlungen zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen – Hintergrundtext. DIVI, Hamburg Deutsches Ärzteblatt (Hrsg) (2013) OECD warnt vor hohen Fallzahlen und Auswirkungen des demographischen Wandels. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/56659/OECD-warnt-vorhohen-Fallzahlen-und-Auswirkungen-des-demografischen-Wandels. Zugegriffen: 1. Juni 2015 Engel C, Brunkhorst FM, Bone H-G et al (2007) Epidemiology of sepsis in Germany: results from a national prospective multicenter study. Intensive Care Med 33:606–618 Forschungszentrum Jülich GmbH, Projektträger ETN (Hrsg) (2014) Best Practice Gesundheit. NRW Projektinformationen 2014. Forschungszentrum Jülich GmbH, Jülich Krüger-Brand H (2015) Intensivmedizin: Mit Televisiten Sepsis verhindern. Dtsch Arztebl 112(10). http://www.aerzteblatt.de/archiv/168523/Intensivmedizin-Mit-Televisiten-Sepsis-verhindern. Zugegriffen: 4. Aug. 2015 472 V. Strotbaum Lilly C, Cody S, Zhao H et al (2011) Hospital mortality, length of stay, and preventable complications among critically ill patients before and after tele-ICU reengineering of critical care processes. JAMA 305(21):2175–2183 Lilly C, McLaughlin JM, Zhao H et al (2014) A multicenter study of ICU telemedicine reeingineering of adult critical care. CHEST 145(3):500–507 Lwin AK, Shepard DS (2008) Estimating lives and dollars saved from universal adoption of the Leapfrog safety and quality standards: 2008 update. The Leapfrog group, Washington, DC Marx G, Beckers R (2014) Tele-intensive care medicine: high potential of enhancing healthcare outcomes. ICU 13(4) (Winter 2013/2014 – Management) Schmidt S, Koch U (2003) Telemedizin aus medizinpsychologischer Perspektive – Der Einfluss von Telematikanwendungen auf die Arzt-Patientenbeziehung. Z Med Psychol 12(2003):1–13 The Leapfrog Group (Hrsg) (2015) The Leapfrog Group Fact Sheet. http://www.leapfroggroup. org/about_leapfrog/leapfrog-factsheet. Zugegriffen: 16. Nov. 2015 Uniklinik RWTH Aachen (Hrsg) (2015) Tele-Intensivmedizin. http://www.ukaachen.de/klinikeninstitute/telemedizinzentrum-aachen/projekte-und-kompetenzzentren/tele-intensivmedizin.html. Zugegriffen: 1. Juni 2015 Universitätsklinikum Würzburg (Hrsg) (2015) Uniklinikum Würzburg startet Tele-Intensivmedizin-Projekt. http://www.ukw.de/aktuelles/news-detail/article/uniklinikum-wuerzburg-startet-tele-intensivmedizin-projekt.html. Zugegriffen: 3. Nov. 2015 Über die Autorin Veronika Strotbaum  B.A. Gerontologie und M.A. Management im Gesundheitswesen, ist Projektmitarbeiterin E-Health beim ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin in Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Evaluationsmethoden, gesundheitsökonomische Analysen von telemedizinischen Anwendungen, medizinischen Apps und Elektronischer Akten, die Konzeption von Versorgungsmodellen sowie die Durchführung von Seminaren/Schulungen zur Telemedizin. Sie ist Mitglied der GMDS sowie des Ausschusses „E-Health und Gesundheitswirtschaft“ der DGGÖ. Kontakt: v.strotbaum@ztg-nrw.de Teil VII Gesundheitsstandort privater Haushalt Uwe Fachinger Der private Haushalt als Gesundheitsstandort ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus von Wissenschaft und Politik gerückt (s. ausführlich hierzu Fachinger et al. 2014; Troppens 2014; Fachinger 2011; Fachinger und Henke 2010; Henke 2010; Goldschmidt und Hilbert 2009, S. 772 ff.; Heinze et al. 2009). Die Gründe hierfür lassen sich vier Bereichen zuordnen: 1. dem Wunsch der Menschen „in ihren eigenen vier Wänden“ versorgt und möglichst lange leben zu können, 2. der mittlerweile zur Verfügung stehenden Technik, 3. den wirtschaftlichen Potenzialen sowie 4. dem strukturellen Wandel der Bevölkerung. Alle Perspektiven, sei es die individuelle, sei es die technische, die (gesundheits-) ökonomische oder die gesamtgesellschaftliche, sehen den privaten Haushalt im Zentrum. Der private Haushalt als Gesundheitsstandort wird durch unterstützende Technologien sowie Informations- und Kommunikationstechniken (IuK) ermöglicht, die unter Begriffen wie assistierende Technologien, Ambient Assisted Living (AAL) Systeme oder auch altersgerechte Assistenzlösungen bis hin zu Smart Home diskutiert werden und die zur Deckung der Bedarfe des täglichen Lebens dienen sowie zur Erhaltung von Selbständigkeit und Lebensqualität beitragen sollen. Dabei kommt E-Health in der gesundheitlichen und pflegerischen Betreuung eine besondere Bedeutung zu (u. a. Shire und Leimeister 2012), da hierdurch u. a. die Ortsgebundenheit einer Dienstleistung überwunden (s. hierzu beispielhaft den Beitrag von Nobis et al. in diesem Band) bzw. prinzipiell eine effizientere und effektivere Versorgung erreicht werden kann. Im privaten Haushalt können derartige Systeme zudem die Gestaltung des Zusammenlebens erheblich erleichtern, beispielsweise durch die Unterstützung bei der pflegerischen Versorgung durch Angehörige. 474 Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt Auch für die Anbieter im Bereich der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung werden sich durch die kontinuierliche Entwicklung in der Medizintechnik sowie der assistierenden Technologien neue Optionen ergeben, die gegebenenfalls eine Anpassung der spezifischen Geschäftsmodelle erfordern könnten (Fachinger et al. 2015c; Fachinger und Schöpke 2014; Gersch und Liesenfeld 2012; Gersch et al. 2011; Valeri et al. 2010). Dies betrifft neben der Ausgestaltung des Angebots an Waren und Dienstleistungen auch die Angebots- und Organisationsstrukturen – so beispielsweise eine integrierte sektorenübergreifende und evidenzbasierte Versorgung (vgl. Langkafel 2007; Deutscher Bundestag 2005, S. 272 f.). Durch die Kooperation verschiedener Leistungsanbieter können Synergieeffekte mit qualitativ und quantitativ besseren Leistungen bei rationellerem Ressourceneinsatz bewirkt werden. So hätte beispielsweise der Einbezug von Apotheken positive Auswirkungen auf die Arzneimitteltherapiesicherheit der Patienten und würde damit einen elektronischen Medikationsplan unterstützen (für Schmerzmanagement s. beispielhaft Flach 2009). Der elektronische Pflegebericht (Sellemann et al. 2014) oder der elektronische Wundbericht sind weitere Beispiele für eine intersektorale Nutzung von E-Health und AAL-Systemen (Cruel und Hübner 2012; Hübner 2010). Vergleichbares gilt auch für den Bereich Ernährung, da beispielsweise bei Menschen mit steigendem Alter häufig Gewichtsverluste und Mangelernährungszustände auftreten (Nikolaus 2011, S. 313; Volkert 2011, S. 91). Die Nutzung von E-Health und AAL-Systemen ermöglicht eine seit Langem geforderte stärkere Integration der pflegerischen, medizinischen, rehabilitativen, präventiven und psycho-sozialen Versorgung auf regionaler Ebene (s. z. B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2014). Dies setzt allerdings eine entsprechende Vernetzung voraus (vgl. Fachinger et al. 2015a mit zahlreichen Verweisen sowie Fachinger et al. 2015b; Bieger et al. 2011). Die Notwendigkeit der Vernetzung und Kooperation innerhalb und zwischen den Gesundheitsprofessionen ist bekannt (Bundesregierung 2012), wobei hierzu auch die Partizipation pflegebedürftiger Menschen, von deren Angehörigen und Pflegenden sowie der Dienstleistungsanbieter (u. a. ambulante Pflegedienste, Altenpflegeheime, Ärzte, Krankenhäuser und Kommunen) zu zählen ist (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. 2013). Im Ergebnis wäre damit eine effektivere und effizientere gesundheitliche und pflegerische Versorgung möglich (z. B. Koczula et al. 2012). Inwieweit sich der private Haushalt als primärer Gesundheitsstandort ausbildet, ist allerdings ungewiss und hängt von zahlreichen Bedingungen ab, auf die im Folgenden kurz hingewiesen wird. Fokussiert man den Blick auf rechtliche Rahmenbedingungen und hier insbesondere auf die Regelversorgung, können Regelungen wie das berufsrechtliche Fernbehandlungsverbot (§ 7 Abs. 4 der (Muster-)Berufsordnung der Ärzte; MBO-Ä, Bundesärztekammer 2011) oder berufsrechtliche Vorgaben zur Beachtung des „anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse“ (§ 2 Abs. 3 MBO-Ä) die Umsetzung erschweren. Rechtlich problematisch sind auch Haftungsfragen bei der Behandlung von Patienten durch mehrere Ärzte. Andererseits wird durch das „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt 475 im Gesundheitswesen (E-Health-Gesetz)“ versucht, einen Ausbau und eine Verbesserung der telematischen Infrastruktur zu erreichen. Hierdurch könnten sich Strukturen herausbilden, die die in der Vergangenheit häufig bemängelte fehlende Interoperabilität überwinden helfen und die Öffnung für weitere Anwendungen und Leistungsanbieter ermöglichen. So könnten beispielsweise auf die im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung eingesetzten E-HealthSysteme gegebenenfalls weitere technischen Assistenzsysteme und Dienstleistungen aufgesetzt werden (Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V. 2011; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. 2011). Hierbei könnte es sich beispielsweise um ein Ernährungs- und Bewegungsmanagement im Zusammenhang mit einer Behandlung von Adipositas oder Diabetes mellitus handeln. Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen sei für die Herausbildung als zweitem wichtigen Aspekt auf die weitere ökonomische Entwicklung verwiesen. Sofern E-Health-Anwendungen und AAL-Systeme nicht in der gesundheitlichen und pflegerischen Regelversorgung integriert sind, sondern deren Erwerb über den sogenannten Gesundheitsmarkt aus dem Budget der privaten Haushalte heraus erfolgen sollte, kommt der künftigen Entwicklung der Einkommens- und Vermögenssituation privater Haushalte eine entscheidende Bedeutung zu (u. a. Fachinger et al. 2014, S. 155 ff.; Fachinger 2012a mit zahlreichen Verweisen sowie Fachinger 2012b; Heinze et al. 2011). Angesichts des erwerbsstrukturellen Wandels sowie des Umbaus der sozialen Sicherungssysteme ist hier eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Marktpotenziale derartiger Systeme und damit auch hinsichtlich der Herausbildung des privaten Haushalts als zentralem Gesundheitsstandort angebracht. Sofern die infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sind, können der Einsatz von AALSystemen und E-Health prinzipiell zur Verbesserung der Informationen aller Beteiligten und damit zu einem sich selbst verstärkenden Effekt im Hinblick auf die Ausprägung des Gesundheitsstandorts privater Haushalte führen. Hierbei sind die Nachfrager, insbesondere deren (Gesundheits-)Bewusstsein (health literacy), die Intermediäre wie Gesundheits- und Pflegeberater sowie die Anbieter aktiv einzubinden (Fachinger et al. 2015b). So kann durch AAL-Systeme eine Integration von Kunden in betriebliche (Innovations-)Prozesse erfolgen – der Kunde wird zum Ko-Produzenten – und durch entsprechende Informationstransparenz eine verstärkte Personalisierung in der Versorgung erreicht werden. Allerdings setzt dies eine entsprechende (Nutzungs-)Bereitschaft voraus (Fachinger et al. 2012; Künemund et al. 2012). Und dies gilt nicht nur für die privaten Haushalte, sondern auch für die Anbieter, die den privaten Haushalt als Gesundheitsstandort prinzipiell akzeptieren müssen. (vgl. beispielsweise Schultz et al. 2005). Die nachfolgenden Beiträge greifen Aspekte von AAL und E-Health auf und versuchen, das Feld entsprechend zu sondieren. Dies reicht von zwei eher allgemeinen Darstellungen zu AAL über den Versuch, die Entwicklung von Geschäftsmodellen aufzuzeigen, bis hin zur Darstellung des Projektes AAL-Saarland sowie der Darlegung spezifischer Aspekte zu E-Health und AAL. 476 Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt Literatur Bieger T, Zu Knyphausen-Aufseß D, Krys C (Hrsg) (2011) Innovative Geschäftsmodelle. Konzeptionelle Grundlagen, Gestaltungsfelder und unternehmerische Praxis. Springer, Heidelberg u. a. O. Bundesärztekammer (2011) (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – in der Fassung der Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011 in Kiel. Bundesärztekammer, Berlin Bundesregierung (2012) Unterrichtung durch die Bundesregierung. Sondergutachten 2012 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung BundestagsDrucksache 17/10323. Deutscher Bundestag, Berlin Bundesverband Gesundheits-IT - bvitg e.V. (2011) Stellungnahme des bvitg - Bundesverbandes Gesundheits-IT e. V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG). Bundesverband Gesundheits-IT - bvitg e.V., Berlin Cruel E, Hübner U (2012) Auf dem Weg zu einem multiprofessionellen elektronischen Wundbericht in der intersektoralen Versorgung. Wundmanagement 6(6):256–264 Deutscher Bundestag (2005) Unterrichtung durch die Bundesregierung. Gutachten 2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Koordination und Qualität im Gesundheitswesen Bundestags-Drucksache 15/5670. Deutscher Bundestag, Berlin Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2011) Stellungnahme des Deutschen Vereins zum Regierungsentwurf für ein Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (E-VStG). Deutscher Bundestag – Ausschuss für Gesundheit, Berlin Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2013) Pflegesystem den gesellschaftlichen Strukturen anpassen! Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung der Pflege. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Berlin Fachinger U (2011) Die Wohnung als Gesundheitsstandort - ökonomische Aspekte. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2012. Informationstechnologien und Telematik im Gesundheitswesen. medical future, Solingen S.257–260 Fachinger U (2012a) The demand for assisting technologies in nursing and medical care: some comments. Int J Behav Healthc Res 3(2):135–151 Fachinger U (2012b) Wirtschaftskraft Alter – Zur Entwicklung von Vermögen, Einkommen und Ausgaben. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 45(7):610–617 Fachinger U, Helten S, Nobis S, Schöpke B (2015a) Meta-Geschäftsmodelle. Discussion Paper 23/2015. Fachgebiet Ökonomie und Demographischer Wandel, Institut für Gerontologie, Vechta Fachinger U, Helten S, Nobis S, Schöpke B (2015b) Meta-Geschäftsmodelle – eine Möglichkeit zur erfolgreichen Einbindung von assistierenden Techniken in Quartiersnetze. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2016. Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen. medical future, Solingen Fachinger U, Henke K-D (Hrsg) (2010) Der private Haushalt als Gesundheitsstandort. Theoretische und empirische Analysen. Europäische Schriften zu Staat und Wirtschaft, 31. Nomos, Baden-Baden Fachinger U, Henke K-D, Koch H, Schöpke B, Troppens S (2014) Gesund altern: Sicherheit und Wohlbefinden zu Hause. Marktpotenzial und neuartige Geschäftsmodelle altersgerechter Assistenzsysteme. Nomos, Baden-Baden Fachinger U, Künemund H, Neyer F-J (2012) Alter und Technikeinsatz. Zu Unterschieden in der Technikbereitschaft und deren Bedeutung in einer alternden Gesellschaft. In: Hagenah J, Meulemann H (Hrsg) Mediatisierung der Gesellschaft? Lit-Verlag, Münster, S. 239–256 Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt 477 Fachinger U, Nellissen G, Siltmann S (2015c) Neue Umsatzpotentiale für altersgerechte Assistenzsysteme? Ausweitung der Regelversorgung im SGB V. Zeitschrift für Sozialreform 61(1):43–71 Fachinger U, Schöpke B (2014) Business models for sensor-based fall recognition systems. Inform Health Soc Care 39(3/4):305–318 (2014 IHSC Special Issue on Ageing and Technology) Flach J (2009) EDV-gestützte Umsetzung des Expertenstandards „Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten oder tumorbedingten chronischen Schmerzen“. HeilberufeSCIENCE 2(4):117–123 Gersch M, Hewing M, Lindert R (2011) Geschäftsmodelle zur Unterstützung eines selbstbestimmten Lebens in einer alternden Gesellschaft - Communities, industrielle Dienstleister und Orchestratoren als Beispiele neuer Geschäftsmodelle im Bereich E-Health@Home. In: Horneber M, Schoenauer H (Hrsg) Lebensräume – Lebensträume. Innovative Konzepte und Dienstleistungen für besondere Lebenssituationen. Kohlhammer, Stuttgart, S. 159–177 Gersch M, Liesenfeld J (Hrsg) (2012) AAL- und E-Health-Geschäftsmodelle. Technologie und Dienstleistungen im demographischen Wandel und in sich verändernden Wertschöpfungsarchitekturen. Gabler, Wiesbaden Goldschmidt AJW, Hilbert J (Hrsg) (2009) Gesundheitswirtschaft in Deutschland – Die Zukunftsbranche. Beispiele über alle wichtigen Bereiche des Gesundheitswesens in Deutschland zur Gesundheitswirtschaft. Gesundheitswirtschaft und Management, 1. Wikom, Wegscheid Heinze RG, Hilbert J, Paulus W (2009) Der Haushalt – ein Gesundheitsstandort mit Zukunft. In: Goldschmidt AJW, Hilbert J (Hrsg) Gesundheitswirtschaft in Deutschland – Die Zukunftsbranche. Wikom, Wegscheid, S. 772–800 Heinze RG, Naegele G, Schneiders K (Hrsg) (2011) Wirtschaftliche Potenziale des Alters. Grundriss Gerontologie, 11. Kohlhammer Urban-Taschenbücher, Stuttgart Henke K-D (2010) Gesundheitsstandort privater Haushalt. AAL – nützliche Technologie im Dornröschenschlaf? Kostenträger Entscheiderbrief 4:6–7 Hübner U (2010) Pflegeinformatik: Mehrwert für die Versorgung von Patienten. Deutsches Ärzteblatt 107(4):4–6 Koczula G, Schultz C, Gövercin M (2012) Die Rolle von technologiebasierten Assistenzsystemen bei der ganzheitlichen Versorgung pflegebedürftiger Patienten – Herausforderungen einer flächendeckenden Implementierung. In: Shire KA, Leimeister JM (Hrsg) Technologiegestützte Dienstleistungsinnovation in der Gesundheitswirtschaft. Springer Gabler, Wiesbaden, S. 31–55 Künemund H, Tanschus NM, Garlipp A, Neyer FJ, Felber J, Forberg A (2012) Bestimmungsgründe der Nutzerakeptanz. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), AAL Ambient Assisted Living Association, VDI/VDE/IT (Hrsg) Proceedings of the Technik für ein selbstbestimmtes Leben. 5. Deutscher AAL-Kongress mit Ausstellung. 24. – 25. Januar 2012, Berlin. Tagungsbeiträge. Berlin: VDE Verlag Langkafel P (2007) e-Health aus Sicht der Industrie: Integrated Care, Integrated Business, Integrated IT. In: Jähn K et al (Hrsg) e-Health im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Anwendung. Tagungsband 2. Symposium der Arbeitsgruppe e-Health & Health Communication. Akademische Verlagsgesellschaft, Berlin, S. 155–161 Nikolaus T (2011) Ernährung im Alter. Editorial. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 44(5):313–314 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2014) Zusammenfassung des Gutachtens 2014 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Bonn 478 Teil VII  Gesundheitsstandort privater Haushalt Schultz C, Gemünden HG, Salomo S (Hrsg) (2005) Akzeptanz der Telemedizin. Minerva, Darmstadt Sellemann B, Schulte G, Egbert N, Hübner U, Rienhoff O (2014) Erprobung des ePflegeberichts als Proof-of-Concept-System der elektronischen Patientenakte gemäß §291a SGB V in der Region Osnabrück. In: Semler SC et al (Hrsg) TELEMED – Nationales Forum für Gesundheitstelematik und Telemedizin – Jahresbericht. Dokumentation und Archivierung, Haftungsfragen und Patientenrechte in der Gesundheitstelematik und Telemedizin. TELEMED 2014 – Tagungsband. Akademische Verlagsgesellschaft AKA, Berlin, S. 179–186 Shire KA, Leimeister JM (Hrsg) (2012) Technologiegestützte Dienstleistungsinnovation in der Gesundheitswirtschaft. Springer Gabler, Wiesbaden Troppens S (2014) The economic potential of assistive systems – an interdisciplinary and empirical approach. Shaker, Aachen Valeri L, Giesen D, Jansen P, Klokgieters K (2010) Business Models for eHealth. Final Report. Prepared for ICT for Health Unit, DG Information Society and Media. European Commission. RAND Europe, Cambridge Volkert D (2011) Leitlinien und Standards zur Ernährung in der Geriatrie. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 44(2):91–99 Über den Autor Prof. Dr. Uwe Fachinger  ist Inhaber des Lehrstuhls „Ökonomie und demografischer Wandel“ an der Universität Vechta. Seine Forschungsschwerpunkte sind „Grundsatzfragen der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme“ die „Verteilung materieller Ressourcen von privaten Haushalten“, die „Struktur und Entwicklung der Ausgaben privater Haushalte“ sowie „Senior-Entrepreneurship“. Kontakt: Uwe.Fachinger@uni-vechta.de Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! Stefanie Mielitz 1 Einleitung Das Akronym AAL leitet sich ursprünglich vom englischen „Ambient Assisted Living“ ab, dahinter verbergen sich Entwicklungen, Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, die den Menschen durch den Einsatz innovativer Technologien oder systemischer Lösungen ein unabhängiges Wohnen und Leben mit hoher Lebensqualität ermöglichen. Kurzum: es geht um den Einsatz intelligenter Technik, die dafür sorgen kann, dass Menschen so lange wie möglich ein selbstständiges Leben in der eigenen häuslichen Umgebung führen können, besonders dann, wenn sie bereits auf Unterstützung angewiesen sind. 2 Analogie zum Automobilmarkt Was im Bereich der alltagsunterstützenden Assistenzlösungen noch als Zukunftsmusik ertönt, ist in der Automobilindustrie schon lange Standard. Fast alle modernen Pkw sind inzwischen mit einer Vielzahl von Sensoren und umfangreicher Assistenztechnik ausgestattet. So können diverse Komfort-, Kommunikations- und Sicherheitsfunktionen im Auto realisiert werden, die im Wohnumfeld noch keine Anwendung finden. Denken Sie an das sehr breite Spektrum an möglichen Assistenzsystemen und elektronischen Helfern im Fahrzeug: Zentralverriegelung, Airbags, Seitenaufprallschutz (SIPS), Anti-Blockier-System (ABS), Satelliten-Navigationssystem, Parkpilot, Fernlicht- und S. Mielitz (*)  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefanie.Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_25 479 480 S. Mielitz Spurhalteassistent, Müdigkeitswarner, Nachtsichtassistent, Verkehrszeichenassistent, Totwinkelwarner, Abstandregler oder das Multimediasystem mit Sprachsteuerung und vieles mehr. Sicherlich sind nicht alle diese Assistenztechnologien aus dem Auto für die Wohnung wünschenswert, doch die Übertragung einiger weniger Assistenzsysteme aus dem Auto in unsere Wohnungen, würde die Lebensqualität verbessern und den Alltag erleichtern. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie gehen abends aus dem Haus und werfen die Tür ins Schloss. Sie suchen in der Tasche nach dem Schlüssel und hoffen, dass Sie ihn nicht in der Wohnung liegen gelassen haben. Glück gehabt, er ist da! Inzwischen hat sich das Außenlicht ausgestellt und Sie versuchen in der Dunkelheit, die Wohnungstür abzuschließen. Plötzlich haben Sie Bedenken: Habe ich denn das Licht ausgemacht und das Bügeleisen abgestellt, sind alle Fenster verschlossen? Es soll schließlich noch regnen an diesem Abend. Also schauen Sie lieber noch einmal nach. Ganz anders verhält es sich, wenn Sie anstatt der Wohnung Ihren Mittelklassewagen verlassen: Sie stellen den Motor per Knopfdruck ab und öffnen die Fahrertür. Das Radio stellt sich automatisch aus und Sie werden durch einen Ton daran erinnert, dass Sie das Licht angelassen haben. Sobald Sie es ausgestellt haben, steigen Sie aus und werfen die Autotür hinter sich zu. Durch das Drücken Ihres Funkschlüssels werden alle Türen verschlossen und die Zentralverriegelung sorgt darüber hinaus dafür, dass alle Fenster geschlossen werden. Wie angenehm und erleichternd wären diese Funktionalitäten in Ihrer Wohnung! Nicht nur in der Automobilbranche gehören assistierende Technologien zum Standard. „Assistierende Technologien“ (AT) sind bereits aus dem Bereich der Gesundheitstechnologie bekannt. Als Reha-Technik sind sie im Sinne der Hilfsmittel schon lange im Einsatz, dabei handelt es sich um Geräte, Werkzeuge oder technische Lösungen, die es Menschen mit Einschränkungen, z. B. gehbehinderten, hörgeschädigten oder blinden Menschen, ermöglichen, bestimmte Tätigkeiten im Alltag auszuführen. Zu den assistierenden Technologien zählen die unterschiedlichsten Lösungen: der motorisierte Rollstuhl, elektronische Prothesen, der Treppenlift, die vergrößerten oder vereinfachten Eingabegeräte für den Computer, Hörgeräte, Sehhilfen, Vorlesegeräte und vieles mehr. Diese Lösungen sind jedoch kaum für eine breitere Verwendung gedacht, da es nur eine begrenzte Anzahl von Betroffenen gibt und es sich hierbei um keinen Massenmarkt handelt. Die bekannten und heutzutage im Einsatz befindlichen assistierenden Technologien weisen meist eine eingeschränkte Funktionalität auf, denn sie dienen lediglich dazu, bestimmte Fähigkeiten wie Laufen, Sehen, Hören oder Fühlen zu kompensieren. Darüber hinaus haben sie meist wenig Mehrwert und weisen weitere Eigenschaften auf, die die Integration in den Alltag hilfsbedürftiger Menschen erschwert: meist werden sie technologie- und nicht bedarfsorientiert entwickelt, das heißt, sie sind zum Teil schlecht bedienbar und sind technisch nicht oder schwer in die Umwelt zu integrieren. Kurzum die herkömmlichen Assistenztechnologien sind im Einzelfall sehr hilfreich, doch nicht Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 481 für eine Anwendung in der breiten Masse gedacht. Doch genau darum geht es bei AAL – um Assistenzlösungen, die den Menschen in unserer immer älter werdenden Gesellschaft im Alltag Unterstützung leisten können. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in Deutschland, mit einer alternden Bevölkerung und sich wandelnden Familienstrukturen, wird es mit den bestehenden personalen und technischen Möglichkeiten der Pflege zu einer großen gesellschaftlichen Herausforderung, immer mehr hilfsbedürftigen oder pflegebedürftigen älteren Menschen ein langes und selbstbestimmtes Leben in der eigenen häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Mit der demografischen Entwicklung steigen parallel auch die Anforderungen an das Gesundheitssystem, die pflegenden Angehörigen und vor allem an das Pflegepersonal von heute. Die Folgen für das Gesundheitssystem wurden schon vor längerer Zeit von Wissenschaft und Politik erkannt: es wird einen steigenden Bedarf an Unterstützungsleistungen und eine Abnahme des Unterstützungspotenzials durch die Erwerbstätigen geben (vgl. Ostwald 2010). Ebenso sind personelle Engpässe in der Versorgung bereits schon heute festzustellen und für die Zukunft als Problemlage abzusehen. Nur diese wenigen Aspekte zeigen deutlich, dass die Bedeutung von technischen Assistenzsystemen in den nächsten Jahren immer größer werden wird und damit auch die Bedeutung von AAL. Doch um zu erfahren, wie AAL zur Linderung der skizzierten Probleme beitragen kann, soll im Folgenden zunächst geklärt werden, wie AAL zu definieren ist. Anschließend wird ein Überblick über die AAL-Anwendungsbereiche und -Produkte gegeben sowie die unterschiedlichen Akteure im Umfeld von AAL vorgestellt. Schließlich werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, denen AAL sich stellen muss, um zukunftsfähig zu werden. 3 Definitionsfrage AAL Die große Gemeinsamkeit von E-Health und AAL besteht darin, dass es sich bei AAL – ebenso wie bei E-Health – nicht nur um ein rein technisches Themenfeld handelt, sondern eines mit gesellschaftspolitischen, sozialen und vielen anderen Dimensionen. So herrscht in bisherigen Publikationen keine Einigkeit zur grundsätzlichen Definition beider Begriffe. In den jeweiligen Veröffentlichungen zu den Themen fehlt es, in der Mehrzahl der Fälle, am Versuch eine Begriffsbestimmung vorzunehmen. In beiden Fällen scheint es für die Autoren schwierig zu sein, eine Definition ganz unabhängig von ihren Zielgruppen vorzunehmen und darin zu klären, wie die Begriffe verwendet werden, was sie im Detail umfassen und welche Abgrenzungen zu anderen Begriffen, Themengebieten und Fachbereichen zu ziehen sind. Die Schwierigkeit einer allgemeinen Definition von AAL liegt darin, dass es zum einen als übergeordnetes, gesamtgesellschaftliches, politisches Konzept verstanden wird, zum anderen bezeichnet AAL im engeren Sinn ganz konkrete Produkte, Technologien und technische Konzepte. Dementsprechend sind Versuche eine umfassendere 482 S. Mielitz Definition für AAL anzubieten kaum vorhanden. Dennoch können hier zwei Definitionen vorgestellt werden, die AAL konkret beschreiben und dennoch die Weite und Offenheit des Themenfeldes ansprechen. Marco Eichelberg schlägt in seiner Publikation „Interoperabilität von AAL-Systemkomponenten“ folgende Definition vor: Ambient Assisted Living (AAL) umfasst technikbasierte Konzepte, Produkte und Dienstleistungen zur situationsabhängigen und unaufdringlichen (d. h. nicht stigmatisierenden) Unterstützung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen im Alltag. Ziel ist der Erhalt und die Förderung der Selbstständigkeit und die Erhöhung der Lebensqualität von Menschen in ihrer gewohnten Umgebung in jedem Alter sowie die Qualitätsverbesserung von entsprechenden Hilfs- und Unterstützungsdienstleistungen. Ein AAL-System ist nutzerzentriert, also auf den Menschen ausgerichtet und integriert sich in dessen direktes Lebensumfeld. Die verwendete Technik im AAL-Umfeld kann modular und vernetzt aufgebaut sein, um eine Anpassbarkeit an den individuellen Bedarf zu ermöglichen und durch eine integrierte Sicht auf die verfügbaren Daten eine optimierte Assistenz zu gewährleisten (Eichelberg 2009, S. 11). Eichelberg bietet, trotz der eher technikorientierten Perspektive seiner Arbeit, eine sehr umfassende Definition an, in der vor allem die Nutzer berücksichtigt werden. Zudem unterscheidet er zwischen AAL und AAL als System, das heißt, er berücksichtigt nicht nur Konzepte oder Produkte, sondern vor allem auch die systemischen Lösungen, die quasi unbemerkt im (häuslichen) Umfeld interagieren. Die Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (DKE) hat im Januar 2012 „Die deutsche Normungs-Roadmap AAL“ (VDE 2012) veröffentlicht. Diese Roadmap wurde mit dem Ziel erstellt, das gemeinsame Verständnis aller Beteiligten im AAL-Umfeld zu fördern und diese für die Belange anderer zu sensibilisieren. Die Roadmap soll richtungsweisend sein und als Leitfaden für ein übersichtlicheres AALUmfeld dienen. Hier wurde die Empfehlung ausgesprochen, dass (Fach-)Begriffe definiert werden sollten, um ein einheitliches Verständnis von Begriffen im AAL-Umfeld zu etablieren. Dieser Überblicksarbeit ist folgende Definition für AAL entnehmen: Ambient Assisted Living umfasst als ein hybrides Produkt: (1) eine technische Basisinfrastruktur im häuslichem Umfeld (Sensoren, Aktoren, Kommunikationseinrichtungen) und (2) Dienstleistungen durch Dritte mit dem Ziel des selbstständigen Lebens zuhause durch Assistenz in den Domänen (…): • • • • Kommunikation (d3), Mobilität (d4), Selbstversorgung (d5) und häusliches Leben (d6). [Die Angaben in Klammern bezeichnen jeweils die alphanummerischen Codes der entsprechenden ICF-Klassifikation, Anm. d. Verf.] Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 483 Die Assistenzfunktionen sollten möglichst unaufdringlich, bedarfsgerecht, nicht stigmatisierend und weitestgehend ohne technische Vorkenntnisse nutzbar sein. Eine Sonderform stellen die an funktionalen Einschränkungen orientierten Assistenzsysteme dar, die medizinisch relevante Parameter im häuslichen Umfeld erfassen und an medizinische Leistungserbringer kommunizieren (Telemonitoring) sowie die Interaktion zwischen Bewohner und Leistungserbringer (Telediagnose, -therapie, -rehabilitation) über die Distanz ermöglichen (VDE 2012, S. 14 f.). In dieser Definition wird auf den ersten Blick deutlich, dass AAL aus unterschiedlichen Komponenten bestehen kann: der technischen Basisinfrastruktur und möglichen Dienstleistungen Dritter. Auffällig ist, dass hier explizit Assistenzsysteme in die Definition aufgenommen werden, bei denen es sich um Telemedizingeräte oder -Lösungen handelt – diese können ihre Informationen an einen medizinischen Leistungserbringer (Hausarzt, Facharzt, medizinisches Zentrum etc.) übermitteln oder austauschen. Am Beispiel dieser Definitionen wird deutlich, dass es schwierig ist, AAL als eigenständigen Bereich zu definieren und es wegen seiner Diversität von anderen Technologiefeldern und Konzepten abzugrenzen. Schließlich kann zusammenfassend als gemeinsame Schnittmenge der Definitionen festgestellt werden, dass es bei AAL darum geht, durch den Einsatz von Informations-, Gesundheits- und Kommunikationstechnologien die Lebensqualität, Autonomie und soziale Partizipation älterer Menschen zu fördern. Durch die gezielte Förderung von Forschungsprojekten sollen Lösungen gefunden werden, die diesem Ziel entsprechen und marktwirtschaftlich relevant und förderlich sind. Durch die technische Unterstützung der Individuen in ihrem Lebensalltag in den unterschiedlichen Anwendungsbereichen, z. B. Gesundheit, Sicherheit, Mobilität und Sozialleben, soll das Leben der Einzelnen gefördert werden (vgl. AAL JP 2012). Darüber hinaus sollen gesamtgesellschaftliche Ressourcen in einer alternden Gesellschaft effizienter eingesetzt werden. 4 Zukunftsfähigkeit von AAL? Der Einsatz alltagsunterstützender Assistenzlösungen und die damit zusammenhängende „Mensch-Technik-Interaktion im demografischen Wandel“ (MTIDW 2015) ist ein wichtiges und zukunftsweisendes Themenfeld, das sich in den letzten Jahren rasant entwickelt hat und nun von zahlreichen nationalen und europäischen Akteuren aufgegriffen und vorangetrieben wird. Es ist ein eigenständiges, viel diskutiertes Forschungs- und Arbeitsgebiet auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Die Technologien und Entwicklungen sollen zukünftig in Anwendung kommen und das generierte Wissen soll in der Aus- und Weiterbildung genutzt werden (vgl. Berndt und Wichert 2010, S. 3). Im Bereich der Assistenztechnologien ist für den Alltag ein großes Zuwachspotenzial zu erwarten und das aus zweierlei Gründen: zum einen wird die Nachfrage nach (technischen) Assistenzlösungen in Zukunft aufgrund der soziodemografischen Entwicklungen ansteigen, zum anderen sind in den letzten Jahren große Fortschritte in der Entwicklung 484 S. Mielitz kleiner, mobiler und vernetzter Technologien zu beobachten, die sich in die Umwelt fast unbemerkt integrieren lassen. Diese Eigenschaften unterscheiden Ambient Assisted Living von herkömmlichen assistierenden Technologien (AT): die Vernetzung, die Interaktion, die Intelligenz und die Integrierbarkeit in die Umwelt. In Abb. 1 werden beispielhaft einige der Technologiefelder aufgezeigt, in deren Schnittmenge AAL verortet wird. Sowohl die Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien), als auch die Telemedizin, Smart Home, als auch die Gesundheitstechnologien und mHealth haben zum Ziel, die Menschen im Alltag durch intelligente Technologien zu unterstützen. Diese Bemühungen werden in der Schnittmenge durch AAL zusammengeführt. Es finden sich nicht nur gemeinsame Ziele, sondern auch Gemeinsamkeiten in den Technologien, die dafür zur Anwendung kommen (Sensorik, Aktorik). Darüber hinaus hat jeder dieser Bereiche ganz eigene, zum Teil sehr voneinander abweichende Dogmen, Ansprüche und ethische sowie rechtliche Grundsätze. Es können z. B. telemedizinische Lösungen einer gesundheitstechnologischen Lösung technologisch sehr ähnlich sein, dennoch unterliegt die telemedizinische Lösung zu Recht viel strengeren Normen und Standards (Sicherheitsvorgaben, rechtlichen Bedingungen, etc.). Ebenso wachsen die Bereiche IuK-Technologien, Gesundheitstechnologien und Smart Home durch die zunehmende Medienkonvergenz immer stärker zusammen, dennoch sind sie nicht deckungsgleich. AAL, als gemeinsame Schnittmenge dieser unterschiedlichen Technologiebereiche, soll im Folgenden in seinen Anwendungsbereichen dargestellt werden und durch konkrete Beispiele ergänzt werden. Abb. 1   Grafik zur Einordnung von AAL Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 485 5 AAL-Anwendungsbereiche In den letzten Jahren wurden diese Assistenzsysteme eng im Sinne der altersgerechten Unterstützungssysteme behandelt und vorangebracht. Der starke Fokus auf das Alter ist sicherlich im Hinblick auf die soziodemografischen Problemlagen begründet, doch diese enge Perspektive auf Pflege, Alter und Senioren, führte nicht selten zu Lösungen, die wenig Akzeptanz durch die Endanwender erfuhren. Dieser und andere, noch darzustellende, Gründe führten bislang dazu, dass sich AAL nicht in der Breite im Gesundheitssystem und am Markt durchsetzen konnte (vgl. Berndt und Wichert 2010, S. 3). Dabei können Assistenzsysteme Jung und Alt bei den alltäglichen Herausforderungen Unterstützung leisten und kommen in folgenden Hauptanwendungsfeldern zum Einsatz (vgl. Braeseke 2010, S. 12 f.): 5.1 Sicherheit, Schutz, Prävention Diese Anwendungsbereiche sind stark durch den intelligenten Einsatz von Sensorik und Aktorik zur Erfassung der Lebensumwelt des Bewohners gekennzeichnet. Dazu zählen neben den Rauch- oder Wassermeldern, z. B. Sensormatten zur Sturzerkennung, die Herdüberwachung, das Hausnotrufsystem, das sensorgesteuerte Beleuchtungssystem oder die Hausschließanlage mit Gesichtserkennung usw. 5.2 Gesundheit und Pflege Hierzu zählen Anwendungen zum Training und Erhalt kognitiver und motorischer Fähigkeiten, z. B. Apps, Fitness-Tracker, interaktive Heimtrainer und computergestütztes Kognitionstraining. Weitere Anwendungen im Bereich Gesundheit und Pflege sind Telemonitoring-Systeme, bestehend aus telemedizinischen Messgeräten zur Übertragung von Vitaldaten, elektronischen Patientenakten, sowie telemedizinischen Zentren zur fachlichen Bewertung der Daten. Hinzu kommen Anwendungen zur Förderung der Compliance während der Therapie, z. B. durch den interaktiven Medikamentenspender oder mobile Lösungen wie Personal Trainer und Therapieportale zur Patienten-Nachbetreuung. Darüber hinaus gibt es Softwarelösungen zur Pflegedokumentation und -Organisation sowie Kommunikationslösungen zur besseren Absprache zwischen Pflegepersonal, Patienten und Angehörigen. 5.3 Haushalt und Versorgung Zu diesem Anwendungsfeld zählen Lösungen zur Förderung und Erhaltung von selbstständiger, mobiler Lebensführung in- und aushäusig. Diese Funktionen werden 486 S. Mielitz insbesondere durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik realisiert, oft in Kombination mit serviceorientierten Zusatzdiensten, z. B. ein Serviceportal mit Möglichkeiten zur Bestellung von Lebensmitteln oder Essensbringdiensten, zur Informationsbeschaffung zu den örtlichen Terminen, Veranstaltungen und den öffentlichen Verkehrsmitteln, zur Kommunikation und zur Raumsteuerung. Die möglichen Lösungen reichen hier von komplexen, autarken, ambienten Systemen, bis hin zum einfachen Schlüsselfinder oder elektronischen Medikamentenspender mit Erinnerungsfunktion. 5.4 Kommunikation und soziales Umfeld Dieses Anwendungsfeld umfasst Lösungen zur Aufrechterhaltung und Förderung sozialer Integration und sozialer Mobilität. Dazu zählen Informations- und Kommunikationstechnologien und -dienste, die dazu beitragen, allein lebende Menschen sozial zu integrieren und ihre soziale Mobilität zu erhalten, wie z. B. leicht bedienbare Handys, Videotelefonie, soziale Medien, Orientierungs- und Informations-Apps für den öffentlichen Raum oder Serviceportale unterschiedlicher Art. Die soziale Integration und die Mobilität werden ebenso indirekt durch Technologien unterstützt, die das individuelle Sicherheitsgefühl stärken. Es gibt eine Fülle an Produkten, Dienstleistungen und kombinierten Angeboten von einfachen Konsumgütern, Heil- und Hilfsmitteln, Medizinprodukten bis hin zu systemischen Lösungen der intelligenten, ambienten Hausautomatisierung. Sicherheitssysteme, Telemedizinsysteme oder umfangreiche Dienstleistungsportale sind für die Bereitstellung von alltagsunterstützenden Assistenzlösungen ebenso zu berücksichtigen. Das heißt, alltagsunterstützende Assistenzsysteme umfassen eine heterogene Gruppe von Produkten und Dienstleistungen, die in Umfang und Komplexität sehr unterschiedlich sind. Die Lösungen reichen „von einfachen Seh-, Hör- und Mobilitätshilfen (1. Generation) über Systeme, die einen Informationsaustausch ermöglichen (2. Generation), bis hin zu komplexen Systemen einer intelligenten (Wohn-) Umgebung […], bei denen vernetzte und miteinander interagierende Systeme eigenständig (re-)agieren“ (Fachinger et al. 2012, S. 3). Es kommen Lösungen zur Anwendung, deren Funktionen und Anwendungsbereiche recht überschaubar sind (wie der Rollator), jedoch auch solche, die unterschiedliche, vernetzte Technologien in Verbindung mit Dienstleistungsangeboten vereinen (der intelligente Rollator mit Kommunikations-, Navigations-, Ortungs-, Notruf-Funktionalitäten). Die zuvor vorgestellte Aufteilung der Anwendungsfelder gibt einen ersten Überblick über allgemeine Möglichkeiten des Einsatzes von AAL. Eine Produktkategorisierung nach Bedürfnissen (Nutzermotiven) soll im Folgenden vorgestellt werden, um die vielfältigen Möglichkeiten von AAL für die Unterstützung zur individuellen Bedürfnisbefriedigung zu verdeutlichen und die Fülle der Produkte fassbar zu machen. Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 487 6 AAL-Produktkategorisierung aus Anwenderperspektive Eine Produktkategorisierung aus Anwenderperspektive kann anhand der Einschränkungen der Nutzer oder aber nach den Bedürfnissen der Nutzer erfolgen. Die Kategorisierung nach Bedürfnissen scheint im Bereich AAL als empfehlenswert, denn es handelt sich schließlich um Lösungen, die den Menschen die Unterstützung und Pflege im Alltag ermöglichen, welche notwendig sind, um ein selbstbestimmtes Leben in der häuslichen Umgebung zu führen. Der Mensch sollte bei der Betrachtung von Assistenzlösungen stets im Mittelpunkt stehen – von Innovationsprozess der Produktentwicklung bis zur Implementierung, Schulung und Betreuung. Für die Systematisierung der AAL-Lösungen wird hier von den Bedürfnissen – als Motivatoren des Handelns – der Menschen ausgegangen und die Einzellösungen oder Assistenzsysteme können als Mittel zur Befriedigung diesen Bedürfnissen zugeordnet werden. In Abb. 2 werden diesen Bedürfnissen – in Anlehnung an die maslowsche Bedürfnispyramide – bestimmte Anwendungsbereiche zugeordnet, die zur Erfüllung der Bedürfnisse Unterstützung benötigen. Wichtig ist die Feststellung, dass diese Kategorien und Anwendungsbereiche nicht als absolut und ausschließend gedacht werden dürfen, denn ein und dasselbe Produkt kann unterschiedlichen Anwendungsbereichen zuzuordnen sein und somit unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen. Ein intelligenter Rollator kann mit Navigations- und Ortungssystem dem Nutzer nicht nur die physische Mobilität erleichtern und somit soziale Bedürfnisse befriedigen helfen, er bietet Orientierungshilfe und Informationsdienste, aber vor allem auch Sicherheitsfunktionen für Notfälle außerhalb der häuslichen Umgebung und die Möglichkeit der Personenortung im Falle eines Sturzes oder Unfalls. Dem Bereich der physiologischen Grundbedürfnisse sind Produkte und Dienstleistungen zuzuordnen, die der Gesundheit, der Ernährung, der Hygiene und im weitesten Sinne auch des Wohnumfeldes dienen. Es handelt sich zum großen Teil um Abb. 2   Bedürfnispyramide für den Geltungsbereich AAL (Interpretation nach Maslows Bedürfnishierarchie) 488 S. Mielitz Dienstleistungsangeboten, wie z. B. Home Care, Mahlzeitendienste, Reinigungs- und Wäschedienste und E-Health-Lösungen. Hinzu kommen vielfältige Produkte, die das selbstständige Leben zuhause ermöglichen, wie z. B. Monitoring-Systeme, Beatmungsgeräte, Medikamenten-Monitoring-Systeme, Geräte, die zur Lebenserhaltung beitragen, ebenso Heil- und Hilfsmittel, Treppenlifte, Pflegebetten, aber auch Produkte, die eine barrierefreie Gestaltung des Wohnraums ermöglichen. Unterkategorien sind dabei: Vitaldaten-Monitoring (Blutzucker, Blutdruck, Gewicht etc.), Medikationskontrolle, Hausautomation, Orientierungshilfen, Erinnerungshilfen. Geht es um Sicherheitsbedürfnisse, dann sind dieser Bedürfniskategorie überwiegend Sicherheitssysteme oder aber Produkte in Kombination mit Serviceangeboten zuzuordnen. Es handelt sich um Produkte – für die häusliche Umgebung, den Arbeitsplatz oder die nähere Umgebung –, die Sicherheit bei Notfällen, Unfällen im Haushalt oder in besonderen Krankheitsfällen versprechen, ebenso wie Sicherheitssysteme an Fenstern und Türen, die vor Kriminalität schützen sollen. Die Systeme können als Einzelsysteme punktuelle Gefahren messen und melden. Die technischen Unterstützungselemente können aber auch in vernetzte Systeme eingebunden sein und im Sinne eines Smart-HomeSystems unterschiedliche Hilfssysteme vereinen: Beleuchtungssysteme, Sturzsensoren, Notrufanlagen, Herdüberwachung, Schließanlagen, Alarmsysteme, Ortungssysteme und vieles mehr. Unterkategorien: Aktivitätsüberwachung, Brandschutz, Einbruchschutz, Notruf innerhalb/außerhalb des Hauses, Schutz vor Verlaufen, Sturzerkennung, Sturzprävention, Unterstützung der Pflege, Wasser-/Gasschutz, Weglaufschutz. Die sozialen Bedürfnisse können im Bereich AAL durch unterschiedlichste Informations- und Kommunikationstechnologien zumindest zu einem großen Teil abgedeckt werden. Auch Hilfsmittel, welche die Mobilität erhöhen (physisch – Rollator oder virtuell/online – Videotelefonie) ermöglichen es den Menschen, soziale Bedürfnisse zu befriedigen Es gibt vielfältige webbasierte Kommunikationslösungen und Informationsdienste, die sich sehr gut mit anderen Assistenzlösungen kombinieren lassen. VOIP, Telekonferenzsysteme, Navigations- und Ortungsdienste in Kombination mit anderen Hilfsmitteln ermöglichen den Nutzern soziale und physische Mobilität und somit soziale Teilhabe. Unterkategorien: Informationssysteme, Kommunikationssysteme, Erinnerungshilfen, Orientierungshilfen (zeitlich/örtlich), Ortungsdienste, soziale Netzwerke. Die Ich-Bedürfnisse oder Individualbedürfnisse bilden sozusagen die Grundlage einer Notwendigkeit von Assistenzsystemen in der häuslichen Umgebung und aus ihnen heraus entsteht die Motivation für präventives Handeln (Prävention) eines jeden Einzelnen. Das Bedürfnis unabhängig und frei in den eigenen vier Wänden leben zu können, kann mithilfe der verschiedenen Assistenzlösungen zumindest teilweise befriedigt werden. Auch wenn dabei die Abhängigkeit von Technologien und Dienstleistungen steigt und ein Stück weit unfrei macht, so kann man sich doch teilweise von körperlichen Defiziten freimachen und es bleibt der große Nutzen eines selbstbestimmten Lebens zu Hause. Darüber hinaus helfen Assistenzsysteme nicht nur individuelle Defizite zu Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 489 minimieren, sondern bringen zudem meist ein Zugewinn an Komfort mit sich. Die Individualbedürfnisse nach (mentaler und körperlicher) Stärke und Kompetenz können durch Informationsdienste, lokale Weiterbildungsangebote, Patenschaften und durch die Möglichkeit der sozialen Teilhabe in Vereinen oder Ähnlichem gestillt werden. Motivationshilfen, Trainingsgeräte oder -Programme und Fitnessassistenten mit MonitoringFunktionen können dabei helfen, den Körper und den Geist fit und funktionsfähig zu halten. Unterkategorien: Aktivierung/Prävention, Onlinekommunikation/-information, Serious Gaming, Gedächtnistraining, Lernangebote, Medienkompetenz. Die Abb. 3 soll die Zuordnung der einzelnen Anwendungskategorien zu den Bedürfnissen noch einmal deutlicher machen. Die Anwendungskategorien Reha/Pflege und Alltagshilfe/Wohnen können zusammengefasst werden oder im Sinne der besseren Zuordnung als zwei Anwendungskategorien dem physiologischen Bedürfnis zugeordnet werden. Beides ist denkbar. So vielfältig und unterschiedlich die Bedürfnisse bei jedem einzelnen Menschen sind, so unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten gibt es, diese zu befriedigen. Oberstes Ziel von alltagsunterstützenden Assistenzlösungen ist es, die genannten Defizitbedürfnisse weitestgehend zu stillen, sodass ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben möglich ist. Selbstverwirklichung bleibt die Aufgabe eines jeden Individuums. Der Unterstützungsbedarf im Alltag kann sehr unterschiedlich sein. Jeder Mensch hat im Alter unterschiedliche Einschränkungen, die im Grad stark variieren können. Viele ältere Menschen leiden unter ihren gesundheitlichen Einschränkungen, doch bei Weitem nicht jeder/jede. Grad und der Umfang der Assistenz sollten sich ganz individuell nach dem Nutzer richten. Alltagsunterstützende Assistenzlösungen umfassen vielfältige Technologien und/oder Dienstleistungen für die unterschiedlichsten Anwendungsfelder. Die Lösungen sollen die Menschen in ihren alltäglichen Handlungen so gut wie möglich und so unauffällig wie möglich unterstützen und ihnen Kontroll- und Steuerungsleistung abnehmen können. Ziele Bedürfnisse Anwendungen Assistenzlösungen in der häuslichen Umgebung Gesundheit Versorgung Prävention physiologisch (ab)sichernd sozial individual Ernährung Hygiene Gesundheit Sicherheit Kommunikation Mobilität Komfort Kompetenz Fitness Reha Pflege Alltagshilfe Sicherheit Produkte Abb. 3  Assistenzlösungen in der häuslichen Umgebung Medien Freizeit/ Gesundheit 490 S. Mielitz Dabei sollte die Assistenztechnologie lediglich so umfangreich wie nötig konzipiert sein und Anwendern stets weitestgehende Autonomie ermöglichen. Wichtig ist, dass alltagsunterstützende Assistenzlösungen als Ziel- und Nutzergruppe nicht ausschließlich unterstützungsbedürftige ältere Menschen adressieren, sondern sich speziell auch an informell Pflegende, das persönliche Unterstützungsnetzwerk und Dienstleister richten, die ältere Menschen in unterschiedlichen (betreuten) Wohnformen unterstützen (vgl. Braeseke 2010, S. 180). 7 Zentrale AAL-Akteure Ein tief greifendes Verständnis von Assistenztechnologien und Dienstleistungen ist erst dann möglich, wenn die unterschiedlichen Interessen und Anforderungen der einzelnen Akteure erkannt und berücksichtigt werden, denn AAL ist ein interdisziplinärer und sehr heterogener Arbeitsbereich. Zunächst gibt es die eigentlichen Nutzer, dazu zählen Menschen mit den unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen zur Bewältigung oder Erleichterung des Alltags. Darüber hinaus sind Nutzer aber auch die (pflegenden) Angehörigen und das Pflegepersonal. AAL beschäftigt die Forschung und Wissenschaft, denn als relativ neues Forschungsgebiet gilt es, Bekanntes und Neues aus den unterschiedlichsten Disziplinen zusammenzubringen. Auch die Technologie- und Gerätehersteller in den unterschiedlichsten Sparten arbeiten an AAL-Produkten. Die Anbieter von telemedizinischen Leistungen entwickeln Lösungen, die dazu beitragen, dass die Patienten länger im heimischen Umfeld unterstützt werden können und dass Krankenhaus- oder Heimaufenthalte verkürzt oder vermieden werden können. Dazu bedarf es der fundierten Unterstützung und Zusammenarbeit von Ärzten und Ärztinnen, Krankenhäusern und Apotheken. Diese werden zukünftig alltagsunterstützende Assistenzlösungen verschreiben, vermitteln oder erklären müssen. Bei der Umsetzung, Ausführung und Finanzierung sind die Akteure des Bauwesens und der Wohnungswirtschaft gefragt ebenso wie die Sozialversicherungen (als potenzielle Kostenträger) und die Politik und Gesetzgebung. Hier zunächst eine Auflistung der sechs Gruppen zentraler Akteure: Nutzer von AAL • „originäre“ Nutzer • Angehörige • Pflegepersonal Anbieter von AAL Vermittler von AAL • Health Professionals • AAL-Berater Wissenschaftler/Forscher Akteure des Bauwesens Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 491 • Wohnungswirtschaft • Bauwesen Kostenträger und Politik Zu den aufgelisteten Gruppen von Akteuren wurden hier zum Teil bereits weitere Untergruppen benannt. Diese Unterteilung macht dann Sinn, wenn die Nutzergruppe sehr heterogene Akteure bündelt und jeder dieser Akteure differenzierte Gründe zur Beschäftigung mit dem Thema hat und auf unterschiedlicher Weise von AAL profitieren kann. So zählen zur Gruppe der Nutzer neben älteren Menschen mit oder ohne körperlichen Beeinträchtigungen, ebenso Menschen jeden Alters, die ihren Alltag durch den Einsatz von Assistenztechnologien vereinfachen wollen, aber auch die pflegenden Angehörigen, das persönliche Unterstützungsnetzwerk, das Pflegepersonal und das medizinische Netzwerk. Der originäre Nutzer setzt AAL ein, um das persönliche Leben in den unterschiedlichen Bereichen der Gesundheit, Sicherheit, Selbstständigkeit und Mobilität zu entlasten und damit die individuelle Lebensqualität und die Autonomie im eigenen häuslichen Umfeld zu gewährleisten. Wichtig für die Alltagsbewältigung ist, dass AAL beim Management des Gesundheitszustandes sowie zur Kompensation altersbedingter Funktionsverluste und gesundheitlicher Einschränkungen besonders bei älteren Menschen zur Anwendung kommen kann. Doch die Anforderungen, die der originäre Nutzer an die assistierenden Technologien stellt, sind sehr unterschiedlich und werden grundsätzlich vom Grad der Betroffenheit und der Technikaffinität des Einzelnen bestimmt. Weitere wichtige Anwender von AAL-Technologien sind die Angehörigen und das persönliche Umfeld älterer Menschen, die besonders bei den Tätigkeiten der informellen Pflege direkt (durch Lösungen zum Zeit- und Pflegemanagement) oder indirekt (durch Schutzsysteme für den zu Pflegenden) unterstützt werden können. Ebenso können AALLösungen in allen Bereichen der professionellen Pflege zur Anwendung kommen und die Beschäftigten im Arbeitsalltag entlasten, wenn sie den Anforderungen als Arbeitsgerät gerecht werden. Die Anbieter von AAL, die Technologiehersteller, Dienstleister und Telemedizinanbieter, können durch ihre innovativen Angebote die eigene Marktposition stärken und sich nachhaltig am erstarkenden zweiten Gesundheitsmarkt positionieren. Wichtig für die Anbieter ist, dass sie neue innovative Geschäftsmodelle finden müssen, dass das häusliche Umfeld als Gesundheits- und Pflegestandort gefördert wird, das die Zahlungsbereitschaft der originären Nutzer zunimmt, aber auch, dass sie einen Verkaufsort schaffen, an dem AAL erhältlich ist. Über den Ort des Verkaufs hinaus muss es Akteure geben, die alltagsunterstützende Assistenzlösungen zum Anwender bringen. Dazu bedarf es der unterschiedlichen Health Professionals, die AAL kennen, verstehen und verschreiben können. Es braucht darüber hinaus Berater, die AAL verstehen und vermitteln sowie die Nutzer und Angehörigen 492 S. Mielitz beraten. Es bedarf auch der Akteure, die AAL planen und implementieren können, nämlich die Planer und Handwerker im Bauwesen. Und schließlich sind die Akteure der Wohnungswirtschaft wichtig, denn diese können AAL-Konzepte in ihren Wohnungen umsetzen und in Anwendung bringen. Die Sozialversicherer als Kostenträger können der zu erwartenden Kostenzunahme im Gesundheitswesen (durch Alterung der Gesellschaft und damit verbundene Zunahme chronischer Erkrankungen und erhöhtem Pflegebedarf) entgegenwirken, wenn sie zukünftig die Förderung präventiver und erhaltender Maßnahmen durch AAL verstärken. Dazu kann die Politik ihren Beitrag leisten und darüber hinaus, kann sie für die gezielte Forschung und Entwicklung günstige Rahmenbedingungen schaffen. Jeder dieser Akteure hat unterschiedliche Gründe, sich mit dem Thema AAL auseinanderzusetzen und zieht in unterschiedlicher Weise Nutzen daraus. Die einen können durch AAL ein unabhängiges Leben im eigenen heimischen Umfeld weiterführen, die anderen können durch die Spezialisierung auf AAL-Produkte oder Dienstleistungen ihr Portfolio erweitern oder sich als Anbieter von AAL-Lösungen geldwerten Marktvorteil verschaffen. Die Vielfalt der Akteure und deren Gründe für die Beschäftigung mit AAL oder deren Beteiligung an den Entwicklungen rund um AAL machen deutlich, dass es bei AAL nicht nur darum geht, die vorhandene Produkte oder Dienstleistungen zu vermitteln oder mit einem bestimmten Nutzer zusammenzubringen. AAL umfasst ein großes Spektrum an direkt oder indirekt beteiligten Akteuren, die stets Berücksichtigung finden müssen. Dies gilt nicht nur für die Produktentwicklung neuer alltagsunterstützender Assistenzlösungen, sondern im besonderen Maße auch für zukünftige Forschungs- und Fördervorhaben. AAL wird dann erfolgreich und flächendeckend einzusetzen sein, wenn die unterschiedlichen Akteure vom Einsatz der neuen Technologien und Dienstleistungen profitieren können und diese Vorzüge auch erkennen. Sind diese Lösungen darüber hinaus auch finanzierbar, so sollte sich AAL nicht nur am Markt, sondern auch in der Gesellschaft als eine Lösungsmöglichkeit der soziodemografischen Probleme etablieren. 8 AAL in der Gesundheitsleistungskette Die Zahl der älteren Menschen, die möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden bevorzugen, wird in den kommenden Jahren stark ansteigen. Darüber hinaus steigt der Versorgungsbedarf in der ambulanten und stationären Pflege stetig an, gleichzeitig werden für die kommenden Jahre ein dramatischer Fachkräftemangel und eine Abnahme von familiärem Pflegepotenzial vorhergesagt. Der Wunsch älterer Menschen, auch mit altersbedingten Einschränkungen möglichst lange in der eigenen vertrauten, häuslichen Umgebung zu leben, trifft sich mit den Interessen der Sozialpolitik und vor allem der Sozialsysteme, die schon heute im Bereich der Pflegeversorgung den Grundsatz „ambulant vor stationär“ fordern und fördern. Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 493 Diese Ziele – der vorrangig selbstständigen, häuslichen Versorgung älterer Menschen – müssen unter dem Umstand erreicht werden, dass es voraussichtlich immer weniger jüngere Menschen gibt, die diese Aufgaben und finanziellen Lasten tragen können und auch das System Familie kann die künftigen Herausforderungen allein nicht leisten. So werden mehr und mehr ältere Menschen auf außerfamiliäre und vor allem auch auf technische Unterstützung angewiesen sein. Die Gesundheitsversorgung in Deutschland folgt dem Sozialversicherungsmodell, denn sie finanziert sich überwiegend über die gesetzliche Pflichtversicherung. Über die medizinische Grundversorgung hinaus gibt es unzählige Versorgungsformen und -angebote, die privat finanziert oder nur zum Teil bezuschusst werden. Bei dem Versuch AAL in der Gesundheitsleistungskette zu verorten muss zunächst das Gesundheitswesen nach dem Ort der Leistungserbringung betrachtet werden. Dazu ist es sinnvoll eine Differenzierung nach erstem, zweitem und drittem Gesundheitsstandort vorzunehmen. Die Abb. 4 zeigt die erweiterte Gesundheitsleistungskette nach Preuß (vgl. Preuß 1997, S. 262) und wurde insbesondere um den Bereich „AAL-Angebote“ und das „Quartier“ ergänzt. Das Quartier wird hier verstanden als das dem Haushalt übergeordnete Lebensumfeld und meint den Wohnkomplex, das Wohngebiet oder den Ortsteil. In allen Bereichen der Gesundheitsleistungserstellung stehen Gesundheitstechnologien zur Verfügung, die die Sektoren technisch miteinander verbinden und gegebenenfalls einen Informationsaustausch ermöglichen. Dieses wird durch den unteren Balken deutlich gemacht. Die Gesundheitsstandorte geben Aufschluss darüber, wo Gesundheitsleistungen erbracht werden. AAL wird in der Abbildung der Leistungskette vorangestellt, denn es ist im Quartier, dem häuslichen Standort zuzuordnen. Doch auch wenn die AALTechnologien überwiegend für die häusliche Unterstützung gedacht sind, so bleiben sie nicht auf den häuslichen Standort beschränkt. Einige AAL-Systeme (z. B. Notrufsysteme oder Hinlaufschutzsysteme) finden sowohl im häuslichen als auch im stationären Umfeld Anwendung. Doch über den Ort der Leistungserbringung bzw. Anwendung hinaus, erzielen AAL-Technologien Wirkungen, die die gesamte Gesundheitsleistungskette Abb. 4  Erweiterte Gesundheitsleistungskette. (Angelehnt an Preuß 1997, S. 262) 494 S. Mielitz positiv unterstützen können. Ebendies stellen Henke und Troppens fest, wenn sie schreiben: „Positive Wirkungen eines durch AAL-Technologien unterstützten (häuslichen) Umfeldes können die gesamten primären Prozesse der gesundheitlichen Versorgungskette von der Prävention über die Früherkennung und Akutversorgung bis hin zur Rehabilitation und Pflege durchdringen.“ (Henke und Troppens 2010, S. 144). Trotz der möglichen positiven Wirkungen auf die gesamte Versorgungskette stellt sich die Frage danach, wie die Gesundheitsleistungen finanziert werden. AAL als Gegenstand der Gesundheitsleistungskette ist derzeit noch überwiegend dem zweiten Gesundheitsmarkt zuzuordnen. Diese Zuordnung wird für Sie dann verständlicher, wenn wir uns kurz die Aufteilung des Gesundheitsmarktes in den ersten Gesundheitsmarkt und in den zweiten Gesundheitsmarkt in Erinnerung rufen (vgl. Goldschmidt 2009, S. 20 ff.; Henke 2009): Der erste Gesundheitsmarkt umfasst die klassische Gesundheitsversorgung bzw. das Gesundheitswesen. Dieses umfasst den überwiegenden Teil der medizinischen Versorgung in den Arztpraxen und die Versorgung und Behandlung in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, ebenso Kurmaßnahmen, Rehabilitationsmaßnahmen und verordnungspflichtige Leistungen entsprechend der Heilmittelversorgung (z. B. physiotherapeutische Behandlungen). Finanziert werden die Leistungen des ersten Gesundheitsmarktes durch die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, durch die Arbeitgeber (Lohnfortzahlung) und durch die Pflege- oder Rentenversicherung. Das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen garantiert jedem eine medizinische Grundversorgung und wird überwiegend erst dann reaktiv in Anspruch genommen, wenn der Patient bereits erkrankt ist. Es ergibt sich aus der Logik der Gesundheitsleistungskette, dass unser Versorgungssystem auf die Therapie und die Versorgung ausgerichtet ist. Die Leistungen müssen laut § 12 SGB V „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“. Der zweite Gesundheitsmarkt umfasst demnach alle privat finanzierten Produkte, Dienstleistungen und Gesundheitsangebote, die zu einer gesünderen Lebensführung beitragen und insbesondere den Bereichen der primären und sekundären Prävention zuzuordnen sind (Hurrelmann und Altgeld 2007, S. 31 ff.). Der Trend, der sich im ersten Gesundheitsmarkt beobachten lässt – nämlich dass ein Standard an Grundversorgung gewährleistet wird – der jedoch durch individualisierte, privat finanzierte Zusatzleistungen erweitert werden kann, wird auch in den nächsten Jahren fortschreiten (vgl. Kartte 2008; Neumann 2012). Die Schnittmenge des ersten Gesundheitsmarktes mit dem zweiten Gesundheitsmarkt liegt vor allem im Bereich der Prävention. Hier werden aktiv in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen, bzw. gesundheitsfördernde Maßnahmen, die für den zweiten Gesundheitsmarkt typisch sind, durch Mittel des ersten Gesundheitsmarktes (Förderungen durch die GKV/PKV) finanziert oder gefördert, wie z. B. Rückenschule im Fitnesscenter, Präventionsangebote aus dem Wellnessbereich, die berufliche Gesundheitsförderung. Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 495 Die beschriebene sektorale Aufteilung des Gesundheitswesens (Gesundheitsstandorte, Gesundheitsmärkte) hemmt den Einsatz Sektoren übergreifender Assistenzlösungen und stellt ein Hindernis dar, diese zu etablieren und zu finanzieren. Bereits dem „VDE-Positionspapier Intelligente Assistenz-Systeme im Dienst für eine reife Gesellschaft“ von 2008 konnte die Handlungsempfehlung entnommen werden, dass das häusliche Umfeld als Gesundheits- und Pflegestandort zu fördern sei, denn das Denken in Budget- und Sektorengrenzen stand bisher der Einführung von nachhaltig wirksamen technischen Lösungen entgegen (vgl. Albayrak et al. 2008, S. 5). Was noch aussteht, ist die Überzeugung des gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzens von AAL. Das wichtigste Ziel von AAL ist, vorhandene körperliche Funktionen zu unterstützen, positiv zu stimulieren, Defizite zu kompensieren und Risiken für Erkrankungen zu minimieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt von AAL ist die Unterstützung – nicht allein für den zu Pflegenden –, sondern vor allem auch für die Pflegenden und die Angehörigen. Es wäre wünschenswert, dass der Einsatz von alltagsunterstützenden Assistenzlösungen auch für diese Personengruppe gefördert würde – zur nachhaltigen Sicherung informeller Pflege. Das heißt, Assistenzlösungen dienen neben der Alltagsbewältigung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung auch der pflegerischen Versorgungshilfe. Somit befindet sich AAL im Spannungsfeld von erstem und zweitem Gesundheitsmarkt und es macht die Grenzen des kurativ ausgerichteten Versorgungssystems offensichtlich, denn ganz allgemein ist festzustellen, dass assistive und präventive Maßnahmen bislang nur unzulänglich gefördert wurden. AAL-Technologien können präventiv sowohl dafür sorgen, dass Erkrankungen nicht auftreten, bzw. sich nicht manifestieren als auch dafür, dass die Erkrankungen stabil bleiben und es nicht zu Notfällen kommt. Dafür müssen im Gesundheitswesen Investitionen in Medizintechnik unabhängig von Sektorengrenzen und Budgets bewertet und finanziert werden (Albayrak et al. 2008, S. 36). Zu AAL zählen sowohl komfortable Assistenzlösungen, die den Alltag erleichtern und somit individuell zu finanzieren sind ebenso, wie medizinische Assistenzlösungen, die eine öffentliche Finanzierung der Sozialkassen durchaus rechtfertigen würden, z. B. Telemonitoring und häusliche Reha-Anwendungen. Das große Einsparpotenzial von AAL-Anwendungen wurde bereits vor allem für die Telemedizin dokumentiert (vgl. Binder et al. 2008; Müller et al. 2009), doch das große Spektrum an alltagsunterstützenden Assistenzlösungen wird keinen einheitlichen Finanzierungsweg für alle Produkte und Dienstleistungen zulassen. Es gibt bereits Überlegungen dazu, wie AAL auf dem ersten und zweiten Gesundheitsmarkt finanziert werden können (vgl. Fachinger und Henke 2010). Doch es fehlt die Überzeugung, dass der Einsatz von AAL aus (gesundheits-)ökonomischer Sicht langfristig Nutzen bringen kann. Es fehlen ökonomische Analysen, die das Potenzial von AAL darstellen. Letztlich betrachtet Ökonomie die Wirtschaftlichkeit des Handelns und betrachtet dabei effizientes Handeln bei zunehmend knapper werdenden Ressourcen. Durch ökonomisches Handeln werden Effizienzpotenziale gehoben, die es ermöglichen, mehr Menschen mehr Unterstützung (Maximumprinzip) oder 496 S. Mielitz eine gegebene Unterstützung zu minimalen Ressourcenverbräuchen (Minimumprinzip) zu geben. Ressourcen stellen hierbei Arbeitskraft, Sachmittel oder auch Geldmittel dar. Dahinter steht auch der Gedanke, dass die verfügbaren finanziellen Mittel aus den öffentlichen Versicherungen für eine zunehmende Anzahl an Menschen und Bedürfnissen reichen müssen. Verbesserungen in der Produktivität – also der Wirtschaftlichkeit – durch den Einsatz von assistierenden Technologien geben neue Finanzierungsspielräume. 9 Hemmnisse beim Einsatz von AAL-Technologien Der flächendeckende Einsatz von AAL in der häuslichen Umgebung kann zunächst dadurch gefördert werden, dass die Anschaffungskosten reduziert werden. Dies kann z. B. durch das Eingreifen des Staates durch Forschungsförderung (z. B. zur Technologieentwicklung) und anderen Subventionierungen geschehen. Ebenso können die Preise durch den Anstieg der Nachfrage gesenkt werden. Neben dem Aspekt der hohen Anschaffungskosten gibt es folgende weitere Hemmnisse eines breiten Einsatzes von AAL-Technologien (vgl. Braeseke 2010, S. 182, durch eigene Angaben ergänzt): • Der älteren Bevölkerung fehlt das Problembewusstsein und das Wissen zu den Möglichkeiten technischer Hilfen. • Der langfristige Nutzen technischer Assistenzsysteme für das Individuum und für die Gesellschaft wurde noch nicht erkannt. • Mangelndes Einkommen der Privathaushalte, bzw. zu geringe Zahlungsbereitschaft der älteren Bevölkerung. • Kaum Kostenübernahme durch die Sozialversicherungen. • Offene Sicherheitsfragen zum Datenschutz und der Privatsphäre. • Technische Unzulänglichkeiten, wie z. B. Lücken bei der Konnektivität und Interoperabilität der technischen Komponenten. • Die Ergebnisse der technologiegetriebenen Entwicklungen vernachlässigen die Bedarfe, Anforderungen und Bedenken der Nutzer. • Der Ort für den Verkauf von alltagsunterstützenden Assistenzlösungen und zur Beratung fehlt weitestgehend. Einem breiten Einsatz von AAL stehen noch einige Hindernisse entgegen, die nicht nur durch schlüssige Finanzierungskonzepte zu lösen sind. Neben den bislang ungeklärten Finanzierungsfragen, fehlender Standardisierung, Fragen der informationellen Selbstbestimmung und Datenschutzfragen, fehlt es allgemein an Akzeptanz. Die Überzeugung von dem Potenzial von AAL muss in der Gesellschaft ankommen, bei den einzelnen Menschen, aber vor allem auch auf institutioneller Ebene und in der Politik. Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 497 10 AAL-Lösungswege Die rezenten Prognosen der Bevölkerungsentwicklung für Deutschland bis 2050 zeigen, dass mit der einhergehenden Alterung der Gesellschaft der Anteil der älteren, hilfsbedürftigen oder pflegebedürftigen Menschen stark anwachsen wird. Mit dieser Entwicklung sind vielfältige gesellschaftliche Implikationen verbunden und diese sind begleitet von Veränderungen im Lebens-, Berufs- und Familienalltag. AAL bietet hier Lösungsmöglichkeiten. Assistenzlösungen bieten Komfort, Sicherheit und vernetzte Unterstützung im Alltag, ganz besonders auch für pflegebedürftige Menschen. Es gibt eine Fülle an Produkten, Dienstleistungen und kombinierter Angebote von einfachen ConsumerProdukten, Heil- und Hilfsmitteln, Medizinprodukten bis hin zu systemischen Lösungen der intelligenten, ambienten Domotik, Sicherheitssystemen, Telemedizinsystemen oder umfangreichen Dienstleistungsportalen. Es existieren vielerlei Produkte, Lösungen und Dienstleistungen, die im Bereich AAL bereits Anwendung finden, oder aber Anwendung finden könnten. Dabei handelt es sich um Produkte und Lösungen, die zum Teil erst als Prototypen existieren oder für den Konsumenten noch nicht am Markt verfügbar sind. Andere wiederum sind gut erprobt und seit Langem erhältlich. Es reicht von ganz einfachen und kleinen Geräten, wie dem Blutdruckmessgerät, bis hin zu komplexen Lösungssystemen, in denen das Blutdruckmessgerät nur ein kleiner Bestandteil im Gesamtsystem ist. Angesichts der vielfältigen Lösungen oder Lösungsansätze fällt auf, dass der Markt sehr diversifiziert ist und es fehlten in der Vergangenheit Bemühungen, diese Lösungen systematisch zu erfassen und bereitzustellen. Angebote zu systemischen, komplexen Assistenzlösungen befinden sich überwiegend noch in der Pilotphase – zu komplex, ohne Förderung noch zu teuer, zu viele Akteure, die koordiniert werden müssen etc. Es fehlt an Systematik und die technische Interoperabilität der Einzelkomponenten hemmt den Ausbau der vernetzten Dienstleistung und systemischer Lösungen. Literatur AAL JP (2012) Ambient assisted living joint programme. http://www.aal-europe.eu/about/objectives/. Zugegriffen: 14. Aug. 2014 Albayrak S, Dietrich ES, Frerichs F, Hackler E, Jähnichen S, Krieg-Brückner B, Vogt W (2008) VDE-Positionspapier: Intelligente Assistenz-Systeme im Dienst für eine reife Gesellschaft. (Hrsg VDE-Verlag, Frankfurt a. M.) https://www.vde.com/de/InfoCenter/Seiten/Details. aspx?eslShopItemID=bf0cf8cb-33a9-4769-94b5-4fb960138ad3. Zugegriffen: 15. März 2016 Berndt E, Wichert R (2010) Marktpotenziale, Entwicklungschancen, gesellschaftliche, gesundheitliche und ökonomische Effekte der zukünftigen Nutzung von Ambient Assisted Living Technologien. In: Ambient assisted living. https://www.vde-verlag.de/proceedings-de/453209039.html VDE-Verlag, Berlin, S 1–5 Binder W, Brimmers P, Bühler M, Clasbrummel B, Cronrath C, Dehm J, … Stork W (2008) VDEPositionspapier Telemonitoring zur Prävention von Diabetes-Erkrankungen. VDE-Verl. https:// 498 S. Mielitz www.vde.com/de/InfoCenter/Seiten/Details.aspx?eslShopItemID=998e16ea-eb11-42de-8f4265e672c275dd. Zugegriffen: 15. März 2016 Braeseke G (2010) Mikroökonomische Aspekte des Einsatzes assistierender Technologien in privaten Haushalten. Der private Haushalt als Gesundheitsstandort: theoretische und empirische Analysen. Nomos, Baden-Baden, S 163–186 Eichelberg M (2009) Interoperabilität von AAL-Systemkomponenten Teil 1: Stand der Technik. VDE-Verlag, Berlin Fachinger U, Henke K-D (2010) Der private Haushalt als Gesundheitsstandort: theoretische und empirische Analysen, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden Fachinger U, Koch H, Henke K-D, Troppens S, Braeseke G, Merda M (2012) Ökonomische Potentiale altersgerechter Assistenzsysteme – Universität Vechta. http://partner.vde.com/bmbf-aal/ Publikationen/studien/intern/Documents/VDE_PP_AAL_%C3%96kon.%20Potenziale_RZ_ oB.pdf. Zugegriffen: 15. März 2016 Goldschmidt AJW (2009) Gesundheitswirtschaft in Deutschland: die Zukunftsbranche; Beispiele über alle wichtigen Bereiche des Gesundheitswesens in Deutschland zur Gesundheitswirtschaft. Wikom, Wegscheid Henke K-D (2009) Der zweite Gesundheitsmarkt. Public Health Forum 17(3):16.e1–16.e4. http:// doi.org/10.1016/j.phf.2009.06.009 Henke K-D, Troppens S (2010) Zur Finanzierung assistierender Technologien. In: Fachinger U, Henke K-D (Hrsg) Der private Haushalt als Gesundheitsstandort: theoretische und empirische Analysen, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 135–146 Hurrelmann K, Altgeld T (2007) Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung, 2. Aufl. Huber, Bern Kartte J (2008) Der Gesundheitsmarkt. Gehalten auf der Tagung „Die Chancen der Gesundheitswirtschaft nutzen“, Berlin. http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/G/gesundheitswirtschaft-workshop2-kartte-gesundheitsmarkt,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=t rue.pdf Maslow AH (1943) A theory of human motivation. Psychol Rev 50(4):370–396 MTIDW (2015) Mensch-Technik-Interaktion im demografischen Wandel. http://www.mtidw.de/. Zugegriffen: 31. Aug. 2015 Müller A, Neuzner J, Oeff M, Pfeiffer D, Sack S, Schwar JO, Zugck C (2009) VDE/DGKThesenpapier TeleMonitoring-Systeme in der Kardiologie: Mikrosysteme in der Medizin; Erfordernisse, Realisierungen, Perspektiven. VDE, Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V., Frankfurt a. M. Neumann K (2012) The cross-industry significance of the secondary healthcare market. http://www.rolandberger.de/media/pdf/Roland_Berger_Secondary_Healthcare_Market_ Speech_20120206.pdf. Zugegriffen: 15. März 2016 Ostwald D (2010) PwC-Studie: Gesundheitssystem vor dem Kollaps – 2030 fehlen eine Million Fachkräfte. http://www.presseportal.de/pm/8664/1702220/pwc-studie-gesundheitssystem-vordem-kollaps-2030-fehlen-eine-million-fachkraefte. Zugegriffen: 20. Juni 2013 Preuß KJ (1997) Informations-, Kommunikations-Technologien und Vernetzung im Gesundheitssektor als Basis für Managed-Care-Konzepte. In: Arnold M, Lauterbach KW, Preuß K-J (Hrsg) Managed Care – Ursachen, Prinzipien, Formen und Effekte. Schattauer, Stuttgart, S 259–300 VDE (2012) Die deutsche Normierungs-Roadmap AAL (= Ambient Assisted Living). Frankfurt. http://www.dke.de/de/std/aal/documents/deutsche_normungs-roadmap_aal.pdf. Zugegriffen: 15. März 2016 Intelligente Lösungen für den AAL-Tag! 499 Über die Autorin Stefanie Mielitz ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin (M. A.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Effizienz Kommunikation und Forschung GmbH (IEKF), Ibbenbüren. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ambient Assisted Living, generationsübergreifende (Kommunikations-)-Technologien und medienkritische Früherziehung. Aktuell baut sie den Web-Shop assistenz-erleben.de auf. Seit 2011 ist sie im Institut verantwortlich für die Projektarbeit und zuständig für die Facharbeiten zum Thema AAL. Von 2012 bis 2015 arbeitet sie im AApolLon-Projekt mit, gefördert durch das BMBF. Sie war Mitorganisatorin des Workshops „AAL-Geschäftsmodelle“ auf dem AAL-Kongress 2014 sowie bei der GMDS Jahrestagung 2014. Kontakt: Stefanie.Mielitz@iekf.de Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag Kurt Becker und Yvonne Stammer 1 Einleitung Der Markt für Smartphones ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Gab es im Februar 2013 noch 33,4 Mio. Smartphone-Besitzer, telefonierten im Februar 2014 bereits 40,4 Mio. Deutsche mit ihnen (vgl. Statista 2015). Hinzu kommt eine wachsende Bereitschaft der Menschen, sich in sozialen Netzwerken mitzuteilen. Eine Studie vom Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitkom) zeigt, dass 58 % aller Jugendlichen ihr Privatleben im Internet öffentlich darstellen würden (vgl. Bitkom 2014, S. 18). Selbstdarstellung und Self-Tracking stehen dabei in Abhängigkeit zueinander. Diese Entwicklungen treffen auf CPUs, Displays, Sensoren und Funkmodule, die nicht nur kleiner, sondern auch immer günstiger werden (vgl. Janssen 2015b, S. 97); dadurch steigt der potenzielle Kundenkreis. Die Kombination von steigender Technisierung im Alltag und gleichzeitig sinkenden Preisen in Zusammenhang mit zunehmender Selbstdarstellung begünstigt die Verbreitung sogenannter „Wearables“. Dies sind kleine Computer, die wie Kleidung oder Schmuck am Körper zu tragen sind (vgl. Janssen 2015b, S. 97); hierzu gehören neben Smartwatch und Datenbrillen auch die Aktivitätstracker. K. Becker (*)  APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen, Deutschland E-Mail: Kurt.Becker@Apollon-Hochschule.de Y. Stammer  Röntgenpraxis Am Marstall, Hannover, Deutschland E-Mail: stammer@radiologen-hannover.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_26 501 502 K. Becker und Y. Stammer In den USA besitzt bereits jeder zehnte Erwachsene ein Gerät zum „Self-Tracking“. Eine besonders hohe Verbreitung dieser Geräte existiert bei den 25- bis 34-Jährigen (vgl. Janssen 2015b, S. 98). Dies ist ein Trend, der auch in Deutschland zu beobachten ist. Eine Studie des Bitkom ergab, dass Aktivitätstracker im vergangenen Jahr 2014 ein beliebtes Geschenk zu Weihnachten darstellten (vgl. ZDNet 2014). Waren es zunächst nur einige gesundheitsbewusste und/oder IT-affine Personen, die die Funktionen von Aktivitätstrackern nutzten, hat das Marketing der Produkte gängiger Firmen wie Jawbone oder Fitbit bereits die Fernsehwerbung und die Vermarktung über Discounter erreicht. Die zentrale Frage dieser Ausarbeitung wird sein, ob die Nutzung von Aktivitätstrackern dazu beitragen kann, die Lebensweise ihrer Nutzer positiv zu unterstützen. Ferner steht die Frage im Raum, ob eine Weitergabe der Daten an die Krankenkasse valide Rückschlüsse auf die Lebensgewohnheiten der Versicherten zulässt und welche Konsequenzen dies möglicherweise haben könnte. 2 Klassen von Aktivitätstrackern Die Aktivitätstracker lassen sich anhand des Preises und der Funktionalitäten in zwei Klassen teilen: Basismodelle und fortgeschrittene Modelle. Alle Geräte verfügen über eine Aktivitätsmessung per Schrittzähler und Aufzeichnung des Schlafs. Über die personenbezogenen Daten wie Alter, Gewicht und Größe werden daraus der jeweilige Kalorienverbrauch und die zurückgelegte Distanz errechnet. Zusätzlich verfügen einige Tracker über eine Weck- bzw. Erinnerungsfunktion per Vibration (z. B. Jawbone Up™) dem sogenannten Smart-Alarm. Bei den fortgeschrittenen Modellen kommt zu diesen Basisfunktionen die Messung der Herzfrequenz, Höhenerfassung, GPS und/oder Displays zur Anzeige von Anrufen/Nachrichten hinzu. Auch werden die Aktivitäten vom Gerät über verschiedene Algorithmen automatisch voneinander unterschieden. Anders als bei den Basismodellen registriert der Tracker nicht nur Bewegung, sondern kann z. B. zwischen Laufen und Radfahren unterscheiden. Ebenso wird der Schlafmodus automatisch aktiviert, wenn der Nutzer die entsprechenden Signale aussendet. Da die Tracker nur eingeschränkte Bedienbarkeit (z. B. Veränderung des Modus) zulassen, erfolgt die Einstellung und Auswertung über ein Programm (App) am Smartphone oder einen Webbrowser (vgl. Janssen und Porteck 2015, S. 108). Die erfassten Daten werden hierzu meist über Bluetooth an das Smartphone übertragen und anschließend in eine Cloud geladen. Dies ist datenschutzrechtlich umstritten, da eine unbefugte Nutzung durch Dritte denkbar wäre. In der App sind weitere Funktionen durch manuelle Dateneingabe nutzbar. Hierzu gehören die persönlichen Daten des Nutzers wie Alter, Geschlecht, Größe und Gewicht. Aus diesen Daten und den Bewegungs- und Schlafprofilen leitet das Programm Empfehlungen und Motivationen für den Nutzer ab. Es werden Statistiken erstellt, um die persönliche Entwicklung zu dokumentieren und Trends zu erkennen. Das Erreichen von Zielen wird durch die Vergabe von Abzeichen honoriert. Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 503 Produkt Wasserdicht Herzfrequenz Anzeige der Strecke in km SmartAlarm sonstige Sensoren Microsoft BandTM Spritzwasser Ja / Permanent Ja Ja UV-Monitor Workout Samsung Gear FitTM 30min / 1m Ja Ja Ja Accelerometer Gyro Sensor Jawbone UP3TM 10m Ja ? Ja Haut-und Umgebungstemperatur Withings Pulse OxTM Wasserabweisend Ja Ja Nein Sauerstoffgehalt Runtastic OrbitTM 100m Nein Ja Ja Fitbit Charge HRTM Spritzwasser Ja / Permanent Ja Ja Polar LoopTM Ja Kompatibel mit Herzfrequenzsensoren Nur mit Smartphone App Nein Garmin VivosmartTM 50m Kompatibel mit Herzfrequenzsensoren Ja Ja Abb. 1  Funktionsmatrix (vgl. Microsoft 2015; Samsung 2015; Jawbone 2015; Withings 2015; Runtastic 2015; Fitbit 2015b; Polar 2015; Garmin 2015) Abb. 1 zeigt eine Funktionsmatrix einiger fortgeschrittener Modelle mit ausgewählten Funktionalitäten. Interessant wird die Nutzung der Aktivitätstracker durch die Kopplung der App mit anderen Apps. Jawbone hat bereits eine Freigabe für den Automatisierungsdienst „If this then that“ (IFTTT) gegeben, welcher „regelbasierte Aktionen in bestimmten ‚Kanälen‘ auslöst“ (FAZ 2013). Dadurch ist es möglich, die Jawbone-App mit Gesundheitsportalen oder Apps anderer Geräte zu verbinden. Ein Beispiel ist die Kopplung mit der App von Philips Hue: Sobald Jawbone seinen Nutzer durch Vibration weckt, geht das Licht der Philips-Lampen an. Auch eine Vernetzung der Tracker-App mit unterschiedlichen Gesundheitsportalen ist denkbar. Hierbei könnten weitere Geräte (z. B. Personenwaage) mit vernetzt werden. 3 Datenauswertung In jedem Aktivitätstracker sind dreiachsige Beschleunigungssensoren verbaut. Diese Mikroprozessormodule messen bis zu 1500 Mal pro Sekunde die Beschleunigung. Die Unterscheidung, welcher Art die Bewegung des Nutzers ist (Bewegung beim 504 K. Becker und Y. Stammer Kaffeetrinken oder Joggen), erfolgt durch die Berechnung mithilfe spezieller Algorithmen (vgl. FAZ 2013). Die Distanzen werden über die Schrittlänge des Nutzers aufgrund seiner Größe ermittelt. Da dies relativ unzuverlässig ist, gibt es zusätzlich die Möglichkeit der manuellen Kalibrierung. Damit kann die Abweichung zur tatsächlichen Schrittzahl eliminiert werden. Beim Microsoft Band ist zusätzlich ein GPS-Modul vorhanden, welches eine genaue Messung der zurückgelegten Distanzen ermöglicht. Auch die Berechnung der Schlafprofile erfolgt (bei den Basismodellen) über die Auswertung der Bewegungen in der Nacht. Bewegt sich der Nutzer nicht, wird Tiefschlaf protokolliert. Bewegungen in der Nacht werden der REM-Phase zugeordnet; sobald diese einen Schwellenwert übersteigen, wird der Wachzustand des Nutzers vermutet. Bei den hochpreisigen Modellen erfolgt diese Auswertung zusätzlich über die Messung der Herzfrequenz. Diese wird entweder über Bioimpedanz (vgl. Jawbone 2015) oder über optische Sensoren (vgl. Fitbit 2015a) ermittelt, wobei die Bioimpedanz-Messung neben der Herz- auch die Atemfrequenz und die elektrodermale Aktivität bestimmen kann (vgl. Jawbone 2015). Weitere Auswertungen des Aktivitätstrackers beruhen auf der manuellen, subjektiven Erfassung des Nutzers in der App. Hierzu gehört der gefühlte Zustand, die Nahrungsaufnahme, der Grad der Anstrengung bei Aktivitäten und die manuelle Eingabe von Schlaf oder Aktivitäten. Hier sind Fehlinterpretationen durch falsche Bedienung bereits bei der Eingabe möglich, zusätzlich entsprechen die Angaben dem subjektiven Empfinden. 4 Marktanalyse Die Marktanalyse gibt Aufschluss über den wachsenden Markt der Aktivitätstracker in Deutschland. Aufgrund der Aktualität des Themas ist es besonders schwierig, hierzu Statistiken oder Geschäftsberichte der Marktteilnehmer zu erhalten. Daher beruht die Analyse vielfach auf Schätzungen. Das Marktwachstum zeigt sich in einer Studie der International Data Corporation (IDC). Diese besagt, dass sich der Absatz von Wearables im Jahre 2014 gegenüber 2013 verdreifacht hat (vgl. IDC 2014). Hierbei haben Aktivitätstracker 2014 den größten Anteil an Wearables (vgl. CCS Insight 2014). Als relevanter Markt ist derzeit der zweite Gesundheitsmarkt anzusehen, da es sich bei der Tracker-Beschaffung bisher um eine Privatfinanzierung handelt. Möglicherweise ist hier eine Änderung zu erwarten, wenn der medizinische Nutzen (z. B. für die Telemedizin) anerkannt werden würde. Die Nutzer lassen sich in fünf Gruppen einteilen. Hierzu gehören Personen mit gesundheitlichem Risiko, Technik-affine und gesundheitsbewusste Personen sowie solche Menschen, die sich zu einer Gruppe dazugehörig fühlen möchten. Die fünfte Gruppe würde durch die Nutzung der Tracker im wirtschaftlichen Bereich (z. B. Krankenkassen) entstehen, wobei die User den Sinn ausschließlich in finanzieller Vergütung oder materiellen Vorteilen sehen. Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 505 1,4 % der Internet-Nutzer besitzen bereits Fitness-Armbänder Fitness-Armbänder: Status, Potentiale und Bewertung Werde es nicht mehr nutzen Nutzer/Besitzer Komme nicht gut zurecht 4,5% 8,3% Interessenten Unentschlossene Desinteressierte Ablehner Ziemlich enttäuscht 16,0% Nutze die meisten Funktionen 51,1% Trage es (fast) täglich 51,3% Insgesamt sehr zufrieden 62,4% Abb. 2  Internet und Aktivitätstracker. (In Anlehnung an Fittkau & Maaß 2014) Eine Studie des Consulting-Unternehmens Fittkau & Maaß (2014) ermittelte den Anteil von Aktivitätstracker-Besitzern unter 60.668 Internetnutzern und untersuchte deren Bewertung. Sie kamen dabei zu folgendem Ergebnis (s. Abb. 2): Unter den Internetusern haben 1,4 % einen Fitness-Tracker, etwa jeder Fünfte zeigt Interesse an den Geräten. Besonders hoch ist der Anteil der Gegner: Zwei von drei Internetnutzern haben kein Interesse an den Trackern oder lehnen diese sogar vollständig ab. Hingegen zeigt sich unter den Besitzern der Aktivitätstracker, dass fast zwei Drittel sehr zufrieden sind, aber nur jeder Zweite auch wirklich alle Funktionen nutzt. Etwa acht Personen von 100 hatten Probleme mit der Handhabung. Die Zahl der Anbieter von Aktivitätstrackern auf dem Markt steigt stetig. Zu den ersten Firmen auf diesem Markt gehören neben dem Marktführer Fitbit (vgl. HBI 2014) auch die Hersteller Jawbone, Withings, Polar und Runtastic, um nur einige zu nennen. Fitbit hatte 2014 in den USA einen Marktanteil von 69 % (vgl. HBI 2014). Das Unternehmen agiert überdies in 46 Ländern weltweit mit 37.000 Einzelgeschäften (vgl. HBI 2014). In Deutschland bietet die Fa. Medisana, Neuss eine Kombination aus Fitnesstracker, Blutdruckmessgerät und Personenwaage an. Über Bluetooth werden die Werte an eine Gesundheits-App übertragen und in der Cloud gespeichert. Mittlerweile erschließen immer mehr neue Firmen den Markt, die zuvor nicht mit Aktivitätstrackern in Verbindung gebracht wurden. Dieser Aspekt deutet darauf hin, dass eine große Nachfrage nach Trackern existiert und der Markt bisher noch nicht gesättigt ist. Das Marktpotenzial lässt sich aus Abb. 2 errechnen. Hiernach haben 21,9 % aller Internetnutzer Interesse an einem Aktivitätsmesser, besitzen aber noch Keinen. 80 % aller Deutschen ab einem Alter von zehn Jahren nutzen das Internet (vgl. Destatis 2014); dies entspricht ca. 64 Mio. Nutzern. Somit liegt der potenzielle Marktanteil von TrackerKäufern bei ca. 14 Mio. Menschen. Zudem ergab eine Umfrage vom Bitkom im Jahr 2014, dass 16 % aller Bundesbürger einen Aktivitätstracker zu Weihnachten kaufen würden, entweder um ihn selbst zu nutzen oder zu verschenken (vgl. ZDNet 2014). 506 K. Becker und Y. Stammer Das große Interesse an der Dokumentation des eigenen Körpers zeigt sich in der Tatsache, dass 41 % aller Smartphone-Besitzer eine Gesundheits-App installiert haben und drei von vier Personen diese auch nutzen (vgl. IT Finanzmagazin o. J.). Der wachsende Markt der Smartphones, dem ein weiteres Wachstum in den nächsten Jahren prophezeit wird, kann daher als Indikator für das Wachstum des Marktes der Aktivitätstracker betrachtet werden. Derzeit liegt das Marktwachstum für Smartphones in Deutschland laut Bitkom bei 14 % (vgl. Absatzwirtschaft 2014). Die Modelle der Aktivitätstracker lassen sich anhand des Preises und der Funktionalitäten in zwei Gruppen einteilen. Die Basismodelle kosten zwischen 30 und 100 EUR (vgl. Testberichte o. J.) und bieten den Standard-Komfort in Form von Schritt- und Distanzmessung sowie Schlaftracking. Die Modelle der gehobenen Preisklasse kosten derzeit über 100 EUR (vgl. Testberichte o. J.) und verfügen zudem über GPS, Herzfrequenzmessung und Displays zur Anzeige eingehender Nachrichten und Anrufe. Der Erfolg eines Aktivitätstrackers am Markt hängt von den sogenannten Markteintrittsbarrieren ab. Diese lassen sich für die Tracker in die drei Faktoren Kompatibilität, Usability und Preis gliedern (vgl. MS&C 2014, S. 4). Die Kompatibilität eines Produktes hängt unmittelbar mit der Kaufentscheidung zusammen, da ein Aktivitätstracker mit dem Smartphone des Nutzers interagieren muss. Ohne Smartphone wäre die Nutzung nur eingeschränkt möglich, da die Bedienung zum größten Teil über eine App gesteuert wird. Folglich muss der Aktivitätstracker mit dem Betriebssystem kompatibel sein (vgl. MS&C 2014, S. 4). Auch die Vernetzung bereits genutzter Gesundheits-Apps ist für die Anschaffung ausschlaggebend. Die Usability beschreibt die Nutzungsqualität des Gerätes. Da Aktivitätstracker permanent getragen werden sollen, müssen diese einen bestimmten Tragekomfort gewähren. Hierzu gehören weiches Material ohne scharfe Kanten und eine ansprechende Größe bzw. Design (vgl. MS&C 2014, S. 4). Auch die Bedienbarkeit des Trackers zählt zur Usability. Diese sollte einfach und verständlich sein, um technische Laien als Kunden nicht auszuschließen. Der Preis als Markteintrittsbarriere ist bei jedem Menschen individuell verschieden und an die Erwartungen der Person bzw. die Funktionalität des Trackers gekoppelt. In Deutschland ist die Höhe des Preises nur zu 20 % kaufentscheidend (s. Abb. 3). Daraus lässt sich folgern, dass Kunden, die eine höhere Ausstattung wünschen, bereit sind, mehr Geld zu investieren. Dass die Kaufkriterien in den verschiedenen Ländern dieser Erde unterschiedlich stark ausgeprägt sind, zeigt eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung e. V. (GfK). Hier wurden noch zusätzlich die Kriterien „Marke“ und „Genauigkeit“ abgefragt. Daraus wird ersichtlich, dass in den westlichen Ländern (Großbritannien, USA, Deutschland) die Aufzeichnung der Fitness das wichtigste Einsatzgebiet ist. Im Osten (Südkorea, China) wird das Gerät hauptsächlich zur Gesundheitsaufzeichnung und Auswertung persönlicher Statistiken verwandt. Während für die Briten und US-Amerikaner der Preis die wichtigste Kaufbarriere darstellt, nennen die übrigen Länder die Kompatibilität als wichtigstes Kriterium. Die Genauigkeit wird allgemein als weniger wichtig gewertet (s. Abb. 4). Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag Relevanter Markt Marktpotential 507 Zweiter Gesundheitsmarkt Ca. 14 Mio. Menschen (Deutschland) Personen mit gesundheitlichen Risiken Personen, die zur Gruppe der Nutzer gehör en wollen Aktivitätstracker Marktanalyse Kundenkreise Technik-affine Personen Fitness-bewusste Personen Teilnehmer von Prämienprogrammender KK Marktführer Fitbit Fitbit Jawbone Wettbewer ber Withings Runtastic Polar Preisspanne 30,- (Beurer AS50)bis 280,- (Polar V800) Usability Markteintrittsbarrieren Kompatibilität zu GesundheitsApps, Betriebssystemen Preis Abb. 3  Mindmap Marktanalyse 5 Nutzer In diesem Abschn. werden die unterschiedlichen Nutzergruppen der Aktivitätstracker analysiert. Es wird gezeigt, aus welchen Gründen die Personen Geld in die Tracker investieren und welche Erwartungen an die Nutzung gekoppelt sind. Anschließend werden die Auswirkungen der Tracker auf den Lebensstil der Menschen untersucht. 5.1 Beschreibung Eine allgemeine Aussage, wer Aktivitätstracker nutzt und aus welchem Grund, lässt sich nicht treffen. Es können vier Gründe ausgemacht werden, warum jemand Interesse an 508 K. Becker und Y. Stammer Aktivitätstracker Haupteinsatzgebiete 44 % Aufzeichnung der Fitness Preis Kompatibili… Genauigkeit 45 % Aufzeichnung der Fitness 28% 20% 11% Preis Kompatibili… Genauigkeit 33 % Detaillierte Bewertung von persönlichen Statistiken 39 % Aufzeichnung der Fitness Preis Genauigkeit 13% 17% 27% Marke 20% Kompatibilität 32 % Aufzeichnung der Gesundheit 30% Kompatibilität Genauigkeit 15% Preis 19% 17% 17% Kompatibilität Benutzerfreun… 16% 19% 17% Abb. 4  Kaufkriterien von Aktivitätstrackern. (In Anlehnung an GfK 2014) den Geräten zeigt. Dabei ist es nicht immer möglich, eine Person eindeutig zuzuordnen; es existieren Mischformen. Der erste Grund wäre die Zugehörigkeit zu einer gesundheitlichen Risikogruppe. Für eine Person mit Herz-Kreislauf-Erkrankung ist es wichtig, dass eine kontrollierte, regelmäßige Bewegung stattfindet, bei der die Herzfrequenz überwacht werden kann. Diesen Menschen geht es nicht um sportliche Höchstleistungen, sondern um die gesundheitliche Sicherheit, die ihnen durch die Nutzung suggeriert wird. Die zweite Gruppe umfasst die Personen, die sehr an ihrer Gesundheit interessiert sind und ihre sportlichen Erfolge messen wollen. Diese Nutzer können in den Grafiken der App permanent ihre Erfolge kontrollieren und ihre Statistiken auswerten, um Fortschritte sichtbar zu machen. Sie werden versuchen, das Messen ihrer Daten mit wissenschaftlichem Anspruch auf die Spitze zu treiben (vgl. FAZ 2013). Der dritte Grund für die Nutzung eines Aktivitätstrackers ist die hohe technische Affinität einer Person. Der Wunsch, alles messbar zu machen und die Faszination an der Technik der Tracker führt zum Kauf des Gerätes. Diese Menschen sind weniger an der Auswertung der Daten als an den technischen Details interessiert. Für sie ist „Wearable Computing“ ein Modethema, das sie „mitnehmen“ müssen (FAZ 2013). Die vierte Gruppe umfasst Personen, die „dazu gehören“ wollen; Menschen in ihrem Umfeld (Freunde, Familie) besitzen bereits einen Aktivitätstracker. Diese Nutzer sind daran interessiert, ihre Daten in sozialen Netzwerken zu teilen, um dadurch Anerkennung anderer und eine Einbindung in eine Gruppe zu erlangen. Eine fünfte Nutzergruppe könnte künftig dadurch entstehen, dass die Tracker als Gesundheitsindikator im Gesundheitswesen, respektive von den Krankenkassen eingesetzt werden. Den Nutzern geht es um Vergünstigungen der Krankenkasse, welche sie aufgrund der regelmäßigen Übertragung ihrer Auswertung erhalten. Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 509 5.2 Auswirkungen auf den Lebensstil Die Auswirkungen auf den Lebensstil sind in erster Linie von der Einstellung des Nutzers abhängig. Lehnt dieser die Vorgaben des Trackers ab, kann das Gerät keine positiven Änderungen bewirken. Wenn jemand einen Aktivitätstracker trägt, um seine Bewegung zu messen und bereit ist, Ratschläge des Programms anzunehmen, kann sich dies positiv auf seine Gesundheit auswirken. Der Tracker führt dazu, dass der Nutzer eine permanente, objektive Kontrolle über sein Bewegungsprofil hat. Subjektive Empfindungen wie „ich hatte zu wenig Schlaf“ oder „ich bin heute viel gelaufen“ werden objektiv skaliert und in visuelle Darstellungen (Diagramme) umgewandelt. So können auch Veränderungen der Profile über die Wochen- oder Monatsdarstellungen wahrgenommen werden. Kleine Veränderungen, die sich stetig in eine Richtung entwickeln, werden als Trend (Kurve auf- oder abwärts) erkannt. Der Nutzer kann sich selbst persönliche Ziele setzen und deren Erfolg kontrollieren. Der persönliche Ehrgeiz, besser zu werden, wird durch die permanente Visualisierung gefördert. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei Aktivitätstrackern mit Display. Die ständige, aktuelle Übersicht über die Anzahl der Schritte, der verbrauchten Kalorien, der zurückgelegten Distanz und eventuell der Herzfrequenz kann jederzeit die Motivation fördern. Überlegungen wie „wenn ich jetzt die eine Station laufe, statt die Bahn zu nehmen, habe ich meine Schrittanzahl erreicht“ führen dazu, dass Bewegungsmuster neu überdacht und geändert werden. Es können aber auch persönliche Schlussfolgerungen aus den Daten gezogen werden. Protokolliert man seinen kompletten Tagesablauf mit dem Tracker hinsichtlich Essen, Bewegung, Stress und vergleicht diese mit den Schlafprofilen, lassen sich Zusammenhänge für einen gesunden Schlaf definieren. Bei den Trackern, die mit Herzfrequenzmessung ausgestattet sind, ist es durch die permanente Überwachung für den User möglich, Stresssituationen zu erkennen, die den Puls erhöhen. Dieses Wissen kann dann dazu genutzt werden, solche Situationen bewusst zu vermeiden oder entsprechende Entspannungstechniken anzuwenden. Zusätzlich kann sich der Nutzer mit anderen Personen vergleichen oder seine Ergebnisse in sozialen Netzwerken teilen. Dies führt dazu, dass die eigenen Ergebnisse in Relation gesetzt und somit eingeschätzt werden können. Dieser Vergleich kann ein Anreiz sein, besser zu werden. Kommentare anderer Nutzer können diesen Effekt verstärken. So entsteht z. B. ein Wettkampf um die meisten Schritte oder die weiteste Distanz. Ein besonderer Effekt, der auch bei der Nutzung von Aktivitätstrackern zu beobachten ist, ist der Sentinel-Effekt. Dieser besagt, dass Personen versuchen, ihre Leistungen zu verbessern, wenn sie wissen, dass diese überwacht und protokolliert werden (vgl. Healthcare IT News 2014). Bezogen auf die Nutzung der Tracker bedeutet das, dass der User bestrebt ist, möglichst viele Schritte zu machen, sobald er das Gerät trägt. Dies führt dazu, dass er Fahrstühle und Rolltreppen meidet und stattdessen die Wege zu Fuß geht. Dieser Effekt ist mit der Eigenmotivation durch die Visualisierung der Daten (s. zweiter Abs. dieses Abschn.) vergleichbar, wird aber durch die Überwachung anderer 510 K. Becker und Y. Stammer Personen ausgelöst. Das Gefühl, „gut dazustehen“ bzw. „sich nicht zu blamieren“ ist hier ausschlaggebend. Die Stanford University School of Medicine hat herausgefunden, dass das Tragen eines Schrittzählers die Bewegung des Users signifikant erhöht, was zur Gewichtsabnahme und damit zu einer Verbesserung des Blutdrucks führt (vgl. Stanford Medicine 2007). Es handelt sich dabei etwa um etwa 2000 Schritte oder eine Meile Distanz. 6 Datennutzung durch die Krankenkasse In diesem Abschn. wird die öffentliche Nutzung von Aktivitätstrackern durch die Krankenkassen als Gesundheitsindikator beschrieben. Zunächst werden die Modelle „Generali“ und „AOK Nordost“ vorgestellt. Danach wird die Validität der erhobenen Daten diskutiert. 6.1 Das Modell „Generali“ Die Krankenkassen versuchen bereits durch viele unterschiedliche Bonusprogramme, Anreize zu schaffen, damit sich die Menschen zum Beitritt ihrer Krankenkasse entscheiden; hierzu gehören z. B. Sport- und Vorsorgeprogramme. Die private Krankenkasse Generali hat sich an dieser Stelle das Bonussystem „Vitality“ ausgedacht, welches die Nutzung von Aktivitätstrackern beinhaltet. Ihre Mitglieder sollen dabei angehalten werden, die Geräte dauerhaft zu tragen und die Ergebnisse an die Krankenkasse zu übermitteln (vgl. FAZ 2014a). Generali will versuchen, aufgrund der Daten den Lebensstil des Mitglieds zu bewerten und entsprechende Prämien dafür auszuschütten. Laut Konzernchef Greco soll damit die Bindung zu den Kunden gestärkt werden (vgl. FAZ 2014a). Der Gedanke ist im Gesundheitswesen nicht neu: Auch gesetzliche Krankenversicherungen wie die AOK Nordost (s. Abschn. 6.2) fordern ihre Mitglieder auf, Daten über Ernährung, Sport, Tabak- und Alkoholkonsum an sie zur Auswertung zu übermitteln (vgl. Janssen 2015a, S. 114). In den USA wird das Modell „Generali“ bereits seit drei Jahren von United Healthcare angeboten (vgl. FAZ 2014a). Dass dieses Modell auch hierzulande künftig auf Zuspruch stoßen wird, zeigt eine Studie der Schwenninger Krankenkasse und der Stiftung „Die Gesundarbeiter“. Diese führten eine Befragung unter 1000 Jugendlichen zwischen 14 und 34 Jahren durch. Demnach befürworten 50 % aller befragten Jugendlichen das Sammeln persönlicher Gesundheitsdaten per App, nur 20 % lehnen dies kategorisch ab (vgl. Presseportal 2015). Allerdings hat eine Prämie für gesundheitsbewusstes Verhalten bei den Menschen keine besonders hohe Priorität. Eine aktuelle, repräsentative Umfrage zu Krankenkassenbeiträgen ergibt, dass eine gute Versorgung und Leistung der Krankenkasse, sowie niedrige, stabile Beiträge höher bewertet werden (vgl. Die Schwenninger 2014, S. 9). Dennoch behauptet Generali, dass jeder Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 511 fünfte Deutsche eine risikogerechte Einordnung seiner Lebensweise in Bezug auf die Versicherungsprämien berücksichtigt wissen will (vgl. Janssen 2015a, S. 114). Zu dem Vorhaben von Generali gibt es eine Reihe von Fragen zu klären. Diese betreffen zunächst das Thema „Datenschutz“. Wer kann wie und auf welche Daten zugreifen? Wie und wo werden diese gespeichert? Dienen sie nur der reinen Nutzung durch die Krankenkasse oder dürfen sie auch für medizinische Bereiche genutzt werden? Gerade die Frage der Nutzung für die medizinische Forschung birgt immenses Potenzial. Die private Erhebung von Gesundheitsdaten steigt durch die Nutzung der Gesundheits-Apps und Geräte stetig weiter an. Besonders junge Menschen generieren dadurch bereits einen riesigen Datenpool über ihre Lebensgewohnheiten, ihr Essverhalten, ihre Stimmungslage, Schlaf- und Bewegungsprofile sowie ihre Vitalparameter (Herzfrequenz, Blutdruck). Diese Informationen könnten für die Identifikation von Krankheitsverläufen herangezogen werden, ähnlich der Datensammlung im Rahmen der Nationalen Kohorte. Die Frage nach der Validität der erhobenen Daten wird in Abschn. 6.3 näher beleuchtet. Des Weiteren muss geklärt werden, ob eine Weitergabe der Daten an den Arbeitgeber ausgeschlossen werden kann. Dies könnte Auswirkungen auf das Verhalten des Arbeitnehmers im privaten Umfeld nach sich ziehen. Laut Schätzungen sind in den USA bereits jetzt 50 Mio. Menschen in Fitnessprogramme ihrer Arbeitgeber involviert. Es wird erwartet, dass dort in vier Jahren jeder Vierte einen Aktivitätstracker vom Arbeitgeber, Sportstudio oder der Krankenkasse erhält (vgl. Berliner Morgenpost 2014). Eine weitere Frage des Modells „Generali“ lautet: Wer entscheidet, was ein gesunder Lebensstil ist? Kann das permanente Streben nach Selbstoptimierung nicht auch Stressauslöser sein, der wiederum schädlich für die Gesundheit ist (vgl. FAZ 2014a). Lebt jemand gesund, nur weil er sich viel bewegt – und wo ist die Grenze? Ist eine Laufstrecke von 20 km täglich noch gesundheitsförderlich? Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat jetzt herausgefunden, dass Joggen nur bei moderater Geschwindigkeit und für ein bis 2,5 Stunden pro Woche gesundheitsförderlich ist und die Lebenserwartung steigert. Personen, die über Jahre hinweg exzessiv trainieren, haben demnach die gleiche Lebenserwartung wie Nicht-Sportler (vgl. N-TV 2015). Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Bewertung von Extremsportarten wie z. B. Skifahren. Jemand, der regelmäßig Ski fährt, ist körperlich gut konditioniert und hat viel Bewegung. Allerdings ist die Verletzungsgefahr bei dieser Sportart sehr hoch, was Kosten für die Krankenkasse nach sich ziehen könnte. Sollte es daher durch eine Prämie belohnt werden? Die Nutzung von Aktivitätstrackern für die Prämienzahlung einer Krankenkasse ist auch eine ethisch-moralische Frage, da sie die Frage nach dem „gläsernen Menschen“ aufwirft. Ist die permanente Überwachung der Vitalwerte und Bewegungen durch eine öffentliche Institution ethisch zu vertreten oder wird dadurch die Privatsphäre verletzt? Wird mit dem Telemonitoring nicht eine Grenze zur Intimität überschritten (vgl. FAZ 2014a)? Zuletzt stellt sich die Frage, welche Konsequenzen der Krankenversicherungen jemand zu fürchten hat, wenn er sich weigert, einen Tracker zu tragen und die Daten zu 512 K. Becker und Y. Stammer übermitteln? Wird dann automatisch ein schlechter Lebenswandel unterstellt? Und was ist mit den Menschen, die keine optimalen Profile liefern, sich z. B. zu wenig bewegen? Wird ihnen langfristig die Versorgung für daraus resultierende Krankheiten verweigert (vgl. Janssen 2015a, S. 115)? Anders als bei den privaten Krankenkassen sind derartige Einschränkungen bei den gesetzlichen Kassen nicht zu erwarten, da sie auf dem Solidarprinzip basieren. Es stellt sich auch die Frage, ob man Versicherte dafür benachteiligen darf, indem sie mehr zahlen müssen, nur weil sie von ihrem Persönlichkeitsrecht Gebrauch machen (vgl. FAZ 2014a). 6.2 Das Modell AOK Nordost Auch die AOK Nordost bietet unter der Rubrik: „Fit bleiben und sparen“ eine Fitnessplattform und eine finanzielle Beteiligung am Erwerb von Fitnesstrackern und Smartwatches (AOK NO 2015): „Training im Studio. Fit bleiben mit AOK mobil vital, der Gesundheits- und Fitnessplattform (+ Tracker-App für unterwegs) und sparen mit dem AOK-Gesundheitskonto. In Kooperation mit dem Unternehmen dacadoo ag bietet die AOK Nordost eine innovative Gesundheits- und Fitnessplattform an. Mithilfe der dacadoo Tracker-App werden Ihre Aktivitäten aufgezeichnet und automatisch auf diese Gesundheitsplattform übertragen. Als AOK-Versicherter können Sie sich Ihre kostenfreie Jahreslizenz im Wert von knapp 60 Euro sichern. Als Kunde der AOK Nordost profitieren Sie außerdem seit dem 1. Januar 2015 von Ihrem persönlichen AOK-Gesundheitskonto. In diesem Rahmen bezuschussen wir unter anderem die von Ihnen gezahlten Gebühren für E-Health-Angebote mit einmalig bis zu 20 Euro pro Kalenderjahr und darüber hinaus beteiligen wir uns jedes 2. Kalenderjahr an den Kosten für z. B. Pulsmesser oder Self-Tracker bis zu 50 % der Kosten, max. 50 Euro.“ 6.3 Datenvalidität Die Validität der Daten hängt unmittelbar mit dem Verhalten und der Ehrlichkeit des Nutzers zusammen, da sie sonst manipulierbar sind. Hierzu gehören insbesondere die Werte, welche der Träger des Trackers manuell in der App erfasst (Größe, Gewicht etc.). Aber auch die Daten, die über die Sensoren gemessen werden, können durch entsprechendes Verhalten des Users manipuliert werden. Da die Zählung der Schritte auf eine Erschütterung des Körpers zurückzuführen ist, können diese im Sitzen durch eine gleichmäßige Handbewegung nachgeahmt werden, ohne dass sich die Person bewegen muss. Es wäre auch denkbar, dass eine zweite Person den Tracker trägt und dessen Daten übernommen werden. Auch ohne bewusste Manipulation des Nutzers können die Daten Abweichungen von der Realität aufweisen. Dies gilt für die Erfassung der Schritte, die Berechnung der zurückgelegten Distanzen und die verbrauchten Kalorien. Die Anzahl der Schritte kann Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 513 dabei zwischen einem Prozent und sieben Prozent von der tatsächlichen Anzahl abweichen (vgl. Janssen und Porteck 2015, S. 108). Daher ist die Validität dieser Werte eher relativ als absolut zu betrachten. Das bedeutet, dass ein Tracker zwar jeden Tag gleich misst und die Relationen stimmen, diese Werte aber nicht die absolute Genauigkeit widerspiegeln bzw. mit Ergebnissen anderer Geräte verglichen werden können. Die Herzfrequenz hingegen ist täuschungssicher, solange der Tracker vom richtigen Nutzer getragen wird. Die Werte werden entweder über einen Bioimpedanz-Sensor wie bei Jawbone (vgl. Jawbone 2015) oder einen optischen Sensor wie den PurePulse™ LEDs von Fitbit (vgl. Fitbit 2015a) erfasst. Es ist es daher nicht möglich, die Frequenz dauerhaft niedrig zu halten, um eine gute Kondition vorzutäuschen. 6.4 Zusammenfassung Diese kurze Ausarbeitung zeigt auf, dass die Nutzung von Aktivitätstrackern als Gesundheitsindikator sehr differenziert zu betrachten ist, da sie von unterschiedlichen Faktoren abhängig und nur begrenzt einsetzbar ist. Das Tragen eines Aktivitätstrackers kann bei regulärer Nutzung das Verhalten einer Person positiv beeinflussen. Der Sentinel-Effekt führt dazu, dass der Nutzer sich mehr bewegt als ohne Tracker. Dies hat wiederum positive Auswirkungen auf Körpergewicht und Blutdruck. Besonders zu empfehlen ist das Tragen daher für die Nutzergruppen mit gesundheitlichen Risikofaktoren und gesundheitsbewussten Personen, die ihre sportlichen Aktivitäten verbessern wollen, da auch Trendentwicklungen sichtbar gemacht werden. Allerdings besteht die Gefahr, dass der Anreiz zur Nutzung im Laufe der Zeit verloren geht, wenn sich erst mal ein Bewegungsablauf eingependelt hat und alle Ziele regelmäßig erreicht werden (vgl. Spehr 2014). Von einer wirtschaftlichen Nutzung durch die Krankenkassen ist derzeit noch abzuraten. Zum einen fehlt die Datenvalidität, zum anderen sind Fragen zu klären, die den Datenschutz, die Auswertung und Beurteilung der gewonnenen Daten betreffen. Aufgrund der fehlenden Validität ist derzeit auch keine Akzeptanz für den ersten Gesundheitsmarkt im Bereich der Telemedizin zu erwarten. Als Ausblick in die Zukunft lässt sich vermuten, dass der Weg der Aktivitätstracker aufgrund der fortschreitenden, technischen Vernetzung weitergehen wird. Bereits heute gibt es Gesundheitsplattformen, wie HealthVault der Firma Microsoft (vgl. HealthVault 2015), die neben den Daten der Aktivitätstracker auch Werte anderer Geräte (Personenwaage, Blutdruckmessgerät etc.) speichern. Bei Bedarf kann der Nutzer diese Daten einem Arzt zur Verfügung stellen. Denkbar ist, dass sich künftig alle Funktionen eines Fitnesstrackers mit denen einer Smartwatch zu einem Gerät verbinden, was die Komfortabilität deutlich erhöhen würde (vgl. FAZ 2013). Es gibt bereits erste Versuche der Oregon State University, auch die Umweltbelastungen des Trägers zu ermitteln (vgl. FAZ 2014b), wodurch sich diese Geräte zur Gesundheitsüberwachung weiter komplettieren ließen. 514 K. Becker und Y. Stammer Interessant dürfte die Nutzung der erhobenen Daten auch für die medizinische Forschung sein. In den Clouds der Anbieter befinden sich bereits jetzt riesige Datenmengen, die möglicherweise Rückschlüsse auf Krankheitsentwicklungen oder Zusammenhänge der Parameter von Aktivitätstrackern wie Bewegung, Herzfrequenz und Schlafverhalten zulassen. Sollte die Validität der Daten von Aktivitätstrackern weiter verbessert werden, ist auch eine Ausweitung auf den ersten Gesundheitsmarkt denkbar. Bereits jetzt zeichnet sich durch die Übernahme des Telemedizin-Spezialisten BodyTel durch die MIC AG (vgl. MIC AG 2014) eine medizinische Nutzung von Wearables ab. Literatur Absatzwirtschaft (2014) Acht Jahre Smartphone-Boom: Aktuelles Marktwachstum liegt bei zwölf Prozent. http://www.absatzwirtschaft.de/acht-jahre-smartphone-boom-aktuelles-marktwachstum-liegt-bei-zwoelf-prozent-16950/. Zugegriffen: 25. Jan. 2015 AOK Nordost (2015) Fit bleiben und sparen. https://www.aok.de/nordost/nachrichten/ index_249632.php. Zugegriffen: 16. Aug. 2015 Berliner Morgenpost (2014) Der Gläserne Mensch. http://www.morgenpost.de/printarchiv/wirtschaft/article134645503/Der-glaeserne-Mensch.html. Zugegriffen: 8. Febr. 2015 BITKOM (2014) Jung und vernetzt, S 18. http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM_Studie_Jung_und_vernetzt_2014.pdf. Zugegriffen: 26. Jan. 2015 CCS Insight (2014) Smartwatches and smart bands dominate fast-growing wearables market. http://www.ccsinsight.com/press/company-news/1944-smartwatches-and-smart-bands-dominate-fast-growing-wearables-market. Zugegriffen: 26. Jan. 2015 Destatis (2014) 80 Prozent der Personen ab 10 Jahren nutzten im ersten Quartal 2014 das Internet. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/ITNutzung/Aktuell_ITNutzung.html. Zugegriffen: 11. Febr. 2015 Die Schwenninger (2014) Bevölkerungsrepräsentative Umfrage Krankenkassen Beiträge. http:// presse.die-schwenninger.de/fileadmin/presse/Dez_2014_Studie_Zusatzbeitrag.pdf. Zugegriffen: 5. Febr. 2015 FAZ (2013) Motivation am Plastikband. http://www.faz.net/aktuell/technik-motor/umwelt-technik/ fitness-tracker-motivation-am-plastikband-12215599.html?printPagedArticle=true#pageIn dex_2. Zugegriffen: 26. Jan. 2015 FAZ (2014a) Die Veröffentlichung unserer Körper. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/generaliapp-preisnachlass-bei-zusenden-der-koerperdaten-13287991.html?printPagedArticle=true#pag eIndex_2. Zugegriffen: 28. Dez. 2014 FAZ (2014b) Ein Jahr mit dem Fitnessarmband. http://www.faz.net/aktuell/technik-motor/computer-internet/ein-jahr-das-fitnessarmband-jawbone-up-im-test-12883098.html?printPagedArticle =true#pageIndex_2. Zugegriffen: 24. Jan. 2015 Fitbit (2015a) Erlebe die Revolution in der Herzfrequenzmessung. https://www.fitbit.com/de/ purepulse#tech. Zugegriffen: 6. Febr. 2015 Fitbit (2015b) PurePulseTM – Herzfrequenztechnologie nur von Fitbit. https://www.fitbit.com/de/ purepulse. Zugegriffen: 11. Jan. 2015 Fittkau & Maaß (2014) Report „Wearables“. http://apfelblog.ch/wp-content/uploads/W3B38_Fitness_Armband_Tracker_Nutzer_Zufriedenheit_Nutzung.jpg. Zugegriffen: 10. Febr. 2015 Garmin (2015) Join the movement. http://sites.garmin.com/de-DE/vivo/vivosmart/. Zugegriffen: 11. Jan. 2015 Sensorbasierte Gesundheitsservices für mehr Fitness im Alltag 515 GFK (2014) Fitnesskontrolle ist wichtiges Einsatzgebiet für Wearable Devices. http://www.gfk. com/PublishingImages/Press/GfK-Infographic-Activity-Tracker_deutsch.jpg. Zugegriffen: 10. Febr. 2015 HBI (2014) Fitbit App Update erfasst Lauf-, Wander, und Workout-Daten in Echtzeit. http://www. hbi.de/kunden/fitbit/pressemitteilung/fitbit-app-update-erfasst-lauf-wander-und-workout-datenin-echtzeit/. Zugegriffen: 25. Jan. 2015 Healthcare IT News (2014) Making health addictive: use the sentinel effect. http://www.healthcareitnews.com/blog/making-health-addictive-use-sentinel-effect. Zugegriffen: 3. Febr. 2015 HealthVault (2015) Übernehmen Sie die Kontrolle über Ihre Gesundheit. https://www.healthvault. com/de/de. Zugegriffen: 8. Febr. 2015 IDC (2014) Worldwide wearable computing device 2014-2018 forecast and analysis. http://www. idc.com/getdoc.jsp?containerId=prUS24794914. Zugegriffen: 25. Jan. 2015 IT Finanzmagazin (o. J.) Self-Tracking: Jeder Dritte würde gesundheitsbezogene Daten an Krankenversicherer weitergeben. http://www.it-finanzmagazin.de/self-tracking-jeder-dritte-wuerdegesundheitsbezogene-daten-an-krankenversicherer-weitergeben-8640/. Zugegriffen: 25. Jan. 2015 Janssen J-K (2015a) Big Brother und die Körperdaten. CT Mag Comput Tech 3(2015):114–117 Janssen J-K (2015b) Computer zum Kuscheln. CT Mag Comput Tech 3(2015):96–99 Janssen J-K, Porteck S (2015) Protokollanten. CT Mag Comput Tech 3(2015):108–114 Jawbone (2015) UP3-der fortschrittlichste Tracker der Welt. http://jawbone.com/store/buy/up3. Zugegriffen: 29. Jan. 2015 MIC-AG (2014) MIC AG übernimmt deutschen Telemedizin-Spezialisten BodyTel. http:// www.mic-ag.eu/de/presse/mic-ag-uebernimmt-deutschen-telemedizin-spezialisten-bodytel. html?file=files/mic-ag/presse/2014/2014.12.08_mic%20AG%20Pressemitteilung%20Uebernahme%20BodyTel.doc.pdf. Zugegriffen: 11. Febr. 2015 Microsoft (2015) Live healthier and be more productive. http://www.microsoft.com/MicrosoftBand/en-us. Zugegriffen: 29. Jan. 2015 MS&C (2014) See it! Hear it! Wear it! Wearables – die nächste Evolutionsstufe zum Internet of Things. http://www.muecke-sturm.de/wp-content/uploads/2014/09/MSC_WP_14-1-Wearables. pdf. Zugegriffen: 25. Jan. 2015 N-TV (2015) Negative Folgen vom Training: Exzessives Joggen belastet Kreislauf. http://www.ntv.de/wissen/Exzessives-Joggen-belastet-Kreislauf-article14440106.html. Zugegriffen: 6. Febr. 2015 Polar (2015) Aktivitätstracking mit smarter Anleitung. http://www.polar.com/de/produkte/werde_ aktiv/fitness/loop. Zugegriffen: 11. Jan. 2015 Presseportal (2015) Mobile Health: Jeder zweite junge Bundesbürger findet digitale Gesundheitshelfer gut/Regierung legt Entwurf für E-Health-Gesetz auf. http://www.presseportal.de/ pm/106600/2930189/mobile-health-jeder-zweite-junge-bundesb-rger-findet-digitale-gesundheitshelfer-gut-regierung-legt. Zugegriffen: 3. Febr. 2015 Runtastic (2015) Runtastic shop. https://www.runtastic.com/shop/de/runtastic-orbit?utm_ source= runtastic.com&utm_medium= link&utm_campaign= shop.runsca1&utm_ content=run_sessions/index.footer. Zugegriffen: 11. Jan. 2015 Samsung (2015) Samsung shop. http://www.samsung.com/de/consumer/mobile-device/wearable/ wearable/SM-R3500ZKADBT. Zugegriffen: 30. Jan. 2015 Spehr M (2014) Ein Jahr mit dem Fitness-Armband. FAZ 11.04.2014. http://www.faz.net/aktuell/ technik-motor/computer-internet/ein-jahr-das-fitnessarmband-jawbone-up-im-test-12883098. html?printPagedArticle=true#pageIndex_2. Zugegriffen: 28. März 2015 Stanford Medicine (2007) Pedometers help people stay active, Stanford study finds. http://med. stanford.edu/news/all-news/2007/11/pedometers-help-people-stay-active-stanford-study-finds. html. Zugegriffen: 3. Febr. 2015 516 K. Becker und Y. Stammer Statista (2015) Anzahl der Smartphone-Nutzer in Deutschland. http://de.statista.com/statistik/ daten/studie/198959/umfrage/anzahl-der-smartphonenutzer-in-deutschland-seit-2010/. Zugegriffen: 11. Jan. 2015 Testberichte (o. J.) Aktivitätstracker Test. http://www.testberichte.de/sport-und-fitness/3350/aktivitaetstracker.html. Zugegriffen: 29. Dez. 2014 Withings (2015) Pulse Ox. Track. Improve. http://www.withings.com/de/withings-pulse.html. Zugegriffen: 29. Jan. 2015 ZDNet (2014) Smartphones und Tablets sind 2014 die gefragtesten Weihnachtsgeschenke. http://www.zdnet.de/88212511/smartphones-und-tablets-sind-auch-2014-die-gefragtestenweihnachtsgeschenke/. Zugegriffen: 24. Jan. 2015 Über die Autoren Prof. Kurt Becker  lehrt als Professor und Studiengangsleiter für Gesundheitstechnologiemanagement an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen. Ehrenamtliche Tätigkeiten übt er als Yogalehrer, Fachjournalist, sowie als Mitglied verschiedener Fachverbände: VDE DGBMT (Beirat, FA GIAS), GMDS (AG MMM Leitung), BVMI (LV NRW), dfjv, IEEE aus. Kontakt: Kurt.Becker@Apollon-Hochschule.de Yvonne Stammer ist gelernte Medizinisch-technische Radiologieassistentin (MTRA) und schloss im April 2015 als erste Absolventin den Studiengang Gesundheitstechnologie Management (B.A.) an der Apollon Hochschule für Gesundheitswirtschaft ab. Im Rahmen des Studiums führte sie im Fachbereich E-Health ein Projekt zur Eignung von Aktivitätstrackern als Gesundheitsindikator durch. Derzeit studiert Frau Stammer den konsekutiven Master of Arts der Gesundheitsökonomie. Kontakt: stammer@radiologen-hannover.de AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung Anke Häber und Thomas Nitzsche 1 Einleitung Einer der größten Erfolgsfaktoren, die für den Einsatz von regionalen AAL-Lösungen sprechen, ist die Unterstützung von Leistungsprozessen zwischen dem häuslichen Bereich der Patienten und den Dienstleistern des Gesundheitswesens. Durch definierte Workflows sollen insbesondere ältere, chronisch kranke Personen unterstützt werden, die Pflegebedarf haben und von einem langfristigen Gesundheitsmonitoring profitieren können. Hierdurch ergeben sich eine Reihe neuer Anforderungen an die Kommunikationspartner häuslicher Bereich und Leistungserbringer (LE), z. B. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und niedergelassenen Ärzten. Aus Sicht der Institutionen des Gesundheitswesens sind dabei vor allem transparente Workflows und der Einsatz von standardisierten Behandlungspfaden von Interesse (vgl. BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL 2011). In Deutschland existiert eine historisch bedingte Trennung des ambulanten und stationären Sektors. Diese Entwicklung manifestiert einerseits zunehmend ihre medizinischen Prozesse, fokussiert jedoch andererseits nur den eigenen Sektor. Aufgrund dessen finden sich verschiedene AAL-Architekturkonzepte in der Theorie und in regional umgesetzten Projekten wieder, wo jedoch Infrastrukturkomponenten zur übergreifenden Steuerung der in diesem Zusammenhang anfallenden Aufgaben für Gesamtdeutschland fehlen. A. Häber (*)  Fakultät Physikalische Technik/Informatik, Westsächsische Hochschule Zwickau, Zwickau, Deutschland E-Mail: anke.haeber@fh-zwickau.de T. Nitzsche  InterSystems GmbH, Darmstadt, Deutschland E-Mail: Thomas.Nitzsche@InterSystems.com © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_27 517 518 A. Häber und T. Nitzsche Entsprechende Workflows, die für den AAL-Bereich einsetzbar wären, sind gegenwärtig nur in einigen Institutionen implementiert und basieren auf heterogenen Infrastrukturen. Der erforderliche Datenaustausch zwischen der Wohnung und Leistungserbringern findet nicht statt. Einheitliche Kommunikations- bzw. Dokumentenstandards werden nicht verwendet. Die Definition transinstitutioneller (Versorgungs-)Prozesse wird somit erschwert. In der Folge stehen die für Behandlungsmaßnahmen notwendigen Daten, die auch aus der Selbstdokumentation und automatischen Erfassung in der Wohnung resultieren, nicht zur Verfügung. Die Datenbasis für ein langfristiges Gesundheitsmonitoring fehlt völlig oder ist unvollständig. Um die zunehmende medizinische Spezialisierung sowie den mündigen Patienten zu unterstützen und zu fördern, wird vonseiten des Gesetzgebers eine Zusammenarbeit der Institutionen unterstützt (§ 140 a–d SGB V, § 63–65 SGB V). Auf organisatorischer Ebene soll die Zusammenarbeit durch neue Ideen und Umsetzung stetig optimiert werden. Ziel des Beitrags ist es, eine Übersicht über klinische und pflegeunterstützende Prozesse, AAL-Architekturen und Integrationsstandards zu geben, die sich als Konglomerat in einem vorgeschlagenen Integrationsmodell wiederfinden. 2 Prozessbetrachtungen Um gerade ältere Menschen, die über gesundheitliche Einschränkungen verfügen, bestmöglich unterstützen und medizinisch begleiten zu können, ist es heute notwendig, die Lebensgewohnheiten und die Selbstdokumentation des Patienten auch außerhalb von medizinischen Einrichtungen, das heißt in seinem Zuhause, mit in die Versorgungskette zu integrieren. Die Gesetzgebung ist seit Jahren bemüht, die Leistungsbereiche im Gesundheitswesen zu vernetzen, den Patienten nicht mehr symptombezogen zu behandeln, sondern ihn in seinem Behandlungsprozess bestmöglich zu begleiten. Mit der Überalterung der Bevölkerung geht einher, dass nicht nur in medizinischen Versorgungseinrichtungen eine Dokumentation und Versorgung des Patienten gewährleistet werden muss, sondern dass auch seine Wohnung in die Versorgungskette eingeschlossen werden muss. Betrachtet man die Wohnsituation gerade älterer Menschen, so lassen sich vor allem vier Klassen unterscheiden (vgl. Ministerium für Arbeit und Soziales, Baden-Württemberg 2006): 1. Der ältere Mensch lebt in einer eigenen Wohnung oder einem eigenen Haus. Er hat über die Jahre Immobilieneigentum geschaffen, das er jetzt nutzen kann. Umbauten am Haus und in der Wohnung verantwortet er in der Regel selber, er schafft damit für sich Mehrwert. In dieser Wohnsituation ist es nicht unüblich, dass mehrere Menschen das Haus oder die Wohnung bewohnen, häufig sind Partner Mitbewohner, teilweise auch die erwachsenen Kinder und/oder Enkel. 2. Der ältere Mensch lebt in einer Mietwohnung. Meistens ist er bereits über einen langen Zeitraum Mieter der Wohnung, häufig auch mit entsprechend niedrigeren Mieten. AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung 519 Änderungen an der Wohnung selbst kann er nur mit Einverständnis des Vermieters vornehmen, finanziell hat der Vermieter die Änderungen zu tragen, was er nur tun wird, wenn die Änderungen von allgemeinem Nutzen sind und sich amortisieren. Auch hier ist nicht selten der Partner Mitbewohner der Wohnung. 3. Der ältere Mensch lebt in einem teilweise betreuten Wohnen. Er hat sich bewusst dazu entschieden, die Wohnsituation zu wechseln, um nicht irgendwann alleine und gegebenenfalls hilflos alleine in einer Wohnung oder einem Haus zu leben. Häufig liegen schon gesundheitliche Einschränkungen vor, die das Leben in den bisher genannten Wohnsituationen nicht mehr oder nicht mehr lange erlauben. Betreutes Wohnen ist häufig in Form von Mehrwohneinheiten-Häusern realisiert, ein Pflegedienst kann ins Haus kommen, in einigen Fällen ist ein Ansprechpartner immer vor Ort. Auch hier sind Partnerschaften zu Hause, oft aber lebt der Mensch alleine in einer Wohneinheit. 4. Der ältere Mensch lebt in einem Pflegeheim. Diese Situation tritt in der Regel erst ein, wenn er nicht mehr fähig ist, sich selber zu versorgen und permanent auf Hilfe angewiesen ist. Hier bewohnt der ältere Mensch (häufig sind es schon alte Menschen, vor allem über 80 Jahre) ein Zimmer allein oder auch mit mehreren anderen Menschen gemeinsam. Einfluss auf die Einrichtung des Zimmers oder die Ausstattung mit technischen Geräten hat der ältere Mensch in der Regel nicht. Die Unterstützung durch Assistenzsysteme im häuslichen Bereich kann auf drei Ebenen geschehen: • Auf konzeptueller Ebene: Konzepte für AAL adressieren den häuslichen Bereich des Nutzers zur Schaffung von intelligenten Umgebungen durch die Interaktion von technischen Produkten (assistive Gesundheitstechnologien) und durch die Gewährleistung einer hohen Dienstgüte dieser Produkte. Als Konzepte können verschiedene Aspekte des täglichen Lebens untergeordnet werden, z. B. Telemonitoring, Ausgleich von Mobilitätseinschränkungen, Versorgung und soziale Interaktion, Schutz und Sicherheit im häuslichen Bereich (vgl. BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL 2011). • Auf Produktebene: Gemäß Fraunhofer IGD steht AAL für die Plug-and-play-Fähigkeit von technischen Geräten, die sich „selbstständig, proaktiv und situationsspezifisch“ (Fraunhofer IGD 2012, S. 3) den Bedürfnissen und Zielen des Benutzers anpassen, um ihn im täglichen Leben zu unterstützen. Die Nutzung von Informationsund Kommunikationstechnik in Produkten, z. B. AAL- und Telemedizin-Systeme im häuslichen Bereich, Sensorik und Aktorik, durch Ältere dient hierbei verschiedenen Aspekten, beispielsweise der Kompensation physischer und psychischer Einschränkung, der Steigerung von Sicherheitsbedürfnissen oder der Förderung der Lebensqualität. • Auf Dienstleistungsebene: Die Schaffung von AAL-Diensten dient der Steigerung der Selbstständigkeit und Gewährleistung eines „unabhängigen“ Lebens. Zu AAL-Diensten zählen beispielsweise Gesundheitsprävention und -therapie, häusliche Pflege, 520 A. Häber und T. Nitzsche Assistenz und Sicherheitsdienste im täglichen häuslichen Leben, Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs oder Haushaltshilfen. Prinzipiell decken assistive Gesundheitstechnologien verschiedene Bereiche ab (vgl. BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL 2011): 1. Der Bereich Komfort beinhaltet Technologien, die das Leben komfortabler gestalten. Als Beispiel sei hier die automatische Rollladensteuerung genannt. 2. Der Bereich Sicherheit beinhaltet verschiedene Aspekte. Zum einen geht es um die Sicherheit der Wohnung, z. B. über Zutrittskontrollsysteme, zum anderen um die Sicherheit des Bewohners, z. B. automatische Herdabschaltung. 3. Der Bereich Gesundheit beinhaltet Technologien, die den Gesundheitszustand des Bewohners überwachen. Hier gehören Notrufsysteme dazu, aber auch das Blutdruckmessgerät, das seine Daten z. B. zur Überwachung übermittelt. Der Patient muss zumeist den eigenen Gesundheitszustand unter Wahrung der Selbstdisziplin überwachen. Es gilt, neben der Datenerhebung (u. a. Vitalparameter, subjektive Befindlichkeiten) eine Datenweiterleitung zum Leistungserbringer zu unterstützen. Der Leistungserbringer gewährleistet hierbei die Therapietreue. 4. Der Bereich soziales Umfeld beinhaltet Technologien, die der Vereinsamung entgegenwirken sollen, aber auch Erinnerungsfunktion haben. Als Beispiele sind hier interaktive Kalender und die Bestellung von „Essen auf Rädern“ zu nennen. Manche Technologien sind auch in mehr als einem Bereich einsetzbar. Die Herdsteuerung z. B. ist eine Komfortfunktion für die mehrfache Mutter und eine Sicherheitsfunktion für den dementen Großvater. Der interaktive Kalender erinnert an Termine wie das Klassentreffen (Komfort, soziales Umfeld), aber genauso an die Medikamenteneinnahme (Gesundheit) und sorgt auch dafür, dass nachgeschaut werden kann, ob die Medikamente schon eingenommen wurden (Sicherheit, Gesundheit) (vgl. BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL 2011). Inwieweit assistive Technologien in den jeweiligen Wohnsituationen überhaupt verbaut werden können, ist häufig nicht nur eine Frage des Geldes. Zu beobachten ist allerdings, dass vermehrt große Wohnungsbaugenossenschaften an dieser Stelle investieren, vor allem im Bereich Komfort und Sicherheit, um damit auch ihre Bewohner und Mitglieder stärker an sich zu binden und langfristig bis ins hohe Alter als Mieter zu behalten. 3 AAL-Architektur In den vergangenen Jahren haben sich sehr viele Forschungsprojekte vor allem mit den Technologien auseinandergesetzt, also Sensorik und Aktorik in den Vordergrund gestellt. Es ist klar, dass diese Technologien auch miteinander kommunizieren müssen. Also rückten auch Soft- und Hardware in den Fokus der Forschungsaktivitäten. Erst seit AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung 521 wenigen Jahren wird auch klar, dass die Wohnung nicht mehr alleiniger Betrachtungsgegenstand sein kann, sondern dass es notwendig wird, Kommunikations- und Integrationsszenarien zu untersuchen, die das Umfeld des Bewohners mit einbinden. Betrachtet man die typische Situation eines Wohnblocks, in dem in mehreren Eingängen mehrere Wohnungen liegen, so sind diese in vielen überalterten Städten fast ausschließlich mit älteren Menschen belegt. Menschen, die sich an ihre Wohnung gebunden fühlen, seit Jahren dort wohnen, ihre Nachbarn kennen und den Aufwand eines Umzugs scheuen. Diese Menschen leiden an den unterschiedlichsten altersbedingten Erkrankungen, gehen zu unterschiedlichen Hausärzten, unterschiedlichen Fachärzten, waren oder sind regelmäßig in verschiedenen Krankenhäusern, haben gegebenenfalls jeweils unterschiedliche Pflegedienste beauftragt. Der ein oder andere lässt sich Essen auf Rädern kommen oder die Lieferkiste aus dem Kaufhaus und/oder misst regelmäßig seine Vitalparameter. Die Abb. 1 soll diese Situation veranschaulichen. Die Erfassung und Speicherung von Sensordaten innerhalb einer Wohneinheit für persönliche Zwecke ist zulässig. Um das Zusammenspiel von Sensorik, Aktorik und Speicherung zu ermöglichen, sind Bussysteme und Anwendungskomponenten mit gewisser Intelligenz notwendig. Abb. 1  Wohn- und Kommunikationssituation in einem Wohnblock mit vorwiegend älteren Bewohnern 522 A. Häber und T. Nitzsche Gegenwärtig finden sich verschiedene technische Ansätze – initiiert aus Forschungsprojekten und von Unternehmen – für Plattformen im häuslichen Bereich, von denen sich weder eine Plattform als Referenz durchgesetzt hat noch Standards für diese vorzufinden sind. Diese unterliegen sehr unterschiedlichen Laufzeitumgebungen (z. B. OSGI, .NET, Linux, MIDP) und Bussystemen (z. B. KNX, ZigBee, EnOcean). Das Projekt universAAL (universaal.org) stellt eine Zusammenfassung technischer Konzepte von verschiedenen Forschungsprojekten dar. Das „AAL-Betriebssystem“ wird hierbei als ein „Best-Of-Concept“ gesehen, um die Anforderungen des häuslichen Bereiches auf Grundlage der gemachten Erfahrungen der Forschungsprojekte bestmöglich abzudecken und der fehlenden Standardisierung entgegenzuwirken. Zweifelsohne soll das geförderte Projekt universAAL in der Zukunft einen Standard für Laufzeitumgebungen für AALUmgebungen definieren, der technisch auf dem dienstorientierten Ansatz OSGI basiert (vgl. BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL 2010). UniversAAL ist als offene Plattform konzipiert und hat zum Ziel, eine Standardplattform zur Verfügung zu stellen, um AAL-Lösungen technisch umsetzbar und kostengünstig zu entwickeln. Die Abb. 2 zeigt einen typischen Grundriss einer Wohnung mit typischen verbauten Sensoren und Aktoren, der im ESF-geförderten Forschungsprojekt A2LICE an der Westsächsischen Hochschule Zwickau entstanden ist. Schwieriger wird die Betrachtung aber, wenn man die externen Leistungserbringer und Akteure mit einbezieht. Im Zeitalter von E-Health muss ernsthaft über elektronische Kommunikation nachgedacht werden. Datenschutzrechtlich ist das im Augenblick noch sehr schwierig, da die technischen Grundlagen noch nicht vollständig geschaffen sind, um die Anforderungen des Datenschutzes in Gänze einhalten zu können. Architektonisch aber sind Lösungen denkbar, die später um datenschutzkonforme Lösungen erweitert werden können. Systemtechnisch (s. auch Abb. 3) ergibt sich das Bild, dass jede beteiligte Einrichtung ein eigenes Anwendungssystem zur Verwaltung von Daten hat. Teilweise sind diese konform, z. B. setzen alle Arztpraxen sehr ähnliche Systeme, wenn auch von unterschiedlichen Softwareherstellern, ein, teilweise sind sie sehr heterogen, z. B. hat ein Dienstleister für Essenversorgung ein vollkommen anderes System als ein Pflegedienstleister. Zunächst einmal sind bei elektronischer Kommunikation Syntax und Semantik der zu übertragenden Nachrichten notwendig, damit die sendenden und empfangenden Systeme technisch überhaupt in der Lage sind, die Daten zu senden, entgegenzunehmen und auch einheitlich zu interpretieren. Dazu bedarf es Spezifikationen, meist auch als Integrationsprofil beschrieben, die aus dem Fachwissen unterschiedlicher Hersteller aus dem Gesundheitssektor und Gesundheitsdienstleistern erarbeitet werden. Diese werden vor allem durch die Integrating The Healthcare Enterprise (IHE) oder Continua Health Alliance (CHA) hervorgebracht. Die wichtigsten Problembereiche sind in den Profilen durch Lösungsvorschläge durch Konsensfindung definiert. Der Schwerpunkt von IHE ist sehr stark im klinischen Bereich und in Public Health zu sehen, wogegen Continua vor allem den häuslichen Bereich fokussiert (vgl. IHE-D 2015). AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung 523 Abb. 2  Typischer Grundriss einer Wohnung mit typischen verbauten Sensoren und Aktoren Die Continua Health Alliance ist eine im Telemedizinbereich tätige Standardisierungsorganisation, die auf Basis von Integrationsprofilen der IHE-Prozesse für ein Telemonitoring definiert und in den Continua Design Guidelines zusammengefasst hat. Mittlerweile gibt es auf dem Markt einige Continua-zertifizierte Sensoren und Aktoren (vgl. Continua Health Alliance 2015). Primär im Fokus steht aktuell die Übertragung von Messwerten von Medizingeräten an ein „Health Record Network“ (HRN). Dieses versteht sich als ein institutionsunabhängiges Aktensystem, das von Leistungserbringern (Health Professionals) verwendet werden kann, um Patienten mit vor allem chronischen Erkrankungen zu überwachen. Zentrale Schnittstellen sind hierbei die HL7-Schnittstellen zwischen den Systemen. Den IHE-Frameworks „IT-Infrastructure“ und „Patient-Care-Devices“ wurden hierzu 524 A. Häber und T. Nitzsche Abb. 3  Systembetrachtung der Anwendungssysteme und Kommunikationsbeziehungen Teilprofile entnommen, die die notwendigen Transaktionen zwischen den Systemen definieren. Die Übermittlung von Daten aus dem häuslichen Bereich an das HRN wird durch das Device Enterprise Communication Profil (DEC) des Patient Care Device Frameworks (PCD) definiert. Durch das Framework IT-Infrastructure werden die Rahmenbedingungen wie die Abfrage neuer Messergebnisse aus dem häuslichen Bereich des Patienten durch Leistungserbringer (mittels XDS.b-Profil) und Gewährleistung von Transport- und Datensicherheit (mittels Webservice-Security) abgebildet. Weitere Transaktionen und Kommunikationsszenarien sind bis dato nicht spezifiziert, wobei mit Weiterentwicklung der CHA-Initiative weitere Szenarien hinzukommen (Benner und Schope 2011). Softwaretechnisch sind standardisierte Schnittstellen in den gängigen Kommunikationsstandards im Gesundheitswesen gefordert, insbesondere HL7 und xDT. HL7 (Health Level 7) ist eine internationale Standardisierungsorganisation, die gleichnamige international gültige Kommunikationsstandards entwickelt hat. HL7 in der Version 2 als Kommunikationsstandard unterstützt eher die Kommunikation von Softwaresystemen im Krankenhaus. xDT, eine Standardfamilie, die in Deutschland von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung maßgeblich verantwortet wird, bietet eine Gruppe von Kommunikationsformen für den Datenaustausch im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung in Deutschland (Haas 2005). Aber auch semantisch sind noch viele weitere Dinge einheitlich zu standardisieren und dementsprechend in harmonisierten Terminologien zu verwenden. Hierbei sind sehr spezifische aber auch sich überlappende Terminologien entwickelt worden, die eine maschinenlesbare Form der Daten repräsentieren, jedoch nicht die Interoperabilität gewährleisten. Als bekannteste semantische Kataloge können ICD-10, ein von der World Health Organization (WHO) entwickeltes Codierungssystem für u. a. Krankheiten, Symptome, AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung 525 Beschwerden mit etwa 150.000 Codes, und SNOMED CT, eine von dem College of American Pathologists (CAP) entwickelte Nomenklatur in 18 Achsen (Hierarchien) mit ca. 800.000 Begriffen, genannt werden. Für Letzteres gibt es deutschlandweit jedoch keine Lizenz, um diese umfangreiche Terminologie einzusetzen. Weitere Terminologien betreffen z. B. die Codierung von Maßeinheiten nach dem Unified Code for Units of Measure (UCUM) oder die Codierung von medizinischen Untersuchungen inkl. Maßeinheiten nach Logical Observation Identifiers Names and Codes (LOINC) vom Regenstrief Institut. Der Grad des Einsatzes von Standards ist je nach System sehr unterschiedlich. Allgemein ist erkennbar, dass sich die Lücken von vorhandenen Standards und die fehlenden Vorgaben bezüglich zu verwendender und bereits harmonisierter Standards an der Vielzahl an unterschiedlichen Systemen mit verschiedensten Schnittstellen und Protokollen erkennen lassen (Wichert et al. 2010). Während die Arztpraxisinformationssysteme ohne Einhaltung der xDT-Standards nicht funktionsfähig wären (die Abrechnung und damit das Kernelement der Systeme läuft gesetzlich geregelt ausschließlich über ADT) und die Krankenhaus-Anwendungssysteme alle eine gewisse Teilmenge von HL7 beherrschen und eine noch kleinere Untermenge von IHE, sieht es bei den Anwendungssystemen der anderen Leistungserbringer mit Standards eher schlecht aus. Hier ist einzig eine proprietäre Datenübertragung möglich, teilweise müssen Daten sogar direkt in die Datenbank geschrieben werden. Das ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass bisher in dieser Richtung keine Nutzeranforderungen an die Softwareentwicklungsunternehmen herangetragen wurden. Damit ist allerdings der Schluss zu ziehen, dass eine direkte Kommunikation zum einen aus Syntax-und Semantik-Gründen nicht durchzuführen ist, zum anderen muss sie aus Gründen der Vielzahl von Kommunikationsverbindungen auch abgelehnt werden, da das entstehende Gesamtsystem als eine Spaghetti-Architektur erscheint und mit einer Vielzahl von Schnittstellen und Kommunikationsverbindungen nicht mehr kontrollierbar ist. Es bietet sich hier an, die einzelnen Systeme über eine Gesundheitsplattform zusammenzuschalten, die zum einen über Routing das korrekte Zuordnen einer Nachricht zu einem oder mehreren Empfängern realisiert. Dem sendenden System müssen damit die Empfänger einer Nachricht nicht unbedingt bekannt sein. Zum anderen kann diese Komponente auch Transformationen an den Nachrichten vornehmen, sodass Sender und Empfänger sich syntaktisch und semantisch nicht direkt verstehen müssen. Diese Transformationen sind in der Regel schneller und oft kostengünstiger zu erstellen, als in zwei Softwareprodukten zueinander passende Schnittstellen zu realisieren. Außerdem liegt die Konfiguration an einem Ort, die Systemhersteller selber haben damit nichts weiter zu tun. Die Middleware-Komponente, die zentral etabliert werden muss, z. B. in einer telemedizinischen Zentrale, übernimmt auch die Rolle des Überwachers, sodass bei Störungen in der Kommunikation schnell und effizient eingegriffen werden kann. Auch können medizinische Workflows in einer telemedizinischen Zentrale anhand der Gesundheitsplattform unterstützt und damit ein Care Management etabliert werden. Bezieht man den häuslichen Bereich in den Versorgungsprozess ein, so fallen dort Ereignisse (AAL-Incidents) an, die einer Bearbeitung durch einen menschlichen 526 A. Häber und T. Nitzsche Handlungsträger bedürfen. Hierzu gehört auch die Übermittlung von Messwerten, die durch medizinische Kleinstgeräte (Blutdruckmessgerät, Waage, Blutzuckermessgerät etc.) erfasst wurden. Auch Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL’s) und Situationen werden übermittelt, die durch eine eigenständige, im häuslichen Bereich installierte Softwarekomponente als AAL-Inzidents erkannt wurden. Der Zeitpunkt und der Umfang der Datenübermittlung werden anhand durch den Patienten festzulegenden Parametern gesteuert. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Strategien unterscheiden. 1. Strategie I beschreibt die Übermittlung aller Messdaten, erkannten ATL’s und Situationen an das zentrale System und die Weiterleitung von dort zu einem definierten Empfänger, z. B. Hausarzt oder persönlicher Pflegedienst. 2. Strategie II umfasst die Übermittlung der genannten Daten, wenn eine Gefährdung festgestellt wurde (Grenzwertüberschreitung, kritisches Ereignis). 3. Bei Strategie III wird auf den Datenversand gänzlich verzichtet. 4 Integrationsmodell Um die Architektur im AAL-Umfeld genauer zu erläutern, ist es sinnvoll, die typischen Anwendungssysteme und ihre Kommunikationsbeziehungen genauer zu betrachten. Das Modell, das dabei entsteht, kann als Referenzmodell einer Kommunikationsarchitektur für AAL betrachtet werden. Mit dieser ist es zukünftig möglich, eine Infrastrukturkomponente in der Praxis zu etablieren, die als konkrete Umsetzung der Kommunikationsarchitektur alle notwendigen logischen Anwendungsbausteine mit Kommunikationsbeziehungen und darunterliegenden Datenmodellen beinhalten. Als Maßgabe für die Entwicklung des Integrationsmodells sollen folgende Kriterien gelten: • Grad der Standardisierung: Internationale Standards sollen vor nationalen Standards Berücksichtigung finden.1 • semantische Integration: Terminologien und Codesysteme werden auf Basis von Terminologieservern vereinheitlicht. Nationale standardisierte Konzepte, wie VHitGArztbrief, werden bevorzugt. • Flexibilität für Weiterentwicklung: Durch den Referenzcharakter ist eine Weiterentwicklung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Krankheitsbilder, Szenarien oder technischer Komponenten möglich. Die Abb. 4 beschreibt die Anwendungssysteme und Kommunikationsbeziehungen. Alle Anwendungssysteme (AS) und ihre Komponenten (AC) können den drei Organisationseinheiten häuslicher Bereich, Telemedizinische Zentrale (TMZ) und den 1Dies gilt nicht bei Adaption eines internationalen Standards zu einem nationalen Standard. AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung Abb. 4   Darstellung Integrationsmodell der Anwendungssysteme und Kommunikationsbeziehungen 527 im Leistungserbringern in den verschiedenen Sektoren (Arztpraxis, Krankenhaus, Pflege, sonstige Leistungsstellen) zugeordnet werden. Bezüglich der Kommunikationsbeziehungen ist eine standardisierte Kommunikation anzustreben. Dabei wird, wo immer möglich, auf IHE-Transaktionen und Continua-Vorgaben gesetzt, die durch HL7-Nachrichten realisiert werden sollen. Auf Dokumentenebene sollen die CDA-Vorgaben, z. B. durch den VHitG-Arztbrief, Verwendung finden. Wörterbücher und Mapping-Tabellen im System der Telemedizinischen Zentrale sorgen für semantische Interoperabilität. 5 Diskussion und Ausblick Die vorgestellte AAL-Architektur resultiert aus einer Recherche bisher durchgeführter AAL-Projekte und den Integrationsüberlegungen im Gesundheitswesen. Die Nutzung von Standards für die Architektur und Kommunikation stand bei der Entwicklung im Vordergrund. Die in der Praxis im Krankenhausumfeld etablierten Architekturen wie z. B. die eFallAkte oder Einweiserportale können im AAL-Umfeld nur bedingt funktionieren, da es sich hier um kontinuierliches Monitoring und weniger um einen abrechenbaren Fall handelt. Übermittelt werden sollen nur festgelegte Parameter oder Inzidents, die zunächst noch ohne Abrechnungsfallbezug auftreten. Hier müssen organisatorisch 528 A. Häber und T. Nitzsche andere Maßnahmen greifen. Und auch die vom Gesetzgeber vorgesehenen Strukturen für die Vernetzung des Gesundheitswesens wie eGesundheitskarte und Heilberufsausweis wurden betrachtet. Perspektivisch kann die längst überfällige Gesundheitstelematikinfrastruktur hier helfen, das TMZ als neuen flächendeckenden Kommunikationsteilnehmer bestmöglich zu integrieren und die medizinische Kooperation mit zukunftsfähigen und sinnvollen Anwendungen zu optimieren. Literatur Benner M, Schope L (2011) Using Continua health alliance standards – implementation and experiences of IEEE 11073, IEEE (Hg.) 2011 – 12th International conference on mobile data management (2), IEEE BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL (2010) Interoperabilität von AAL-Systemkomponenten. VDE, Berlin BMBF/VDE Innovationspartnerschaft AAL (2011) Ambient Assisted Living AAL, Komponenten, Projekte, Services – eine Bestandsaufnahme. VDE, Berlin Continua Health Alliance (2015) Continua Home. http://continuaalliance.org/. Zugegriffen: 1. Nov. 2015 Fraunhofer IGD (2012) Ambient Assisted Living, S 3. https://www.igd.fraunhofer.de/sites/default/ files/Fraunhofer_IGD_AAL-Broschuere_web.pdf. Zugegriffen: 1. Nov. 2015 Haas P (2005) Medizinische Informationssysteme und Elektronische Krankenakten. Springer, Wiesbaden IHE-D (2015) IHE Deutschland. http://www.ihe-d.de/. Zugegriffen: 1. Nov. 2015 Ministerium für Arbeit und Soziales, Baden-Württemberg (2006) Neue Wohnformen für ältere Menschen: Stand und Perspektiven. http://www.wg-qualitaet.de/fileadmin/dateien/ article580-29-25.pdf. Zugegriffen: 1. Nov. 2015 Wichert R, Norgall T, Eichelberg M (2010) AAL auf dem Weg in die Praxis – kritische Faktoren und Handlungsempfehlungen. VDE, Berlin Über die Autoren Prof. Dr. Anke Häber  studierte Medizinische Informatik an der Universität Heidelberg/Fachhochschule Heilbronn und arbeitete anschließend an der Universität Heidelberg und am Universitätsklinikum Leipzig. Seit 2004 ist sie Professorin für Medizinische Informatik/Informationsmanagement an der Westsächsischen Hochschule Zwickau und aktives Mitglied in der GMDS und Sprecherin der Landesvertretung Sachsen des BVMI. Ihr Lehrund Forschungsgebiet umfasst die Informationssysteme im Gesundheitswesen, insbesondere das Informationsmanagement im Umfeld einrichtungsübergreifender Versorgungsstrukturen. Kontakt: anke.haeber@fh-zwickau.de AAL-Architektur und Integration in die Gesundheitsversorgung 529 Thomas Nitzsche  ist als Vertriebsingenieur bei der InterSystems GmbH tätig. Seine Themenschwerpunkte sind Plattformen für Gesundheitsnetzwerke (und die Verarbeitung von strukturierten und unstrukturierten Daten). Weiterhin promoviert er an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig zum Thema Standardisierte Kommunikationsarchitektur im Bereich Ambient Assisted Living. Davor studierte er bis 2011 Informatik an der Westsächsischen Hochschule Zwickau mit dem Schwerpunkt Medizininformatik und war im Anschluss wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule. Darüber hinaus war er in verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens und bei IT-Herstellern im Gesundheitswesen tätig. Er ist aktives Mitglied in GMDS, BVMI und VDE. Kontakt: Thomas.Nitzsche@InterSystems.com E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung für E-Health-Dienstleistungen Johannes Kriegel 1 Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung Das Themenfeld „Gesundheit“ sowie die damit verbundene Gesundheitsversorgung unterliegen einer stetigen Weiterentwicklung. Für die letzten hundert Jahre lässt sich daher ein Wandel von der kurativen und spezialisierten Betrachtung hin zu einer umfassenden und ganzheitlichen Wahrnehmung beobachten. Dabei sind die aktuellen und historischen Versorgungsstrukturen noch weitestgehend auf die traditionelle Ausrichtung fokussiert. Dies beinhaltet sowohl die technische und professionsbezogene Fokussierung als auch die autonome und fragmentierte Leistungserbringung. Ferner fehlt es im heutigen Gesundheitssystem oftmals noch an der notwendigen Transparenz und Evidenz der erbrachten Leistungen sowie der damit verbundenen Ergebnisse. So lassen sich aktuell eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen und Herausforderungen im Gesundheitswesen beobachten, die es durch ein zukünftiges Versorgungssystem und den darin erbrachten Dienstleistungen zu bewältigen gilt. Die Liste der Herausforderungen reicht von der demografischen Entwicklung und der Einnahmenerosion sowie der Kostenexpansion im Sozial- und Gesundheitswesen über gesteigerte Qualitätsanforderungen und die schwierigere Qualitätsidentifizierung und -beurteilung bis hin zu ausgeprägten Autonomiebestrebungen sowie Subzielverfolgung und einem verstärkten Patienten-Empowerment sowie einer gesteigerten Kundensouveränität. Ferner lassen sich neben einer zunehmend komplexen Leistungserstellung sowie einer angebotsinduzierten Nachfrage und fortschreitenden Medizintechnik, eine Änderung des Krankheitsspektrums in Richtung chronischer Krankheiten und Multimorbidität J. Kriegel (*)  Department für Gesundheits-, Sozial und Public Management, Fachhochschule Oberösterreich, Linz, Österreich E-Mail: johannes.kriegel@fh-linz.at © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_28 531 532 J. Kriegel beobachten. Außerdem führen vielfältige Anreizsysteme sowie Finanzierungs- und Investitionsstaus neben Informationsasymmetrien und -intransparenzen sowie der steigende Bedarf an qualifizierten Health Professionals zu wachsenden Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung entwickelter Industriestaaten (vgl. Hajen 2010, S. 18). 2 Zielsetzung Ziel muss es daher sein, die gesamte Gesundheitsversorgung den heutigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen. Diese lassen sich nach der traditionellen und umfassenden WHO-Definition von Gesundheit sowohl in die physische, psychische und soziale Dimension als auch in die Bereiche Prävention und Kuration unterteilen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ganzheitlichen und nachhaltigen Gesundheitsversorgung der Bürger, Versicherten, Klienten und Patienten. Aktuell wird dieses Ziel durch eine zunehmend patientenzentrierte Gesundheitsversorgung angestrebt, die den Patienten und dessen Anforderungen sowie dessen Bedeutung als Co-Produzenten und Co-Designer der Gesundheitsversorgung in den Mittelpunkt stellen. Hierzu bedarf es angepasster Gesundheitsdienstleistungen, die den veränderten Anforderungen hinsichtlich Zielsetzung, Strukturen, Prozessen und Ergebnissen entsprechen. Aufgrund dieser Zielsetzungen und Herausforderungen liegt der Fokus dieses Beitrags auf den Fragestellungen: Wie kann ein zielgerichtetes und konzeptionelles Vorgehen zur Entwicklung marktfähiger E-Health-Dienstleistungen ausgestaltet und umgesetzt werden bzw. wie kann durch ein Geschäftsmodellraster die Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen unterstützt werden? Ausgehend von der Zielsetzung einer marktreifen E-HealthDienstleistung ergibt sich für den Entwicklungsprozess die Notwendigkeit, neben einem angepassten Leistungsspektrum (z. B. modularer Aufbau), auch geeignete Strukturen vorzuhalten (z. B. Geschäftsmodellraster), Prozesse (z. B. Service-Engineering-Vorgehen) zu durchlaufen und Ergebnisse (z. B. Monitoring) zu realisieren. Diese unterschiedlichen Aspekte eines zielgerichteten und konzeptionellen Vorgehens zur Entwicklung marktfähiger E-Health-Dienstleistungen werden im Folgenden vorgestellt und erläutert. 3 E-Health als Unterstützungsinstrument für die Patientenversorgung Die Definition von E-Health unterliegt in den letzten Jahren einem stetigen Wandel und einer konstanten Weiterentwicklung (vgl. Eysenbach 2001, S. e22; Gersch und Liesenfeld 2012, S. 8). Dabei haben sich in unterschiedlichen Bereichen und Ländern verschiedene Teilbereiche entwickelt. Dies gilt nicht nur für den Ambient Assistent Living (AAL) Bereich, der sich vornehmlich in Europa herauskristallisiert hat, sondern umfasst auch die Bereiche M-Health, Telemedizin, E-Medicine, Cybermedizin, Telecare, etc. Ferner lässt sich eine Entwicklung von der speziell entwickelten Hard- und Software hin E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 533 zu umfassenden und integrierten sowie hybriden Lösungsansätzen identifizieren. Diese Lösungsansätze zielen verstärkt auf eine übergreifende Informationstransparenz, Kommunikation und Vernetzung ab. Hierbei gilt ein besonderes Interesse der Interaktion zwischen Health Professionals einerseits sowie der Interaktion zwischen Health Professionals (HP) und Patienten (PA) andererseits. So wie auch in anderen Branchen und Lebensbereichen spielen hier die neuen Medien sowie die Möglichkeiten des Internets eine zunehmend bedeutende Rolle. Es entwickelt sich ein „Internet der Gesundheit“. Dabei ergeben sich, insbesondere durch die Digitalisierung und elektronische Vernetzung, neue Möglichkeiten der Raum- und Zeitüberbrückung, der Dokumentation und des Monitorings sowie der Transparenz und Evidenz von Gesundheitszuständen sowie den damit verbundenen Gesundheitsdienstleistungen (vgl. Jehle und Kriegel 2009, S. 90). Es zeigt sich, dass die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen ein Window of Opportunity für derartige E-Health-Lösungen und E-Health-Dienstleistungen ergeben, welches jedoch eine anforderungs- und bedarfsgerechte Ausgestaltung möglicher E-Health-Dienstleistungen erfordert. Bisherige Entwicklungen und Forschungsaktivitäten sowie die (Nicht)Etablierung der damit verbundenen Ergebnisse deuten darauf hin, dass es eine Vielzahl an Einfluss- und Erfolgsfaktoren für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung gibt, die es zu berücksichtigen gilt. Da in der Vergangenheit und auch in anderen Industriebereichen und Branchen der Schwerpunkt auf der technologiegetriebenen Produktentwicklung (Push-Perspektive) lag, gilt es verstärkt die Kunden- bzw. Anwenderperspektive in die Entwicklungen mit einzubeziehen. Dies erscheint insbesondere daher relevant, da die Prozesse im Gesundheitswesen stark durch die historischen Entwicklungen determiniert werden und sich aufgrund des starken Regulierungsgrades eine ausgeprägte Veränderungsresistenz aufgebaut hat. Abb. 1 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen kunden- und anwenderbezogenen Ausgestaltungsbereiche unterstützender E-Health-Lösungen. Anforderungen: Ausprägungen: • Bedienungsfreundlichkeit • Anwendungsorientierung • Störungsresistenz • Integrierbarkeit • Akzeptanz der Patienten/Health Professionals • Alltagstauglichkeit • Marktreife i barke k it • Finanzier • Short Time Benefit • Erweiterbarkeit • • • • • • • • • • raumüberbrückend digital aktuell kontinuierlich zielgerichtet dokumentiert serviceorientiert Standardisiert (teil-)automatisiert betriebssicher Mehrwerte: • Diagnostik / Therapie • Valide Datenbasis • Motivation / Compliance • Content / Inhalt • Datenverfügbarkeit • Serviceleistung • Zeitvorteil • Kostenvorteile • Mobilität • Monitoring Abb. 1  Ausgestaltungsbereiche unterstützender E-Health-Lösungen. (vgl. Jehle und Kriegel 2009, S. 13) 534 J. Kriegel 4 Entwicklung von Geschäftsmodellen für E-HealthDienstleistungen Die Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen orientiert sich an den klassischen Schritten der Produktentwicklung (Ideengenerierung, Konzeption, Prototyping, Marktetablierung). Dabei wurde in den letzten Jahren deutlich, dass branchenübergreifend, insbesondere für den Dienstleistungsbereich, eine derartige traditionelle Prozesskette nur bedingt zielführend und erfolgreich ist. Insbesondere kürzere Produktlebenszyklen, ausdifferenziertere Kundenwünsche sowie wettbewerbsintensive Nachfragemärkte führten zu einer Abkehr traditioneller Vorgehensweisen in der Produktentwicklung. Ferner spielen im Bereich der Dienstleistungsentwicklung zunehmend dienstleistungsspezifische Kriterien eine erfolgsentscheidende Rolle (z. B. gleichzeitige Produktion und Konsumtion, Nicht-Lagerfähigkeit, Immaterialität, Heterogenität) (vgl. Ortner et al. 2012, S. 34). Auf Basis der veränderten Produkt- und Dienstleistungsanforderungen haben sich in der Vergangenheit hybride Dienstleistungen entwickelt. Dies sind kunden- und lösungsorientierte Produkt-Dienstleistungsbündel, die sowohl Hardware- und Software- als auch Serviceelemente zu einem eigenständigen neuen kundenindividuellen Lösungsgeschäft verbinden und integriert anbieten. Insbesondere im Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren viele neue Dienstleistungen entstanden. Diese meist marktgetriebenen Innovationen reagieren dabei auf Defizite (z. B. Rückgang der Krankenkassenleistungen, ineffiziente Informations- und Kommunikationsstrukturen) und den wachsenden Bedarf der potenziellen Kunden (z. B. steigende Anspruchs- und Erwartungshaltung der Patienten). Adressaten sind dabei neben den Patienten auch die Health Professionals sowie Organisationen wie Krankenhäuser und Krankenkassen (vgl. Kriegel und Schmitt-Rüth 2010, S. 35). Neben dem Aufbau der hybriden E-Health-Dienstleistungen ist es für die erfolgreiche Marktetablierung essenziell, dass ein aktiver Servicedienstleister mit in die Entwicklung und das Angebot der E-Health-Dienstleistungen eingebunden wird. Ohne Servicedienstleister – keine E-Health-Dienstleistung! Ausgehend von den traditionellen Akteursbeziehungen im Gesundheitswesen (Patient – Health Professionals – Finanzierer) ergibt sich daher eine notwendige Erweiterung um den Servicedienstleister. Hierdurch erfolgt eine veränderte Zuordnung der unterschiedlichen Akteursfunktionen (Angebot, Einnahmen, Finanzierung, Leistungserbringung, Nachfrage/Entscheidung, Ver- bzw. Gebrauch). Mitunter ergibt sich dadurch auch ein bedingter Lösungsansatz für das spezielle Dilemma im Gesundheitswesen, dass den Health Professionals die gebündelte Zuweisung der Funktionen Angebot und Nachfrage auferlegt. Ähnlich wie in anderen Branchen (z. B. Buchhandel, Verlagswesen, Einzelhandel) führen die Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Internet und den damit verbundenen E-Business-Lösungen zu gravierenden Veränderungen und Umwälzungen der jeweiligen Industrie- und Dienstleistungszweige. Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass neue Geschäftsmodelle und Use Cases (Anwendungsfälle) sowohl traditionelle Lösungen einschränken bzw. verdrängen als auch neue Lösungen und Produkte hervorbringen. E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 535 Smart Home e-Insurance Abb. 2  Leistungsmodule einer hybriden E-Health-Dienstleistung. (vgl. Kriegel et al. 2013b, S. 81) Bezogen auf die patientenzentrierten E-Health-Dienstleistungen ergibt sich hieraus die Möglichkeit über eine standardisierte Schnittstelle (z. B. Avatar oder App in Verbindung mit einem Smartphone oder TV) unterschiedliche Dienstleistungsmodule (z. B. Vitalparametermonitoring, digitales soziales Netz, Wissensmanagement, dezentrale und autonome Rehabilitation) bedarfsgerecht zu selektieren und anzubieten. Abb. 2 gibt einen Überblick über unterschiedliche Servicemodule einer hybriden E-Health-Dienstleistung, die neben dem medizinisch-pflegerischen Bereich auch weitere Lebensbereiche umfassen können sowie auch auf spezielle Präferenzen (z. B. Quantified-Self-Interessen) adaptiert werden können. Der modulare Aufbau betrifft dabei nicht nur die Serviceausgestaltung, sondern auch die der technologischen Lösungen. Es hat sich gezeigt, dass für die Anwender im Wesentlichen das Frontend bzw. die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine relevant ist. Die dahinterliegenden technologischen Komponenten sind sicher entscheidende Elemente für das Gelingen der hybriden Dienstleistung, stellen jedoch für die Patienten wie für die Health Professionals eine Black Box dar, in die sie keinen Einblick haben 536 J. Kriegel (wollen). Entscheidend für die Patienten und Health Professionals sind vielmehr die störungsfreie Eingliederung der E-Health-Dienstleistungen in die bestehenden Prozesse. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der E-Health-Dienstleistungsentwicklung ist die ausgewogene Berücksichtigung der Push- und Pull-Perspektive im Rahmen der Dienstleistungsausgestaltung. Dabei gilt es, sowohl die Kunden- und User-Anforderungen und Präferenzen zu berücksichtigen als auch die technologischen Möglichkeiten und ökonomischen Prioritäten der Anbieter (Konsortien) ausreichend zu beachten. Der modulare Aufbau ermöglicht dabei eine hohe Flexibilität und Variantenvielfalt und somit eine passgenauere Abstimmung der E-Health-Dienstleistungen auf die jeweiligen Kundenanforderungen und -präferenzen. Betrachtet man die bisherigen Forschungsprojekte und Lösungsansätze im Rahmen der Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen, so wird deutlich, dass nur ein begrenzter Anteil das Stadium der marktreifen Realisierung und der kommerziellen Nutzung bzw. Aufnahme in den Leistungskatalog von Leistungsanbietern erreicht hat. Die Analyse der dafür verantwortlichen Ursachen verdeutlicht, dass es nicht die eine Ursache für Probleme in der Entwicklung hybrider E-Health-Dienstleistungen gibt, sondern dass sich diese aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ursachen ergeben. Abb. 3 veranschaulicht mittels eines Ishikawa-Diagramms die verschiedenen Probleme in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung. Dabei lassen sich sechs unterschiedliche Dimensionen identifizieren (Umwelt, Technologie, Kunden, Organisation, Methoden, Messung), die es im Rahmen einer konzeptionellen E-Health-Dienstleistungsentwicklung zu berücksichtigen gilt. Umwelt inkl. Markt Unspezifisches Problembewußtsein Unstrukturierte Marktbildung Indifferente Ethik- und Imageausprägungen Rechtliche Rahmenbedingungen/ Datenschutzbestimmungen Komplexes Anwenderumfeld Unzureichende Einbindung von Laien- und professionellen Versorgern Fehlende ServiceDienstleister-Strukturen Schwierige Konsortiumsbildung Organisation Zu geringe Nutzerzentrierung Wenig kompatible Module Unspezifische Leistungsanforderungen Isolierte Hard- und SoftwareLösungen Heterogen Kaufkraft und Finanzierungsmodelle Fehlende Standards Einzellösungen Variierende Technologieakzeptanz Problematische Mensch-Technik Schnittstelle Starke Kundensegmentierung Technologiereife inkl. Usability, Kosten, Qualität und Flexibilität Fokus auf Technikinnovation Mangelnde Anwendung von Kreativtechniken Kunde als Co-Produzent/Designer Fehlendes Performance Measurement Probleme in der Entwicklung von hybriden E-Health-Dienstleistungen Lückenhafte Messverfahren zur Kundenzufriedenheit Lineare Reifegradmessung Vage Use Case Definition Unvollständige Geschäftsmodelle (End)Kunden Technologie Dominante Push-Strategien Oberflächliche Marktanalyse Methoden Intransparente Innovationsdynamik Unzureichendes Benchmarking Kein kontinuierliches Monitoring Messung Abb. 3  Probleme in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel et al. 2014, S. 224) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 537 4.1 Zielsetzungen in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung Die Zielsetzungen in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung werden zum einen durch die übergeordneten Ziele in der Gesundheitsversorgung (z. B. Qualität, Kosten, Zeit, Flexibilität, Zugang, Bedarfsgerechtigkeit) sowie bezüglich dem individuellen Gesundheitszustand (z .B. physisches, psychischen, soziales Wohlbefinden) und zum anderen durch die jeweiligen Subziele der beteiligten Akteure in der Gesundheitsversorgung (z. B. Health Professionals, Versicherungen, Staat, Pharma- und Medizinprodukteindustrie) bestimmt. Hieraus ergeben sich für die E-Health-Dienstleistungen einerseits die Formalziele Versorgungsqualität, Servicequalität, Marktattraktivität, Forschung und Fortschritt sowie andererseits die Sachziele Autonomie, Effizienz, Effektivität und Finanzierung. Diese unterschiedlichen Ziele gilt es, im Rahmen der E-Health-Dienstleistungsentwicklung, von Beginn an konsequent zu verfolgen und zu berücksichtigen. Ferner gilt es, die damit verbundenen Strukturen, Prozesse und Ergebnisse kontinuierlich und in gegenseitiger Abstimmung (weiter-)zu entwickeln. 4.2 Strukturen in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung Die unterschiedlichen Zielsetzungen, die vielfältigen internen und externen Einflüsse sowie die stetigen Veränderungen im Gesundheitswesen erfordern zunehmend die Notwendigkeit, eine flexible Strategie zu entwickeln, um adäquat und zeitnah auf die vielfachen Veränderungen reagieren zu können. Hierzu hat sich in den letzten Jahren branchenübergreifend die Anwendung eines Business-Modells bzw. in der Dienstleistungsbranche die eines Service-Business-Modells entwickelt. Ein ServiceBusiness-Modell bzw. ein Business Concept ist ein Geschäftsmodell, das als modellhafte Beschreibung bzw. Blaupause einer hybriden Dienstleistung fungiert. Hierbei werden neben den benötigten Ressourcen und angestrebten Wertschöpfungen auch die dafür erforderlichen Strukturen beschrieben, analysiert und strategisch ausgerichtet. Dabei werden neben der unternehmensbezogenen Perspektive im Rahmen eines ServiceBusiness-Modells auch die verschiedenen externen Einflussfaktoren und Anforderungen intensiv betrachtet. Ziel ist es, einen optimalen Fit zwischen offeriertem Angebot und realisierbarer Nachfrage hinsichtlich Qualität, Service, Flexibilität und Kosten zu ermöglichen (vgl. Shafer et al. 2007, S. 199; Kriegel et al. 2013c, S. 317). Im Rahmen der Forschungsprojekte DALIA/PIN/TMC (vgl. Kriegel et al. 2015, S. 126) wurden auf Basis unterschiedlicher methodischer Erhebungen (u. a. Literaturrecherche, Expertenbefragung, Anwenderworkshop) die verschiedenen Perspektiven und Präferenzen der beteiligten Stakeholder und Akteure näher untersucht. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass es im Rahmen der (Weiter)Entwicklung sowie der Produktion und dem Vertrieb von E-Health-Dienstleistungen, auf eine Vielzahl an Faktoren ankommt. Diese gilt es, detailliert und systematisch zu berücksichtigen und zu entwickeln. Ein Ansatz zur Visualisierung der unterschiedlichen relevanten strukturellen 538 J. Kriegel Dimensionen ist das Service-Business-Modell nach Osterwalder und Pigneur (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 8). Die unterschiedlichen Bausteine bzw. deren nähere Betrachtung geben produkt- bzw. dienstleistungsbezogene Auskünfte, die eine zielgerichtete Entwicklung lösungs- und kundenorientierter E-Health-Dienstleistungen unterstützen. Dabei wurde das ursprüngliche Osterwalder/Pigneur-Modell um die Dimensionen Datenschutz/rechtliche Regulierung, Ethik/Soziales und Emotionen erweitert. Abb. 4 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen relevanten Dimensionen eines Service-Business-Modells bzw. Geschäftsmodellrasters für eine hybride E-Health-Dienstleistung. Neben den spezifischen Fragestellungen der unterschiedlichen Dimensionen werden in Abb. 4 auch verschiedene alternative Ausprägungen für die Ausgestaltung einer möglichen E-Health-Dienstleistung präsentiert. Hieraus lassen sich in einem kreativen Prozess individuelle Use Cases bzw. Use-Case-Szenarien entwickeln. 4.3 Prozesse in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung Neben der Struktur ist der Prozess der Dienstleistungsentwicklung ein maßgeblicher Garant für den zielgerichteten Erfolg einer zu entwickelnden E-Health-Dienstleistung. Datenschutz Welcher Datenschutzrahmen ist mit dem Geschäftsmodell verbunden und relevant? – Datenschutzrichtlinien (Auswahl) – Kundenprofile – Datenanalyse Schlüsselpartnerschaften Welche externen Kooperationspartner können bzw. werden im Rahmen der Dienstleistungserbringung benötigt bzw. genutzt? (Auswahl) – Angehörige – Kunde als ProSumer (Co-Produzenten) – Sozialpartner – Schlüsselaktivitäten Welche Prozesse und (Teil)Aktivitäten werden im Rahmen der Dienstleistungserbringung benötigt bzw. erbracht? (Auswahl) – Information – Kommunikation – Dokumentation – Wertangebote Warum sollten bzw. werden die adressierten Kunden die angebotene Dienstleistung in Anspruch nehmen? (Auswahl) – Sicherheit – Call-Center – SelbstmanagementUnterstützung – Digitales Monitoring Schlüsselressourcen Emotionen Welche Ressourcen (Arbeitsmittel, Arbeitsleistung, Information, Disposition) werden bei der Erbringung der DL benötigt? (Auswahl) – Qualifizierte Servicemitarbeiter – Qualifizierte Health Professionals – Prozessbewusstsein Welche Sehnsüchte und Gemütsstimmungen soll die Erbringung der DL bedienen? (Auswahl) – Angst – Sicherheit – Autonomie – Soziale Nähe – Kostenstruktur Welche Kosten sind mit dem Geschäftsmodell verbunden und relevant? (Auswahl) – IT-Kosten und Investment Ethik Welche ethischen Kriterien müssen im Rahmen des Geschäftsmodells inwieweit berücksichtigt werden? – Persönlichkeitsrechte (Auswahl) – Eigenständigkeit – Privatsphäre – Hard- und Softwarekosten – Personalkosten Kundenbeziehungen Welche Arten der Kundenbeziehungen und des Kundenkontakts werden erwartet bzw. angeboten? (Auswahl) – Soziale- & Unterstützungsnetzwerke – Direkte Kommunikation – Fixer Ansprechpartner – Case Management Kundensegmente Welche Kunden(-segmente ) werden durch die angebotene Dienstleistung (DL) adressiert? (Auswahl) – Angehörige – Ältere Menschen / Menschen mit Beeinträchtigung im häuslichen Umfeld – Betreutes Wohnen – Kommunikations- & Vertriebskanäle Über welche Kanäle erfolgt Austausch und Kommunikation von Hard-/Software, Geld, Informationen, etc.? (Auswahl) – Bestehende Versorgungsstrukturen – Soziale Netze – Mobilfunknetz – Einnahmequellen Welche Dienstleistungen werden inwieweit durch den Kunden bzw. Kostenträger in welcher Höhe bezahlt? (Auswahl) – Service-Fee – Geringe Eigenbeteiligung – Kostenlos (Freemium) Abb. 4  Geschäftsmodellraster für eine hybride E-Health-Dienstleistung. (vgl. Kriegel et al. 2013c, S. 318) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 539 Die Anforderungen an unterstützende hybride E-Health-Dienstleistungen sind dabei vielfältig und, bezüglich der verschiedenen beteiligten Akteure, sehr heterogen. Diese reichen von der individuellen Unterstützung für Patienten über die breitere Basis von verfügbaren Informationen für die Health Professionals und die gesteigerte Kostentransparenz und übergreifende Versorgungsqualität für die Krankenversicherungen bis hin zum Aufbau neuer Märkte für die Dienstleistungsanbieter. Auf Basis dieser Anforderungen und Entwicklungen ergibt sich die Notwendigkeit der zielgerichteten und konzeptionellen Entwicklung von geeigneten Unterstützungsdienstleistungen. Aufgrund aktueller Defizite hinsichtlich Entwicklung, Ausgestaltung und Angebot derartiger Dienstleistungen sind daher geeignete Modelle und Instrumente zur Entwicklung entsprechender Dienstleistungen erforderlich. Im Hinblick auf die zielgerichtete und konzeptionelle Entwicklung von Dienstleistungen im Gesundheitswesen ergeben sich zwei wesentliche Perspektiven. Dies sind zum einen die Kundenperspektive (Pull-Perspektive) und zum anderen die Anbieterperspektive (Push-Perspektive). Diese gilt es, im Rahmen eines iterativen Vorgehensmodells zur E-Health-Dienstleistungsentwicklung zu berücksichtigen. Aufbauend auf dem klassischen Produktentwicklungsprozess (Ideenfindung, Konzeption, Prototyping) ist es erforderlich, die identifizierten Dimensionen (z. B. Kundensegment, Finanzierungsquellen, ethische Anforderungen) und die damit verbundenen Aspekte mit zielführenden Fragen zu hinterlegen. Die besonderen Anforderungen von Dienstleistungen bewirken, dass die bereits in der Produktentwicklung ausgebildeten und erfolgreich etablierten Methoden und Instrumente (z.  B. Blueprinting, Phasen der Modellentwicklung, Push-Strategie) zu unzureichenden Ergebnisse führen. Die bisherigen Erfahrungen im Bereich der E-Health-Dienstleistungsentwicklung haben gezeigt, dass die erfolgreiche Einführung und Etablierung neuer und innovativer E-Health-Dienstleistungen einer systematischen Entwicklung und Gestaltung von Dienstleistungen unter Verwendung geeigneter Methoden und Vorgehensweisen (z. B. Design Thinking, Markt- und Potenzialanalyse, Anwenderbefragung) bedarf. Dabei ermöglicht ein zielgerichtetes und konzeptionelles Modell eine zeitnahe und wirtschaftliche Vorgehensweise zur Entwicklung und Etablierung marktreifer E-Health-Dienstleistung. Hierbei sind, wie in Abb. 5 dargestellt, insbesondere die kunden- und systembezogenen Anforderungen zu berücksichtigen, welche die gestaltenden Dimensionen Problem/Idee, Ethik/Kultur, Organisation/Service, Technologie, Ökonomie, Recht, Emotion und Prototyp umfassen (vgl. Kriegel und Schmitt-Rüth 2010, S. 35). Die Entwicklung und Optimierung hybrider E-Health-Dienstleistungen erfolgt dabei auf Basis des Qualitätszirkels von Deming (vgl. Deming 1994, S. 12). Ziel ist es, anhand eines iterativen und schrittweisen Vorgehens und der Orientierung an einzelnen Kriterien und Fragestellungen, eine optimierte hybride E-Health-Dienstleistung zu entwickeln und umzusetzen, die den jeweiligen Anforderungen der Kunden sowie weiterer inhaltlicher Ansprüche gerecht wird. Ein derartiges Vorgehen ist dabei nicht isoliert und einmalig zu verfolgen, sondern stellt vielmehr einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess dar, in 540 J. Kriegel Innovation / Etablierung 4 Dienstleistungsentwicklung Organisation / Service Akteure Ziele Rahmenbedingungen Idee Aktuelle Lösung Prozess 2 Zukünftige Lösung Push/Pull Anforderungen Ressourcen Schnittstellen 1 Technologie Prototyp Emotion 3 Ökonomie Recht Ethik / Kultur Problem / Ideen Identifizierung Abb. 5  Iterativer Prozess der E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel und SchmittRüth 2010, S. 35) dem permanente Rückkopplungen zwischen strategischer Planung und operativer Umsetzung durchgeführt werden (vgl. Kriegel und Schmitt-Rüth 2010, S. 35). 4.4 Ergebnisse in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung Die zielgerichtete und erfolgreiche Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen basiert, neben den dafür erforderlichen Strukturen und Prozessen, auch auf der kontinuierlichen Ergebnismessung. Die Ergebnisse spiegeln dabei den jeweiligen Status sowie die zeitweilige Zielerreichung wider. Hieraus ergibt sich eine besondere Bedeutung der Ergebnismessung über die zeitliche Ganglinie hinweg. Die Ergebnisse können dabei quantitative sowie qualitative Aussagekraft entwickeln. Für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung ergibt sich hieraus eine besondere Bedeutung hinsichtlich kontinuierlicher und aktueller Ergebnismessung. Im Hinblick auf eine zielgerichtete E-Health-Dienstleistungsentwicklung gilt es daher, über die unterschiedlichen Prozessschritte (z. B. Ideenfindung, Konzeption, Prototyping und Marktetablierung) sowie bezüglich der verschiedenen strukturellen Dimensionen (z. B. Kundensegmente, Kundenbeziehungen, Kommunikations- und Vertriebskanäle, Einnahmequellen, Wertangebote, Emotionen, Schlüsselaktivitäten, Schlüsselressourcen, Schlüsselpartnerschaften, Kostenstruktur, Ethik sowie Datenschutz) aussagekräftige Indikatoren und Kennzahlen zu erheben. Ein damit verbundenes Monitoring und Controlling ermöglicht den E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 541 Abb. 6  Instrumente und Indikatoren entlang der E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel et al. 2014, S. 227) Entscheidungs- und Entwicklungsverantwortlichen den Dienstleistungsentwicklungsprozess zielgerichtet zu steuern. Abb. 6 gibt, am Beispiel der Forschungs- und Entwicklungsprojekte DALIA und Vidamon, einen Überblick über mögliche und relevante Instrumente und Indikatoren entlang der E-Health-Dienstleistungsentwicklung (vgl. Kriegel et al. 2014, S. 223). 4.5 Managementdimensionen in der E-HealthDienstleistungsentwicklung Die Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen wird durch eine Vielzahl an internen und externen Einflüssen und Faktoren determiniert. Die besondere Managementherausforderung liegt hierbei in der Identifikation relevanter Einflussfaktoren und Stellhebel sowie der Beobachtung und Einschätzung entscheidender Rahmenbedingungen. Als gravierende Stellhebel lassen sich für die Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen die Einflussfaktoren Ideengenerierung, Technologieentwicklung sowie rechtliche Rahmenbedingungen (inkl. Datenschutz) identifizieren (vgl. Kriegel et al. 2013a, S. 195). Darüber hinaus gilt es, die besonderen Leistungs- und Servicedimensionen im Dienstleistungssektor zu berücksichtigen. Diese erfordern einen Best-Fit hinsichtlich des „richtigen“ Produktes bzw. Dienstleistung, für den „richtigen“ Kunden, in der „richtigen“ Losgröße, der „richtigen“ Qualität, zur „richtigen“ Zeit, am „richtigen“ Ort, zu den „richtigen“ Kosten, unter den „richtigen“ ethischen und emotionalen Bedingungen, durch den „richtigen“ Mitarbeiter, unter Verwendung der „richtigen“ Hilfsmittel sowie unter den „richtigen“ rechtlichen Bedingungen (vgl. Kriegel 2012, S. 112). 542 J. Kriegel Im Rahmen einer zielgerichteten und konzeptionellen E-Health-Dienstleistungsentwicklung ist es die Aufgabe und Herausforderung der Management- und Entscheidungsverantwortlichen die verschiedenen Bereiche Zielsetzung, Service- und Leistungsausgestaltung, Strukturen, Prozesse sowie Ergebnisse miteinander zu verknüpfen und in Einklang zu bringen. Ferner gilt es, die unterschiedlichen relevanten und erforderlichen Management- und Service-Engineering-Techniken, die entlang des Dienstleistungsentwicklungsprozesses zum Einsatz kommen, qualitativ und inhaltlich zu unterstützen sowie deren Ergebnisse je nach Bedarf und Zeitpunkt im Rahmen der Management- und Entscheidungsprozesse zu berücksichtigen. Abb. 7 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Managementdimensionen in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung sowie eine Auswahl relevanter Instrumente und Indikatoren entlang des Service-Engineering-Prozesses. 4.6 Use Case einer ausgewählten E-Health-Dienstleistung Im Rahmen der Forschungsprojekte DALIA/PIN/TMC (vgl. Kriegel et al. 2015, S. 126) konnten verschiedene Use Cases (Anwendungsfälle) für ein digitales Vitalparametermonitoring entwickelt werden. Ein möglicher E-Health Service Use Case ist dabei das Kontinuierliche Monitoring von ausgewählten Vitalparametern. Dieser Use Case bildet Ziele Servicedimensionen Strukturen Prozesse Ergebnisse Strategische Ziele Leistungsdimension Geschäftsmodel Service Engineering Monitoring • Formalziele • • • • Versorgungsqualität Servicequalität Marktattraktivität Forschung und Fortschritt • Sachziele • • • • Autonomie Effizienz Effektivität Finanzierung • Produkt • Kunden • Losgröße • Qualität • Zeit • Lieferort • Kosten • Ethik • Emotion • Mitarbeiter • Hilfsmittel • Recht • Kundensegmente • Kundenbeziehungen • Kommunikations- und Vertriebskanäle • Einnahmequellen • Wertangebote • Emotionen • Schlüsselaktivitäten • Schlüsselressourcen • Schlüssel-partnerschaften • Kostenstruktur • Ethik • Datenschutz • Problem Identifizierung • Aktuelle Lösung – Anforderungen – Ziele – Akteure – Rahmenbedingungen – Prozesse – Schnittstellen – Ressourcen • Zukünftige Lösung – Idee – Organisation / Service – Technologie – Ökonomie – Recht – Ethik /Kultur – Emotion – Prototyp • Kundenperspektive • Innovationsperspektive • Finanzielle Perspektive • Interne Prozessperspektive • Mitarbeiterperspektive • Sozialperspektive • Lieferantenperspektive • Kooperationspartnerperspektive • Gesellschaftliche Perspektive Kundenschulungskonzept Konsortiumsbildung Management- und Service Engineering Techniken (Auswahl) • Innovation / Etablierung Abb. 7  Managementdimensionen in der E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel et al. 2014, S. 226) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 543 den grundlegenden Anwendungsfall der anvisierten E-Health-Dienstleistung, welche im Weiteren in unterschiedliche Use-Case-Szenarien spezifiziert wird. Zielsetzung der E-Health-Dienstleistung ist es, eine aussagekräftige und digitale Langzeitdokumentation von ausgesuchten Vitalparametern für einen definierten Zeitraum zu erheben, zu dokumentieren und in geeigneter sowie gewünschter Art bereitzustellen. Im Folgenden werden die unterschiedlichen relevanten Kriterien des anvisierten E-Health Service Use Case definiert und beschrieben, wobei die Charakteristik des jeweiligen Kriteriums mittels aufgeworfener Fragestellung nachgegangen wird. Bezogen auf die unterschiedlichen Use-Case-Szenarien, gilt es, die relevanten Ausprägungen der verschiedenen Bausteine des Service Use Case zu identifizieren und zu dokumentieren (s. Tab. 1). Aus der Perspektive des E-Health-Service-Dienstleisters ergeben sich folgende relevante Ausprägungen der Bausteine eines Service Use Cases hinsichtlich eines kontinuierlichen Monitoring von ausgewählten Vitalparametern. 5 Vorgehensmodell für die Entwicklung von E-HealthGeschäftsmodellen Die Komplexität und Unsicherheit in Zusammenhang mit der Entwicklung von Geschäftsmodellen von E-Health-Dienstleistungen erfordert ein zielgerichtetes und konzeptionelles Vorgehen. Dabei muss ein entsprechendes Vorgehensmodell sowohl die strategische Ausrichtung als auch die operative Umsetzung unterstützen. Als relevante Managementdimensionen wurden bereits die verschiedenen Bereiche Zielsetzung, Service- und Leistungsausgestaltung, Strukturen, Prozesse sowie Ergebnisse identifiziert und beschrieben. Betrachtet man aktuelle branchenübergreifende Managementkonzepte, die diesen Anforderungen gerecht werden (z. B. EFQM, Balanced Scorecard, Six Sigma), so wird deutlich, dass die besondere Herausforderung sowohl in der Entwicklung und Validierung als auch in der Anwendung und Umsetzung der Vorgehensmodelle liegen. Für das im Folgenden skizzierte Vorgehensmodell für die Entwicklung von E-Health-Geschäftsmodellen bedeutet dies, dass zukünftig noch entsprechende Forschungen und Entwicklungen hinsichtlich Spezifizierung, Validierung, Anwendung und Umsetzung erforderlich sind. 5.1 E-Health Service Development Loom Aufbauend auf der Zielsetzung und der Struktur kommt dem Prozess sowie den Ergebnissen in Form eines aussagekräftigen Performance Measurement im Rahmen der E-Health-Dienstleistungsentwicklung eine besondere Bedeutung zu. Ein Performance Measurement umfasst dabei die qualitative und quantitative Leistungsmessung einer Organisation bzw. eines abgegrenzten Systems oder Prozesses. Im Gegensatz zu einem traditionellen quantitativen und monetär orientierten Kennzahlensystem stellt ein Digitale Bereitstellung einer Langzeitdokumentation von Vitalparametern für einen definierten Zeitraum von: • Ausgewählten Vitalparametern (z. B. Blutdruck, Gewicht, Herzfrequenz, Körpertemperatur), die Grundfunktionen des menschlichen Körpers widerspiegeln • Ausgewählten objektiven und subjektiven Symptomen (z. B. Schmerzempfinden mittels Schmerzmessung) • Ausgewählten Aktivitätsindikatoren (z. B. Schrittanzahl automatisiert mittels Schrittzähler/Pedometer), Medikamenteneinnahme (Eingabe/Einschätzung durch Betroffenen) Die adressierten Probleme sind: • Informationstransparenz • Datendokumentation • Digitale Datenbasis • Patienten-Compliance (Therapieverfolgung und -akzeptanz) • Patienten-Empowerment (Befähigung des Patienten bzgl. Information, Mitwirkung, Motivation und Mitentscheidung) • Evident based Medicine und Nursing (bessere Informationen für eine patientenindividuelle Versorgung) • Subjektive Unsicherheit/Angst des Patienten bzgl. des eigenen Gesundheitszustandes • Dokumentation und komprimierte Darstellung erhobener Vitalparameter (z. B. Papier, PA-Portal, Ärzte-Portal) • Kontinuierliche Ableitung des Body Mass Index [Körpergewicht (kg) / Körpergröße (m) 2 = BMI] < 30 = Adipositas Die Dienstleistung „Kontinuierliches Monitoring von ausgewählten Vitalparametern“ umfasst eine lösungsorientierte hybride Dienstleistung, die es dem Kunden ermöglicht ausgewählte Vitalparameter mit dafür geeigneter Technologie zu erheben, die erhobenen Daten zu übermitteln und zu speichern sowie die gespeicherten Daten gezielt auszuwerten und komprimiert darzustellen (digital bzw. papierbasiert) 02 Zielsetzung inkl. adressiertes Problem, d. h. auf welche definierten bzw. bestimmten Zielsetzungen zielt die erbrachte hybride Dienstleistung ab, die während bzw. nach der erbrachten Dienstleistung durch den Kunden objektiv und subjektiv als erreicht erachtet werden müssen? 03 Angestrebte Ergebnisse, d. h. welcher sichtbare bzw. erlebbare Mehrwert wird erbracht? 04 Kurzbeschreibung inkl. Ausgestaltung, d. h. welche Aktivitäten und Ergebnisse werden durch die hybride Dienstleistung erbracht? (Fortsetzung) Charakteristik Kontinuierliches Monitoring von ausgewählten Vitalparametern Nr. Kriterium 01 Name E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1  E-Health Service Use Case Definition Vitalparametermonitoring 544 J. Kriegel • Patient (PA) bzw. Endkunde (Angehörige) 06 Kunde bzw. Leistungsempfänger, d. h. welcher Kunde ist direkter Leistungsempfänger? • Telemedizin- bzw. E-Health-Dienstleister • Selbstzahler (Freemium) • Versicherer • Arbeitgeber • Hard- und Software Hersteller • Infrastruktur-Dienstleister (z. B. Telekommunikationsanbieter) • Alternative Kostenträger 08 Anbieter bzw. Leistungserbringer, d. h. wer tritt in unmittelbaren Kontakt mit dem Kunden und ist der direkte geschäftliche Vertragspartner? 09 Finanzierer, Kostenträger, d. h. welche Kostenträger werden adressiert? 10 Sonstige Akteure, d. h. welche weiteren Zulieferer bzw. Dienstleister sowie Stakeholder bzw. Nutzer der Dienstleistungsergebnisse, die nicht im direkten Kundenkontakt stehen, sind zu identifizieren? (Fortsetzung) • Kontinuierliche Informationserhebung und -dokumentation 07 Kundennutzen inkl. • Digitale Verfügbarkeit der Informationen (z. B. Vitalparameter, Erhebungszeitpunkt) Leistungsversprechen, • Sicherheit bzgl. Darstellung des aktuellen bzw. bisherigen Gesundheitszustandes gegenüber behand. h. welche Einflussgrößen wirken im delnden Health Professionals (z. B. Hausarzt, Pflege) erweiterten Sinne (objektive und subjektive Wahrnehmungen) auf die konkrete Kaufentscheidung, -zufriedenheit und -bindung eines Kunden? • Direkt: Telemedizin- bzw. E-Health-Dienstleister, Patient (PA) bzw. Endkunde • Indirekt: Health Professionals, die in Kontakt mit dem Endkunden bzw. PA treten bzw. von diesem konsultiert werden, sonstige Gesundheitsberater 05 Beteiligte Akteure, d. h. welche Akteure sind direkt an der hybriden Dienstleistung beteiligt? E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1   (Fortsetzung) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 545 • Medizinproduktegesetz • Datenschutz • Akzeptanz der Health Professionals (z. B. behandelnde Hausärzte) • Nachfragemarkt • Nischenmarkt in der Gesundheitswirtschaft (schwache Konkurrenz und Nachfrage) • Marktkapazität – wachsender Markt • Marktpotenzial – hoch • Marktvolumen – gering • Marktanteile – siehe Marktpotenzial • Marktausdehnung – regional/national • Ausgereifte Technologie (Plug-and-Play) • Last-Mile-Logistik inkl. Service-Infrastruktur • Kunden- und Service-Mitarbeiter (direkter Kundenkontakt) • Ggf. Online-Infrastruktur für die dezentrale Informationsbereitstellung • Häusliches Umfeld • Point of Care (z. B. Krankenhaus, Ordination/Praxis) Kundenbezogene Voraussetzungen • Befähigung zum Umgang mit der Technologie • Geschäftsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft • Anbieterbezogene Voraussetzungen • Direkter Kundenzugang inkl. Adresse, Abrechnungsvoraussetzungen Technologische Voraussetzungen • Online Infrastruktur bzw. Telekommunikationsnetz 11 Rahmenbedingungen, d. h. welche Umwelteinflüsse beherrschen und regulieren die hybride Dienstleistung hinsichtlich Zielsetzung, Ausgestaltung, etc.? 12 Marktsituation, d. h. welche unterschiedlichen aktuellen bzw. zukünftigen marktbezogenen Ausprägungen ergeben sich im Dienstleistungsumfeld? 13 Benötigte Ressourcen d. h. welche unterschiedlichen Faktoren (Arbeitsmittel, Arbeitsleistung, Informationen und dispositive Leistungen) sind erforderlich? 14 Leistungsort, d. h. wo ist das Setting der Dienstleistung? 15 Vorbedingungen, d. h. welche relevanten Bedingungen müssen erfüllt sein damit der Use Case ausgeführt werden kann? E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1   (Fortsetzung) (Fortsetzung) 546 J. Kriegel Kundenbezogene Nachbedingungen • Digitale Verfügbarkeit der Vitalparameter • Langzeitdokumentation • Komprimierte und übersichtliche Darstellung der Vitalparameter Anbieterbezogene Nachbedingungen • Abrechnung der Dienstleistung • Kundenzufriedenheit • Ggf. Folgeauftrag Technologische Nachbedingungen • Verfügbarkeit der eingesetzten Technologie • Funktionsfähigkeit der eingesetzten Technologie 1. Kundenkontaktaufnahme 2. Klärung von Kundenbedarf 3. Entscheidung über Kundenlösung 4. Kundenadministration 5. Bereitstellung und Einweisung der Technologie 6. Nutzung der Technologie durch Kunden 7. Übermittlung und Bereitstellung der kundenbezogenen Informationen 8. Ggf. Kommunikation zusätzlicher Informationen (FAQ-Frequently Asked Questions) 9. Ggf. Anpassung des Kundenbedarfs 10. Ggf. Bearbeitung auftretender Probleme 11. Beendigung der Dienstleistung 12. Abholung und Test der verwendeten Technologie 13. Abrechnung der Dienstleistung 14. Kundenfeedback einholen 16 Nachbedingungen, d. h. welcher Zustand wird nach einem erfolgreichen Durchlauf des Use Case erwartet? 17 Essenzielle Schritte, d. h. welcher operative Workflow bzw. Leistungsabfolge ist im Rahmen der hybriden Dienstleistung erforderlich? E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1   (Fortsetzung) (Fortsetzung) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 547 Ausgewählte Vital- bzw. Aktivitätsparameter: • Blutdruck • Gewicht • Herzfrequenz • Körpertemperatur • Kalorienverbrauch Varianten der Datenbereitstellung: • Papier • Digital – Patienten-Portal • Digital – Ärzte-Portal • Komprimierte Darstellung („alle Parameter auf einer Seite“) • Technologische Reife • Zeitliche Verzögerungen • Ausfall bzw. Ausstieg von Kooperationspartnern • Finanzierungsquellen 19 Erweiterungsoptionen bzgl. Punkt 03 und 04, d. h. welche Optionen der Ausdifferenzierung (modularer Aufbau) der betrachteten Dienstleistung sind möglich? 20 Auftretende Probleme, d. h. welche Störungen oder Abweichungen können im Verlauf der idealtypischen hybriden Dienstleistung (02-19) auftreten? (Fortsetzung) • Personen mit chronischen Krankheiten ohne Pflege- und Betreuungsbedarf • Personen mit chronischen Krankheiten in teilstationären Betreuungseinrichtungen • Personen mit chronischen Krankheiten mit mobiler Betreuung und Pflege • Personen mit chronischen Krankheiten in stationären Pflegeeinrichtungen • Personen in der Aktivphase einer ambulanten Rehabilitation • Personen nach der Aktivphase der Rehabilitation • Personen mit Präventionsbedarf • Personen im Rahmen von Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BFG) • Personen im Rahmen von Disease Management Programmen (DMP) Personen im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen (z. B. Klinischen Studien, Arzneimittelzulassung) 18 Alternative Szenarien, d. h. welche erweiternde bzw. einschränkende Adaptionen der ursprünglichen Dienstleistung hinsichtlich z. B. Zielgruppe, beteiligter Akteure, modularem Aufbau, angestrebten Ergebnis (Punkte 01 bis 17) sind möglich bzw. zu beachten? E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1   (Fortsetzung) 548 J. Kriegel • Kostenträger • Medizinproduktegesetz • Datenschutz • Akzeptanz der Health Professionals (z. B. behandelnde Hausärzte) Neuer Status --- Wer N.N. 23 Sonstiges, Anmerkungen, • Rechtliche Rahmenbedingungen d. h. welche Besonderheit bzw. sonstigen • Wettbewerb/Konkurrenzinitiativen Aspekte wurden bzw. sind zu beachten? • Marktentwicklungen/Standardprodukte mit Bluetooth bzw. WLAN Verbindung • Einstellung der Health Professional/Ärztevertretung • Internationale Entwicklungen z. B. US oder CH Wann 22 Änderungshistorie, d. h. welche Entwicklungsschritte hat der Use Case durchlaufen? xx.yy.zzzz 21 Offene Punkte bzw. Fragen, d. h. welche besonderen Herausforderungen bestehen in ausgewählten Dimensionen (z. B. Finanzierung, Ethik, Recht, Prozessintegration, Konkurrenzsituation, etc.)? E-Health Service Use Case Definition (Beschreibung) Tab. 1   (Fortsetzung) --- Was E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 549 550 J. Kriegel Performance-Measurement-System ein Managementsystem dar, das der (mehrdimensionalen) Leistungsmessung und Organisationssteuerung dient. Es geht, u. a. bezüglich der Funktionalität, über ein reines Kennzahlensystem hinaus und bezieht, neben der Messung herkömmlicher Leistungsgrößen (z. B. Umsatz, Gewinn, Return on Investment), auch eine ganzheitliche Betrachtung weiterer qualitativer und quantitativer sowie interner und externer Einflussgrößen (z. B. Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, Anzahl Neukunden, Leistung und Verhalten von Mitarbeitern, Fluktuationsraten) mit ein (vgl. Gladen 2014, S. 418). Ein erforderliches Performance Measurement mittels aussagekräftigen Indikatorenset ist im Rahmen einer zielgerichteten und konzeptionellen Produkt- und Dienstleistungsentwicklung von E-Health-Lösungen in Verbindung mit der jeweiligen strategischen Zielsetzung zu sehen und darauf auszurichten. Ferner müssen durch das Performance Measurement auch die relevanten Prozesse, Strukturen und Servicedimensionen, die im Verlauf der Dienstleistungsentwicklung erfolgen, kontinuierlich berücksichtigt und evaluiert werden (vgl. Menor et al. 2002, S. 155). Hieraus ergibt sich für die individuelle Entwicklung von E-Health-Dienstleistungen ein E-Health Service Development Loom (deutsch: Webstuhl bzw. Webmaschine). In Analogie zu einem Webstuhl fungieren im Rahmen des E-Health Service Development Loom die unterschiedlichen Dimensionen des Geschäftsmodells (z. B. Kundensegmente, Vertriebskanäle, Leistungsversprechen, etc.) als Kettfäden (englisch: warp) sowie die verschiedenen Management- und Service Engineering Techniken (z. B. Konsortiumsbildung, Potenzialanalyse, Service Blueprinting, Kundenintegration, etc.) als Schussfäden (englisch: weft). Im Verlauf der Dienstleistungsentwicklung fungiert das Geschäftsmodellraster (Service Business Modell) sowie die damit verbundenen Performance-Measurement-Indikatoren als Webblatt (englisch: reed). Dieser E-Health Service Development Loom unterstützt und ermöglicht ein zielgerichtetes fehlerfreies Vorgehen sowie eine inhaltlich konsistente und marktreife E-HealthDienstleistung bzw. ein entsprechendes Geschäftsmodell inkl. aussagekräftiger Use-Case-Szenarien (s. Abb. 8) (vgl. Kriegel und Auinger 2015, S. 130). 5.2 E-Health Performance Measurement Cube Aufgrund der Vielzahl möglicher Kennzahlen und Indikatoren, die im Rahmen der E-Health-Dienstleistungsentwicklung identifiziert und erhoben werden können, empfiehlt es sich, eine gewisse Auswahl von Schlüsselindikatoren (Key-Performance-Indikatoren) z. B. hinsichtlich Aussagekraft, Erhebungsaufwand und Anwendungsmöglichkeiten zu treffen. Key-Performance-Indikatoren sind dabei Schlüsselkennzahlen, die die bisherigen entwicklungsbezogenen Leistungen widerspiegeln sowie als zukünftige Zielvorgaben dienen. Dabei werden Kenngrößen, die die Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen für den Entwicklungserfolg darstellen, abgebildet. Mittels der Key-Performance-Indikatoren lassen sich die relevanten Strukturen, Prozesse und Ergebnisse bewerten, kontrollieren und gegebenenfalls in einem weiteren Schritt regulieren oder optimieren (vgl. Brenner E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … Service EngineeringPhasen Geschäftsmodell Dimensionen Ideenfindung Konzeption Prototyping 551 Marktetablierung Geschäftsmodell Dimensionen Schlüsselpartner Schlüsselpartner Datenschutz Datenschutz Schlüsselaktivitäten Schlüsselaktivitäten Schlüsselressourcen Schlüsselressourcen Kostenstrukturen Kostenstrukturen Leistungsversprechen Leistungsversprechen Emotionen Emotionen Ethik Ethik Kundenbeziehungen Kundenbeziehungen Vertreibskanäle Vertreibskanäle Einnahmequellen Einnahmequellen Kundensegmente Kundensegmente Abb. 8  Service Development Loom für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel und Auinger 2015, S. 130) und Misu 2015, S. 14). Abb. 9 gibt einen Überblick über beispielhafte Key-PerformanceIndikatoren sowie relevanter Kriterien für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung. Ein weiterer Schritt im Rahmen einer zielgerichteten und evaluierten Entwicklung von hybriden E-Health-Dienstleistungen sowie dem anschließenden Dienstleistungsmanagement ist die Entwicklung und Testung eines Performance-Measurement-Systems für E-Health-Dienstleistungen. Ziel ist es dabei, die Bewertung und Quantifizierung von hybriden E-Health-Dienstleistungen voranzutreiben und eine empirisch fundierte Gewichtung der unterschiedlichen Dimensionen anhand von marktreifen Praxisbeispielen und Good-Practice-Lösungen zu evaluieren und zu testen. Abb. 10 veranschaulicht einen Performance Measurement Cube (englisch: Würfel) für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung. Hierbei werden die unterschiedlichen Dimensionen Struktur, Prozess und Ergebnisse in einen systemischen Zusammenhang gesetzt. Dabei wird das Ziel verfolgt, die verschiedenen Stakeholder-Perspektiven und Dimensionen von E-HealthLösungen mittels eines Performance-Measurement-IndikatorenSets (Evaluationsraster) zu berücksichtigen, um dadurch ein konzeptionelles Service Engineering von marktreifen E-Health-Lösungen zu unterstützen. 552 J. Kriegel Dimension Key Performance Indikator (Auswahl) Dimension Key Performance Indikator (Auswahl) 1 Kundensegmente • • • Kundenbedarf Kaufkraft Massentauglichkeit 7 Leistungsversprechen • • • Nutzenbewertung Use Case Bildung Modularität 2 Einnahmequellen • • • Zahlungsbereitschaft Break-Even-Analyse Kreditoren-/Debitoren 8 Kostenstrukturen • • • Personalkosten Investitionsanteil/ROI F&E Kostenanteil 3 Kommunikations- • und • Vertriebskanäle • Neue Medien IKT-Infrastruktur Distributionsnetz 9 Schlüsselressourcen • • • Mitarbeiterqualifikation Strategische Ausrichtung Interdisziplinarität 4 Kundenbeziehungen • • • Kundenakquisition Kundenbindung/treue Kunderentabilität 10 Schlüsselaktivitäten • • • Kommunikation Kooperation Koordination 5 Ethik • • • Privatsphäre Selbstbestimmung Eigeninitiative 11 Datenschutz • • • Datenschutzrichtlinien Nutzungsbedingungen Datenmissbrauchsschutz 6 Emotionen • • • Aufmerksamkeitsgrad Sicherheitspotenzial Kundenzufriedenheit 12 Schlüsselpartner • • • Kunden/User-Einbindung F&E-Netzwerkbildung Horiz./vertikaleIntegration Abb. 9  Key-Performance-Indikatoren für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel et al. 2016, S. 5) Emotionen Kommunikations- und Vertriebskänäle Kundensegmente Produktvalidierung Service Business Plan Kostenstrukturen Kundenbeziehungen Service Design Schlüsselressourcen Leistungsversprechen Investitionsrechnungen Schlüsselaktivitäten Experteninterviews Schlüsselpartner Ethik SWOT-Analyse Ishikawaanalyse Potenzialanalyse Datenschutz Mind-Map / 6-3-5 Methode Konsortiumsbildung Use Case Interoperabilität Mitarbeiterproduktivität Kommunikationskonzept Stückkosten Modularität Usability Kundenzufriedenheit Systematisierte Abläufe Fehlerbaumanalyse Stakeholder Konzept Kundenakquisition Zielgruppenanalyse Design Zahlungsbereitschaft Nutzeranforderungen Gesetze und Normen Sicherheitseinschätzung Integrationsfähigkeit Innovationsgrad Mitarbeiterqualifikation Organisationskultur Vorschlagswesen Image Technologie Cluster Branchennetzwerk Reputation Gesellschaftliche Trends Instrumente (Prozess) Zertifizierung Servicelevel Dienstleistungsqualität Durchsatz Reklamationsrate Marktanteil Finanzierungsmodell Service Blueprint Prototypen Vertriebskanäle Time-to-Market Debitorenmanagement Mitarbeiterkosten Return of Investment Break-Even-Time Verkaufspreis Kundenrentabilität Nutzenbewertung Use Case Szenario Geschäftsmodell Service Business Plan Einnahmequellen Dimensionen (Struktur) Abb. 10  Performance Measurement Cube für die E-Health-Dienstleistungsentwicklung. (vgl. Kriegel et al. 2016, S. 6) E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 553 6 Zusammenfassung In der Vergangenheit lag im Bereich der E-Health-Forschung und Entwicklung ein wesentlicher Fokus auf der angebotsorientierten und technologiebasierten Push-Strategie. Demgegenüber orientiert sich die Pull-Strategie mittels Screening an den Kundenwünschen und -anforderungen, wobei die Produktanbieter versuchen. ihr Angebot an der Nachfrage der potenziellen (End-)Kunden strategisch auszurichten. Ein optimaler Push-Pull-Mix hängt dabei u. a. vom Produkttyp, der Kundennachfrage, der Länge der Distributionskanäle sowie der Verfügbarkeit von aussagekräftigen Informationen ab (vgl. Kriegel et al. 2013b, S. 79). Mitunter sind erfolgreiche Serviceinnovationen sogar auf Kundeninitiativen (z. B. Quantified-Self-Bewegung) angewiesen. Ferner lässt sich in Teilbereichen auch eine stärkere und aktive Beteiligung externer Akteure, beispielsweise mittels Open Innovation oder agiler Dienstleistungsentwicklung, an Innovationsprozessen im Bereich der Dienstleistungsentwicklung beobachten. Zusätzlich werden auch die Möglichkeiten der Nutzung von Big Data, im Rahmen der Identifizierung und Unterscheidung zwischen Kundenanforderungen, Kundenwünschen und Kundenverhalten, zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der E-Health-Bereich mit seinen aktuellen F&E-Lösungen ist divers und heterogen. Die Forschungen und Entwicklungen der letzten Jahre fokussierten sich vornehmlich auf E-Health-Einzellösungen. Dadurch besteht der Bedarf nach einer effizienten und einfach anwendbaren Methode den Output und Impact von neuen E-Health-Lösungen zu forcieren und zu messen. Die Analyse von Good Practices sowie Hindernissen kann dabei ein Makromodell liefern, welches den jeweiligen Benefit-Impact von E-HealthLösungen beschreibt und einen E-Health-Reifegrad-Index für Vergleiche ermöglicht. Darüber hinaus liegt eine weitere zukünftige Herausforderung in der Verknüpfung von Dienstleistungsentwicklung und Dienstleistungsmanagement im E-Health-Sektor. Ziel muss es sein, bereits im Rahmen des zielgerichteten und konzeptionellen Vorgehens zur Entwicklung marktfähiger E-Health-Dienstleistungen, die weiteren Dienstleistungslebenszyklen (Entwicklung/Einführung, Wachstum, Reife/Sättigung, Schrumpfung/Degeneration) zu berücksichtigen und gegebenenfalls in die Planungen und Entwicklungen mit einzubeziehen. Literatur Brenner H, Misu C (2015) Internationales business development. Springer Gabler, Wiesbaden Deming W (1994) The new economics – for industry, gouvernment, education. MIT, Cambridge Eysenbach G (2001) What is eHealth? J Med Internet Res 3(2):e22 Gersch M, Liesenfeld J (2012) AAL- und E-Health-Geschäftsmodelle. Springer, Wiesbaden Gladen W (2014) Performance measurement. Springer, Wiesbaden Hajen L, Paetow H, Schumacher H (2010) Gesundheitsökonomie. Kohlhammer, Stuttgart Jehle F, Kriegel J (2009) Dienstleistungen in der Telemedizin – Eine Bestandsaufnahme der ambulanten Unterstützung älterer Menschen zu Hause. IRB, Stuttgart 554 J. Kriegel Kriegel J (2012) Krankenhauslogistik – Innovative Strategien für die Ressourcenbereitstellung und Prozessoptimierung im Krankenhauswesen. Gabler, Wiesbaden Kriegel J, Auinger K (2015) AAL service development loom – from the idea to a marketable business model. In: Hörbst A, Hayn D, Schreier G, Ammenwerth E (Hrsg) eHealth 2015 – health informatics meets eHealth. Proceedings of eHealth2015. Stud Health Tech Inform, Wien, S 125–133 Kriegel J, Schmitt-Rüth S (2010) Hybride Dienstleistungen im e-Health-Bereich. ÖKZ 2010(7):35–36 Kriegel J, Ortner T, Schmitt-Rüth S, Schachinger K, Lehner M (2013a) Identifizierung strategischer Erfolgsfaktoren im Rahmen der (Weiter)Entwicklung marktreifer eHealth Dienstleistungen. In: Ammenwerth E, Hörbst A, Hayn D, Schreier G (Hrsg) eHealth 2013 – health informatics meets eHealth – von der Wissenschaft zur Anwendung und zurück. OCG, Wien, S 191–196 Kriegel J, Schmitt-Rüth S, Güntert B, Mallory P (2013b) New service development in German and Austrian health care – bringing e-Health services into the market. J Healthc Manag 6(2):77–86 Kriegel J, Schmitt-Rüth S, Ortner T (2013c) Entwicklung von eHealth- und AAL-Geschäftsmodellen am Beispiel der Forschungsprojekte PIN und TMC in Oberösterreich. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2014 – Informationstechnologien und Telematik im Gesundheitswesen. VDMJ, Solingen, S 314–321 Kriegel J, Schmitt-Rüth S, Auinger K (2014) Performance measurement für die Entwicklung von hybriden eHealth/AAL Dienstleistungen. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2015 – Informationstechnologien und Telematik im Gesundheitswesen. VDMJ, Solingen, S 223–229 Kriegel J, Weißenberger S, Auinger K, Schmitt-Rueth S, Reckwitz L (2016) AAL Service performance measurement cube – key criteria for AAL new service development. In: Hörbst A, Hayn D, Schreier G, Ammenwerth E (Hrsg) eHealth2016 – health informatics meets eHealth. Proceedings of eHealth2016. Stud Health Tech Inform, Wien, S 1–8 Menor LJ, Tatikonda MV, Sampson S (2002) New service development: areas for exploitation and exploration. J Oper Manag 20(2):135–157 Ortner T, Schachinger K, Lehner M, Kriegel J (2012) Identifikation und Transfer von Kundenanforderungen im Rahmen einer praxis- und marktorientierten eHealth Telemonitoring Anwendung für den extramuralen Bereich in Oberösterreich. In: Schreier G, Hayn D, Hörbst A, Ammenwerth E (Hrsg) eHealth2012 – health informatics meets eHealth – von der Wissenschaft zur Anwendung und zurück. OCG, Wien, S 33–38 Osterwalder A, Pigneur Y (2011) Business model generation. Campus, Frankfurt a. M. Schmitt-Rüth S, Kriegel J, Zahneisen A (2010) Dienstleistungsentwicklungen telemedizinischer Anwendungen – Ausgestaltungskomponenten zwischen Anforderungen und Finanzierung. In: Schreier G, Hayn D, Ammenwerth E (Hrsg) eHealth2010 – health informatics meets eHealth, OCG, Wien, S 189–194 Shafer SM, Smith HJ, Linder JC (2007) The power of business models. Bus Horiz(48):199–207 E-Health Service Development Loom – Geschäftsmodellentwicklung … 555 Über den Autor Prof. (FH) Dr. Johannes Kriegel, MBA/MPH  ist Professor für Gesundheitsmanagement an der Fachhochschule Oberösterreich, Fakultät Gesundheit und Soziales. Seine aktuellen Forschungsthemen und Publikationen konzentrieren sich auf die Bereiche Dienstleistungsentwicklung und Management im Gesundheitswesen sowie Gesundheitsund Krankenhauslogistik. Kontakt: johannes.kriegel@fh-linz.at Gestaltung eines Studiengangkonzepts für einen Technologiemanagementstudiengang mit Schwerpunkt Alltagsunterstützende Assistenzsysteme (AAL) Elmar Erkens und Stefanie Mielitz 1 Konzept des BMBF-Förderprojektes AApolLon Im Rahmen einer BMBF Förderung wurde ein Fernstudiengang zur Qualifizierung von Mitarbeiter/innen für die Konzeption, die Projektierung und das Management von technologiebasierten Ambient-Assisted-Living-Lösungen erarbeitet. Das Konsortium strebte die Entwicklung eines Bachelor Studiengangs mit 180 CPs im Bereich des Gesundheitstechnologiemanagements an, der sich inhaltlich neben allgemeinen Grundlagen zum Technologiemanagement und zur BWL spezifisch auf die besonderen Belange und Anforderungen von Technologien im Bereich Alltagsunterstützenden Assistenz Lösungen (AAL) konzentriert. Ziel des Studiengangs ist es, Managementnachwuchs für Beratungsunternehmen, Dienstleistungsanbieter, Technikfirmen und Facility-Management-Unternehmen auszubilden, die für sich das Geschäftsfeld AAL identifiziert haben. Spätere Kunden benötigen eine Beratung zu einem technischen Gesamtpaket, das ihnen trotz alters- oder gesundheitsbedingter Einschränkungen einen Verbleib in den „eigenen vier Wänden“ ermöglicht. Für die umfassende Beratung und das Management solcher Leistungspakete gilt es, in dem Studiengang die späteren Absolventen zu qualifizieren. E. Erkens (*)  APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen, Deutschland E-Mail: Elmar.Erkens@apollon-hochschule.de S. Mielitz  Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefanie.Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_29 557 558 E. Erkens und S. Mielitz An der Konzeption des Projektes und der Lösungsgestaltung haben sich folgende Partner beteiligt: • TMF e. V. – Berlin Die TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) ist die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland. Sie ist die Plattform für den interdisziplinären Austausch und die projekt- wie standortübergreifende Zusammenarbeit, um gemeinsam die organisatorischen, rechtlich-ethischen und technologischen Probleme der modernen medizinischen Forschung zu identifizieren und zu lösen. Die Lösungen reichen von Gutachten, generischen Konzepten und IT-Anwendungen über Checklisten und Leitfäden bis zu Schulungs- und Beratungsangeboten (vgl. TMF). Unterauftragnehmer waren die Fa. qcmed GmbH, Aachen und die IEKF GmbH, Ibbenbüren. • locate solution GmbH – Essen Die Essener Firma locate solution GmbH realisiert seit der Firmengründung 1996 individuelle und maßgeschneiderte Lösungen zum Gebäudemanagement und zur Sicherheit von Personen und Objekten. Seit über zehn Jahren steht der Home&CareMarkt im Focus des locate solution Entwicklungsteams, welches sich zum Ziel gesetzt hat, das Leben von älteren oder gesundheitlich eingeschränkten Menschen sicherer und mobiler zu gestalten und die Eigenständigkeit der Anwender zu erhalten und einzubeziehen. Es werden intelligente Sicherheits-, Sensor- und Gebäudesysteme entwickelt, die ihren Einsatz im privaten Bereich finden und ebenso als innovative Ergänzung für ambulante und stationäre Pflegeprozesse angesehen werden (vgl. locate solution). Zu Beginn des Projektes wurden zum einen im Rahmen einer Marktanalyse der Stand der Entwicklung AAL-relevanter Technologien und Leistungsangebote ermittelt und zum anderen der Bildungsmarkt untersucht. Hierauf aufbauend wurde dann der Studiengang konzipiert. Für die spezifischen Inhalte galt es, Studienmaterialien und Seminarkonzepte für das Fernstudium zu entwickeln und zu evaluieren. Inzwischen sind die ersten Studierenden immatrikuliert und der größte Teil der Studienmaterialien sowie Seminarkonzepte entwickelt. Bis zum Auslauf der Förderung Ende September 2015 sollen noch durch Autorenwechsel bedingte Verzögerungen bei der Entwicklung von Studienmaterialien erfolgreich abgearbeitet sowie das Seminarkonzept/ Planspiel zu AAL-Lösungen evaluiert werden. Bei der Durchführung des Projektes hat sich als zentrales Thema auch die Entwicklung von Geschäftsmodellen für AAL-Lösungen herauskristallisiert. Dieser Herausforderung hat sich das Projektteam gestellt und die Ergebnisse im Rahmen von Fachtagungen und Workshops präsentiert und diskutiert. Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 559 2 Gestaltung des Studiengang-Curriculums für einen technologiemanagementorientierten Studiengang mit dem Schwerpunkt AAL Ausgangspunkt des Projektes ist der sich abzeichnende demografische Wandel, der bekannte zentrale Veränderungen mit sich bringt. Damit einhergehend ist ein Anstieg von altersbedingten, oft chronischen Erkrankungen verbunden. Sofern diese Personen nicht Fälle in der klassischen stationären Pflege- und Krankenhausversorgung werden sollen, gilt es diesem Personenkreis einen möglichst langen Verbleib in einer selbstständigen Versorgung zu ermöglichen. Zentraler Aspekt ist hierbei, dass die Betroffenen sich in ihren Wohnungen sicher fühlen. Mit dieser Rahmenproblematik beschäftigt sich das Ambient Assisted Living (AAL). Das Forschungsfeld AAL ist es, durch den Einsatz neuer Technologien die Umgebung, in der sich ältere Menschen aufhalten, so zu gestalten, dass für die betroffenen Personen ein hoher Grad an Selbstständigkeit erhalten werden kann, ihre Sicherheit erhöht wird und die Kommunikation mit ihrem sozialen Umfeld verbessert wird. Dazu gehören auch die Unterstützung bei alltäglichen Verrichtungen, die Gesundheits- und Aktivitätsüberwachung, der Zugang zu sozialen, medizinischen und Notfallsystemen und die Erleichterung sozialer Kontakte (vgl. VDE). Dazu sind die Wohnungen nicht nur schwellenfrei und rollstuhlgerecht auszustatten, sondern auch mit zusätzlichen Hilfsmitteln zu versehen. Dies sind oft technische Komponenten, wie beispielsweise telemedizinische Anwendungen zur automatisierten Übertragung von Blutzuckerwerten an den behandelnden Arzt, damit dieser bei der Überschreitung von Toleranzgrenzen aktiv werden kann. Ziel ist es, in diesem Fall den Pingpongeffekt zwischen häuslichem und klinischem Aufenthalt chronisch Erkrankter zu durchbrechen und ihnen das notwendige Sicherheitsgefühl zu geben. Da oftmals Multimorbiditäten vorliegen, bedarf es vielfältiger technischer und infrastruktureller Ausstattungsergänzungen der Wohnungen bzw. der Konzeption von Neubauten. Ein weiterer zu realisierender Aspekt ist, dass sich mit den verschiedenen Krankheitsverläufen die Einschränkungen der betroffenen Menschen ändern. Insofern erfordert es einer weitsichtigen Planung, um nicht in einen Prozess stetiger und oft unwirtschaftlicher Nachbesserungen zu geraten. Hier spannt sich ein Wirkungskreis für vielfältige Akteure auf. Folgende potenzielle Akteure – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – spielen in dem gesamten Geschehen eine wichtige Rolle: Handwerker; IT-Berater; Medizindienstleister; Pflegeeinrichtungen; Energiemanagement, Facility Management; Bauträger; Hersteller von AAL-Technologien, Telemedizin und Wohnungsmanagementsysteme. Hier spannt sich ein neues und komplexes Managementfeld auf, für das es noch kein akademisches Berufsbild gibt. Die APOLLON-Hochschule hat aus diesem Grund ein Projekt beim BMBF erfolgreich beantragt, um einen Studiengang zum Gesundheitstechnologiemanagement zu entwickeln, der als ein zentrales Ausbildungsziel die Qualifizierung eines AAL-Managers hat (vgl. APOLLON 2014). Die Absolventen des Studiengangs sollen in folgenden Aufgabenfeldern wirken: 560 E. Erkens und S. Mielitz • Beratung von Unternehmen aus der Bau- und Facility-Management-Branche • Beratung von Kunden • Erstellung von kundenbezogenen und den Krankheitsverlauf berücksichtigenden Wohnungskonzepten • Entwurf von technischen Integrationskonzepten • Entwicklung von Finanzierungmodellen und Wirtschaftlichkeitsrechnungen • Aufbau und Pflege von Kompetenznetzwerken für ein umfassendes AAL-Angebot • Unterstützung und Koordination von Umsetzungsprojekten Den Studierenden werden in einem modularisierten Curriculum die genannten Inhalte aufbauend auf dem notwendigen Grundlagenwissen im Rahmen eines Fernstudienganges vermittelt. Im Juli 2014 wurde das Akkreditierungsverfahren des Studienganges bei der FIBAA (Foundation for International Business Administration Accreditation) erfolgreich abgeschlossen (vgl. FIBAA). 3 Planspiel zur Förderung der Beratungsqualität Ein wesentlicher Bestandteil des Projektes bestand in der Erarbeitung eines AALAnwenderspiels („Assistenz-Erleben“), das im Rahmen eines Ausbildungsseminars eingesetzt wird. In diesem Spiel können sich sowohl Studierende wie künftige AAL-Berater auf vielfältige Weise den Bedürfnissen der Anwender auseinandersetzen und lernen eine Vielzahl an Assistenzprodukten kennen, die bereits auf dem Markt verfügbar sind. Das Spiel besteht aus unterschiedlichen Kartensets und kann in vielen Varianten gespielt werden – zwei werden hier vorgestellt. Jede dieser Varianten verfolgt ein anderes Ziel bzw. bei jeder dieser Varianten wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf AAL geschaut. Die erste Spielvariante ist originär für den Seminareinsatz konzipiert und schaut aus der Perspektive des Nutzers auf die technischen Assistenzlösungen der Frage folgend: Welche Bedingungen hat der Nutzer und welche technischen Hilfen können unter diesen Bedingungen zum Einsatz kommen? Auch die zweite Spielvariante ist für den Einsatz in einem Seminar denkbar. Bei dieser Variante wird aus der Perspektive der Technik auf den Nutzer geschaut nach der Frage: Welche Eigenschaften und Bedingungen bringt das Produkt mit sich und eignet sich deshalb für welchen Nutzer? Der inhaltliche Schwerpunkt liegt hier im Bereich Marketing oder Produktentwicklung und die Spielergebnisse und die Erkenntnisse sind ganz andere. Weitere Zusatzkarten können den Spielverlauf vereinfachen, unterstützen oder verändern. Folgende Lernziele werden durch den Einsatz des Spiels im Rahmen eines zweitägigen Seminars erreicht: Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 561 4 Lernziele Die Studierenden setzen sich intensiv mit AAL, als wichtigen und zukunftsweisenden Teilbereich der Gesundheitstechnologie, auseinander. Sie erarbeiten sich im Seminar die Grundlagen zur Konzeption einer nutzerzentrierten alltagsunterstützenden Assistenzlösung. Die Studierenden eignen sich einzelne Arbeitsschritte und die dafür notwendigen Methoden an und diese werden von ihnen in einer Gruppenarbeit praktisch am Anwendungsfall erprobt. Sie können Anforderungen und Schwierigkeiten der Nutzer und der gewählten Technik erkennen und entwickeln, auf Grundlage der erarbeiteten Arbeitsschritte, eine Konzeption für eine einfache AAL, bei der die Bedingungen des Nutzers im Vordergrund stehen. Durch die Beschäftigung mit den nutzerzentrierten Methoden, in Theorie und Praxis, lernen die Studierenden die Methoden zur Nutzerintegration und erproben sie umgehend im Anwendungsfall als Gruppenarbeit. Die Studierenden diskutieren die Lösungen im Plenum, nehmen zu den Ergebnissen Stellung und beurteilen die Lösungsvorschläge. In der Plenumsdiskussion reflektieren die Studierenden das Gelernte und können den anderen Arbeitsgruppen durch ihr Feedback beratend zur Seite stehen. Nach Abschluss des Seminars verfügen die Studierenden über das Basiswissen, um selbstständig und in erprobten Arbeitsschritten eine einfache alltagsunterstützende Assistenzlösung zu konzipieren. 5 Ablauf und Inhalt Das Spielset beinhaltet Persona- und Technikkarten. Persona sind stereotype Darstellungen unterschiedlicher Zielgruppen, die überwiegend für die Produktentwicklung zum Einsatz kommen. Die Beschreibung der Persona berücksichtigt diverse Dimensionen: soziodemografische, geografische, psychografische und technografische Daten ebenso Daten zur Verhaltensorientierung und zur physischen Kondition. Der Einsatz dieser Persona ermöglicht es, eine alltagsunterstützende Assistenzlösung nicht für eine unbekannte Allgemeinheit, sondern für konkret-virtuelle Nutzer zu konzipieren und eine Fallgeschichte an einem konkreten Beispiel zu entwickeln (s. Abb. 1). Zusätzlich gibt es die Persona-Blankokarte, auf dieser kann eine Persona hinzugefügt werden oder ein konkreter, bekannter Fall beschrieben werden. Die Technikkarten bilden einen Querschnitt der bereits am Markt verfügbaren Assistenzprodukte ab und diese werden sechs unterschiedlichen Anwendungskategorien zugeordnet: Sicherheit, Gesundheit, Alltagshelfer, Mobilität, Medien, Komfort. Die Darstellung wird in Form von allgemeinen Produktgruppen realisiert (z. B. Herdüberwachung mit Abschaltfunktion, Sensorsystem mit Notruffunktion). Die Produktgruppen 562 E. Erkens und S. Mielitz Reiner Schulte: Der depressive Pensionär Aussage: Persönliche Daten: „Mein Augenlicht wird immer schlechterund ich fühle mich schwach Aber ins Altersheim gehe ich nur, wenn ihr mich mit den Füßen voran aus dem Haus tragen könnt. Mit der neumodischen Technik wollt ihr mich doch nur überwachen! Ich brauch das alles nicht!“ • 76 Jahre, verheiratet, zwei Kinder • wohnt mit seiner Frau im eigenen Haus mit großen Garten • Pensionierter Lehrer, Pension ca. 3000 Euro • Multimorbid: leidet u.a. an Depressionen • Zusatzmaterial Grundriss II Persönliche Situation: Anforderungen: Barrieren und Sorgen: Er ist… …viel zu Hause und geht kaum noch aus dem Haus. Seit bei Reiner vor 5 Jahren ein inoperabler Tumor im Gehirn am Sehnerv entdeckt wurde, muss er Hormone und gelegentlich Schmerzmittel zu sich nehmen, zusätzlich nimmt er blutverdünnende Medikamente und etwas gegen den grünen Star. Durch seinen Tumor und eine degenerative Augenkrankheit kann er immer schlechter sehen und auch das Gehör lässt nach. Hin und wieder ist sein Gleichgewicht gestört und er fühlt sich „wackelig“ . Er will… ... gerne mehr Malen, denn das ist seine große Leidenschaft. Mit Technik hat er nichts am Hut, doch beim Fernsehen setzt er sich schon immer einen Kopfhörer auf, dass er auch alles versteht. Zeitschriften und Bücher kann er selbst mit einer Lupe schlecht lesen. Seine Frau ist oft unterwegs und auch auf Reisen, sie möchte die Sicherheit, dass es ihrem Mann gut geht, ohne dass er sich dabei überwacht fühlt. Sorgen macht ihm… …dass er immer schlechter sehen kann und zunehmend Gleichgewichts störungen hat . Seine Frau ist noch sehr aktiv und sie sorgt sich, dass er, wenn sie nicht da ist, stürzen könnte und dass er wegen seiner Depressionen nur noch zu Hause bleibt und sich kaum noch bewegt . Sie weiß, dass Antriebslosigkeit der größte Risikofaktor für Demenzerkrankungen darstellt. Hoffentlich bemerkt sie den schleichenden Prozess! Abb. 1  Beispiel einer Persona Karte werden allgemein beschrieben und es werden die Hauptfunktionen, bzw. Anwendungsbereiche (z. B. Aktivitätsanalyse, bzw. beginnende Demenz, Diabetes, Menschen mit Herzinfarktrisiko) aufgeführt. Zu jeder Produktgruppe werden konkrete Beispiele mit Preisbeispielen genannt und entsprechende Beispielbilder dargestellt. Der Technikjoker kann gezogen werden, wenn die Studierenden keine der technischen Lösungen für ihren Fall verwenden möchten und eigenständig nach möglichen Lösungen recherchieren möchten. Die Ergebnisse können in die Technik-Blankokarten eingetragen werden. So sind Umfang und Inhalt der Technikkarten stets erweiterbar (s. Abb. 2). Die Hilfe- und Dialogkarten dienen als Hilfestellung und Ergebnisbeurteilung, wenn das Spiel nicht im betreuten und angeleiteten Rahmen des Seminars stattfindet (s. Abb. 3). Die zusätzlichen Materialien, wie z. B. Magnettafeln mit Grundrissen, Magnete und Whiteboard, können als Hilfsmittel bei der Planung konkreter Maßnahmen eingesetzt werden (s. Abb. 4). In der ersten Spielvariante sollen die Studierenden eine nutzerzentrierte Lösung erarbeiten. Sie erfassen die Anforderungen, Wünsche und machen sich mit den Ängsten der Nutzer in Form der Persona-Karte vertraut, sodass die Nutzer optimal beraten und mit Technologien in Form der Technikkarten versorgt werden. Weiterhin geht es darum, eine Gestaltung eines Studiengangkonzepts … Sicherheit Komfort Produktkategorien: • Sturzerkennung • Gebäudeautomation • Energiesparfunktion Technische Daten: • dünnes Underlay auf textiler Basis, • Verfügen über 16-32 kapazitiven Näherungssensoren pro m² • Funkempfänger und Auswerteeinheit 563 Sensorboden System-/ Produktbeschreibung: Sensorboden in Form eines dünnen, großflächiges Underlays auf textiler Basis ist mit Sensoren ausgestattet. Es ist unter flexiblen Bodenbelägen wie PVC oder Teppichboden und unter starren Belägen wie Laminat oder Parkett verlegbar. Personen, die über den Boden laufen, lösen Sensorsignale aus, die zu einem Empfänger gefunkt und dort ausgewertet werden.So wird die Präsenz von Personen, ihre Geschwindigkeit und ihre Gehrichtung erkannt. Ebenso kann eine liegende Person von stehenden Personen unterschieden werden und das System beispielsweise für Sturzerkennung und Sturzprophylaxe genutztwerden. Anwendung, Hauptfunktion: Aktivitätsüberwachung durch Beobachtungssysteme (Sturzerkennung), Hausautomationssysteme (Beleuchtung, Türen), für die Betreuung von dementen oder sturzgefährdeten Menschen Notwendige Infrastruktur: Bodenbelag: PVC, Teppichboden oder Laminat / Parkett Schnittstellen/ Interoperabilität/ Erweiterungen: Eine Vielzahl unterschiedlicher Empfänger bietet die passenden Schnittstellen zu verschiedenen Standards Bezugsquelle/ Kosten: Hinweise: z.B. SensFloor® Future-Shape GmbH www.future-shape.com Preis auf Anfrage • Die verschiedenen Auswerteeinheiten können Steuerfunktionen mittels entsprechender Relais selbst übernehmen. • Diskret, installierbar unter fast allen Bodenbelägen • U.U. für den Einbau in öffentliche Gebäude geeignet. Abb. 2  Beispiel einer Technikkarte Auswahl der aktuell verfügbaren Produkte kennenzulernen und diese für den Einsatz im Fallbeispiel einer Persona zu beurteilen. Nicht immer sind die Angaben der Nutzer sehr spezifisch und auch die technischen Lösungen haben Ecken und Kanten. Die Aufgabe ist es, eine gute technische Lösung zu finden, das heißt eine geeignete Kombination von Persona-Karte und Technikkarte zu erarbeiten. In der zweiten Spielvariante sind die Studierenden in der Rolle eines Werbeverantwortlichen einer Technologiefirma (Mitarbeiter der Marketingabteilung). Bisher schwierig zu vermarktende Produkte sollen zielgruppenspezifisch, ansprechend beworben werden. Die Aufgabe ist es, die passenden Zielgruppen in Form der Persona zu identifizieren und das Produkt entsprechend zu bewerben. Ebenso ist es möglich, dass sie die Position eines Geräte-/Technologieherstellers einnehmen und ihr Produkt zielgruppenspezifisch verändern oder anpassen. Das Spiel lässt sich in unzählige Varianten abändern und erweitern! Um nicht nur die Qualität des Spiels innerhalb der Hochschule evaluieren zu können, wurde das Spiel zunächst bei Mitarbeitern eines Technologieherstellers getestet – mit zum Teil sehr innovativen Ergebnissen. Darüber hinaus wurde das Spiel- und Seminarkonzept im Rahmen der Initiative Altersgerechtes Wohnen in Solingen erprobt. Der Teilnehmerkreis setzte sich aus Vertretern von Hilfsorganisationen, Technikanbietern, 564 E. Erkens und S. Mielitz Schlaganfall Bei einem Schlaganfall wird das Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Halbseitenlähmung, Sprachstörung und Beeinträchtigung der Arthrose Bei einer Arthrose-Erkrankung kommt es im Zuge der lebenslangen, alltäglichen Belastung zu einer Knorpelabnutzung. Dieser Gelenkverschleiß hat Dialog II Hilfe III Rheuma Assistenzbedarf Kosten Welche Art von Assistenz kann helfen den Lebensalltag zu erleichtern? „Wer soll das bezahlen?“ Rheuma zählt zu den nicht heilbaren Krankheiten. Bei rheumatischen Erkrankungen kommt es zu Entzündungen in den Muskeln, Sehnen und Grauer Star/ AMD Im Alter produziert das Auge weniger Tränenflüssigkeit, die Netzhaut wird mit den Jahren dünner und auch die Linse verliert an Flexibilität, Epilepsie Die Epilepsie steht nach den Hirninfarkten und der Demenz-Erkrankungen (z.B. Alzheimer Demenz) an dritter Stelle der häufigsten Erkrankungen im Diabetes Im Alter erkranken viele Menschen an der Zuckerkrankheit Diabetes mellitus. Vor allem der Diabetes Typ 2 wird bei älteren Menschen häufig diagnostiziert. Bei diesem Typ kann der Körper das Insulin, welches er produziert, nicht wieder abbauen, so dass der Blutzuckerspiegel steigt. Vor allem übergewichtige Menschen leiden an dieser Diabetesform. Müdigkeit und Kopfschmerzen sowie eine erhöhte Infektionsgefahr zählen zu den Folgen. Häufig wird eine Gewichtsreduktion Dialog II Hilfe III Zusätzlicher Produktnutzen Produktnutzen Wie nutzt das Produkt der Persona? empfohlen. Eine gesunde Lebensführung mit einer ausgewogenen Ernährung und genug Bewegung kann die Krankheitsfolgen mildern. Wichtig ist die konsequente Kontrolle der Blutzuckerwerte, die richtige Medikation und der stetige Dialog mit dem Arzt. Für Smartphone-Besitzer gibtes a ganze Reihe verschiedener hilfreicher Apps, vom Schritt-zähler über Messungen von Trainingserfolgen bis hin zu Tools für die Kalorienkalkulation. Wie können weitere Persona davon überzeugt werden? Abb. 3  Dialogkarten Grundriss I Grundriss III Grundriss II 305 393 63 285 160 62 257 60 107 257 80 90 83 84 237 141,04 30 90 21 90 77 367 260,01 345 120 131 82 260 120 58 161 102 301,17 194 193 94 4 90 67 30 194 38 100 143,35 120 171 223 6 12 93 314 4 95 97 16 16 62 636 65,76 169 148 248 72 90 751 60 135 140 208 387 101,49 2 640,97 13 854 61,81 8 310 90 70 -1 53 198,01 90 87 95,52 320 319 68 69 121,1 134 201 21 59 70 404 397 59 225 50 426 397 200 426 193 9 367 5 90 542 224 80 98 400 51 271 8 13 35 80 90,27 90 43 80 69 60 225 62 191 2 191 225 166,3 32 90 44 36,4 182 155 311 306 337,01 306,03 442,58 284 393,91 417 92 107 18 80 9 105 120 285,06 199 81 84 283,98 22 90 18 167 119 108 120 321 59 301 62 90 94 196 150 cm; 1 : 46,4 Abb. 4  Beispiel für Wohnungsgrundrisse 250 cm; 1 : 88,27 100 cm; 1 : 35,14 Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 565 Seminarbewertung in Schulnoten 2 1.8 1.6 1.4 1.2 1 0.8 0.6 0.4 0.2 0 Abb. 5  Ergebnis der Bewertung in Rahmen des Praxisseminars in Solingen Beratern, Physiotherapiepraxen und Handwerkern zusammen, was genau den avisierten Zielgruppen entspricht. Die Details der insgesamt sehr positiven Bewertung des Seminars und des darin integrierten AAL-Anwenderspiels der insgesamt 24 Teilnehmer/innen sind der Abb. 5 zu entnehmen. Die positiven Ergebnisse der ersten Erprobungen zeigen, dass das Spiel im Rahmen eines Ausbildungsseminars durchaus sinnvoll einzusetzen ist. Es vermittelt neben praxisorientiertem Wissen zu Technologien und deren Nutzer vor allem auch Anregungen dazu, eigene, kreative Lösungen zu entwickeln und neue Perspektiven einzunehmen. 6 Musterberechnung für eine AAL-Lösung Weiterhin ging aus der Projektarbeit die Erörterung eines Geschäftsmodells als Teilergebnis hervor. Diesem Geschäftsmodell, für die Untermauerung der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit von Investitionen in Lösungen zur Sicherung eines selbstbestimmten Lebens in der eigenen Wohnung, liegt zunächst die Überlegungen zugrunde, dass das 566 E. Erkens und S. Mielitz Sicherheitsgefühl der Menschen berücksichtigt sein muss. Hierzu sind folgende Maßnahmen erforderlich: • Barrierefreier Zugang zur Wohnung, • barrierefreie Wohnraumgestaltung (z. B. ebenerdige Duschtasse oder keine Türschwellen), • elektronischer Türspion, • rutschhemmende Bodenbeläge, • optische Überprüfungsmöglichkeit der Abschaltung von Geräten, • automatische Geräteabschaltung, • automatische Schließsysteme, • Sensorik z. B. zur Lichtsteuerung und/oder Sturzerkennung, • Alarmsysteme sowie • Hausnotruf. Der individuelle Bedarf an Unterstützung ist sehr unterschiedlich und führt oftmals dazu, dass die Wohnungsausstattung damit sehr individuell zu gestalten ist. Um aber eine Modellrechnung vornehmen zu können, haben wir folgenden Ausstattungs- bzw. Umbaubedarf einbezogen: • Schwellenfreiheit, • rollator-/rollstuhlgeeignete Türbreiten, • Bewegungs- und Sturzsensoren, • Lichtsteuerung, • Heizungssteuerung und • rutschfeste Bodenbeläge. Viele der genannten Maßnahmen dienen der Prävention vor Haushaltsunfällen, die oft ein Grund dafür sind, dass sich betroffene Personen so stark verletzen (z. B. Oberschenkelhalsbruch beim Sturz im Dunkeln), dass sie klinisch behandelt werden müssen und bei wiederholtem Auftreten verunsichert sind. Neben den baulichen und technischen Maßnahmen müssen noch Dienstleistungen wie Hausnotruf, Einkaufsservice und Arztbegleitung ergänzt werden, um die Grundversorgung mit den Bedürfnissen des täglichen Bedarfs zu gewährleisten. Im Rahmen des Projektes wurde diskutiert, wer letztlich die Investitionen vorzunehmen hat. Diese Kernfrage des Geschäftsmodells muss beantwortet werden. Hier kommt zum einen der Mieter oder Eigentümer einer Wohnung infrage. Beim Wohnungseigentum ist dann noch zu unterscheiden, ob der Bewohner gleichzeitig Eigentümer ist oder ob es sich um einen Vermieter handelt. Hier stellt sich immer die Frage, wie die unterschiedlichen Interessen in Einklang zu bringen sind. Wie man der Abb. 6 entnehmen kann, gestaltet sich die Frage, wer letztlich für die Investitionen mit welchem Interesse verfolgt recht komplex. Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 567 AAL-Kunden Eigentümer Kunde in Bestandswohnungen AAL-Anwender „Betroffener“ AAL-Interessierte „Vorsorger“ individuelle AAL-Lösung private Investition + monatliche Gebühr + Zuschuss PVT Kunde in Neuvermietung Komfortkunde Facilitybetreiber AAL-Plattformlösung private Investition + monatliche Gebühr + Zuschuss PVT Mietumlage Investition Mietumlage Abb. 6  Kundenstrukturen in AAL-Facilities Für die beispielhafte Kalkulation wurden die beiden Fälle eines Neubaus einer AALWohnung mit späterer Eigennutzung (s. Tab. 1) und der Umbau einer Bestandswohnung aus Sicht des späteren Mieters (s. Tab. 2) näher betrachtet. Die im Rahmen der Kalkulationen angenommenen Beträge variieren naturgemäß je nach Standort der Wohnung und der Handwerkerkosten. Diese müssten im Rahmen einer individuellen Beratung angepasst werden. Da sich die AAL-bezogenen Investitionen auch abnutzen werden bzw. technisch überaltern, wurde eine verkürzte, durchschnittliche Abschreibung der Zusatzkosten von fünf Jahren unterstellt. Der zuvor angesprochene Zuschuss aus KFW-Mitteln wird in Höhe von zehn Prozent der bezuschussbaren Ausgaben maximal aber bis zu 5000 EUR gewährt. Für die Finanzierung der Investitionskosten kann ebenfalls von der KFB ein vergünstigter Kredit von bis zu 50.000 EUR bereitgestellt werden. Leider können diese Kredite nur von Eigentümern oder Vermietern beantragt werden (vgl. KFW). Wenn man im Vergleich die von einer Person der Pflegestufe 1 persönlich zu leistenden Zuzahlungen für eine Heimunterbringung betrachtet, dann kann man feststellen, dass eine Heimunterbringung nicht immer die wirtschaftlichere Lösung ist. Dem Beispiel wurde eine Zuzahlung aus einem Fall in Bremen zugrunde gelegt (s. Tab. 3). Es fällt auf, dass bei beiden Varianten ein Überschuss ausgewiesen wird. Mit diesem Überschuss müsste dann aber noch die Verpflegung finanziert werden, die bei einer Heimunterbringung enthalten ist. Es bleibt aber unter dem Strich die Feststellung, dass es zu ähnlichen Kosten aus Sicht des Betroffenen möglich ist, weiterhin selbstbestimmt in seiner vertrauten Umgebung leben zu können. 568 E. Erkens und S. Mielitz Tab. 1  Beispielhafte Kalkulation der Gesamtkosten im Falle eines Neubaus Kalkulation des Business Case: Neubau In EUR Anmerkungen I. Grundkosten Baukosten pro m2 1600 Wohnungsfläche im m2 70 Baukosten der Wohnung 112.000 Kapitalbindungskosten pro Jahr bei einem Zinssatz von 0,05 5600 Kapitalbindungskosten pro Monat 467 Bei angenommener Werterhaltung II. Zusatzkosten für AAL Schwellenfreiheit (Duschzelle, …) 2980 Rollatorgeeignete Türbreiten 1000 Bewegungs- und Sturzsensoren 3000 Lichtsteuerung (Bewegungssensoren) 1200 Steuerung der Elektrogeräte 600 Heizungssteuerung 1000 Rutschfeste Bodenbeläge (5 € pro m2) 350 Summe der Zusatzkosten 10.130 Abschreibung der Zusatzkosten über 5 Jahre 2026 Über programmierbare Thermostatventile Bei notwendiger Ersatzbeschaffung in 5 Jahren Abschreibung der Zusatzkosten pro Monat 169 III. Betreuungskosten durch Dienstleister Hausnotruf, Einkaufservice, Arztbegleitung, … pro Jahr 2557 my.sens Bei Finanzierung über Pflegestufe 0 pro Monat 100 my.sens in Kooperation mit Spektrum-K Gesamtkosten 736 Wenn die Kosten der Pflegeversicherung für die Heimunterbringung einbezogen werden, ist ein klarer Nutzen für das Gemeinwohl zu erkennen. Insofern könnte bei einer Teilförderung aus der Pflegeversicherung für AAL-Lösungen zum einen die Attraktivität (Ersparnis) so erhöhen, dass der Verbleib in der eigenen Wohnung sich für die Betroffenen lohnt. Zum anderen könnten die mit dem demografischen Wandel erwarteten Kostenexplosionen gedämpft werden. Volkswirtschaftlich betrachtet würde zudem so auch der zu erwartende Pflegenotstand abgemildert werden. Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 569 Tab. 2   Beispielhafte Kalkulation der Gesamtkosten im Falle eines Mieters in einer Bestandswohnung Kalkulation des Business Case: Bestandswohnung In EUR Anmerkungen I. Grundkosten Nettokaltmiete pro m2 8,50 Wohnungsfläche im m2 70 Nettokaltmiete pro Monat 595 II. Zusatzkosten für AAL Schwellenfreiheit (Duschzelle, …) 7960 Rollator geeignete Türbreiten 2500 Bewegungs- und Sturzsensoren 3000 Lichtsteuerung (Bewegungssensoren) 1200 Steuerung der Elektrogeräte 1400 Heizungssteuerung 1200 Rutschfeste Bodenbeläge (30 € pro m2) 2100 Summe der Zusatzkosten 19360 Zuschuss KFW für altersgerechtem Umbau (max. 5000 €) 1936 Verbleibende Kosten 17.474 Abschreibung der Zusatzkosten über 10 Jahre 1724 Über programmierbare Thermostatventile 10 % der bezuschussbaren Kosten Bei notwendiger Ersatzbeschaffung nach 10 Jahren Abschreibung der Zusatzkosten pro Monat 144 III. Betreuungskosten durch Dienstleister Hausnotruf, Einkaufservice, Arztbegleitung, pro Monat 213 my.sens Bei Finanzierung über Pflegestufe 0 pro Monat 100 my.sens in Kooperation mit Spektrum-K Gesamtkosten 852 Tab. 3  Vergleich der beiden kalkulierten alternativen Business Cases Neubau Bestandswohnung Kosten einer AAL-Wohnung: 736 852 Zuzahlung Altenheim Pflegestufe 1: 998 998 Ersparnis: 262 146 570 E. Erkens und S. Mielitz 7 Fazit Das vorgestellte BMBF-Förderprojekt AApolLon konnte im September 2015 erfolgreich beendet werden. Die entwickelten Studieninhalte wurden optimal in die bestehenden Studienmodule der Apollon Hochschule für Gesundheitswirtschaft in Bremen integriert. Die Studierenden profitieren bereits heute von den zukunftsweisenden Themenschwerpunkten im Studium. Im Technologieschwerpunkt AAL ist nach wie vor festzustellen, dass AAL-Technologien und -Konzepte deutlich zukunftsfähiger werden müssen. Die konkreten Schwierigkeiten und Probleme erfahren die Studierenden vor allem durch das Lehr- und Lernspiel „Assistenz Erleben“. Das Planspiel konnte als Teilergebnis nach Projektende in eine Nachhaltigkeit überführt werden. Es wird im Rahmen eines Seminarangebotes für Technologieunternehmen, für die Pflegeberatung, für Handwerker etc. angeboten und ist als Spielkartenset seit Januar 2016 unter www.assistenz-erleben.de erhältlich. Literatur APOLLON Hochschule für Gesundheitswirtschaft (2014) Studienprogramm, V. 11019 FIBAA. http://static.fibaa.org/berichte/progakkred_k2h/B_Bremen_APOLLON_HS_1805_GB.pdf. Zugegriffen: 14. Sept. 2015 KFW. https://www.kfw.de/inlandsfoerderung/Privatpersonen/Bestandsimmobilien/Barrierereduzierung/. Zugegriffen: 14. Sept. 2015 Locate Solution. http://www.locatesolution.de/start.html. Zugegriffen: 14. Sept. 2015 TMF. http://www.tmf-ev.de/. Zugegriffen: 14. Sept. 2015 VDE. http://www.vde.com/de/Verband/Pressecenter/Pressemeldungen/Fach-und-Wirtschaftspresse/ 2009/Seiten/2009-05.aspx. Zugegriffen: 14. Sept. 2015 Über die Autoren Prof. Dr. Elmar Erkens ist seit Anfang 2009 als Dekan des Fachbereichs Technologie und Logistik für die APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft beratend tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Logistik- und Prozessmanagement, Transportplanung und -steuerung sowie Alltagsunterstützende Systeme. Seit 2014 ist er zudem Vorsitzender des Prüfungsausschusses. Seit 2010 ist er an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin als Professor für Allgemeine BWL, insbesondere Logistik berufen. In Jahr 2011 wurde er dort mit der Leitung der Fachrichtung Industrie beauftragt. Seit 2014 leitet er zudem den von ihm Gestaltung eines Studiengangkonzepts … 571 konzeptionierten und entwickelten Master-Studiengang „General Management – dual“ als akademischer Beauftragter. Kontakt: Elmar.Erkens@apollon-hochschule.de Stefanie Mielitz ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin (M. A.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Effizienz Kommunikation und Forschung GmbH (IEKF), Ibbenbüren. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ambient Assisted Living, generationsübergreifende (Kommunikations)-Technologien und medienkritische Früherziehung. Aktuell baut sie den Web-Shop assistenz-erleben.de auf. Seit 2011 ist sie im Institut verantwortlich für die Projektarbeit und zuständig für die Facharbeiten zum Thema AAL. Von 2012 bis 2015 arbeitet sie im AApolLon-Projekt mit, gefördert durch das BMBF. Sie war Mitorganisatorin des Workshops „AALGeschäftsmodelle“ auf dem AAL-Kongress 2014 sowie bei der GMDS Jahrestagung 2014. Kontakt: Stefanie.Mielitz@iekf.de Teil VIII Projekte, Evaluationen, Positionen zum Gesundheitsstandort privater Haushalt Ambientes und Aktives Assistierendes Leben wird in Zukunft eine immer wichtigere Rolle in der Gesellschaft einnehmen. Im ersten Beitrag wird das AAL-Netzwerk Saarland vorgestellt, das diese Themen in der Fläche angeht, wesentliche Erfahrungen sammelt und damit Lösungsansätze in Zukunft bereitstellen wird. Assistives Leben findet vornehmlich in der häuslichen Umgebung aber auch im Quartier statt. Hier gilt es die neuen, auf die Bewohner und ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Konzepte zu entwickeln. AAL kann verstanden werden als „Assistenz für den Menschen“ in der Wohnung. Während Smart Home als „Assistenz für das Lebensumfeld“ (für die Wohnung) des Menschen zu beschreiben ist. Smart Home adressierte damit die häusliche – technische – Umgebung und dieses insbesondere bezogen auf Energie- und Effizienzsteigerung, Komfort und Sicherheit der Wohnung. Im Beitrag zu Smart Home werden diese Aspekte detailliert und an konkreten Beispielen dargestellt. Das AAL-Netzwerk Saar – Ein ganzheitlicher Ansatz für nachhaltige Veränderungen im demografischen Wandel Wolfgang Langguth, Michael Uhl und Hans B. Kraß 1 Hintergrund Die umwälzende Entwicklung der Gesellschaft im demografischen Wandel erfordert von den meisten europäischen Ländern umfassende Anpassungen der bestehenden Strukturen ihrer Daseinsvorsorge. Die damit verbundenen Herausforderungen umfassen in der Regel Reformen der bestehenden Sozial- und Gesundheitsstrukturen als auch Optimierungen der Versorgungsinfrastrukturen z. B. im ländlichen Raum. Das Saarland wird gemäß statistischen Erhebungen (Statistisches Bundesamt 2010; Statistisches Bundesamt 2011) unter den alten Bundesländern vor die größten Herausforderungen gestellt sein und es bedarf kurzfristig greifender Maßnahmen, um der aktuellen Entwicklung zu begegnen. Im Verlauf der demografischen Entwicklung kommt es zu einer Zunahme der Ausgaben im Sozial- und Gesundheitssektor durch einen sich ständig erhöhenden Pflegebedarf im ambulanten und verstärkt im stationären Bereich (s. hierzu z. B. Statistisches Bundesamt 2015). Durch die Vermeidung von Heimaufenthalten nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“ und der damit verbundenen Entlastung der Sozial- und Krankenkassen kann ein entscheidender Beitrag zur Lösung des Kostenproblems geleistet werden. W. Langguth (*)  AAL-Netzwerk Saar e.V. HTW Saar, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: W.Langguth@aal-saar.de M. Uhl  Saarbrücken, Deutschland E-Mail: m.uhl@aal-saar.de H. B. Kraß  Hochschule für Technik und Wirtschaft Saar, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: hans.krass@aal-saar.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_30 575 576 W. Langguth et al. Zur Unterstützung von Menschen mit Einschränkungen wurden in den letzten mehr als zehn Jahren in Deutschland und Europa sogenannte „intelligente Assistenzsysteme“ entwickelt. Obwohl anwendungsbezogene Forschung und Entwicklung im Bereich AAL stattgefunden hat, wurde das wesentliche Ziel, Menschen im demografischen Wandel zu unterstützen und gleichzeitig die Haushalte der Sozial- und Gesundheitssysteme zu entlasten, nicht erreicht. Die bislang entwickelten Systeme haben fast ausnahmslos das Projektstadium nie überschritten und den Zugang zum Markt nicht gefunden. Die Ursachen einer bislang fehlenden Umsetzung, sei es im Bereich von Geschäftsmodellen oder einer zu einseitigen Technikorientierung und der damit verbundenen fehlenden Akzeptanz der Nutzer/innen, wurden schon vor Längerem analysiert und Hinweise zur Lösung der Probleme aufgezeigt (s. z. B. Heinze 2010). Belastbare Lösungen auf dem (Wohnungs-)Markt haben sich hierdurch jedoch nicht entwickelt. Einzelne Beispiele (Viehweger et al. 2011; Porsch 2014) zeigen erfolgsversprechende Ansätze – wenn auch bisher nur im Kleinen. Für die Sozialsysteme bestehen potenzielle jährliche Einsparmöglichkeiten durch altersgerechtes Wohnen in Milliardenhöhe und zudem werden die möglichen Marktvolumina durch bauliche Anpassungen für die nächsten 15 Jahre im zweistelligen Milliardenbereich abgeschätzt (Prognos AG 2014, S. 8 ff.). Untermauert wird dies durch die Erkenntnis, dass „eine Versorgung von pflegebedürftigen Personen in der Häuslichkeit fast immer mit weniger Kosten für die Sozialleistungsträger verbunden sind als eine vollstationäre Versorgung“ (Brylok et al. 2015, S. 86). Das ökonomische Potenzial von Assistenzsystemen ist ebenfalls vorhanden (Fachinger et al. 2012, S. 14 ff.) und liegt im mehrstelligen Millionenbereich. Bei diesen ökonomischen Kennzahlen ist der unermessliche Gewinn an Lebensqualität derjenigen nicht hoch genug zu bewerten, die durch diese Maßnahmen ambulant zu Hause, statt stationär im Heim, wohnen bleiben können. Im Jahr 2012 wäre das ein Drittel der stationär untergebrachten Personen gewesen (Prognos AG 2014, S. 9). Eine kürzlich veröffentlichte, umfangreiche Studie des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V. (GdW 2015) zeigt die große Bedeutung auf, die dem Thema seitens der Wohnungswirtschaft beigemessen wird. Die Studie analysiert eine Vielzahl laufender und abgeschlossener AAL-Projekte mit einer Fülle von Ergebnissen und Erkenntnissen für eine erfolgreiche Gestaltung zukünftigen Wohnens mit AAL. Sie bekräftigt den Ansatz des AAL-Netzwerks Saar (Langguth et al. 2015a), das mit seinem ganzheitlichen Zugang bereits einige wichtige Ergebnisse dieser Studie, konzeptionell integriert und miteinander verbunden, beinhaltet. Mit der Gründung des AAL-Netzwerks Saar ist es offenbar gelungen, ein gesellschaftsübergreifendes Netzwerk zu schaffen, das sowohl die fachliche Expertise als auch das wirtschaftliche Potenzial besitzt, den Gesundheitsmarkt im demografischen Wandel, ausgehend vom Saarland, anzustoßen. Für das AAL-Netzwerk Saar sind der Begriff AAL und dessen verschiedene deutschsprachigen Entsprechungen nur eine Hilfsbegrifflichkeit für die Beschreibung spezieller Lösungsmöglichkeiten der komplexen Fragestellungen des demografischen Wandels, in denen intelligente Kombinationen von moderner Technik Das AAL-Netzwerk Saar … 577 und innovativen Dienstleistungen Anwendung finden. Durch diesen in seiner Konsequenz neuen und ganzheitlichen Ansatz, haben sich bereits über 100 institutionelle Partner aus sehr unterschiedlichen Bereichen, wie z. B. der Wirtschaft, dem Sozial- und Gesundheitswesen sowie der politischen Entscheidungsebene, zusammengefunden. Das interdisziplinäre Konsortium ist in seiner Gesamtheit dazu in der Lage, neue Konzepte und Lösungen für die Herausforderungen des demografischen Wandels zu entwickeln und mit geeigneten Geschäftsmodellen nachhaltig und erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Die geplanten Projekte, die zu Beginn schwerpunktmäßig das möglichst lange selbstständige Wohnen in der eigenen Häuslichkeit im Zusammenhang mit neuen Konzepten der medizinischen und pflegerischen Versorgung im Mittelpunkt sehen, sind Modelle für neue Strukturen der Versorgung im demografischen Wandel, die als Piloten im Saarland erprobt werden sollen und auf andere Regionen (in Deutschland) übertragen werden können. Verzahnt mit dem Aufbau des Netzwerks im Saarland, wurde im Juli 2015 – als deutsch-französische Kooperation – das „Cluster Silver Economie“ gegründet, um den wichtigen Zukunftsmarkt grenzüberschreitend zu erschließen (s. hierzu Abschn. 4). 2 Das AAL-Netzwerk Saar Das AAL-Netzwerk Saar wurde mit dem Ziel gegründet, durch einen neuen, gesellschaftlich konsequent ganzheitlichen Ansatz, AAL-Lösungen nachhaltig in die Gesellschaft zu integrieren. In der Verbindung von Sozialem mit Wirtschaft entstehen aus den Bedarfen im demografischen Wandel neue hybride Produkte (AAL-Systeme), die sich aus einer technischen Basisinfrastruktur und allen Arten von medizinischen, technischen und haushaltsnahen Dienstleistungen zusammensetzen und es jedermann ermöglichen, so lange wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen. Durch diesen Ansatz werden die benötigten AAL-Lösungen, nachhaltige Geschäftsmodelle und der neue Gesundheitsmarkt wechselseitig miteinander verknüpft. Der gewählte ganzheitliche Ansatz orientiert sich nicht an der technischen Innovation eines Produkts, sondern an der innovativen Anwendung modern(st)er technischer Produkte und innovativer Dienstleistungen in ihrem sozialen Umfeld. Er knüpft somit innovativ an bestehende Produkte und Dienstleistungen an, die bereits einen kurzfristigen Zugang zum Markt haben und z. B. über vorhandene Vertriebsstrukturen verfügen. Selbstbestimmtes Wohnen in der eigenen Häuslichkeit erfordert beispielsweise innovative Kombinationen von geeigneten technischen Lösungen, wie automatische Notrufsysteme oder telemetrische Überwachung von Vitalparametern, mit modernen Dienstleistungen, z. B. in der ambulanten Pflege – die wiederum in ganzheitliche Konzepte der Quartiersentwicklung einzubetten sind. Die Nachhaltigkeit und Finanzierbarkeit dieser Lösungsmodelle sind nur mit einem übergeordneten volkswirtschaftlichen Ansatz und entsprechenden politischen Lösungen auf Bundesebene nachhaltig lösbar. In diesem Zusammenhang sei nur auf den Vorstandsbeschluss des DIHK, Berlin, vom Dezember 2011 zum Aufbau eines Gesundheitsmarkts im demografischen Wandel und 578 W. Langguth et al. auf Neuerungen im Gesundheitsbereich im Rahmen des Pflegestärkungsgesetzes verwiesen (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2015, S. 1 ff.). Auch die Konzentration auf die wesentlichen Bedarfe der Nutzer/innen und Anwender/innen und der modularen Anpassung der Produkte und Dienstleistungen auf die sich individuell verändernden Fähigkeiten der Nutzer/innen und Anwender/innen sind Voraussetzungen für eine Erschließung des AAL-Marktes. Die Akzeptanz und die Marktgängigkeit von AAL-Lösungen seitens der privaten Anwender/innen und Nutzer/innen, aber auch des Handwerks, der Pflege und anderer Dienstleister/innen, die diese Produkte bedienen, installieren, warten und instand halten sollen und müssen, wird durch den Einsatz kommerziell verfügbarer Produkte, erhöht. Viele AAL-Anwendungen, die die gängigsten Grundbedarfe für ein selbstständiges Leben, also Sicherheit, Kommunikation und Gesundheit, garantieren, können von Systemen mit am Markt verfügbaren oder marktähnlichen Standardkomponenten aus den Bereichen Gebäudesystem-, Informations-, Kommunikations- und Medizintechnik realisiert werden. Durch die Verwendung in großer Stückzahl wird das Preisniveau dieser heute immer noch zu teuren Komponenten sinken und ihr Einsatz auch im „normalen“ Wohnumfeld wirtschaftlich möglich sein (Langguth et al. 2015b). Das Saarland bietet als kleine abgeschlossene politische Einheit grundsätzliche, aufgrund seiner demografischen und gesellschaftlichen Eigenschaften, ideale Voraussetzungen als Modellregion zu den hier skizzierten Grundfragen des demografischen Wandels, Modelllösungen entwickeln und verifizieren zu können. Das AAL-Netzwerk und seine Mitglieder/innen verfügen durch eine Bündelung von breit gefächertem Alltagswissens bis hin zu hohen Spezialkenntnissen über eine hervorragende Expertise, um interdisziplinäre Lösungsvorschläge z. B. für das Überleitungsmanagement, die ganzheitliche Quartiersentwicklung oder die Versorgung des ländlichen Raums, zu erarbeiten. Diese Vorschläge können anschließend alltagstauglich und nachhaltig im Rahmen oder in Erweiterung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen umgesetzt werden. Die Resonanz auf das AAL-Netzwerk Saar ist dementsprechend sehr groß. An der Gründungsveranstaltung in der Saarlandhalle Ende Mai 2014 nahmen ca. 300 Personen teil. Zum jetzigen Zeitpunkt haben mehr als 100 institutionelle Partner ihre Mitgliedschaft bestätigt bzw. ihr Interesse daran bekundet. Die Mitglieder/innen des Netzwerks präsentieren einen nahezu vollständigen, repräsentativen Querschnitt durch die Gesellschaft. Sie bilden ein Netzwerk von Experten/innen mit breitester Kompetenz, die im praktischen Alltag Erfahrungen im Umgang mit den Anforderungen des demografischen Wandels haben. Mitglieder/innen des AAL-Netzwerks Saar sind u. a. große saarländische Unternehmen wie die Hager Gruppe, auch mit dem AAL-Tochterunternehmen locate solution, Globus Baumärkte, Urgo GmbH, VSEnet und Möbel Martin, die allesamt den mit dieser Initiative anzustoßenden Gesundheitsmarkt als ein wichtiges zukünftiges Geschäftsfeld sehen und die Projekte und Zielsetzungen des Netzwerks unterstützen wollen. Weitere Mitglieder und Unterstützer des Netzwerks sind z. B. Altenpflegeschulen, ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeeinrichtungen, Apotheken, Ärzte, Bauträger, Energieund Telekommunikationsanbieter, Forschungseinrichtungen und Hochschulen, HWK Das AAL-Netzwerk Saar … 579 Saarland, IHK Saarland, Kommunen, Krankenhäuser, Landesbehindertenbeauftragte, Landesfachstelle Demenz, Landesinnungen, Landesmedienanstalt Saarland, Landesseniorenbeirat des Saarlandes und der Stadt Saarbrücken, Landkreise sowie der Regionalverband Saarbrücken, Ministerien, Pflegestützpunkte, Sanitätshäuser, Sozialverbände, Sparkassen, Stadtwerke, Verbände der freien Wohlfahrtspflege, Verbraucherzentrale Saarland, Vereine, Wohnungsbaugesellschaften, Wohnungsbauverbände und zahlreiche kleine, mittelständische sowie größere Firmen. Im Netzwerk sind ebenfalls die AALBerater der Landkreise Saarlouis und Saarpfalzkreis aus dem BMBF-Programm „Besser Leben im Alter durch Technik“, die AAL-Lotsen des VdK Saar und weitere AAL-Kompetenzträger des Saarlandes vertreten. 2.1 AAL-Netzwerk Saar e. V. Die Aktivitäten des AAL-Netzwerks Saar werden seit dem 21. September 2015 über einen gemeinnützigen Verein geführt, für den derzeit die in Abb. 1 gezeigte Struktur geplant ist. Ein besonderes Merkmal des Vereins ist die direkte Anbindung zur saarländischen Gesundheitswirtschaft sowie zu den am Netzwerk beteiligten und für das Netzwerk wichtigen Stellen auf Bundesebene (Politik, Krankenkassen, usw.). Der Verein besteht aus Mitgliedern und Fördermitgliedern und wird geleitet durch einen Geschäftsführer. Der Vereinszweck wird insbesondere erreicht durch • Unterhaltung einer Infrastruktur zur Schaffung, zum weiteren Ausbau und zur Unterhaltung eines entsprechenden AAL-Netzwerks; • Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege; • Förderung der Jugend- und Altenhilfe sowie der Hilfe für Behinderte; Abb. 1  Struktur und Geschäftsfelder des AAL-Netzwerks Saar e. V. (Stand September 2015) 580 W. Langguth et al. • Förderung von Verbraucherberatung und Verbraucherschutz; • Konzeption und Umsetzung von AAL-Projekten mit einem möglichst kurzfristigen Zugang zum Markt sowie die Unterstützung von Forschungsprojekten in diesem Bereich; • umfassende Öffentlichkeitsarbeit Für die inhaltliche Arbeit des Vereins sind Arbeitsgruppen eingerichtet worden. Derzeit sind dies die AGs • • • • • • • • • Akzeptanzbildung & Öffentlichkeitsarbeit Aus- und Weiterbildung Pflegerische Versorgung Standardisierte AAL-Systemlösungen Wohnen und Dienstleistungen Bedarfe der Nutzer und Anwender Zukunftsmarkt AAL Familie & Beruf (in Gründung) Arbeitnehmer Ü55 (in Gründung) In diesen AGs sollen die grundsätzlichen Bedarfe erfasst werden, die Voraussetzungen zur Akzeptanz von AAL-Lösungen in einzelnen Themenfeldern erarbeitet werden und zudem aus der alltäglichen Praxis Projektideen und Vorschläge für die anwender- und nutzerangepasste Umsetzung von AAL-Lösungen entstehen. Die AGs sind gleichzeitig eine Plattform zur Neubegegnung von Unternehmen und Fachleuten aus den verschiedensten Bereichen von Sozialem, Gesundheit und Wirtschaft, die sich bislang unter Umständen noch nicht begegnet sind. Die AGs bilden somit ein hohes Potenzial an innovativer Wirtschaftsentwicklung durch neue Produkt- und Dienstleistungsideen, die in diesem Umfeld entstehen können. Eine wesentliche Bedeutung bei der Gestaltung der Arbeitsinhalte des Netzwerks kommt dem Beirat zu. Ebenso wie die Mitglieder des Vorstands sollen die Mitglieder des Beirats einen breiten Querschnitt der Gesellschaft repräsentieren und für die Nähe des Vereins und seiner Arbeit zu den Handlungsplätzen des demografischen Wandels Sorge tragen. Neben einer beratenden Funktion sollen seine Mitglieder daher auch aktiv Projekte einwerben und die strategischen Ziele in vorderer Linie mitbestimmen und mit entwickeln. Zur Umsetzung der Ziele des Netzwerks wurden sechs Geschäftsfelder identifiziert, die von einer professionellen und hauptamtlich geführten Geschäftsstelle betreut werden. Das Geschäftsfeld „Öffentlichkeitsarbeit“ soll sowohl die breite Öffentlichkeit als auch Experten mit allgemeinen Informationen und Sachinformationen versorgen. Als Plattform steht hierfür die Homepage1 des AAL-Netzwerks zur Verfügung. Neben einer 1www.aal-in.de. Das AAL-Netzwerk Saar … 581 grundlegenden Informationsbasis (z. B. Literatur und Veranstaltungskalender) ist ein Informations-Brokering durch permanente Internetrecherchen und RSS-Feeds geplant. Abgerundet wird diese Art der „Öffentlichkeitsarbeit“ durch einen regelmäßig erscheinenden Newsletter. Darüber hinaus sei auf die bereits erfolgte Erstellung eines animierten AAL-Films hingewiesen. Dieses kurze Erklärvideo ist mit Netzwerkpartnern in der AG Akzeptanzbildung & Öffentlichkeitsarbeit konzipiert und entwickelt worden. Er ist bereits in deutscher Sprache verfügbar2 und soll sowohl mit deutschen und französischen Untertiteln versehen, als auch in die französische Sprache übersetzt werden. Ergänzend zu dem AAL-Film ist eine Broschüre3 entstanden, die verdeutlicht, dass die Zielgruppe der Marktstrategie des AAL-Netzwerks die gesamte Gesellschaft ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei der jüngeren Generation sowie Migranten, von denen zu erwarten ist, dass sie im demografischen Wandel eine wichtige Rolle einnehmen werden. Ein wichtiger Baustein für die Außendarstellung des Netzwerks und eine Bewerbung des Themas AAL in der Gesellschaft ist das Geschäftsfeld „Veranstaltungen“. Hierzu zählen eigene Veranstaltungen und Veranstaltungen Dritter, auf denen z. B. durch (Fach) Vorträge, Filmvorführungen und Messestände über das Thema AAL informiert wird. Auch projektbezogene Veranstaltungen, an denen z. B. Bedarfe entsprechender Zielgruppen abgefragt werden, zählen hierzu. Beispielsweise wurde, begleitend zur Woche der Wissenschaft zum Thema „Zukunftsstadt“ (Motto des Wissenschaftsjahres 2015), im Rathaus der Landeshauptstadt Saarbrücken in einer vierwöchigen Begleitausstellung ein AAL-Wohnzimmer mit verschiedenen Exponaten zu „Wohnen in der Zukunft“ und „Wohnen im Alter“ von Netzwerkpartnern ausgestellt und in kleinen und individuell gestalteten Informationsveranstaltungen zielgruppengerecht präsentiert. Im Geschäftsfeld „Schulungen und Seminare“ sollen Lehrgänge und Weiterbildungen für verschiedene Zielgruppen entwickelt werden. Neben Schulungen und Seminaren für Pflegepersonal, Handwerker/innen, Architekt/innen, Planer/innen, Entscheidungsträger/innen, Anwender/innen, Betreuer/innen und AAL-Dienstleister/innen sollen auch Inhouse-Schulungen für Mitarbeiter/innen in Unternehmen angeboten werden. Zudem sollen die akademische Aus- und Weiterbildung sowie Anbieter niedrigschwelliger Angebote für z. B. pflegende Angehörige unterstützt werden. Spezielle Beratungsangebote sollen sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmen angeboten werden. Thematisch soll es im Geschäftsfeld „Beratung“ u. a. um die Themen Wohnen (z. B. altersgerechtes und barrierefreies Bauen, AAL, Energieeffizienz), Finanzierung (z. B. Wohnen, AAL) und sonstige Beratungsangebote (z. B. Versorgung mit Hilfsmitteln durch Krankenkassen) gehen. Darüber hinaus sollen Beratungsmöglichkeiten für die Bereiche „Produktentwicklung“ und „Fördermaßnahmen“ geschaffen werden und AAL-Gesprächskreise für Anwender/innen und Unternehmen eingerichtet werden. 2https://vimeo.com/128868653. 3Die Broschüre ist unter www.aal-in.de auch in digitaler Form zu beziehen. 582 W. Langguth et al. Ein wesentliches Merkmal des AAL-Netzwerks ist es, vielfältige Projekte zu planen, zu entwickeln, umzusetzen und zu begleiten. Zu dem Geschäftsfeld „Projekte“ zählen derzeit folgende Projekte: AAL-Wohnungen, Quartier Franzenbrunnen, Gemeinde Illingen, HospitAAL (Entlassungsmanagement im Saarland), Dienstleister- und Produktdatenbank, AAL-Landkarte, Automatischer Notruf, Kompetenzzentrum und Prüfsiegel und mittelfristig ein Netzwerk zur ambulanten Versorgung mit den verschiedensten Möglichkeiten der Telemedizin. Eine ausführliche Beschreibung der Projekte ist in Abschn. 2.2 zu finden. Das Geschäftsfeld „Deutsch-Französische Kooperation“ ist hinsichtlich des bereits erwähnten Aufbaus des „Cluster Silver Economie“ von herausragender Bedeutung. Aus diesem Grund erfolgt eine explizite Vorstellung in Abschn. 4. 2.2 Projekte des AAL-Netzwerks Saar Seit der Gründung Ende Mai 2014 wurden im AAL-Netzwerk neben der eigentlichen Netzwerkarbeit mehrere Projekte geplant, von denen sich einige bereits in der konkreten Umsetzung befinden. 2.2.1 AAL-Wohnungen In Zusammenarbeit mit der Wohnungsgesellschaft WOGE Saar werden derzeit zwei Demonstrationswohnungen in der Hohenzollernstraße 113 in Saarbrücken eingerichtet. Die erste, seniorengerechte Wohnung wird die marktübliche Situation widerspiegeln, die bei der Nachrüstung einer herkömmlichen Wohnung entsteht, wenn sie für den längeren Verbleib der Bewohner ausgerüstet wird. Die zweite, behindertengerechte Wohnung wird auf hohem Niveau nach dem Stand der Technik ausgerüstet und soll als Referenzwohnung auch in Zukunft auf einem hohen technischen Niveau gehalten werden. Das Projekt wird zunächst über Sponsoren finanziert. Darunter sind die Wohnungsgesellschaft WOGE Saar, die Firmengruppe Hager zusammen mit ihrer AAL-Tochter „locate solution“, die Globus Baumärkte, die Firma Möbel Martin, die Firmengruppe Klaus Baubeschläge, Handwerksinnungen, Bau- und Möbelmärkte, Sanitätshäuser, Sozialverbände, die Handwerkskammer des Saarlandes, die Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htw saar) und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Auch die Ideen des Start-up-Unternehmens „Jungbrunnen Konzepte“, das als eines der ersten Unternehmen aus dem Umfeld des AAL-Netzwerks entstanden ist, werden in der Wohnung umgesetzt. Nach aktuellem Stand der Planung ist mit der Fertigstellung der Wohnungen bis Ende 2015 zu rechnen. Die Wohnungen sollen für Informationsveranstaltungen für die breite Öffentlichkeit und für Schulungsmaßnahmen von Fachleuten des Handwerks und der Pflege sowie von Planer/innen und Architekt/innen genutzt werden. Es sind ebenfalls spezielle Seminare für Entscheidungsträger/innen aus Politik, Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung vorgesehen. Durch diese Seminare und Veranstaltungen sollen Mittel Das AAL-Netzwerk Saar … 583 erwirtschaftet werden, die zumindest teilweise die Miete und sonstige laufende Kosten der Wohnungen abdecken. Im Rahmen der deutsch-französischen Kooperation des Netzwerks sollen die Wohnungen auch als ein Beitrag für Gemeinschaftsprojekte mit Kooperationspartnern aus Frankreich genutzt werden. Dafür wird eine zweisprachige (D/F) Broschüre erstellt, in der die Wohnungen vorgestellt werden. 2.2.2 Das Quartier Franzenbrunnen In Anlehnung an ein dezentrales Versorgungskonzept, das in (Bard et al. 2012) schon angesprochen wurde, wird ein Altenwohnstift in Saarbrücken ein oder zwei Wohnhäuser mit je zwölf Apartments im Neubaugebiet Franzenbrunnen erwerben und diese mit AAL-Systemen ausstatten und über Fernanbindung in die Versorgung des Altenwohnstifts aufnehmen. Diese Verknüpfung schließt die Überwachung der Sicherheit der Bewohner mit automatischen Notfallerkennungs- und Notrufsystemen, aber, je nach individuellem Bedarf, auch medizinische, pflegerische und haushaltsnahe Dienstleistungen, mit ein. Ein solches Modul wäre ein Einzelbaustein der dezentralen Versorgung eines ganzen Quartiers im Einzugsgebiet eines multifunktionalen Kompetenzzentrums oder verschiedener regionaler Einzelversorger. In Erweiterung dieses Vorhabens werden derzeit Gespräche darüber geführt, für das gesamte Quartier Franzenbrunnen AAL-Ausrüstungen und Dienstleistungen anzubieten. Damit könnte im Saarland erstmalig ein AAL-Quartierskonzept realisiert werden, das neben AAL-Komponenten ebenfalls Konzepte des energieeffizienten Wohnens vorbildlich und im Sinne eines „Leuchtturmeffektes“ umsetzt. 2.2.3 Gemeinde Illingen Die saarländische Gemeinde Illingen soll, mit Unterstützung von Wirtschaftsunternehmen, als ein Musterbeispiel einer Kommune im demografischen Wandel, mit AAL-Systemlösungen versehen werden. Um die Bedarfe der Bevölkerung abzufragen, haben im Sommer 2015 sogenannte World-Cafés in sechs verschiedenen Ortsteilen der Gemeinde stattgefunden. Im Rahmen einer Projektarbeit von drei Studentinnen der htw saar wurden die Ergebnisse erfasst und an den Bürgermeister und die Wirtschaftsunternehmen weitergereicht. Die Bürgerbefragungen durch die World-Cafés sollen aufgrund der positiven Resonanz je nach Bedarf auch auf andere Gemeinden und Projekte ausgeweitet werden. Der Einsatz der AAL-Lösungen in Illingen wird derzeit vorbereitet und mit der aktuellen Benutzerplattform („social hub“) der Firma Hakisa4 kombiniert. Diese Plattform ist bereits in kleineren französischen Gemeinden im Einsatz und soll in einem der nächsten Schritte auch in Illingen eingeführt werden. Sie ermöglicht z. B. alle Arten der Kommunikation einschließlich der Videotelefonie. Aufgrund der eingesetzten Realtime-Server kann sie auch der zentrale Knoten für eine sichere und protokollierte Übermittlung sensibler Informationen, wie Alarmmeldungen an wohldefinierte Empfängerketten, auf 4https://www.hakisa.com. 584 W. Langguth et al. beliebige Endgeräte sein, die von automatischen Alarmanlagen oder von Sensoren der Vitaldatenüberwachung ausgelöst wurden und die in Echtzeit für eine sofortige Bearbeitung übermittelt werden müssen. 2.2.4 HospitAAL Im Rahmen des htw-saar-internen Forschungsprojekts HospitAAL wird derzeit untersucht, in welchem Maß eine Unterstützung von AAL-Lösungen die Überleitung von Patienten aus dem Krankenhaus in die eigene Häuslichkeit, anstatt in die stationäre Pflege, begünstigen kann. An diesem Verbundprojekt sind Professor/Innen aus drei Fakultäten der htw saar, Krankenhäuser, Kommunen, Sanitätshäuser und ein Sozialverband beteiligt. Die täglich aus dem Krankenhaus entlassenen Patient/innen sind für die Anwendung von AAL-Lösungen eine wichtige Personengruppe. Ihre Anzahl und ihre Zusammensetzung und damit der mögliche Bedarf an Unterstützung sind statistisch gesicherte Größen – der mögliche Nutzen, sobald nachgewiesen, ist damit kalkulierbar. Er kann dann als Grundlage für ein Finanzierungsmodell für die Diskussion mit den Kranken- und Pflegekassen dienen, das dann zusammen mit diesen in anschließenden Pilotprojekten überprüft werden kann. 2.2.5 Dienstleister- und Produktdatenbank In einer Kooperation mit dem Forschungszentrum Informatik (FZI) der Universität Karlsruhe werden regionale Dienstleister/innen des Saarlandes in das Webportal „Wegweiser Alter und Technik“5 des FZI eingestellt und stellen somit bundesweit die erste regionale Vertiefung des Portals dar. In Ergänzung dazu entsteht im Netzwerk eine AALProduktmappe, in der sich Nutzer/innen aus einer umfassenden Produktdatenbank ihre/ seine individuelle Produktmappe entsprechend ihren/seinen Bedarfen (Gesundheit, Wohnen, usw.) im PDF-Format zusammenstellen und auch ausdrucken (lassen) kann. Die Produktdatenbank ist in die Homepage des AAL-Netzwerks Saar integriert. 2.2.6 AAL-Landkarte Ausgehend von einer bestehenden „Freizeitkarte Saar-Moselle“ wurde damit begonnen, eine AAL-Landkarte des Eurodistrikts Saar-Moselle zu erstellen. Ziel ist es, alle AAL-typischen Informationen in einer interaktiven Landkarte Anwendern und Nutzern zur Verfügung zu stellen. Die Informationen umfassen die medizinische und pflegerische Versorgung, handwerkliche und haushaltsnahe Dienstleistungen sowie Apotheken, Sanitätshäuser, usw. Von jedem Anbieter können beliebige georeferenzierte Profildaten jedes Medienformats standortspezifisch dem Nutzer auf allen Endgeräten zur Verfügung gestellt werden. 5https://www.wegweiseralterundtechnik.de. Das AAL-Netzwerk Saar … 585 Mit den zuständigen Gremien der saarländischen Ärztekammer wurde auch schon die Prüfung der Frage angesprochen, ob alle niedergelassenen Ärzte des Saarlands Teil dieser Übersicht werden können; ein entsprechendes Vorgehen auf französischer Seite ist ebenfalls geplant. Diese deutsch-französische Übersicht könnte in Ergänzung der bestehenden „Freizeitkarte Saar-Moselle“ im Rahmen eines georeferenzierten Informationssystems für den Gesundheitstourismus genutzt werden. 2.2.7 Automatischer Notruf Es wird derzeit ein Aktionstag „Notruftag“ im Saarland geplant, an dem flächendeckend auf die Möglichkeiten von automatischen Notrufsystemen im gesamten Saarland hingewiesen werden soll. Ziel ist es, bundesweit darauf aufmerksam zu machen, dass es unterdessen bezahlbare automatische Notrufsysteme gibt, die effektiv und zuverlässig Notfallsituationen erkennen, automatisch alarmieren und damit Menschenleben retten können. Die Situation, dass Personen in der eigenen Wohnung unbemerkt verunfallen und wegen ausbleibender Hilfe versterben, kann mit diesen Systemen wirkungsvoll vorgebeugt werden. Für den Aktionstag sind öffentlichkeitswirksame Maßnahmen mit verschiedenen Informationsveranstaltungen geplant. Ein wichtiges politisches Ziel in diesem Zusammenhang muss es sein, dass die automatischen Notrufsysteme, neben den herkömmlichen Hausnotrufsystemen, bei anerkannter Pflegebedürftigkeit von der Pflegekasse bezuschusst werden. 2.2.8 Kompetenzzentrum und AAL-Prüfsiegel Im Rahmen der Beratungskompetenzen des AAL-Netzwerks war, schon von Beginn der Initiative an, der Aufbau eines AAL-Kompetenzzentrums geplant. In diesem Kompetenzzentrum sollen Anwendern, Nutzern, Dienstleistern, Handwerkern und Produktherstellern eine Plattform und Schnittstelle zur Information und Beratung eröffnet werden. In dieses Kompetenzzentrum sollen nach Möglichkeit viele AAL-Kompetenzen des Saarlandes, zumindest logistisch, integriert werden. Als eine Besonderheit, u. a. in Bezug auf eine Vergrößerung der Akzeptanz und Bekanntheit von AAL, soll es möglich sein, dafür geeignete AAL-Produkte auszuleihen und in der eigenen Wohnung zu testen. Dies soll verbunden werden mit einem Verbrauchertest des Produkts, der wiederum Eingang findet in ein „AAL-Prüfsiegel Saar“. Dieses Prüfsiegel soll AAL-Produkte nach Kriterien ihrer möglichen Einsatzgebiete und ihrer Eignung (Beurteilung durch Expert/ innen des Netzwerks) bewerten sowie eine gesonderte Benutzer- und Anwenderbewertung enthalten. Die Ergebnisse des Prüfsiegels werden in die Produktdatenbank (s. Abschn. 2.2.5) integriert. Auf diesem Weg werden die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit, die Akzeptanzbildung und die Nutzerorientierung von mobilen AAL-Lösungen nachhaltig erreicht. Ebenfalls Bestandteil des AAL-Kompetenzzentrums soll ein „Willkommens- und Beratungscenter“ für Arbeitnehmer/innen sein, in dem sie über AAL-Maßnahmen im Bereich ihres Arbeitsverhältnisses informiert werden. Das AAL-Netzwerk beteiligt sich somit direkt und indirekt an der Fachkräftesicherung des Saarlands, denn durch die 586 W. Langguth et al. Verknüpfung von Technik und Dienstleistung können die Arbeitnehmer/innen z. B. in den dringend benötigten Pflegeberufen entlastet werden. Hierdurch würden die Pflegeberufe zudem an Attraktivität, unter Umständen im besonderen Maße für männliche Arbeitnehmer, gewinnen. Möglicherweise hätte dies auch Auswirkungen auf die in diesem Berufsfeld relativ geringe Berufsverweildauer, was gegebenenfalls Fachkräfte innerhalb und außerhalb des Saarlands ansprechen würde. Darüber hinaus eignen sich AALLösungen dafür, Arbeitnehmer/innen bei der Pflege zu Hause und bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu unterstützen – was wiederum von Arbeitgebern durch geeignete Förderungsmaßnahmen unterstützt werden muss. 2.2.9 Netzwerk zum ambulanten Telemonitoring In Zusammenarbeit mit Krankenhäusern, ambulanten Pflegediensten, Krankenkassen, der Ärztekammer des Saarlandes und der kassenärztlichen Vereinigung des Saarlandes wird darüber diskutiert, ein saarlandweites Netzwerk zum Monitoring und zur Unterstützung der ambulanten Versorgung von Personen in der eigenen Häuslichkeit aufzubauen. Zielgruppe wären einerseits Patient/innen mit bekannten, in der Regel chronischen Erkrankungen (Herzinsuffizienz, Herzschrittmacherträger/innen, Schlaganfallpatienten/ innen, Personen mit Diabetes Mellitus II, Morbus Parkinson, Tumorerkrankungen usw.), frisch aus dem Krankenhaus entlassene Patient/innen und Personen, die medizinisch indiziert oder auf eigenen Wunsch zur Prophylaxe in die Versorgung aufgenommen werden. Dieses saarlandweite Netzwerk soll auch Erkenntnisse hinsichtlich der Erprobung neuer Versorgungskonzepte im ländlichen Raum liefern. Im Rahmen der deutsch-französischen Kooperation wäre ebenfalls eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit korrespondierenden Partnern in Frankreich möglich. 3 Die Marke „AAL-Netzwerk Saar“ Wichtige Eckpunkte einer erfolgreichen Marktpolitik der AAL-Initiative des Saarlandes sind auch eine erfolgreiche Markenpolitik der beiden Marken „AAL“ und „AAL-Netzwerk Saar e. V.“ Der Begriff „AAL“ muss zu einer Marke entwickelt werden, die das positive Image trägt, für jedermann – behindert und nicht-behindert, jeden Alters und nicht nur für Senioren – helfende und unterstützende Produkte und Dienstleistungen für ein möglichst langes Leben in individueller Selbstbestimmtheit inmitten einer solidarischen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Es muss somit energisch einer aktuell teilweise vorhandenen Fehlentwicklung entgegengewirkt werden, die AAL nur als Technologie für Alte und Kranke versteht und somit Personen, die derartige Produkte benutzen, stigmatisiert. Das „AAL-Netzwerk Saar“ soll gleichermaßen zu einer Marke einer Initiative des Saarlands entwickelt werden, die AAL-Systemlösungen erfolgreich in die Gesellschaft integriert und damit zu der Lösung der Herausforderungen des demografischen Wandels einen konstruktiven Beitrag leistet. Es ist ein Ziel des AAL-Netzwerks, mit diesen Das AAL-Netzwerk Saar … 587 beiden, mit einem positiven Zukunftsbild versehenen Marken, zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft im Saarland und darüber hinaus beizutragen. Zudem ist beabsichtigt, dass das „AAL-Netzwerk Saar“ als saarländische Marke, auch national und international, bekannt wird. 4 Deutsch-Französische Kooperation Durch die enge Verbindung des Saarlandes mit dem angrenzenden Frankreich und der europaweiten Bedeutung des Themas AAL wird die neu gegründete „deutsch-französische Kooperation“ zum Geschäftsfeld „AAL“ vermutlich einen enorm hohen Stellenwert mit starker Ausstrahlung in Wirtschaft und Gesellschaft erreichen. Seit Ende 2014 finden Gespräche zwischen französischen und deutschen Regierungsstellen statt. Zielsetzung dabei ist es, den neuen Gesundheitsmarkt (Silver Economie) über eine Zusammenarbeit in einem deutsch-französischen „Cluster Silver Economie“ zu erschließen. Die Vorarbeiten wurden im Jahr 2015 erfolgreich abgeschlossen und die Kooperation als ein Teil der „Metzer Erklärung“ am 7. Juli 2015 von beiden Staaten in Metz unterzeichnet. Zur inhaltlichen Vorbereitung der Kooperation wurde aus Mitgliedern des „AALNetzwerks Saar“ und des Conseil Regional Lorraine, Metz, eine Arbeitsgruppe gebildet. Seit Januar 2015 fanden mehrere Sitzungen eines sich ständig vergrößernden Arbeitskreises statt. In allen Sitzungen bestand von Anfang an in allen Diskussionspunkten eine umfassende beiderseitige Übereinstimmung und somit konnten die Grundlagen für die Kooperation bereits im Juni, rechtzeitig vor der Erklärung von Metz, geschaffen werden. Derzeit wird ein Katalog gemeinsamer und grenzüberschreitender Projekte von den mittlerweile drei Arbeitsgruppen, mit insgesamt etwa 25 deutschen und 25 französischen Teilnehmer/innen, diskutiert und aufgestellt (Teile hiervon sind in Abschn. 2.2 zu finden). 5 Demografische Verantwortung Mit dem Wertebegriff „Demografische Verantwortung“ möchte das AAL-Netzwerk Saar zusätzlich all diejenigen hervorheben, die sich, vom Ehrenamt bis hin zum großen Industrieunternehmen, sozial und unternehmerisch im demografischen Wandel engagieren (Langguth et al. 2015a, S. 32). Im Bereich von AAL sollen alle Generationen in allen Lebenslagen angesprochen werden – egal ob alt, behindert, gesund, jung oder krank. Die sich ständig verändernde Gesellschaft muss stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion rücken und es müssen neue Generationenverträge der gegenseitigen Hilfe entstehen, die dazu beitragen, aus dem demografischen Wandel eine demografische Chance entstehen zu lassen. 588 W. Langguth et al. 6 Zusammenfassung Mit der Gründung des AAL-Netzwerks Saar scheint es gelungen zu sein, eine interdisziplinäre Plattform zu schaffen, um AAL-Lösungen zu entwickeln und diese nachhaltig in die Gesellschaft zu integrieren. Es sind alle notwendigen Partner/innen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zusammengeführt, was auch die durchweg positive Resonanz, seitens marktführender Industrieunternehmen, von wichtigen Vertreter/innen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich, aus der Politik und der Gesellschaft, deutlich macht. Der grundständige und holistische Ansatz der Netzwerkaktivitäten, also alle Bereiche der Gesellschaft zu beteiligen und vorhandene Kompetenzen mit einzubeziehen und zu bündeln, um möglichst effizient, zielorientiert und kostenbewusst arbeiten zu können, AAL nachhaltig in die Gesellschaft integrieren zu können und dadurch Geschäftsmodelle zu finden, scheint sich als funktionierender Lösungsansatz herauszustellen. Das AAL-Netzwerk Saar ist eine „Ideenschmiede“ und eine „Werkstatt“ für die Konzeption und Entwicklung Erfolg versprechender Lösungen für die Herausforderungen des demografischen Wandels. Es werden, u. a. durch das Zusammenbringen von Wirtschaft und Sozialem, Möglichkeiten geschaffen, neue Geschäftsfelder im zukünftigen Gesundheitsmarkt zu erschließen. Durch die Kooperation und Zusammenarbeit mit Frankreich eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, um in Deutschland und Frankreich sowie in der (Groß-)Region gemeinsame Projekte umzusetzen und so den demografischen Wandel, aus regionaler und nationaler Sicht, federführend mitzugestalten. Literatur Bard M, Langguth W, Weissenauer U (2012) Konzeption einer AAL-Umgebung für ein Seniorenhaus. 5 Deutscher AAL-Kongress. VDE-Verlag, Berlin Brylok A, Karmann A, Becker S, Schneider R, Zimmermann U (2015) Selbstständiges Wohnen bis ins hohe Alter – eine volkswirtschaftliche Analyse. Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V., Dresden Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland (2015) Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften. Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin Fachinger U, Koch H, Henke K-D, Troppens S, Braeseke G, Merda, Meiko (2012) Ökonomische Potenziale altersgerechter Assistenzsysteme. Ergebnisse der „Studie zu Ökonomischen Potenzialen und neuartigen Geschäftsmodellen im Bereich Altersgerechte Assistenzsysteme“. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). VDE-Verlag, Berlin GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V. (2015) Endbericht des Förderprojektes „Technische Assistenzsysteme für ältere Menschen – eine Zukunftsstrategie für die Bau- und Wohnungswirtschaft Wohnen für ein langes Leben/AAL“, GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V., Berlin Heinze RG (2010) Geschäftsmodelle vernetztes Wohnen: Mehr lose Fäden als Netze? 3. Deutscher AAL-Kongress. VDE-Verlag, Berlin Das AAL-Netzwerk Saar … 589 Langguth W, Uhl M (2015a) Das AAL-Netzwerk Saar – ein ganzheitlicher Ansatz für nachhaltige Veränderungen im demographischen Wandel. Festschrift 25 Jahre angewandte Forschung an der htw saar. Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (im Druck) Langguth W, Uhl M, Kraß HB (2015b) Das AAL-Netzwerk Saar. 8. Deutscher AAL-Kongress. VDE-Verlag, Berlin Porsch K (2014) „Alter & Technik“ Pilotprojekt des Landes Baden-Württemberg im SchwarzwaldBaar-Kreis, Kommunale Beratungsstelle, vom „Prototypen zur Serienreife“. 7. Deutscher AALKongress. VDE-Verlag, Berlin Prognos AG (2014) Potenzialanalyse altersgerechte Wohnungsanpassung. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Berlin Statistisches Bundesamt (2010) Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung in den Bundesländern, dem früheren Bundesgebiet und den neuen Ländern bis 2060. Ergebnisse der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/Tabellen/VorausberechnungGebietsstandBundesland.xls?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 1. März 2016 Statistisches Bundesamt (2011) Ältere Menschen in Deutschland und der EU. Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/BlickpunktAeltereMenschen1021221119004.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 1. März 2016 Statistisches Bundesamt (2015) Gesundheit. Ausgaben 1995–2013. Statistisches Bundesamt. https:// www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00015740/­ 2120712137004.pdf;jsessionid=7FF124530DD2B8BC533B49739EDF2F82. Zugegriffen: 1. März 2016 Viehweger A, Brylok A, Israel D, Trautwein C (2011) Die mitalternde Wohnung – ein Ansatz zum selbstbestimmten Wohnen im Alter in der Einheit von technischer Lösung und Dienstleistung. 4. Deutscher AAL-Kongress. VDE-Verlag, Berlin Über die Autoren Prof. Dr. Wolfgang Langguth  promovierter Diplom-Physiker, ist Professor in der Fakultät für Ingenieurwissenschaften, Abteilung Biomedizinische Technik der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW). Seit 2006 ist er Gründungsmitglied und Bereichsleiter Biomedizinische Technik, Informations- und Kommunikationstechnik des Instituts für Gesundheitsforschung und -technologie der HTW (-igft-), war von 2008 bis 2012 Mitglied des Programmkomitees der Innovationspartnerschaft AAL des VDE/BMBF und leitete die AG Aus- und Weiterbildung. Seit 2013 betreibt er den Aufbau des AAL-Netzwerks Saar, das am 28. Mai 2014 gegründet wurde. Als Initiator und Leiter des Netzwerks war er auf Arbeitsebene am Aufbau der deutsch-französischen Kooperation „Cluster Silver Economie“ beteiligt. Kontakt: W.Langguth@aal-saar.de 590 W. Langguth et al. Michael Uhl  studierte Gerontologie an der Universität Vechta und arbeitet seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Dort hat er das von Prof. Dr. Wolfgang Langguth gegründete AAL-Netzwerk Saar mit aufgebaut und ist im September 2015 in den Vorstand des neu gegründeten Vereins AAL-Netzwerk Saar e. V. gewählt worden. Er ist zudem Mitgründer und Gesellschafter der GmbH Jungbrunnen Konzepte, die sich hauptsächlich mit der Konzeption und Gestaltung von Wohnumgebungen für Senioreneinrichtungen beschäftigt. Kontakt: m.uhl@aal-saar.de Hans B. Kraß  Seit 2013 ist Hans B. Kraß Mitarbeiter des „AAL-Netzwerkes Saar“ und Geschäftsführer des Vereins „AAL-Netzwerk Saar e.  V.“ Nach dem Studium der Rechtswissenschaften mit den zusätzlichen Schwerpunkten Europarecht, Recht der Internationalen Organisationen und Völkerrecht begann Hans B. Kraß seine berufliche Tätigkeit in der Landesrechtsabteilung des Sozialverbandes VdK- Saarland. Kontakt: hans.krass@aal-saar.de Smart Home – eine Positionsbeschreibung Alexander Schaper 1 Einleitung Um den Herausforderungen des demografischen Wandels in der Gegenwart und der nahen Zukunft zu begegnen, bieten sogenannte „intelligente Assistenzsysteme“ interessante und modular erweiterbare Lösungsmöglichkeiten. Sowohl in Pflegeeinrichtungen als auch im heimischen Umfeld können die Systeme im Gewand von Smart Home oder AAL den Bewohnern, deren Angehörigen und auch den Pflegekräften unterstützend behilflich sein. Dies schließt den gesteigerten Wohnkomfort genauso mit ein, wie die Möglichkeiten zur Senkung von Energiekosten, Steigerung der häuslichen Sicherheit oder – im Sinne von AAL – der späteren oder evtl. temporär erforderlichen Unterstützung von Pflegeund Betreuungsprozessen. Für Anbieter von Pflegeleistungen können die genannten Assistenzsysteme ebenfalls dazu dienen, verschiedene Prozesse zu optimieren, die Pflegequalität abzurunden und gegebenenfalls sogar Kosten zu senken. Literatur: Die Positionsbeschreibung bezieht sich in großen Teilen direkt auf die Studie „Auswirkungen des demografischen Wandels und der Energiepreise auf die Wohnsituation einer alternden Bevölkerung und die Möglichkeiten mit SmartHome-Lösungen negativen Entwicklungen entgegenzusteuern“ Verlag: BoD™ – Books on Demand, Norderstedt. © 2013 Günther Ohland und Alexander Schaper – ISBN: 978-3-7322-4006-7. Teile der Studie wurden direkt übernommen und entsprechend zu den aktuellen Entwicklungen ergänzt, korrigiert und angepasst. DIN EN 50.173-4:2013-04; VDE 0800-173-4:2013-04 Informationstechnik – Anwendungsneutrale Kommunikationskabelanlagen – Teil 4: Wohnungen, erschienen im Beuth-Verlag A. Schaper (*)  tsbc- the smartbuilding company, Osnabrück, Deutschland E-Mail: as@smarthome-deutschland.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_31 591 592 A. Schaper Im Fokus von Smart Home und AAL stehen stets der Mensch und sein Leben. Bei ernsthafter Betrachtung schließt dies tatsächlich den Zeitraum zwischen Wiege und Bahre ein, da die verfügbaren Technologien, Komponenten und Möglichkeiten in jedem Lebensabschnitt Komfort und Assistenz zur Verfügung stellen können. Die folgenden Informationen richten sich daher an mehrere Zielgruppen: 2 Konkrete Beispiele • Bewohner von Mietobjekten und Privateigentum Diese Klientel sollte sich frühestmöglich mit den Möglichkeiten von Heimvernetzung, Smart Home und AAL auseinandersetzen. So können die Vorteile von Komfort, Sicherheit und höherer Energieeffizienz im Laufe eines gesunden und aktiven Lebens genossen werden. Bei auftretenden gesundheitlichen Einschränkungen oder späterer Betagtheit, sind dann schon viele relevante Grundlagen vorhanden und müssen nur noch angepasst oder im Detail erweitert werden • Betreiber von Pflegeeinrichtungen und Unternehmen der Wohnungswirtschaft An dieser Stelle sollte, u. a. in Hinblick auf die Kosten, verstanden werden, welche Chancen vernetzte Gebäude und Einrichtungen sowohl für den Betreiber als auch für deren Kunden bzw. Bewohner mit sich bringen. Dazu ist es erforderlich einen Zusammenhang zwischen Nutzen, Anwendungen, technischem Hintergrund (Sensoren, Aktoren, Systemintegration und Infrastruktur) und den planerischen Grundlagen für AAL und Smart Home herzustellen. • Architekten und (Fach-)Planer Siehe „Betreiber von Pflegeeinrichtungen und Unternehmen der Wohnungswirtschaft“. • Handwerk, Berater und Fachhandel Unter der Voraussetzung, dass „Technik nur Mittel zum Zweck“ ist, muss ein Verständnis zwischen den unterschiedlichen Lebenssituationen, den Aufgaben bzw. Anforderungen von Wohnungswirtschaft als auch Anbietern von Pflegeleistungen (stationär und ambulant) einem modularen Ausstattungskonzept erwachsen. Im Gegensatz zur Umsetzung von eher energiesparenden, komfort- oder sicherheitsbetonten Einzel- und Gesamtlösungen im privaten Umfeld (Eigenheim oder Wohnung) stellt sich die Einführung von zuvor genannten Smart-Home- oder Assistenzsystemen in größeren Objekten etwas komplexer dar. Besonders Betreiber von Pflegeeinrichtungen oder auch Unternehmen aus der Wohnungswirtschaft müssen sich im Vorfeld viele Gedanken machen, um zu definieren, welchen Anforderungen ihre Immobilien aktuell und in Zukunft gerecht werden sollen. Bei diesen Betrachtungen sollten, möglichst zu Beginn aller Planungen, unbedingt auch Fachkräfte aus dem Pflege- bzw. AAL-Umfeld hinzugezogen werden, die bereits über Erfahrungen mit AAL-Anwendungen verfügen (s. dazu VDE-AR-E 2757-1 bis VDE-AR-E 2757-8). Smart Home – eine Positionsbeschreibung 593 In der Regel gehen die Projektbeteiligten (Betreiber, Planer, Handwerker, Pflegedienste/-kräfte etc.) der Wohnungswirtschaft bzw. Pflegeeinrichtungen mit falschen Erwartungshaltungen aufeinander zu. Jeder nimmt vom jeweils anderen an, dass er weiß oder sagen wird, was er benötigt bzw. was die richtige Lösung für das häufig nicht genau benannte oder definierte Ziel ist. Dies kann in der Realität leider nicht funktionieren, da in der Regel keine gemeinsame Schnittmenge im Tagesgeschäft der „Stakeholder“ vorhanden ist. Wie jedes größere Projekt erfordert auch der Einsatz von intelligenten Assistenz- und Unterstützungssystemen eine genaue Planung und Festlegung von Zielen. Des Weiteren muss es im Projekt einen zentralen Ansprechpartner geben, der befähigt werden bzw. sein muss, allen beteiligten Dienstleistern (z. B. aus Fachhandel, Fachhandwerk und auch Planung) klare Ziele und Aufgaben zu geben. Je genauer diese Teilaufträge definiert sind, desto einfacher gestaltet sich eine zielgerichtete Umsetzung. 3 Smart Home – Gegenstand Die folgenden Seiten sollen dazu anregen, die Möglichkeiten von Smart Home oder auch AAL positiv zu bewerten und in zukünftige Planungen einfließen zu lassen. Wenn Sie mit der Einstellung, dass „Technik nur als Mittel zum gewünschten Zweck“ an Umsetzungsideen und Planung gehen, dann haben Sie in der Regel schon viel gewonnen. Technik soll unterstützen und nicht belasten. Tasten Sie sich mit Projekten und der Umsetzung von einzelnen und integrierten Lösungen an die Themenfelder heran, um ein Gefühl für Kosten, Nutzen, individuelle Ideen und grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten zu erhalten. Die Informationen, Rahmendaten und Handlungsempfehlungen sollen dabei unterstützen, die Hintergründe von Smart Home und AAL zu verstehen und in einen kreativen Prozess im genannten Kontext zu gelangen. 3.1 Energieeffizienz In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Energiebewusstsein der Bevölkerung positiv entwickelt. Dennoch wird Wärme primär als Komfort und Wohlfühlfaktor empfunden. Die direkte Verbindung zwischen Kosten und Wärme wird vielen Menschen in der Regel nur beim jährlichen Betrachten der Energierechnung oder beim Einkauf von Öl wiederkehrend bewusst. Oft ärgert man sich über die gestiegenen Kosten und überlegt, welche Maßnahmen man ergreifen kann, um die Energiekosten zu senken. 594 A. Schaper Was könnte man tun? Was geht uns durch den Kopf? Installation einer neuen Heizungsanlage? Das würde, je nach Alter der alten Anlage, bestimmt Einsparungen erzielen. Aber zu welchem Preis? Wann rentiert sich eine neue Anlage? So eine Wärmepumpe mit „Solar“ wäre auch eine tolle Alternative, aber der hohe Preis … „Wir warten besser bis die alte Anlage den Geist aufgibt.“ Durchführen von Dämmmaßnahmen? Dämmmaßnahmen können in der Regel nur Eigentümer von Gebäuden durchführen Eine Innendämmung reduziert den Wohnraum und kann auch zu Schäden führen. Lieber nicht …? Eine Außendämmung verändert oft den Charakter des Gebäudes. Möchte ich das? Außerdem kommen erhebliche Kosten auf mich zu? Ob sich das rechnet? Lieber erst einmal nur das Dach isolieren Weniger Energie verbrauchen? Ich drehe die Heizung immer runter, wenn ich nicht da bin Muss ich eigentlich alle Zimmer heizen? Ich könnte die Heizung nur „auf 2“ stellen, aber dann ist mir nicht wohl Ich schalte abends alle Geräte aus oder ziehe den Stecker raus bzw. kaufe eine schaltbare Steckdosenleiste Bereits an dieser Stelle erlangen kleine Smart-Home-Anwendungen eine große Bedeutung, welche sowohl finanziell als auch technisch überschaubar und nützlich sind. Leider kaum bekannt, aber durchaus Sinn bringend können kleine funkbasierende Temperatursensoren (vergleichbar mit dem Raumthermostat der Zentralheizung) und elektrische Stellantriebe (als Ersatz für das normale „Heizungsventil“ bzw. Heizungsthermostat direkt am Heizkörper) eine erhebliche Energieeinsparung erzielen. Bei gut durchdachtem Betrieb sind über sogenannte Einzelraum-Temperaturregelungen Einsparungen von zwölf bis 30 % realistisch. Bezogen auf ein vorheriges normales Nutzungsverhalten sind 20 % schon fast zu garantieren. Das „gute Durchdenken“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf passende Einstellungen von Wunschtemperaturen zu bestimmten Tagen und Uhrzeiten, das heißt, hier geht es nicht um aufwendige und kostspielige Programmierungen durch einen Fachmann, sondern tatsächlich um einen familienbezogenen „Stundenplan“ für die Heizungsanlage. Etwas höherwertige Systeme lernen mittlerweile sogar Ihre Gewohnheiten und die Bausubstanz kennen und garantieren über interne Algorithmen eine maximale Energieeffizienz – oft sogar in Zusammenhang mit einem deutlichen empfundenen Komfortempfinden. An dieser Stelle gleich ein Kommentar zum Datenschutz: Smart-Home-Systeme können auch ganz ohne Anbindungen an das Internet betrieben werden. Smart Home – eine Positionsbeschreibung 595 Nicht in jedem Raum wird rund um die Uhr eine gleichbleibende Wärme benötigt. Daher lässt sich ein großes Einsparungspotenzial mit der individuellen Regelung einzelner Räume aktivieren. Ein Beispiel Das Badezimmer sollte morgens und abends schön warm sein, dazwischen kann die Temperatur abgesenkt werden. Die Kinderzimmer werden geheizt, wenn der Nachwuchs aus der Schule kommt, und das Wohnzimmer ist abends auf Wohlfühltemperatur, wenn die Familie zusammen fernsieht oder spielt. So kann ein Haus oder eine Wohnung ideal auf den Tagesrhythmus der Bewohner (per manueller Einstellung oder selbstlernenden Algorithmen) eingestellt und unnötiger Energieverbrauch vermieden werden. Die angebotenen Smart-Home-Lösungen passen in der Regel für sämtliche Heizungssysteme (Heizkörper- und Fußbodenheizungen). Eingestellt werden die Systeme, je nach Preisklasse und Technik, entweder dezentral an den Sensoren, Stellventilen und/oder über Zentraleinheiten, die am PC einfach zu konfigurieren sind. Wie zuvor beschrieben, werden die Temperaturen in den Räumen nur abgesenkt. Dies dient einerseits der Vermeidung von Schimmelbildung, da das „Durchfahren“ des sogenannten Taupunktes vermieden wird. Auf der anderen Seite werden keine großen Energiemengen benötigt, wenn man seine Räume beispielsweise nur von 18,5 °C von 21,5 °C anstatt von 14,5 °C auf 21,5 °C erwärmen möchte. Der Raumwärmetauscher, sprich die Heizung, muss nur noch weitere Wärme aus dem Keller holen und nicht den ganzen Raum erwärmen. Der „ganze Raum“ besteht nämlich nicht nur aus der Luft, sondern auch aus den Möbeln, dem Putz an den Wänden, den elektrischen Geräten etc. Mit anderen Worten: All das muss erwärmt werden, bis ein Raum tatsächlich und gefühlt warm ist und bleibt. Daher empfiehlt es sich, eine gewisse Raumtemperatur nicht zu unterschreiten. Besser die Heizung kann und darf im Laufe des Tages durch kleine Wärmemengen die untere Raumtemperatur halten, als dass sie am Abend durch extrem große Energie, sprich Öl-, Gas- und Stromeinsatz, diese Arbeit nachholen muss. Das ist unkomfortabel und sehr kostenintensiv. Abb. 1, 2, 3 zeigen Beispiele für einen kostengünstigen und intelligenten Einstieg. Bei der Auswahl von technischen Komponenten sollte immer beachtet werden, welcher Gesamt- bzw. Einzelzweck und welche Gesamtfunktionalität am Ende stehen soll (s. Abb. 1, 2, 3). Grundsätzlich spricht nichts gegen den Einsatz von proprietären Systemen (sogenannten Insellösungen). Bei der Beschaffung sollte allerdings zu Beginn abgewogen werden, ob in Zukunft ein Smart Home im Sinne von vernetzen Geräten und Medien gestaltet werden soll, welches sich z. B. via Smartphone, Internet oder Tablet-PC bedienen lässt. Ist der Wunsch nach weitergehender Automation und späterer Einbindung von altersgerechten Assistenzsystemen geplant, sollten die in der Regel überschaubaren Mehrkosten nicht gescheut werden. Lösungen mit Schnittstellen von/zu höherwertigen Systemen (z. B. UPnP, DLNA, KNX, EnOcean, Z-Wave etc.) bieten für die Zukunft 596 Abb. 1  en:key von Kieback & Peter Abb. 2  Energiesparpaket von RWE SmartHome Abb. 3  devolo Home Control Energiesparpaket A. Schaper Smart Home – eine Positionsbeschreibung 597 mehr Optionen, da diese „Standards“ durch eine Vielzahl von Herstellern unterstützt und weiterentwickelt werden. Weitere Empfehlungen über die Realisierung und Planung von Automations- und Vernetzungssystemen finden Sie in den Abschn. 6 „Empfehlungen“. 3.2 Komfort Das Thema Energieeffizienz eröffnet im Regelfall ohne Umwege die Vorzüge von Automationssystemen. Bereits durch eine „intelligente“ und gegebenenfalls fernbedienbare Heizungssteuerung erfährt der Nutzer einen großen Zugewinn an Komfort. Durch den gezielten Einsatz solcher Regelungen sind bewohnte und geregelte Räume tatsächlich und gefühlt besser klimatisiert und auch wärmer. Ein weiterer Wohlfühleffekt stellt sich bei der Betrachtung der nächsten Heizkostenrechnung ein, die trotz mehr gefühlter Wärme deutlich geringer, bezogen auf den Verbrauch in kWh oder Liter, ausfallen wird. Gute Automations- und Vernetzungslösungen, zeichnen sich durch einen modularen Aufbau aus. Das heißt, dass diese Systeme, ähnlich einer „elektrischen Miniatureisenbahn“, kontinuierlich nach Budget, steigenden Anforderungen oder neuen Ideen ausgebaut werden können. Über den spielerischen Gedanken lassen sich persönliche oder auch gewerbliche Anwendungen gut entwickeln. Man stellt schnell fest, dass der überwiegende Teil von Verknüpfungen und den damit verbundenen Anwendungen mit überschaubarem technischen Aufwand zu realisieren sind. Neben einem eher grundlegenden technischen Verständnis ist vor allem Kreativität bei der Gestaltung und praxisnahen Planung von Szenarien gefragt. Für die Planung bedeutet dies, dass man sich zunächst darüber Gedanken machen sollte, was an einzelnen Szenarien und Funktionen gewünscht ist. In vielen Fällen sind nämlich nicht hoch komplexe Anwendungen, sondern eine Reihe von kleinen „Helferlein“ gewünscht, die anschließend den Komfortwert darstellen. Erst im Anschluss an die Erstellung der „Wunschliste“, sollten dann Technik, Budget und Wünsche in Einklang gebracht werden. Denn in der Realität setzt eigentlich nicht die Technik, sondern das zur Verfügung stehende Budget die Grenzen. Komfort ist natürlich für jeden Menschen sehr unterschiedlich auszulegen. Im Zusammenhang mit Smart Home beschreibt Komfort, dass Funktionen automatisch erledigt oder auch miteinander verknüpft werden. Das Beispiel der zeitabhängigen Temperaturregelung wurde ja bereits behandelt. Komfort kann aber auch unter echter Lebenshilfe verstanden werden. So ist es z. B. möglich den Zutritt zur Wohnung oder einem Gebäude erheblich zu vereinfach. Wie unterschiedlich dies aussehen kann, zeigen die folgenden drei Beispiele und die dahinter verborgene fast identische Technik: Beispiel 1) Szenario „Zutritt und Kochen“ für ein junges Pärchen Ein junges Pärchen, Marc (26, er ist Hauptmieter der Wohnung) und Sonja (25, sie wohnt in ihrer eigenen Wohnung), kommt freitagabends nach Haus – es regnet und es ist dunkel. Also schnell aus dem Wagen und zum Haus. Marc holt noch den Einkauf aus dem Kofferraum, Sonja geht schon vor. Die Tür (bzw. das Auswertungsprogramm) erkennt das 598 A. Schaper Handy der jungen Frau, vergleicht über ein NFC-Verfahren1 oder auch Bluetooth, ob und gegebenenfalls zu welcher Zeit ein Zutritt zur Wohnung autorisiert ist. Marc hat für Sonja eine volle Autorisierung eingerichtet und der Türschließmechanismus, das kann der Türsummer oder auch ein Öffnungsantrieb sein, gewährt Zutritt zur Wohnung. Die Astrouhr der Smart-Home-Software, die u. a. die täglichen Zeiten für den Sonnenauf- und -untergang kennt, hat in Kooperation mit dem Dämmerungssensor festgestellt, dass es dunkel ist und schaltet das Licht vom Flur, der Küche und dem Wohnzimmer ein. Freitags kochen die beiden immer zusammen und hören dabei gerne Musik – das Internetradio startet gerade ihren Lieblingssender. Die Wohnung ist schon auf gemütliche 21,5 °C geheizt. Freitage laufen meistens immer gleich ab, daher hat Marc diese Szene eingerichtet – das geht ganz leicht. Gehen die beiden einmal essen, bleiben die Lichter und die Musik natürlich aus. Auch die Heizung kann von Ferne informiert werden, dass es heute mal später wird … Beispiel 2) Szenario „Zutritt“ für eine junge Mutter mit Einkaufskorb und Kind auf dem Arm Winterzeit, es ist 17:37 Uhr und Marion (31) kommt vom Einkaufen zurück. Der Einkaufskorb liegt schwer in der rechten Hand, Leonie (1) quengelt auf dem linken Arm. Marion hat zwar den Schlüsselbund in der linken Hand, aber an Aufschließen ist nicht zu denken. Ein Glück – der im Schließsystem eingelernte Autoschlüssel wird erkannt und die Tür öffnet sich. Heute ist Donnerstag der Einkaufstag. Im Eingangsbereich, im Hauswirtschaftsraum und der Küche schaltet sich das Licht an, das Küchenradio bietet beruhigende Musik. Jetzt noch mit dem Ellbogen auf die große „Wir sind zuhause“-Taste, im Fachjargon Zentral „Ein“, drücken und die Wohlfühltemperatur wird in den gewünschten Räumen in Kürze erreicht. Zentral „Aus“ würde beispielsweise eine Abschaltung von Stromkreisen mit Standby-Verbrauchern oder gefährlichen Geräte (z. B. Bügeleisen, Herd etc.) bewirken. Gleichzeitig könnte die Raumtemperatur auf 18,5 °C abgesenkt und dort gehalten werden. Beispiel 3) Szenario „Zutritt“ für einen Menschen mit Rollator Seit seinem Oberschenkelhalsbruch ist Heinrich (81) nicht mehr so gut zuwege. Geistig ist er absolut fit und seine Lebensfreude ungebrochen, aber ohne Rollator geht es nicht mehr so gut. Seine Wohnung hat fast das gleiche Baujahr wie er selbst und Barrierefreiheit ist nur in geringen Maß vorhanden. Damit er vor der Tür nicht rumrangieren und rumhantieren muss, hat er einen Türantrieb und automatischen Türschlossantrieb nachrüsten lassen. Die Fernbedienung hat er an seinem Schlüsselbund – einfach die große Taste auf dem Chip drücken und die Tür öffnet sich. Im Flur hat er einen normalen (Funk-)Taster an der Wand. Damit lässt sich die Tür nach Bedarf öffnen oder schließen, 1NFC – Nahfeldkommunikation ist ein internationaler Übertragungsstandard zum kontaktlosen Austausch von Daten über kurze Strecken (ca. 10 cm). Smart Home – eine Positionsbeschreibung 599 dann benötigt er nicht die Fernbedienung. Da er sein System nach und nach aufgerüstet hat, macht seine Wohnung ihm nun sogar Licht, wenn es im Flur zu dunkel ist. Alle drei Geräte lassen sich rückstandslos zurückbauen. Die Szenarien beschreiben eigentlich fast die gleichen Funktionen, die Unterschiede liegen in den verschiedenen Lebenssituationen bzw. Motivationen (s. Abb. 4, 5, 6). Geht es bei Marc noch um eine tolle Komfortinstallation, geht es bei Marion und Heinrich um eine echte Unterstützung. Sicherlich haben die Generationen vor uns dies auch alles ohne Technik gemeistert, aber warum sollten wir uns in Zeiten, in denen die Unterstützung Abb. 4   ELV KeyMatic®. (Sprengel & Partner) Abb. 5  Danalock – Soular GmbH & Co. KG 600 A. Schaper Abb. 6   Smart Open® – Türöffner. (TeraTron GmbH) von und durch Verwandte immer schwieriger wird, das Leben nicht ein wenig einfacher gestalten? Ein weiterer Unterschied zwischen den Lösungen ist die jeweilige technische Ausführung, der Preis und der Zeitpunkt der Planung und Einrüstung. 3.3 Sicherheit In Hinblick auf die Vernetzung von verschiedenen Geräten und Systemen lässt sich das Themenfeld Sicherheit sehr weit auffächern. Bezug nehmend auf den Buchtitel bezieht sich die Sicherheit auf die Bereiche persönliche Sicherheit, Gesundheit und Sicherheit des Eigentums. 3.4 Persönliche Sicherheit Die persönliche Sicherheit beschreibt vorwiegend die gefühlte Sicherheit und Maßnahmen diese umzusetzen bzw. zu unterstützen. Was versteht man darunter? Viele Menschen kennen das folgende ungute Gefühl: Man liegt im Bett und hört Geräusche, die einem komisch vorkommen oder sogar unmittelbar Angst vermitteln. Oft fragt man sich, was man tun kann, um den ungewöhnlichen Geräuschen auf den Grund zu gehen. „Jetzt müsste man mal schnell Licht im Garten machen können“. Aber im Schlafzimmer mit Blick in den dunklen Garten befindet sich kein entsprechender Schalter. Mit aktiver Beleuchtung könnte man sehen, was sich da unten tut und oft sogar das „lichtscheue Gesinde“ vertreiben. Was aber, wenn man nicht mitbekommt, dass sich jemand Zutritt zur Wohnung oder dem Haus verschafft hat. Wäre es jetzt nicht gut, wenn das Gebäude auf diesen Smart Home – eine Positionsbeschreibung 601 unerlaubten Zutritt reagieren, uns gleichzeitig wecken und gegebenenfalls einen Nachbarn oder Verwandten informieren würde? Grundsätzlich stellen beide Anwendungen keine technische Herausforderung dar. Auf herkömmliche Art und Weise müsste relativ viel Aufwand für Planung und Verkabelung erbracht werden. Mit der heutigen Smart-Home-Technik, ist eine Realisierung einer solchen als Panikschaltung bezeichneten Lösung mit überschaubaren finanziellen und handwerklichen Mitteln möglich. Durch die Verwendung von funkbasierenden Lösungen à la RWE SmartHome, EnOcean, Z-Wave oder Ähnlichem lassen sich Fenster und Türen auch im Bestand und in Mietobjekten schnell und kostengünstig mit Magnetkontakten ausstatten. Sollte man bereits Magnetkontakte zur Energieeinsparung (s. Abschn. 3.1 Möglichkeiten von Smart Home – Energieeffizienz) verwenden, lassen sich diese auch gleich als Alarmkontakte verwenden. Ein oder mehrere Funkschalter an den Schlafstätten der Wohnung bzw. des Hauses lassen sich ohne großen Aufwand installieren und als Panikschalter einrichten. Je nach Objekt lassen sich auch einzelne oder mehrere Bewegungsmelder in diese Schaltung einbeziehen, um gegebenenfalls Fehlalarme zu vermeiden oder eine automatische Auslösung zu bewirken. Eine Panikschaltung lässt sich individuell gestalten. So können beispielsweise gewisse Abläufe, wie z. B. „Einbrecher kommt über die Terrasse ➔ öffnet ein als geschlossen gemeldetes Fenster (Fenstergriff zeigt nach unten – der Fensterrahmen bewegt sich dennoch) ➔ betritt das dunkle Wohnzimmer aus Sektor 1 (Fensterfront im Wohnzimmer)“, festgelegte Leuchten, Uhrzeiten, Tage und gegebenenfalls Tastfolgen, wie z. B. 3x hintereinander auf den Taster drücken, um die Trennung zwischen einem normalen „Licht an“ und einer Panikschaltung zu differenzieren, in einer Schaltung zusammengefasst werden, die den Bewohnern eine Maßnahme zur Verfügung stellt, um im Falle eines Falles sicher und gezielt handeln zu können. Je nach System und Budget lassen sich in solche Lösungen auch Sicherheitskameras einbinden, die z. B. Bilder auf das eigene Smartphone oder einen Tablet-PC senden, damit man sich ein Lagebild aus dem Wohnzimmer, dem Garten oder dem Flur verschaffen kann. 3.5 Sicherheit und Gesundheit Neben den typischen Sicherheitsthemen wird sich in den kommenden Jahren auch das Thema Gesundheit weiter entwickeln. Wie bereits im Vorfeld beschrieben, werden die größten Teile der älteren Bevölkerung nicht in Altenheimen und Seniorenresidenzen Zuflucht finden können, sondern müssen aufgrund mangelnder Pflegeplätze und mangelnden Personalressourcen im heimischen Umfeld verbleiben. Das heißt, technische Assistenz- und Gesundheitssysteme werden uns helfen müssen, den Alltag zu meistern und unsere Gesundheit im Blick zu haben. Bestimmte gesundheitsrelevante Daten können uns die Sicherheit geben, dass wir im Rahmen gewisser Grenzen als gesund gelten. Unsere wenigen Ärzte können uns untersuchen und entsprechende „Alarmparameter“ festlegen, die wir möglichst nicht über- oder unterschreiten sollen. 602 A. Schaper Anwendungsfreundliche Systeme können uns höflich daran erinnern, ein Reha-Programm zu starten, unsere Medizin zu nehmen oder einfach nur zu messen und zu wiegen. Einfach mal auf die Waage stellen, gegebenenfalls noch den Nutzer auszuwählen, und evtl. mal in eine Röhre atmen, würde bei vielen Gesundheitsaspekten schon reichen, das Einhalten oder Überschreiten gesunder Grenzen festzustellen und den Gang zum Arzt zu empfehlen (s. Abb. 7, 8, 9). Je nach Krankheits- oder auch Gesundheitsbild können uns Gesundheitssysteme bei Sport, Gesunderhaltung oder auch Genesung sinnvoll und effektiv unterstützen. Durch eine regelmäßige Speicherung von relevanten Daten (Gewicht, Blutdruck, Blutzucker, Sauerstoffsättigung etc.) können auch unsere behandelnden Ärzte wesentlich bessere Diagnosen stellen, da sich Krankheitsverläufe in den Daten bereits deutlich ablesen lassen. Diese Systeme sind vergleichbar mit dem ABS und ESP in unseren Autos. Sie werkeln so vor sich hin, optimieren hier und da, im Notfall helfen sie durch aktive Assistenz und zeigen zusätzlich die Gefahr an. Besonders im Fall von Glatteis, kann die kleine Warnlampe schon rechtzeitig vor einer Gefahrensituation schützen. 3.6 Schutz von Sachwerten und Eigentum Smart-Home Produkte eignen sich ebenfalls zum Schutz von Sachwerten. Dabei muss allerdings deutlich betont werden, dass diese Lösungen keine hoch professionellen Alarm- und Meldeeinrichtungen ersetzen oder auf diesem Niveau einzuordnen sind. Professionelle Alarm- und Meldeeinrichtungen dienen in der Regel nur einem Zweck, sind meist entsprechend nach Richtlinien des VdS (Verband der Sachversicherer) und/ oder DIN-VDE-Vorschriften zertifiziert. Bei diesen Systemen ist eine Meldewahrscheinlichkeit von 99,9 % gegeben und wird durch eine Reihe von planerischen, baulichen und technischen Maßnahmen realisiert. Daher sollte in Zusammenhang mit Smart-Homespezifischen Produkten wie beispielsweise Magnetkontakten, Bewegungs- oder Rauchmeldern nie von einer „Alarmanlage“ oder „Brandmeldeanlage“ gesprochen werden. Abb. 7   Gluco Dock im Angebot der Medisana AG und deutsche Telekom AG Smart Home – eine Positionsbeschreibung 603 Abb. 8  smartLab®fit – Multifunktionswaage. (HMM Holding GmbH) Dennoch haben Alarm- und Schutzlösungen à la Smart Home ihre Berechtigung, da die bestehende Alternative zurzeit und im Regelfall noch „nichts“ ist. Die Komponenten sind überwiegend gut gemachte Einzelprodukte, die über den Smart-Home-Server als Alarmierungssystem in Zusammenhang gebracht werden. Das heißt, Produkte wie Magnetkontakte, Schallsensoren, Bewegungs-, CO2- oder Leckage-Melder usw. werden an den passenden Stellen (Fenster, Türen, Durchgänge, Ecken von Räumen oder Gebäuden, Öltank, Stellplätzen von Waschmaschinen etc.) montiert und anschließend in sogenannten Szenarien zusammengefasst. Smart-Home-Server sind sinnbildlich als Zentraleinheit zu verstehen – diese Zentraleinheit kann eine vom Systemhersteller gelieferte integrierte Hard-/Softwarelösung, aber auch eine Software sein, die beispielsweise auf einem kleinen Netbook, Hutschienen-PC, Standalone-PC oder im Fall von Firmen gegebenenfalls auf dem Firmenserver laufen kann. 604 A. Schaper Abb. 9   Gesundheitsmonitor myVitali AG Neben dem Schutz von Gesundheit, Leib und Leben können diese Lösungen natürlich auch Sachwerte gegen Diebstahl, Brand, Feuchtigkeit oder Temperaturschwankungen schützen. Der Vorteil dieser Technik ist, dass einzelne Komponenten in verschiedenen Szenarien bzw. Anwendungsfällen eingesetzt werden können. Ein Magnetkontakt, welcher eigentlich einmal zum Energiesparen beschafft und montiert wurde (wir erinnern uns: „Fenster wird geöffnet – Heizungsventil schließt“), kann genauso gut in eine Fensterüberwachung einbezogen werden. Derselbe Kontakt meldet seine Zustandsänderung von „geschlossen nach offen“ und wird in Verbindung mit einer Uhrzeit (nachts), eines Ereignisses (Urlaub, Einkaufen oder Ähnlichem) oder eines Ablaufes vom Energiespar- zum Alarmierungskontakt. Diese Doppel- oder generelle Mehrfachnutzung von Kontakten, Sensoren oder anderen Geräten findet bei reinen Alarmsystemen nicht statt. Hier müssten tatsächlich zwei voneinander getrennte Kontakte verbaut werden. Dies hat oft viel Dienstleistung und unansehnliche Technikaufbauten zur Folge. Sollte also bisher noch keine Alarmierungstechnik verbaut sein und aus versicherungstechnischen (oder persönlichen) Gründen keine professionelle Alarmtechnik benötigt werden, stellen Smart-Home-Lösungen in jedem Fall eine gute Alternative im Mittelfeld zwischen „nichts“, Baumarkt und Profitechnik dar. Als Szenarien oder Szenen werden Abläufe bezeichnet, die entweder den Komfort* erhöhen oder im Fall von Sicherheitsanwendungen** verschiedene Aktivitäten starten sollen. Smart Home – eine Positionsbeschreibung 605 * Beispiel: Tastendruck zu einer festgelegten Zeit auf eine Taste startet die Szene „Heimkino“ – Fernseher wird auf einem festgelegten HDMI-Port eingeschaltet, AV-Receiver wird direkt auf dem HDMI-Port „TV“ – Dolby Surround 5.1 geschaltet, je nach Sonnenstand schließen Rollladen, das Licht wird gemütlich und blendfrei geschaltet und gedimmt, die Raumtemperatur wird auf die gewünschte TV-Wohlfühltemperatur gebracht. ** Beispiel: Sommer | 27. Juli | 22:53 Uhr – Eine Außenkamera meldet Bewegung in einem definierten Sektor, die Außenbeleuchtung wird eingeschaltet, die Kamera oder der Smart-Home-Server sendet eine Momentaufnahme vom auslösenden Ereignis per E-Mail an eine festgelegte Adresse (z. B. Smartphone des Besitzers) – das Gebäude ist erwacht und wartet auf einen nächsten Schritt. Werden nun beispielsweise Rollläden nach oben gedrückt, wird die nächste Alarmstufe gestartet. Sollte nun noch ein Fenster geöffnet werden, ohne dass im Vorfeld im Raum eine Aktivität war, wird ein „echter“ Alarm ausgelöst. Über vorhandene Kameras, könnte der Eigentümer oder eine beauftragte Person/Firma bereits vorher aktiv werden, oder evtl. den Alarm abbrechen, z. B. wenn man selber der „Einbrecher“ ist. Ein weiterer Vorteil der heutigen guten und oft schon sehr preiswerten Smart-HomeKomponenten ist der schnelle Ein- bzw. Anbau und deren Inbetriebnahme. Je nach Umfang kann eine Installation und Einrichtung der gewünschten Alarmierungstechnik durch einen geübten Fachbetrieb innerhalb eines halben Tages erfolgen. Kleinere Erweiterungen oder Erstinstallationen inkl. Einrichtung können sogar innerhalb von ein bis zwei Stunden realisiert werden. 4 Aufgabenstellungen Je nach Gebäudetyp, Primäraufgabe, Anwender und Budget muss eine passende Lösung gefunden werden. Aus heutiger Sicht (2014/2015) haben sich die Smart-Home-Systeme und daraus ableitbare AAL-Anwendungen so unterschiedlich und vielfältig entwickelt, dass für beinahe jeden Bewohnertyp in annähernd jeder Einkommenssituation die Installation solcher Systeme erschwinglich geworden ist. 4.1 Beraten und Verkaufen Bei der Betrachtung des Privatkundensegments, ergibt sich aus der Einkommens- in Verbindung mit der Wohnsituation für Planer, Berater und Hersteller die erste große Aufgabe. Wie erhält der Kunde möglichst viel Smart Home bei kleinem Budgets? 606 A. Schaper Grundsätzlich sollte die Beratung abfragen, „wie viel“ Smart Home der Kunde möchte. Daraus lässt sich zunächst der technische Umfang ableiten. Im nächsten Schritt sollte den Interessenten vermittelt werden, dass Smart Home oder AAL-Systeme keine Sackgasse und „kein Ganzes“ sind. Vielmehr lässt sich die Technik, ähnlich einer elektrischen Spielzeugeisenbahn, individuell und stetig erweitern. Dem Kunden muss klar sein, dass er mit dem Erwerb „seiner“ Technik ein großes Potenzial an Kreativität, Weiterentwicklung als auch Auf- und Nachrüstung erhält. Die Komponenten und deren Basis sollte als Mittel zum Zweck verstanden werden, das heißt, die Technik folgt in der Umsetzung den Ideen seiner Anwender und passt sich durch Programmierung, Ausstattung und in Zukunft sicherlich durch Nutzerverhalten seiner Umgebung an. Im Anschluss an Aufklärung und Beratung müssen Budget und Umfang unter einen Hut gebracht werden. Zusätzlich muss in dieser Phase Rücksicht auf die Möglichkeiten der Installation und Wohnsituation, das heißt, an dieser Stelle fällt in der Regel die Entscheidung für kabeloder funkgebundene Systeme. Fassen wir noch einmal die wichtigsten Punkte für den zuvor genannten Fall zusammen. Folgende Dinge müssen in der Beratung beachtet und geleistet werden. • • • • Beratung, Aufklärung und Motivation des Kunden Berücksichtigung von Budget, Lebens- und Wohnsituation Erstellung einer Vision über die gewünschte Endausstattung Erstellung eines Umsetzungsplans: Was kann sofort und was wird anschl. schrittweise umgesetzt werden? 4.2 Auswahl des richtigen Systems Aus den Beratungsergebnissen ergeben sich im Regelfall die aktuellen und zukünftigen Anforderungen der Smart-Home- und/oder AAL-Lösung. Je nach zur Verfügung stehendem Budget ergibt sich, welche Wünsche und Anwendungen sofort und welche später umgesetzt werden können. Bei näherer Betrachtung einzelner Lösungen wird schnell deutlich, dass die meisten Systeme über sehr ähnliche Anwendungsmöglichkeiten verfügen. Das heißt, dass bei der Realisierung von einfachen Anwendungen wie z. B. Energiesparen, automatische Beschattung, Fernzugriff via Internet und Smartphone, Licht schalten und dimmen, kleine Alarmierungslösungen, Verbrauchsmessungen kaum Unterschiede bestehen. Ein deutlicher Unterschied besteht häufig in der Fertigungsqualität, der äußeren Anmutung und Haptik der Einzelprodukte. Wer also mit diesen schon deutlich spürbaren Mehrwerten zufrieden ist, hat schnell sein passendes System gefunden. Je nachdem, ob es sich um Wohneigentum oder ein Mietobjekt handelt, ist dann oft noch die Auswahl zu treffen, ob das neue System per Funk oder über ein gegebenenfalls zu erweiterndes oder zusätzliches (Bus-)Kabelnetz kommunizieren soll. An dieser Stelle verhalten sich die aktuellen Smart-Home-Systeme ähnlich zu den Angeboten der Kfz-Branche. Grundsätzlich kommt der Kunde mit allen angebotenen Smart Home – eine Positionsbeschreibung 607 Modellen von A nach B. Die Art des Fortkommens, der Komfort, der Verbrauch, die kleinen und großen Helferlein, das Prestige der Marke und auch die Anmutung der verwendeten Materialen definieren oft den kleinen aber feinen Unterschied. Auch das Thema der Innovation, Weiterentwicklung und Verfeinerung findet sich analog zur Automobilbranche bei den Herstellern von Smart-Home-Lösungen wieder. Wer neben den zuvor genannten klassischen Smart-Home-Anwendungen zusätzlich weitere Systeme wie z. B. Unterhaltungselektronik, Netzwerktechnik, erneuerbaren Energie etc. in sein Smart Home unter einer Bedienoberfläche einbeziehen möchte, kommt schnell an den Punkt, dass er unterschiedliche Protokolle und Schnittstellen „überbrücken“ muss (s. Abschn. 3.6). Hier kommen günstige Systeme schnell an ihre Grenzen und der Kunde sollte über den Einsatz eines Home-Servers nachdenken. Der Begriff Home-Server hat sich in den letzten Jahren als übergeordnete und zentrale Instanz etabliert. Der Home-Server verbindet verschiedene Systeme und „übersetzt“ sozusagen die unterschiedlichen Sprachen der angeschlossenen Systeme. Des Weiteren werden vorhandene Smart-Home-Lösungen und/oder Komponenten auf der Serverebene veredelt und erweitert. In der Regel führt der Ausfall eines Home-Servers nicht zum Totalausfall der Technik, sondern es fallen lediglich die Mehrwertdienste weg. Je nach Anbieter wird der Home-Server unterschiedlich bezeichnet. Die Geräte sind oft sehr klein und finden ohne viel Aufwand ihren Platz in der Hauptverteilung. An dieser Stelle sei in aller Kürze auf das strapazierte Thema der Interoperabilität eingegangen. Es ist richtig, dass in Deutschland, in Europa und auch in weltweit kooperierenden Organisationen daran gearbeitet wird, die Vielfalt an Schnittstellen, Standardisierungen und Protokollen zu reduzieren und den Datenaustausch zwischen unterschiedlichen „Protokoll-Welten“ durch offene Schnittstellenbeschreibungen zu optimieren bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen und den damit verbundenen anschließenden Verfahren zur Beschreibung von Schnittstellen, Festlegung von Austauschverfahren und -parametern etc. werden erst in mehreren Jahren in Breite und in Produkten verfügbar sein. Die Komplexität von smarten Anwendungen und Planungen wird damit allerdings auch nur im Detail reduziert. Wer evtl. sogar eine Erleichterung, vergleichbar mit dem heute bekannten „Plug and Play“ erwartet, wird sogar in Gänze enttäuscht. Warum wird das so sein? Grundsätzlich bieten Systeme im AAL- oder Smart-Home-Kontext einfach wesentlich mehr Möglichkeiten zur Verknüpfung, Vernetzung und Realisierung von „digitalen Prozessen“, als dies in deren typischen Einsatzbereich (Wohnen und Pflege) in der jüngsten und entfernten Vergangenheit unter realistischen Voraussetzungen der Fall war. Aufgrund der Vielzahl von Verknüpfungsmöglichkeiten kann es kein „Plug and Play“ geben. 608 A. Schaper Da die Geräte bei der Verbindung mit einem digitalen Netz nicht wissen können, in welchem Raum sie sind oder gar welche Aufgabe sie im Allgemeinen (primäre Kernaufgabe) oder speziellen (Verknüpfung mit artfremden Geräten) wahrnehmen sollen, muss also in jedem(!) Fall ein Mensch die örtliche und administrative Zuordnung vornehmen. Zwar wird die automatische Geräteerkennung heute und in Zukunft im Vergleich, auch zur jüngeren Vergangenheit, deutlich erleichtert, aber eine Verknüpfung von Funktionen, Zeiten, Abhängigkeiten, Zuständen usw. muss auch in Zukunft immer durch den Nutzer, Anwender (Bewohner, Pflegedienstleister, Angehörige etc.) oder den Dienstleister (Provider, Fachhändler, Handwerker, Systemintegrator) erfolgen. Allerdings sei auch positiv erwähnt, dass die Programme oder Systeme zur „Administration“ für Anwender und auch Servicetechniker immer leichter zu beherrschen sind und die Komplexität deutlich reduziert wurde. Ein Beispiel für eine einfache aber aus Sicht der „Bits und Bytes“ komplexe Aufgabe: Der Klingelknopf lässt nicht nur den Türgong läuten, sondern reduziert die Lautstärke der Hi-Fi-Anlage, damit der Gong hörbar ist, gegebenenfalls wird der Staubsauger noch in die kleinste Saugstufe geregelt, läuft das TV-Gerät – erscheint beispielsweise eine Einblendung „+++Breaking News: Es steht jemand vor der Tür +++ Es hat geläutet+++“. Ist niemand daheim, wird eine Verbindung zwischen Türsprechstelle, der Türkamera und dem Smartphone des Bewohners hergestellt (weitere Funktionen nach Belieben). Der Benutzer/Bewohner muss nach der Einrichtung die Funktionen nur noch konsumieren, da die eingestellten Vorgänge im Hintergrund ablaufen. Allerdings müssen sich Nutzer und Dienstleister diese Abläufe im Vorfeld „ausdenken“. Anschließend sind die notwendigen technischen Voraussetzungen zu schaffen und die Verknüpfung je nach verwendeten „Bausteinen“ miteinander im Hintergrund z. B. in einem Home-Server herzustellen. Das heißt, neben der passenden Hard- und Software ist auch an dieser Stelle Kreativität in Form von „Brainware“ erforderlich. 4.3 Grundplanung In Bezug auf die Planung kann folgender Satz als Zusammenfassung für diesen Bereich angesehen werden: „Intelligente Gebäude basieren immer auf intelligenter Planung“ (Stichwort: Brainware). Das bedeutet, dass diesem Abschnitt eine besondere Bedeutung zukommt, da hier bereits die Weichen für eine „preiswerte“ (im Sinne von Kosten und Nutzen), sinnvolle und modulare Entwicklung der Immobilie und deren Systeme gestellt werden. Besonders wenn das Budget begrenzt ist und die Wünsche der Anwender groß sind, ist eine vorausschauende und kluge Planung gefragt. Sicherlich ist der Spagat zwischen Kosten, Budget und Endvision nicht immer leicht darzustellen, aber im Bereich der Heimvernetzung und -automatisierung gibt es viele kleine und mittlere Stellgrößen, die eine kostengünstige und dennoch zeitgemäße(!) Basis ermöglichen. Dem Kunden muss klar sein, dass er für den Preis eines Basis-Golf keine Oberklasse-Limousine bekommen kann. Anders als beim Automobil lässt sich die technische Basis, allerdings Schritt für Schritt ausbauen und weiterentwickeln. In Hinblick auf den schnellen technologischen Smart Home – eine Positionsbeschreibung 609 Wandel ist dies sogar eine Grundlage, die eine Infrastruktur heutzutage erfüllen muss. Denn im Vergleich zu den elektrischen „Geräten“ (Taster, Schalter, Steckdosen, Relais etc.) der Vergangenheit, werden die smarten Komponenten aus der Heim- und Gebäudevernetzung keine 20 oder 30 Jahre ihren Dienst in der Grundversion verrichten. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass vorhandene intelligente Geräte zwischendurch mittels Update oder Austausch verändert werden müssen, um überhaupt ihre Rollen in den jeweils aktuellen technischen Ökosystemen zu erfüllen. Für einen Planer der Gegenwart bedeutet dies also, dass er seine Planung nicht nur an den aktuellen Anforderungen, sondern auch in Hinblick auf Erweiterbarkeit und kommende (heute gegebenenfalls noch undenkbare) Anwendungen ausrichten muss. Für den Fall einer Grundsanierung und eines Neubaus sollte dem Planer in jedem Fall die Möglichkeit eingeräumt werden, dass er eine sogenannte „anwendungsneutrale strukturierte Verkabelung“ planen und gestalten kann (s. dazu beispielsweise EN 50 173 Teil 4). Verfügbare Strom- und Datenkabel können umgehend und auch später für verschiedenste Anwendungen verwendet werden, das heißt, die Realisierung der Kabelinfrastruktur ist für alle aktuellen und späteren Vorhaben extrem wichtig. Um das Budget zu schonen, kann im ersten Schritt darauf verzichtet werden, dass alle Kabel mit den entsprechenden „Abschlüssen“ (z. B. Netzwerkdatendosen, Aktoren etc.) versehen sind. Hier kommen schnell viele Kleinbeträge aus Dienstleistung und entsprechender Hardware zusammen, die vermieden werden können, ohne die Zukunftssicherheit der (Grund-)Installation zu reduzieren oder zu gefährden. Für die heutige und zukünftige Planung, ist ein Umdenken aufseiten der Planer, der Kunden, der Anwender und auch des installierenden Handwerks unumgänglich. Eine Pauschalbudgetierung (z. B. fünf Prozent der Bausumme) wie oft in der Vergangenheit üblich, ist nicht mehr zeitgemäß und streng genommen als ignorant gegenüber der technischen Entwicklung zu betrachten. An dieser Stelle wird oft der Einwand gebracht, dass es heute viele Systeme für die Nachrüstung gibt. Für den Bereich des Bestandbaus, welcher den überwiegenden Anteil in Deutschland repräsentiert, sind diese Systeme sinnvoll und in der Regel die einzige Möglichkeit der Automation. Da viele Nachrüstsysteme Batterien benötigen, per Funk kommunizieren und/oder am jeweiligen Betriebsort (z. B. Steckdosen, Schalterdosen etc.) einen separaten Stromverbrauch erzeugen, entsteht daraus in der Summe häufig ein größerer Systemenergieverbrauch im Vergleich zu zentral gespeisten Systemen. Im Fall von Neuinstallationen (Neubau und Grundsanierungen) sollte daher über eine drahtgebundene Lösung nachgedacht werden. Ganz nebenbei kann dadurch auch weiterer „Elektrosmog“ vermieden werden. 4.4 Gewerke übergreifende Kommunikation und Planung Ergänzend zum Abschnitt Planung ergibt sich durch den technologischen Wandel ein weiterer Prozess, dem in Zukunft bzw. bereits heute deutlich mehr Aufmerksamkeit 610 A. Schaper zukommen muss. Anwendungen, z. B. aus dem Bereich „Energieeinsparung und -management“ betreffen gleich mehrere Gewerke. Die Heizung und Solarthermieanlage kommt vom Heizungsbauer, die Elektroinstallation erfolgt durch das Elektrohandwerk, die Heimvernetzung liefert der Fachmann der Unterhaltungselektronik, die PV-Anlage wird evtl. noch durch einen PV-Fachbetrieb installiert. Dann sollte im Sinne von Smart Home oder Smart Living das Ganze noch in einer einheitlichen Oberfläche und Bedienungsphilosophie dargestellt werden, da jeder Bereich noch Daten und Steuerungsmöglichkeiten bietet. Das heißt, gemäß einer zeitgemäßen, sinnvollen und nicht redundanten Realisierung sollten diese Informationen bereits im Stadium der Planung zentral zusammengeführt und in ein späteres Betriebskonzept überführt werden. Auftraggeber und Planer sollten daher immer an einem Strang ziehen und auch bei der Auswahl von Betrieben auf eine projektorientierte Arbeitsweise und Kooperationswilligkeit achten. Auftraggeber bzw. Bauherren sollten auch bei der Auswahl ihres Architekten diese Kriterien zugrunde legen. 4.5 Systeme betreiben und weiterentwickeln Ein großer Unterschied im Vergleich zum technologischen Wandel des letzten Jahrhunderts besteht darin, dass sich dieser Wandel in Hinblick auf Weiterentwicklung, Evolution, Kompatibilität und Kommunikation der Geräte untereinander immer weiter bis in fast alle Geräte vollzieht. Durch den Einsatz von intelligenten Geräten wird man als Nutzer und Betreiber automatisch von diesem Sog erfasst und mitgezogen. Beispiele kennen wir aus dem Sektor der Heimcomputer, bei denen es immer wieder eine neue Abhängigkeit zwischen Hardware, Betriebssystem und den gewünschten Anwendungen gab. Erst war der Arbeitsspeicher zu klein, dann der Hauptprozessor (CPU) zu langsam, dann erforderte ein neues gewünschtes Programm ein aktuelles Betriebssystem, dann wollte man ins Internet und schlussendlich musste der ganze PC erneuert werden. Im Bereich der Telekommunikation haben die meisten Menschen diesen Wandel und Fortschritt teils eigenmotiviert, teils erzwungenermaßen mitgestaltet und durchlebt. Der nächste „Kulturwandel“ stand spätestens mit der Einführung von SmartTVs und Heimvernetzung (Router, WLAN, Smartphones, Tablet-PCs, USB- und/oder Netzwerk-Festplatten [NAS] etc.) ins Haus. Der lieb gewonnene Fernseher wird nicht mehr wie zu Großelterns Zeiten 25 bis 30 Jahre halten. Zum einen ist die Technik (Elektronik) anfälliger und zum anderen müssen die aktuellen „Hauptbildschirme“ ganz anderen Anforderungen gerecht werden, die über längere Zeiträume auch nicht per Firmware- oder Software-Update im jeweiligen Stand angepasst werden können. Somit wird z. B. der Technologieträger Fernseher in wesentlich kürzeren Abständen ersetzt werden (müssen). Die vorangegangenen Beispiele sollen verdeutlichen, dass wir einem stetigen Fortschritt und Wandel unterliegen, der uns viele neue interessante, spannende, nützliche und letztlich auch komfortable Veränderungen beschert. Der Preis für diese Veränderungen ist Smart Home – eine Positionsbeschreibung 611 das Leben mit Updates auf Hard- und Softwarebasis. Mit anderen Worten: Im Vergleich zu früher nutzen wir nicht nur unsere technische Umgebung, sondern wir müssen sie auch aktiv betreiben und „fit“ halten, damit sie ihre Funktion auf Dauer ausführen können. Diese Art des Betriebs, des Ausbauens, des Weiterentwickelns und Anwendens wird unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren auch im Bereich des Smart Home akzeptieren müssen. Dabei geht es nicht darum, als Sklave seiner Technik leben zu müssen, sondern vielmehr darum, den Zusammenhang zwischen gestiegenem Komfort und Möglichkeiten zu akzeptieren und zu verstehen. Die Hersteller der entsprechenden Technologien und Geräte arbeiten natürlich stets daran, die störende Beeinflussung der Nutzer und Anwender auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Anderseits sind wir momentan Teil einer kleinen technischen Revolution, über die wir den kommenden Generationen berichten können. Eine spannende Zeit liegt vor uns und egal ob Nutzer, Installateur, Planer, Hersteller oder Dienstanbieter: Unsere Gesellschaft sollte die Herausforderung annehmen, diese Zeit nutzbringend zu gestalten. Frei nach dem Werbeslogan eines großen schwedischen Möbel- und Einrichtungshauses „Entdecke die Möglichkeiten“ und bleibe nicht stehen. 5 Lösungsansätze und Erfahrungen In den vorangegangenen Abschnitten wurden bereits wichtige Grundlagen und Rahmenbedingungen zum allgemeinen Verständnis von Smart-Home-Anwendungen vermittelt. Dabei sollte klar geworden sein, dass man die heute verfügbaren Technologien und Möglichkeiten nicht mit den etablierten Herangehensweisen und bekannten Geräten (Taster, Schalter, Steckdosen, Relais etc.) vergleichen kann und dieses auch nicht tun sollte. Ein Tastsensor, der das optische Erscheinungsbild eines klassischen Lichtschalters hat, ist eben kein Schalter, sondern ein Sensor bzw. Datenpunkt, der erst durch intelligente Verknüpfungen seine Mehrwerte aktivieren kann. Dieser Taster kann je nach Einsatz Licht schalten oder dimmen, das ganze Haus ein- oder ausschalten (die Heizungsanlage und den Kühlschrank natürlich nicht …), als Panikschalter dienen und sogar ein Standbild der Videoüberwachungskamera per E-Mail versenden. (Smart Home)Technik kann und soll Freude, Entlastung und Komfort bringen, dafür ist sie entwickelt worden. Das heißt, wenn man als Anwender die Smart-Home-Technik als eine Art „Chemiebaukasten“ für sich entdeckt, dann müssen für die gewünschte Reaktion (Anwendungen) die richtigen Elemente (Sensoren, Aktoren, logische und sinnvolle Verknüpfungen) zusammengebracht werden. Wie geht das? Für einen Laien, der Technik später „nur“ nutzen möchte, reichen bereits Papier (gegebenenfalls in Form eines Grundrissplans) und Bleistift. Skizzieren Sie einfach drauf los und versuchen Sie Ihre Ideen mit kleinen Symbolen, Texten und Abläufen zu beschreiben. „Ich möchte, dass ich an dieser Stelle folgende Aktion auslösen kann. Aber nur, wenn die Balkontür verschlossen, es draußen dunkel ist oder es regnet. Außer Samstag und Sonntag.“ Das hört sich zwar nicht technisch an, aber es ist Ihre 612 A. Schaper Anwendung, die es zu realisieren gilt. Wie und mit welchem System, das Ganze anschließend realisiert wird, ist für Ihre Anwendungswünsche eher sekundär. Die Grundsätze aus dem Abschn. 4.1 „Beraten und Verkaufen“ sind natürlich dennoch zu berücksichtigen. 6 Empfehlungen aus Sicht eines Protagonisten Der folgende Abschn. fasst die sich in der Praxis bewährten Maßnahmen für den Einsatz von Smart-Home-Lösungen zusammen und unterteilt dieses in: 1. Institutionelle Lösungen im Bestand 2. Lösungen für Neubauten Damit wird ein umfangreiches Rüstzeug für die Planung von Smart-Home-Maßnahmen gegeben. Dabei liegt der Fokus auf den Themen „Gebäudeautomation“ und „IP-Ethernet“. Die IP-Technologie hat sich sowohl für Datendienste wie für Sprachdienste durchgesetzt und vereint IT und Kommunikation (IKT) auf einer technologischen Basis. Die Gebäudeautomation ist deshalb relevant, weil sie Effizienz, Komfort und Sicherheit als Kern von Smart Home genutzt werden kann. 6.1 Wohnungswirtschaft Die Szenarien „Demografischer Wandel“ und „Steigerung der Energiepreise“ wirken sich aufgrund der hohen Verbreitung von Mietwohnungen im Schwerpunkt auf Anbieter von Wohnflächen und deren Kunden, den Mietern aus. Technische Assistenten in Häusern und Wohnungen helfen die Auswirkungen zu mildern. Der Wohnungswirtschaft kommt somit eine wichtige Schlüsselrolle, insbesondere bei der Schaffung von Voraussetzungen für „ein smartes Leben“ und dem hoffentlich bald offiziell und geförderten kommenden dritten Gesundheitsstandortes. Da der überwiegende Teil der Mietwohnungen eher finanziell schwach oder maximal normal verdienenden Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird, sollte man der Wohnungswirtschaft zubilligen, dass in diesen Objekten keine teuren und höchstwertigen Systeme verbaut werden. Deren massenhaften Beschaffung und die fortlaufenden Betriebskosten (Ersatz von defekten Komponenten, kostspielige Lagerhaltung, gegebenenfalls administrativer Aufwand etc.) ließen sich in großem Umfang nicht finanzieren. Des Weiteren wäre es auch schwer, einen Funktionsumfang zu definieren, der alle Mieter ansprechen würde. Allerdings lassen sich infrastrukturelle Maßnahmen ergreifen, die jedem Mieter in Zukunft erlauben eigene Smart-Home-Komponenten zu beschaffen, zu betreiben und gegebenenfalls sogar (wenn gewünscht) mit dem bestehenden, vom Immobilienbetreiber beschafften, System zu verknüpfen. Smart Home – eine Positionsbeschreibung 613 Je nach individueller Zielsetzung und adressiertem Klientel, lassen sich an dieser Stelle zwei Empfehlungspfade skizzieren 1. Nützliche Grundfunktionen und Infrastrukturen mit einer überschaubaren Investitionssumme: – Strukturierte und anwendungsneutrale Verkabelung nach EN 50173 – Teil 4 – Grundautomatisierung von Lichtsteuerung, schaltbaren Steckdosen und Beschattung Diese Grundausstattung lässt sich bei frühzeitiger und guter Planung annähernd kostenneutral im Vergleich zu einer Standardinstallation realisieren. – LAN-Kabel sternförmig pro Wohnung in jeden Raum – Je nach Art der Wärmequelle und Ausführung der Heizung, können alle Wohnungen als aktive Mess- und Regelstellen betrieben werden, das heißt, die Wohneinheiten verfügen über elektrische Stellantriebe und Raumtemperaturregelungen. Diese können Ihre Daten, sprich Wärmeanforderung oder aktuelle Raumtemperatur, an die Heizung melden und diese somit befähigen, maximal energieeffizient Wärmeenergie zu erzeugen und im Haus zu verteilen. Durch die intelligente Regelung kommt es nicht mehr zu Spitzen in der Wärmeanforderung. Dieser Effekt kommt der Umwelt und den Mietern unmittelbar zugute (s. Erläuterung in Abschn. 3.1 „Energieeffizienz“). Zusätzlich und förmlich nebenbei kann damit sogar der Schimmelbildung entgegengewirkt werden, die häufig einen Gegenstand für intensive Rechtsstreitigkeiten darstellt und somit auch vermeidbare Kosten erzeugt. – Elektronische Türschlösser in Verbindung mit einem ganzheitlichen Zutrittskontrollsystem senken Kosten bei Verlust von Schlüsseln und erhöhen die Sicherheit, da verlorene „Schlüssel“ unmittelbar nach Meldung gesperrt werden können. In Hinblick auf AAL können elektronische Schließsysteme Pflegediensten und Angehörigen einen unkomplizierten und dennoch kontrollierten Zugang gewähren. Das heißt, die Selbstbestimmtheit des Bewohners kann weiterhin geschützt werden, indem Zutrittsrechte nach Absprache und nur zu relevanten Zeiten vergeben werden. Zusätzliche kann(!) auf Wunsch auch dokumentiert werden, wer zu welchen Zeiten Zutritt angefordert hat – gegebenenfalls auch außerhalb der regulären Zeiten. Dann bleibt die Tür zwar verschlossen, aber die Anforderung wird dokumentiert. Je nach Zutrittskontrollsystem können Zutrittsrechte auch aus der Ferne z. B. an Rettungsdienste einmalig versendet werden. 2. Bei richtiger Planung und Auswahl des für das Objekt richtigen Systems fallen nur geringe bzw. keine Mehrkosten gegenüber konventioneller Installation an. Bei allen Neubau- und Sanierungsprojekten empfiehlt sich die Einrichtung eines AALbzw. Smart-Home-Beauftragten zur Unterstützung der Architekten und Planer und Koordination der Gewerke. Der/die Beauftragte kann entweder ein externer Berater sein oder eine geschulte Person, die sich im Vorfeld zu den relevanten Themen qualifizieren 614 A. Schaper konnte. Entsprechende Weiterbildungen werden beispielsweise von ELKOnet, der I-MA Consulting GmbH oder vom IGT – Institut für Gebäudetechnologie angeboten. 6.2 Pflegedienstbetreiber Die absolute Zahl der Berufstätigen wird zurückgehen. Selbst bei konstanter oder steigenden Attraktivität verschiedener Pflegeberufe reduziert sich dadurch die absolute Zahl der möglichen examinierten Pflegekräfte. Es gilt also, die Pfleger zu entlasten, damit sie mehr Zeit für die eigentliche Pflege haben. Dies gilt sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Pflege. Folgende Empfehlungen dienen der Entlastung von nichtpflegerischen Routineaufgaben: • Ausbau oder Einführung einer elektronischen Pflegeakte, in Abstimmung mit den Mitarbeitern • Nutzung von Smartphones bzw. Tablet-PCs zur Darstellung der Patienten-Pflegeakte, von aktuellen Aufgaben und Alarmen z. B. aus der Sturzerkennung • Nutzung obiger Geräte für die automatische Führung der Akte, z. B. – Scannen von Patienten-QR-Codes zum Aufruf der Akte – Scannen von Barcodes von verwendeten Produkten, auch Mineralwasser, etc. und automatisierte Eintragung in die Akte – Quittierung und Kommentierung von Alarmrufen durch die Patienten • Nutzung von Skype-fähigen SmartTV-Geräten und Einrichtung einer „Community“ zur Kommunikation zwischen Pflegeempfänger, Angehörigen, Pflegern und gegebenenfalls Ärzten. Durch den einfach zu nutzenden und kostenlosen Videotelefoniedienst Skype wird die Teilhabe am sozialen Leben gefördert. Zudem kann sich ein Pfleger im Problemfall anders als beim Hausnotruf ein „Bild“ machen. Dazu lässt sich Skype auch auf „automatische Annahme“ schalten. • Kooperation mit der Wohnungswirtschaft in Bezug auf – intelligente Schließsysteme (s. Abschn. 3.2 „Komfort“ und 6.1 „Empfehlung an die Wohnungswirtschaft (Stichwort Zutrittskontrollsystem)“) – Nutzung von Lichtschaltern/Sensoren als Aktivitätssensor • Einsatz von mobilen AAL-Ausstattungen z. B. escos Co-Pilot oder casenio, um temporär die notwendige bzw. pflegeunterstützende AAL-Sensorik in einer Wohnung zu installieren. Bestehend aus: – LTE/UMTS-Router für den Internetzugang (falls kein DSL verfügbar ist) – Funk-Lichtschalter(Sensor) – Funkschalter (Zwischenstecker) – Temperatur-/Luftgüte-/Feuchtigkeitssensor – Bewegungs- und Präsenzmelder für Sturzprävention und -erkennung – Skype-TV oder nachrüstbares Gateway für vorhandenes TV-Gerät und Kamera – Nachrüstbares Schließsystem (ohne Austausch des Schlosses) Smart Home – eine Positionsbeschreibung 615 Die aufgeführten Beispiele lassen sich selbstverständlich noch weiter aus- und fortführen. Die Beispiele zeigen allerdings, dass eine gewünschte Effekte wie z. B. Energieeinsparung offensichtlich immer mit großen finanziellen Aufwänden oder Verhaltensänderungen verbunden sind. Dies hat zur Folge, dass diese Maßnahmen häufig nicht umgesetzt werden und eine Energieeinsparung nicht zum Tragen kommt. An dieser Stelle sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass Heizung und Warmwasser im Schnitt rund 87 % der Gesamtenergiekosten eines Gebäudes verursachen. 6.3 Hausverwaltungen/Eigentumswohnungen Die Anforderungen (zeitgemäße technische Ausstattung, Breitbandanbindung, geringer Heizenergiebedarf, Aktivierung der Wohnung als dritter Gesundheitsstandort usw.) an eine Wohnumgebung, werden in den nächsten Jahren u. a. zum Gradmesser für die Qualität einer Wohnimmobilie bzw. Eigentumswohnung. Grundsätzlich werden natürlich bestehende Kriterien wie Nahverkehrsanbindung, Kitas oder Schulen, Nahversorgung durch Einkaufsmöglichkeiten und Gesundheitswesen nicht durch „smarte“ Aspekte ersetzt oder verdrängt. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass „smart“ ein Allheilmittel ist. Allerdings werden in den nächsten Jahren immer mehr Immobilien zunächst einzelnen Aspekten und zunehmend den Gesamtanforderungen gerecht. Damit ist es möglich, sich einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen, der in der Regel solvente Kunden und Interessenten anziehen wird. Wir empfehlen Hausverwaltungen und Immobiliengesellschaften sich im Falle von Sanierungen und Neubauten dringend mit Planern und Architekten auseinanderzusetzen, die bereits Erfahrungen in ganzheitlichen, teils geförderten, Projekten gesammelt haben. Hier kann bereits in der Evaluierungsphase auf bisher „einzigartigen“ Erfahrungen zurückgegriffen werden. Die Kombination aus Offenheit auf beiden Seiten und den bestehenden Praxis- und Projekterfahrungen ergeben, besonders in Hinblick auf spätere nützliche Details, vollkommen neue Lösungen. Bei näherer Betrachtung ergeben sich auch erhebliche Einsparungspotenziale für Erstellung und/oder Betrieb der Immobilie (Abb. 10). Bei der Planung von technischen Lösungen sollten die Gesamtheit der technischen Gebäudeausstattung und die technische Ausstattung der einzelnen Wohneinheiten sowohl einzeln und auch als Gesamtsystem betrachtet werden. Damit ist gemeint, dass durch die Aufhebung der Betrachtungsgrenzen wesentlich bessere Ergebnisse erzielt werden, im Vergleich zu einer Einzelbetrachtung. Besonders im Bereich der Energieeinsparung über intelligente Systeme kann das grundsätzliche Einsparpotenzial der Gesamtimmobilie erheblich verbessert werden. In Verbindung mit einer grundsätzlichen Einzelraumtemperaturregelung, entstehen so viele Mess- und Regelpunkte, die zur optimalen Steuerung und Regelung der zentralen Energieversorgung zur Verfügung stehen. In Hinblick auf verschiedene Energieversorgungswege, wie z. B. Fernwärme, Öl, Gas, Strom, Solarthermie oder sogar Hybridsysteme, lässt sich Energie zeit- und bedarfsgerecht verteilen. 616 A. Schaper Abb. 10  „Akktor Facility Management“ zur Verknüpfung verschiedener Automationssysteme als Grundlage für Anwendungen aus den Bereichen Komfort, Sicherheit und Energiemanagement Durch die Leitfunktion der Technik wird der Komfort für alle Bewohner gesteigert und im Regelfall die Umwelt deutlich entlastet. Über die generelle Reduzierung des Energiebedarfs, werden natürlich auch Kosten gesenkt. Eine genaue(re) Abrechnung der einzelnen Wohnung ist gewährleistet. Beispiel für eine Kombination aus intelligenter Wohneinheit und Gesamtsystemvernetzung. Das „Akktor Facility Management“ sorgt für lokalen Komfort, Verknüpfung verschiedener Automationssysteme und ein ganzheitliches Energiemanagement. 6.4 Neubau von Wohnungen Gebäudeautomation Eine Gebäudeautomation soll nicht zwingend vorgeschrieben werden, wird aber empfohlen. Im gehobenen Wohnungsstandard ist ein Automationssystem dringend empfohlen. Wird mit der Erstellung des Gebäudes beispielsweise im unteren Mietsegment keine Grundautomation installiert, sind geeignete Vorkehrungen für eine spätere Installation zu treffen. (★plus gem. HEA Ausstattung nach DIN 18015-2 und Vorbereitung einer Gebäudetechnik nach DIN 18015-4). Im mittleren und höheren Mietsegment empfehlen wir unbedingt die Installation von ganzheitlichen Gebäudeautomationssystemen, um dieser Zielgruppe auch mittel- und langfristig einen gehobenen Komfort zu bieten. IP-Ethernet Sternförmige Verkabelung von einem zentralen Punkt in jeder Wohnung ausgehend in jeden Raum einer jeden Wohnung mit Kategorie 7 Kabel als Standard. Der zentrale Punkt soll in unmittelbarer Nähe zur Stromverteilung liegen. Die Verkabelung ist auch als Telefonverkabelung nutzbar. Eine dedizierte Telefonverkabelung soll entfallen. Smart Home – eine Positionsbeschreibung 617 6.5 Neubau von Eigenheimen Gebäudeautomation und Heimvernetzung Analog zu Vorschriften wie der Energieeinsparverordnung sind alle Neubauten mit einer Grundautomation und Heimvernetzung auszustatten. Ein heute erbautes Gebäude muss in der Lage sein, den Betrieb mehrerer IP-Endgeräte über eine Kabelinfrastruktur und auf Grundlage der Grundautomation Energieeinsparungen zu ermöglichen. Dienste wie IPTV, SAT>IP, VoIP oder Smart Metering müssen grundsätzlich auf Grundlage der Dienste neutralen Infrastruktur (z. B. nach EN 50137 Teil 4) möglich sein. IP-Ethernet Schaffung einer sternförmigen, anwendungsneutralen Verkabelung (Energie- und Netzwerkkabel) bis in jeden Raum. Der zentrale Sternpunkt sollte gut zugänglich in Form einer ausreichend großen Verteilung mit Multimediafeld ausgeführt sein. Diese Kombinationen werden bereits durch mehrere Hersteller angeboten. 7 Zusammenfassung Smart Home und AAL stellen keine Visionen dar oder zeigen Produkte der Zukunft. Vielmehr ist festzustellen, dass aktuelle Planungsansätze, Installationen und Komponenten zu realistischen, sehr sinnvollen und finanzierbaren Lösungen und Anwendungen in der häuslichen Umgebung führen. Dennoch sei ein strukturierter Kompetenzaufbau in Form von Teilnahmen an Fachtagungen, Weiterbildungsseminaren empfohlen. Das gilt insbesondere für künftige Fachleute. Eingekaufte Berater, die z. B. durch die Smart Home Initiative Deutschland e. V. empfohlen sind, können Maßnahmen auf Basis einer Fortbildung umsetzen. Größere Unternehmen sollten ihren Mitarbeiter/innen solche Fortoder Weiterbildungsmaßnahmen unbedingt zugestehen. Weiterführende Literatur Aktuelle AAL-Musterwohnung (2015) Ermündigung „Alles, was Sie brauchen, um sich selbst zu ermündigen“. http://ermuendigung.de/ermuendigung https://www.casenio.de/so-sieht-die-wohnung-der-zukunft-aus. Zugegriffen: März 2016 Assistenzsysteme im Dienste des älteren Menschen – Porträts der ausgewählten Projekte in der BMBF-Fördermaßnahme „Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben – AAL“. https://www.fit.fraunhofer.de/content/dam/fit/de/documents/projektportrats-aal. pdf www.projekt-easycare.de/f/34283/veroeffentlichungen/Steckbriefe_AAL_Broschure.pdf. Zugegriffen: März 2016 Helfer für stationäre und ambulante Pflege oder Wohnunterstützung – escos Copilot. http://www. escos-automation.com. Zugegriffen: März 2016 Hersteller- und Technologielinks: Produkte aus Energieeffizienz „Beispiele für einen kostengünstigen und intelligenten Einstieg“. http://www.enkey.de https://www.rwe-smartstore.de/ 618 A. Schaper SmarthomeCatalog/Energie_sparen http://www.devolo.de/home-control. Zugegriffen: März 2016 Innovative Lösungsansätze im Rahmen der „Mitalternden Wohnung“ (VSWG e. V.). http://alterleben.vswg.de/aal/praxisloesungen. Zugegriffen: März 2016 Produkt(e) aus „Empfehlungen für Hausverwaltungen/Eigentumswohnungen“. http://www.akktor. de http://bab-tec.de/index.php/eibport_v3_de.html https://www.symcon.de. Zugegriffen: März 2016 Produkte aus Komfort „Beispiele für Zutrittkontrollsysteme verschiedener Preisklassen“. http:// www.eq-3.de/produkt-detail-aktoren/items/hm-sec-key.html http://smartlock.de http://www. smartopen.de. Zugegriffen: März 2016 Produkte aus „Sicherheit und Gesundheit“. http://www.medisana.de http://www.hmm.info/de/dehmm-category-view/68 http://myvitali.com https://www.enocean.com/de/anwendungen-iminternet-der-dinge/smart-home-und-heimautomation/. Zugegriffen: März 2016 Studie: Technische Assistenzsysteme für ältere Menschen – Ergebnisse und Empfehlungen. http:// web.gdw.de/uploads/pdf/Pressemeldungen/PM_29-15_Digitalisierungsstudie_Anlage.pdf. Zugegriffen: März 2016 Universelle Gebäudeverkabelung (UGV) [Strukturierte Verkabelung]. https://de.wikipedia.org/ wiki/Strukturierte_Verkabelung http://www.elektronik-kompendium.de/sites/net/0908031.htm. Zugegriffen: März 2016 Wegweiser Alter und Technik. https://www.wegweiseralterundtechnik.de Über den Autor Alexander Schaper vertritt als Geschäftsführer seit 2008 den SmartHome Initiative Deutschland e. V. und fördert im Rahmen der Initiative den Dialog zwischen den Beteiligten innerhalb der „smarten“ Wettschöpfungskette, um Verständnis zu schaffen und traditionelle Gewerke- bzw. Branchenhürden zu überwinden. Er ist Fachwirt der elektro- und informationstechnischen Handwerke (Fachplaner) und Inhaber der Beratungs- und Planungsgesellschaft „TSBC – the smartbuilding company“ in Oldenburg. Kontakt: as@smarthome-deutschland.de Teil IX Ambulante und stationäre Versorgung Carl Dujat Die aktuelle Gesundheitsversorgung in Deutschland ist gekennzeichnet durch eine zunehmend engmaschigere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Der ambulante Versorgungsanteil wird nicht mehr nur oder hauptsächlich von niedergelassenen Ärzten sichergestellt, sondern auch von Krankenhäusern und an diesen angesiedelten ambulanten Versorgungszentren. Das Ziel ist eine ganzheitliche und „vernetzte“ Versorgung des Patienten. Hierbei spielen IT-unterstützte Prozesse eine sehr große Rolle, um nicht nur die Erhebung, Speicherung, Archivierung und Kommunikation der in hoher Menge anfallenden Gesundheitsdaten zeitnah sicherzustellen, sondern auch um Effizienz und Qualität der Versorgung nachhaltig zu sichern bzw. zu steigern. Somit wird zukünftig die gegenseitige Abgrenzung der sektorenbezogenen IT-Lösungen drastisch reduziert werden (müssen). Vor allem in den Krankenhäusern gibt es viele Bereiche, in denen ohne die Methoden, Techniken und Lösungen der Medizinischen Informatik und der Informationstechnologie (IT) nicht mehr effizient gearbeitet werden kann. Gute Beispiele dafür sind die Labordatenverarbeitung, die Bild- und Signalverarbeitung, die DRG-Abrechnung, das Rechnungswesen, das Berichtswesen und die Qualitätssicherung. In der Regel kommt in einem Krankenhaus nicht nur ein IT-unterstütztes Krankenhausinformationssystem zum Einsatz, sondern es wird eine größere Anzahl von Anwendungssystemen (Softwarelösungen) verschiedener Hersteller verwendet, welche viele Informationen über krankenhausinterne Kommunikationsnetzwerke austauschen (müssen). Im ambulanten (niedergelassenen) Bereich kommen hingegen überwiegend sogenannte Praxisverwaltungssysteme zum Einsatz, welche die Ärzte und das Praxispersonal relativ einheitlich und durchgängig unterstützen bei den Aufgaben. Gegenwärtig werden in der Regel zwischen 50 und 70 % aller patientenbezogenen Informationen direkt bei der Durchführung der diagnostischen, therapeutischen, pflegerischen und administrativen Maßnahmen schon digital erfasst und gespeichert. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass heutzutage noch viele Maßnahmen auf 620 Teil IX  Ambulante und stationäre Versorgung Papier dokumentiert werden. Dazu gehören u. a. die Ambulanzkartei sowie die Pflegedokumentation auf den Normal- und Intensivstationen. Vollständig digital verfügbar ist die Patientendokumentation in den Krankenhäusern momentan erst dann, wenn die noch konventionell erzeugten Patientenunterlagen zusätzlich digitalisiert/ gescannt werden. Im Zusammenhang mit dem Ziel einer einheitlichen digitalen und revisionssicheren Patientenakte ergeben sich daraus eine Reihe von Fragen nach Vollständigkeit, Rechtssicherheit und langfristiger Beweiswerterhaltung, die im Zusammenhang mit Papier nicht gestellt wurden oder werden mussten. Für die Zukunft zeichnet sich hier die Notwendigkeit einer verstärkten Nutzung von digitalen Archivierungssystemen, elektronischen Signaturen und Zeitstempeln sowie von zertifizierten und revisionssicheren Prozessen bei der Dokumententransformation der papierbasierten „Restakte“ ab. Problematisch ist nach wie vor die Investitionsbereitschaft der Krankenhäuser in die rechnerunterstützte Informationsverarbeitung/IT. Ein bis zwei Prozent des Gesamtbudgets als aktueller durchschnittlicher Anteil für die IT werden der Bedeutung der Informationsverarbeitung immer noch zu wenig gerecht. Immerhin ist die Informationsverarbeitung inzwischen zu einem strategischen Faktor im Gesundheitswesen geworden. Die Wirtschaftlichkeit und der Nutzen von IT haben sich auch in anderen Branchen schon nachhaltig erwiesen, diese Entwicklung kommt nun – wenn auch verzögert – in den Gesundheitsversorgungseinrichtungen an. Das bedeutet aber auch, dass insbesondere die IT-Abteilungen der Krankenhäuser neue Wege beschreiten (müssen). Die Krankenhäuser müssen sich zukünftig vermehrt auf die IT-Strategie und das Innovations- und Projektmanagement konzentrieren und im Gegenzuge z. B. den Betrieb der Basistechnologie (Server, Speichersysteme, Clients, Drucker und Kopierer etc.) externen Firmen/Partnern überlassen, welche diese Leistungen kostengünstiger und professioneller anbieten können. Im niedergelassenen Bereich sind solche Modelle bereits etabliert und die Systemhersteller bieten ihren Kunden durchaus bezahlbare Komplett-Services für die Praxisverwaltungssysteme an. Gleiches gilt im Übrigen auch für den Bereich der Medizintechnik, auch hier sind Betreibermodelle schon seit längerer Zeit erfolgreich etabliert im Markt. Dabei sind natürlich die Aspekte des Risikomanagements, insbesondere bei einer bestehenden Vernetzung von IT-Strukturen mit Medizintechnikgeräten (Intensivmedizin, Gerätemedizin, OP etc.) besonders wichtig. Es zeichnet sich in den Krankenhäusern immer mehr ab, dass man aus dem Zusammenwachsen von Medizintechnik und IT Konsequenzen zieht – im Hinblick auf Verantwortlichkeiten, Abteilungsstrukturen und Abläufe. Die Einführung der IEC 80001 mit ihren Vorgaben zum Risikomanagement und die MPG-Relevanz für eingesetzte Software werden hier sukzessive die Motivation verstärken, die Verantwortung zu zentralisieren und eine solche Funktion nahe an der Geschäftsführung des Unternehmens zu etablieren. Derzeit beginnt erst der Weg hin zu einer einrichtungs- und sektorenübergreifenden Informationsverarbeitung in der Gesundheitsversorgung. Telemedizinische Anwendungen wie die Teleradiologie sind inzwischen bereits weit verbreitet. Teil IX  Ambulante und stationäre Versorgung 621 Eine Vielzahl an sogenannten Apps bieten sehr spezielle Lösungen mit einem (noch) geringen Unterstützungsgrad des gesamten Gesundheitswesens, aber einer zunehmenden (weil einfachen und aus dem privaten Consumer-Bereich bekannten) Nutzung durch Bürger und Patienten. Von einer einrichtungs- und sektorenübergreifenden rechnerunterstützten Informationslogistik im Sinne einer bundesweiten E-HealthPlattform ist das Gesundheitswesen derzeit allerdings noch ein gutes Stück entfernt. Ein schon seit über zehn Jahren verfolgter Ansatz in diese Richtung ist die Einführung der Gesundheitstelematikinfrastruktur (GTI). Neben vielen Schwierigkeiten in der Vorbereitungsphase wurde vor allem auch das Know-how der Leistungserbringer, der Gesundheits-Ökonomie und auch der wissenschaftlichen Fachgesellschaften zu wenig genutzt. Trotz aller aufgetretenen Probleme bietet die GTI dennoch eine große Chance für eine einrichtungs- und sektorenübergreifende Informationslogistik unter Beteiligung der Bürger und Patienten. Eine Vielzahl an Diensten wie z. B. Notfalldatenmanagement, elektronisches Rezept, Arzneimitteltherapiesicherheit, elektronischer Befundversand, Zugriff auf Patientenakten etc. kann in Zukunft somit digital unterstützt werden. Allerdings fehlt hier noch eine Gesamtstrategie der GTI, mit dessen Hilfe ein systematischer und ökonomisch wie technisch sinnvoller Vollausbau der Informationsverarbeitung im deutschen Gesundheitswesen nachhaltig sichergestellt werden kann. Zahlreiche Erfolge wurden in den letzten Jahren im Bereich der Standardisierung, der Interoperabilität und des Datenschutzes erzielt. Eine neue Herausforderung stellt die IT-Sicherheit dar, insbesondere aufgrund der Zunahme der einrichtungsinternen und einrichtungsübergreifenden Vernetzung der verschiedenen Komponenten von Informationssystemen sowie der Anbindung einer Vielzahl an medizinischen Geräten. Die Notwendigkeit, sichere Informationssysteme sowie ein Risikomanagement aufzubauen, wird durch das neue IT-Sicherheitsgesetz bekräftigt. Zu beobachten ist leider auch immer noch, dass in den Einrichtungen des Gesundheitswesens die Behandlungsprozesse nicht optimal unterstützt werden und die Ergonomie der Softwarelösungen den Anforderungen der Nutzer nur unzureichend gerecht wird. Ein Fortschritt der letzten Jahre ist, dass auch die vielen proprietären Lösungen inzwischen größtenteils webbasiert arbeiten, sodass für die Nutzung vieler Anwendungen ein stationäres oder mobiles Endgerät mit Browser und Netzwerkzugang hinreichend ist. Es ist zu prüfen, ob verstärkt neue Technologien wie z. B. Portale, zentrale Verzeichnisdienste, komponentenorientierte Systeme und serviceorientierte Architekturen (SOA) mit unternehmensweiten Datenmodellen eingesetzt werden können. Eine Chance für offene Informationssysteme bietet die Initiative „Integrating the Healthcare Enterprise“ (IHE). Hierbei handelt es sich nicht primär um einen neuen Standard, sondern um die einheitliche Definition von Kommunikationsprozessen unter Nutzung von bereits vorhandenen Standards wie HL7 und DICOM. Ziel von IHE ist es, den Datenaustausch zwischen IT-Systemen im Gesundheitswesen zu standardisieren und zu harmonisieren. Die Umsetzung der medizinischen Prozessabläufe zwischen den 622 Teil IX  Ambulante und stationäre Versorgung Systemen und die Schaffung von Interoperabilität stehen hierbei im Vordergrund. IHE formuliert dazu Anforderungen aus der Praxis in sogenannten Use Cases, identifiziert relevante Standards und entwickelt technische Leitfäden, sogenannte Profile. Das IHE-Profil XDS (Cross-Enterprise Document Sharing) besteht aus einem Inhaltsverzeichnis (Document Registry) und einem Ablagesystem (Document Repository) für elektronische Objekte. Diese werden mit Hilfe von IHE-Transaktionen von verschiedenen Quellen (Document Source) beliefert. Abfragen von Dokumenten und Akten sind durch berechtigte Nutzer (Document Consumer) möglich. Das hierbei erforderliche Identitätsmanagement von Patienten wird durch das sogenannte PIX-Profil sichergestellt. Die Identitäten der Patienten werden in die Patient Identity Source eingestellt und dort aufbewahrt. Der IHE-Ansatz ermöglicht es, unternehmensweite Archive und Dokumentensammlungen, unabhängig von den eingesetzten heterogenen datenliefernden Anwendungssystemen und (identisch) für alle anfallenden Informationsobjekte aufzubauen. So können proprietäre und heterogene Systemarchitekturen sukzessive in offene unternehmensweite und einrichtungsübergreifende Systeme überführt werden. Somit können auch derzeit noch einrichtungsbezogene singuläre Lösungsansätze zu offenen bzw. einrichtungs- und sektorenübergreifenden Systemen ausgebaut werden. Interoperabilität, Mobilität, Rechtssicherheit und Wirtschaftlichkeit sind die wesentlichen Anforderungen an die zukünftigen Informationssysteme im Gesundheitswesen. Lesen Sie in den folgenden Beiträgen dieses Kapitels, in welchen Bereichen wir hier schon auf einem guten Weg sind und wo wir noch Nachholbedarf haben. E-Health als digitales Rückgrat einer modernen Gesundheitsversorgung wird sich weiterentwickeln, darf uns alle aber auch nicht überfordern und muss bezahlbar bleiben. Über den Autor Carl Dujat Nach Studium und Promotion in Medizinischer Informatik in Heidelberg sowie über zehn Jahren leitender Tätigkeiten im IT-Management der Universitätskliniken Heidelberg und Aachen ist Dr. Carl Dujat als Vorsitzender des ­Vorstandes der promedtheus Informationssysteme für die Medizin AG tätig. Seine beruflichen Schwerpunkte liegen in der strategischen IT-Planung und -Beratung im Gesundheitswesen, vor allem ­ für Krankenhäuser, der digitalen ­Archivierung („Elektronische Patientenakte“), in IT-Vergabe- und Ausschreibungsverfahren, ­ im Projektmanagement sowie in der Planung Aufbau komplexer Krankenhausinformationssysteme. Dr. Dujat ist aktives M ­ itglied in mehreren Fachgesellschaften und hat Vorstandsaufgaben in diversen Verbänden inne (gehabt), u. a.: BVMI, CCESigG, „GuiG / Entscheiderfabrik“ und der GMDS-AG „Archivierung von Krankenunterlagen“. Kontakt: dujat@promedtheus.de Internationale technische Standards Michael Onken Es existiert eine Vielzahl von Standards in der Medizin, die Interoperabilität ermöglichen sollen. Einigen von ihnen kommt bei der Kommunikation im Krankenhaus und darüber hinaus weltweit eine besonders große Bedeutung zu. Zuvorderst sind hier die Standards DICOM („Digital Imaging and Communications in Medicine“) und HL7 („Health Level 7“ – HL7 ist genau genommen eine Organisation, die verschiedene Standards veröffentlicht) zu nennen, die international intensiv genutzt werden. Natürlich existieren weitere Kommunikationsstandards, die bisher entweder Nischen besetzen (in Deutschland z. B. xDT im Bereich der Niedergelassenen) oder nach ihrer Veröffentlichung fast gar nicht in der Praxis eingesetzt wurden. Einige Standards wie DICOM und HL7-Standards sind mit mehreren tausend Seiten sehr komplex und überlappen sich in Teilbereichen. Beispielsweise erlauben sowohl DICOM als auch HL7 medizinische Befunddokumente zu erstellen und diese auszutauschen. Tatsächlich sind aber auch die Standards selbst häufig derartig flexibel, dass es innerhalb eines einzelnen Standards mehrere Möglichkeiten gibt, bestimmte Informationen auszutauschen. Beispielsweise bietet DICOM mehr als einen Netzwerkdienst an, um Bilder in einem Bildarchiv zu suchen und herunterzuladen. Jedem DICOM-System steht es frei, keinen, einen oder mehrere davon zu unterstützen. Innerhalb einer gewählten Variante gibt es dann noch diverse Optionen wie die bei der Bildsuche unterstützten Suchschlüssel (Name, Geburtsdatum, Adresse, …), deren Unterstützung zum Teil nicht vom Standard erzwungen wird. Diese Vielfalt an Standards und ihrer Optionen führt dazu, dass ohne weitere Regelungen eine „Plug-and-Play“-Kommunikation, wie sie vielfach vom Anwender bei der M. Onken (*)  Open Connections GmbH, Oldenburg, Deutschland E-Mail: onken@open-connections.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_32 623 624 M. Onken Anwendung von Standards (zumindest theoretisch) erwartet wird, nicht gewährleistet werden kann. Aufgrund der Komplexität der auszutauschenden Informationen ist es nicht zu erwarten, dass eine vollständige Interoperabilität (das schließt z. B. nicht nur das fehlerfreie Empfangen, sondern auch dasselbe Verständnis der Informationen auf beiden Seiten ein) in den nächsten Jahren erreicht werden kann. Eine technische Interoperabilität jedoch, in der die Informationen technisch einwandfrei übertragen und empfangen werden können, kann in vielen Bereichen heute schon nahezu erreicht werden. Dies ist besonders einer weltweiten Initiative zu verdanken: IHE („Integrating the Healthcare Enterprise“) legt in technischen Spezifikationen (Interessanterweise besteht IHE immer darauf, diese Spezifikationen nicht als „Standards“ zu bezeichnen) fest, wie bestimmte Arbeitsabläufe (z. B. Befundung in der Radiologie) mithilfe bestehender Standards gelöst werden können. Das heißt, IHE trifft für bestimmte Datenaustauschszenarien eine Auswahl aus den verfügbaren Standards, legt fest, wie diese ineinandergreifen und welche Alternativen und Optionen innerhalb jedes einzelnen Standards ausgewählt werden müssen. Dies führt dazu, dass zwei Systeme, welche dieselbe IHE-Spezifikation umsetzen, mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit technisch interoperabel sind. Die folgenden Abschnitte geben einen Überblick über drei wohl wichtigsten Kommunikationsstandards1 im Gesundheitswesen – IHE, HL7 und DICOM. Zugleich wird versucht, die Beziehungen zwischen ihnen darzustellen und aktuelle Entwicklungen aufzuzeigen. 1 IHE – Integrating the Healthcare Enterprise IHE ist eine weltweite Non-Profit-Initiative, die ursprünglich Ende der 1990er Jahre in den USA gegründet wurde und inzwischen weltweit aktiv ist. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, technische Lösungen für klinische Workflows zu spezifizieren. Dazu bedient sich IHE in erster Linie der folgenden Bausteine: • Technische Spezifikationen („Technical Frameworks“, TFs): Die technischen Spezifikationen von IHE sind frei verfügbar und können unter http://www.ihe.net heruntergeladen werden. Sie sind thematisch in Anwendungsbereiche („Domains“) unterteilt. Einige davon sind eindeutig einem medizinischen Bereich zugeordnet (zurzeit Radiologie, Kardiologie, Pathologie, Zahnheilkunde, Endoskopie, Augenheilkunde, Labor, Pharmazie und Strahlentherapie), andere beschreiben eher übergreifende Workflows (im Moment Patientenkoordination, IT-Infrastruktur, Medizingeräte und „Qualitätssicherung, Forschung und Public Health“). 1Tatsächlich bieten sie noch deutlich mehr als Kommunikation, beispielsweise Monitorkalibrierung (DICOM). Internationale technische Standards 625 • Connectathon: IHE beschreibt nicht zur, wie technische Interoperabilität mithilfe von Standards erreicht werden kann, sondern bietet auch denjenigen, die diese Spezifikationen umsetzen, an, einmal im Jahr auf einem sogenannten „Connectathon“ (für „Connection Marathon“) ihre IHE-Lösungen gegeneinander zu testen. Das etwa einwöchige Test-Event findet einmal jährlich in den USA (in der Vergangenheit meistens Chicago) und einmal im Jahr in wechselnden Städten Europas statt. Typischerweise sind auf jedem Connectathon einige Dutzend Hersteller vertreten, die ihre IHE-fähigen Systeme testen und bei Bedarf Fehler korrigieren. • Integration Statements: Dokumente, mit denen Hersteller die Konformität zu IHESpezifikationen ausdrücken können, z. B. zur Information und Werbung gegenüber Kunden, aber auch, um anderen Firmen zu ermöglichen, etwaige Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Produkt auszuloten. • Demonstrationen: Um die IHE-Initiative bekannt zu machen und sowohl Anwender als auch Hersteller von ihrem Nutzen zu überzeugen, finden auf Messen und anderen Veranstaltungen häufig IHE-Demonstrationen statt, bei denen eine Reihe von Herstellern zusammen zeigen, wie sie herstellerübergreifend einen oder mehrere IHE-Workflows umsetzen können. • Im Folgenden wird nun weiter auf die Technical Frameworks, den Connectathon sowie Integration Statements eingegangen. 1.1 Technical Frameworks Jede Domäne (z. B. „Radiology“) fasst ihre Spezifikationen in einem sogenannten „Technical Framework“ (TF) zusammen, das aus einen oder mehreren Dokumenten besteht („Volumes“). Innerhalb eines TF sind die einzelnen unterstützten Workflows in sogenannten Integrationsprofilen („Integration Profile“) beschrieben. Ein Integrationsprofil beschreibt jeweils Beispiele für die vom Profil abgedeckten Use Cases und anschließend, welche Systeme (Akteure, engl. „Actors“) welche Nachrichten (Transaktionen, engl. „Transactions“) austauschen müssen, um den entsprechenden Workflow umzusetzen. Volume 1 des TF gibt immer einen ersten Überblick über die Integrationsprofile und stellt dazu für jedes unter anderem ein „Actor Diagram“ bereit, das die verwendeten Akteure und Transaktionen schematisch zeigt. Jeder Akteur und jede Transaktion werden über einen kurzen Bezeichner eindeutig gekennzeichnet. Bei vielen Profilen können Hersteller auch noch zusätzliche von IHE festgelegte Optionen für ein Integrationsprofil umsetzen. Optionen sind meistens so gewählt, dass sie nicht für alle Anwender von Interesse sind. Ein Hersteller kann sich nun entscheiden, welche Akteure eines Integrationsprofils er mit seinem Produkt umsetzen möchte. Ein Anwender, der seinen Workflow in einem IHE-Profil wiederfindet, kann nun Systeme so ausschreiben, dass sie sich explizit auf die Umsetzung von IHE-Akteuren durch die anzuschaffenden Produkte beziehen. 626 M. Onken Ein einfaches Integrationsprofil aus dem TF „IT Infrastructure“ heißt „Consistent Time“ und wird wie andere Profile auch durch Großbuchstaben abgekürzt (hier „CT“). Ziel des Profils ist es, die Zeit zwischen zwei Systemen zu synchronisieren, was für verschiedene Anwendungen sinnvoll sein kann, z. B. um Systemmitschnitte („Logs“) der beiden Systeme anhand von Zeitstempeln vergleichen zu können oder aber um im Rahmen medizinischer Dokumentation die exakte Zeit einsetzen zu können. Beim CT-Profil sind nur zwei Akteure beteiligt: Der „Time Client“ fragt bei einem „Time Server“ die Zeit an und synchronisiert sich zu dieser. Das entsprechend „Actor Diagram“ sieht wie folgt aus (Abb. 1): Abb. 2 zeigt, dass vom CT-Profil nur eine einzige Transaktion „Maintain Time“ mit dem Kürzel „ITI-1“ festgelegt wird. Die Nummerierung erfolgt einfach in der Reihenfolge, in der Transaktionen im jeweiligen Technical Framework eingeführt werden. Das CT-Profil bietet auch zwei Optionen an (Abb. 2): Beide Akteure können die Option „Secured NTP“ anbieten, die sicherstellt, dass die Zeitsynchronisation kryptografisch gesichert durchgeführt wird. Der Client kann zudem die Option „SNTP“ umsetzen, welche eine nicht so hohe Genauigkeit im Zeitabgleich zur Folge hat (der Server kann dies automatisch). Die dritte Spalte gibt an, in welche Volume und Abschnitt sich weitere Informationen finden. Volume 1 gibt zwar einen Überblick über Sinn und Zweck des Profils sowie Akteure, Transaktionen und Optionen eines Integrationsprofils. Der Teil erläutert jedoch noch Abb. 1  Akteur-Diagramm für das Integrationsprofil „Consistent Time“ aus dem Technical Framework „IT Infrastructure“ (ITI). (IHE [Rechte öffentlich, siehe http://ihe.net/uploadedFiles/Documents/Templates/IHE_TF_GenIntro_Rev1.0_2014-07-01.pdf]) Internationale technische Standards 627 Abb. 2  Optionen für Integrationsprofil „Consitent Time“. (IHE [freigegeben]) nicht im Detail, was für Daten und auf welchem Weg diese ausgetauscht werden müssen. Das heißt, die Details zu den Transaktionen und häufig auch den Optionen werden in der Regel in Volume 2 ausgegliedert. Bei ITI sind das die Volumes 2a, 2b und 2x. In fast allen Fällen greifen Transaktionen dabei auf bestehende Standards zurück. Im zuvor genannten Beispiel CT wird der frei verfügbare Standard namens NTP (Network Time Protocol) verwendet, der auch außerhalb des Gesundheitswesens verbreitet ist und auch häufig Teil gewöhnlicher Betriebssysteme wie Microsoft Windows oder Apple’s Mac OS X ist. Das ist kein Zufall, sondern explizit von IHE gewollt: Wenn bereits Standards zur Lösung einer Aufgabe existieren, wählt IHE den passendsten aus und schränkt ihn gegebenenfalls so weit ein, dass (im besten Fall) Systeme per „Plug-and-Play“ gemäß des Integrationsprofils Informationen austauschen können. IHE bietet inzwischen Dutzende Integrationsprofile verteilt auf die verschiedenen TFs an. Der Bereich ITI z. B. verfügt über 26 verabschiedete Profile und weitere 22 Profile, die im Status „Trial Implementation“ sind. Letztere können bereits von Herstellern umgesetzt und auf den nächsten Connectathons getestet werden. IHE behält sich aber noch größere Änderungen vor, wobei häufig Erfahrungen der ersten Umsetzungen einfließen. Nach einem oder mehr Jahren werden die Profile dann üblicherweise finalisiert, das heißt endgültig verabschiedet und haben dann ebenfalls den Status „Final Text“. Auch verabschiedete Profile werden über die Zeit manchmal revidiert und leicht angepasst. Wenn das Profil in der Praxis häufig umgesetzt wurde, wird jedoch darauf geachtet, nur kleinere Änderungen (z. B. optionale Erweiterungen) vorzunehmen. 1.2 Connectathons Die alljährlichen Connectathon-Test-Events werden seit Jahren sehr gut durch die Industrie angenommen. Sowohl kleine und mittelständische Unternehmen als auch internationale Konzerne sind vertreten. Sie testen dort bildgebende Geräte, Bildarchive, Patientenakten, Krankenhausinformationssysteme usw. Üblicherweise wird eine große Halle angemietet und die Hersteller darin an langen Tischen platziert. Alle mitgebrachten Systeme kommunizieren über ein gemeinsames Netzwerk und führen vorgegebene Tests aus, die den von ihnen angemeldeten Akteuren und Integrationsprofilen entsprechen. Am Ende der Testwoche wird entschieden, welche Akteure als bestanden gelten (Abb. 3). 628 M. Onken Abb. 3  IHE Connectathon Neutrale Schiedsrichter („Monitors“) nehmen die Tests ab („Verification“) und kommen häufig aus Forschungseinrichtungen oder Krankenhäusern. Teilweise werden sie dabei stark durch automatisierte Werkzeuge über das zentrale Testverwaltungssystem „Gazelle“ unterstützt (mittels Validatoren, Simulatoren, usw.). Ein Schiedsrichter hat jedoch aber auch immer einen gewissen subjektiven Ermessensspielraum. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu verstehen, dass der reguläre Connectathon keinerlei formale Zertifizierung darstellt. Zudem wird hauptsächlich auf Interoperabilität (erfolgreicher Austauschen und Verstehen von Informationen) und nicht strikte Konformität zu Standards geprüft. Neuerdings können sich zumindest auf dem US-Connectathon Teilnehmer auch zusätzlich formal zertifizieren lassen. Die entsprechenden Tests werden von akkreditierten Prüfinstituten vorgenommen. Die Ergebnisse des Connectathons werden in einer Ergebnismatrix im Internet veröffentlicht.2 Angemeldete aber nicht bestandene Akteure werden nicht publiziert. Insgesamt sind nicht nur fertige Produkte beim Connectathon, im Gegenteil: Viele Fehler in der Software werden oft noch beim Connectathon gefunden und teilweise sogar vor Ort korrigiert. Für viele Hersteller ist dies sogar ein wesentlicher Grund, am Connectathon teilzunehmen. Zudem sorgt die kollegiale Atmosphäre (immerhin sonst auf dem Markt konkurrierender Hersteller) dafür, dass ein fachlicher Informationsaustausch zwischen den beteiligten Technikern zum Erfolg des Events beiträgt. Viele Hersteller und Personen 2http://connectathon-results.ihe.net. Internationale technische Standards 629 kommen jedes Jahr, manche sogar sowohl zur amerikanischen als auch zur europäischen Veranstaltung. 1.3 Integration Statements Hersteller können sogenannte Integration Statements veröffentlichen, welche die von einem Produkt in einer bestimmten Version unterstützten Integrationsprofile, Akteure und Optionen auflistet, z. B. „Time Client“ im Profil „CT“ mit zusätzlicher Option „SNTP“. Hersteller müssen keine Integration Statements nach dem Connectathon veröffentlichen. Grundsätzlich sollten sie aber von einem Hersteller problemlos erstellt und herausgegeben werden können, wenn IHE angeblich von Produkten umgesetzt wird. IHE pflegt auch eine öffentliche Datenbank, in der Hersteller ihre Integration Statements zu Produkten hochladen können, die IHE Product Registry3. Es ist übrigens nicht einmal verpflichtend für einen Hersteller, am Connectathon teilgenommen zu haben, um ein solches Dokument zu veröffentlichen und damit zu behaupten „IHE-konform“ zu sein. Auch wenn der Hersteller beim Connectathon war, kann er dort eine ganz andere Software gezeigt haben. Es handelt sich bei einem Integration Statement also immer um eine Selbstdeklaration des Herstellers. 1.4 Ausblick IHE hat sich in den letzten zehn Jahren weltweit zu einem essenziellen Baustein zur Schaffung von Interoperabilität entwickelt. Es kommen immer noch über die Jahre Technical Frameworks, das heißt neue Bereiche wie Augenheilkunde oder Public Health, hinzu und jedes Jahr werden viele neue Integrationsprofile, also Lösungen für neue Workflows, veröffentlicht. Ein Bereich, der in IHE über die letzten Jahre große Wellen geschlagen hat, ist der Bereich der Patientenakten mit dem dazugehörigen Integrationsprofil XDS („CrossEnterprise Document Sharing“) und einer Vielzahl ergänzender Profile. Einige Länder, z. B. Österreich und die Schweiz, erstellen derzeit landesweite Patientenakten auf Basis dieser IHE-Profile. Auch in den USA, Kanada und anderen Ländern wird XDS bereits eingesetzt oder eingeführt. Mit der Vielzahl der verfügbaren Profile (sehr viele auch im Status „Trial Implementation“) besteht allerdings auch die Gefahr, dass IHE am Ende aus sehr viel Papier besteht, das in der Praxis nicht umgesetzt wird, da auch immer mehr „Randbereiche“ der medizinischen Kommunikation erschlossen werden, bei denen erst einmal eine kritische Masse an Herstellern weltweit vorhanden sein muss, um diese umzusetzen. Wenn 3http://product-registry.ihe.net. 630 M. Onken das nicht gelingen sollte, stellt sich unter Umständen bei Anwendern der Frust ein, dass ihnen gesagt wird, IHE hätte da eine Lösung, jedoch kein Hersteller diese Lösung als Produkt liefern kann. 2 DICOM – Digital Imaging and Communications in Medicine Der DICOM-Standard ist seit zwei Jahrzehnten der weltweite Standard zum Austausch von medizinischen Bildern und verwandten Informationen. 1993 mit rund 750 Seiten aus dem ACR/NEMA-Standard hervorgegangen, beschreibt er auf inzwischen mehr als 5000 Seiten, wie medizinische Bilder (CT, MR, Ultraschall und viele andere) versendet, gesucht und heruntergeladen werden können. Der Standard selbst ist in (aktuell) 20 Dokumente unterteilt, die verschiedene Aspekte des Informationsaustausches beschreiben. 2.1 Datenstrukturen Ein wichtiger Teil des Standards ist Teil 3, der Datenstrukturen für Bilder und andere „Objekte“ festlegt. Jedes Objekt wird mithilfe einer „Information Object Definition“ (IOD) spezifiziert. So zeigt Abb. 4 die Informationseinheiten (Module) eines CT-Bilds in DICOM: Abb. 4  CT Image IOD: Grobe Zusammensetzung eines klassischen DICOM-CT-Bilds (Modultabelle der CT Image IOD). (NEMA) Internationale technische Standards 631 Wie an der Spalte links zu erkennen ist, enthält jedes einzelne Bild nicht nur Pixeldaten (wie es größtenteils für Standardbildformate wie BMP oder TIFF gilt), die in DICOM Teil des „Image Pixel“-Moduls sind, sondern auch unter anderem Informationen zum Patienten, zur Studie („Study“) und zur Serie („Series“). Jedes DICOM-Bild wird durch den Standard in eine Hierarchie eingeordnet: Jedes Bild gehört zu genau einem Patienten, der institutionsweit durch eine Patient-ID eindeutig identifiziert wird. Unterhalb des Patienten existieren sogenannte Studien, die man jeweils mit einem Unterordner vergleichen kann. Jede Studie wird weltweit(!) eindeutig durch eine sogenannte Study Instance UID identifiziert. Unterhalb der Studien wird noch feiner unterteilt in Serien, jede davon weltweit eindeutig durch eine Series Instance UID gekennzeichnet. In einer Serie können schlussendlich dann ein oder mehrere Bilder liegen, wobei alle Bilder innerhalb einer Serie von einem einzigen Gerät stammen müssen. Das Bild selbst kann eindeutig über seine SOP Instance UID referenziert werden. Jedes Bildobjekt enthält nun alle relevanten Informationen zum Patienten, zur Studie, Serie und zum Bild. Diese Einheit soll es ermöglichen, das Bild korrekt interpretieren zu können, ohne von anderswo noch Informationen zum Patienten usw. beziehen zu müssen. All diese Metadaten, die zusätzlich zu den Pixeldaten in einem Objekt gespeichert werden, werden umgangssprachlich auch als „DICOM Header“ bezeichnet. Dieser setzt sich im Detail aus sogenannten Attributen (z. B. „Patient’s Name“, „Patient ID“ oder „Pixel Data“) zusammen, die in den aus der Modultabelle (s. z. B. Abb. 4 zur CT Image IOD) referenzierten Modulen zu finden sind. Jedes Attribut selbst wird über zwei durch Komma getrennte Hexadezimalzahlen im Standard eindeutig identifiziert. Die Attribute, aufsteigend sortiert nach Tag, ergeben dann einen vollständigen DICOM-Datensatz, der über das Netzwerk versendet werden kann, z. B. an ein Bildarchiv (PACS – Picture Archiving and Communication System). Dazu bedarf es aber der Hilfe anderer Teile des DICOM-Standards, z. B. des Teil 4 (DICOM 2015b), der die Netzwerkdienste (Bildübertragung, aber auch andere wie Arbeitslisten) spezifiziert. Die Abb. 5 zeigt beispielhaft den Inhalt eines einfachen DICOM-Bilds vom Typ „Secondary Capture Image IOD“, welcher z. B. für Screenshots verwendet wird. DICOM speichert Daten nicht textbasiert ab, sondern binär. Die textuelle Darstellung in Abb. 5 muss also erst einmal aus den binären Daten erzeugt werden. In diesem Fall wurde die Umwandlung mithilfe des Programms „dcmdump“ aus dem DICOM-Toolkit DCMTK4 vorgenommen. 2.2 Netzwerkdienste Um Datenstrukturen wie eben Bilder aus Teil 3 (DICOM 2015a) des Standards zu versenden oder andere Funktionen über das Netzwerk zu nutzen (Bilder drucken, Aufträge 4http://www.dcmkt.org/dcmtk.php.de, letzter Zugriff 01.01.2016. 632 M. Onken 'LFRP'DWD6HW 8VHG 7UDQVIHU6\QWD[-3(*)XOO 3URJUHVVLRQ1RQKLHUDUFKLFDO3URFHVV   &6>,62B,5@6SHFLILF&KDUDFWHU6HW  8, 6HFRQGDU\&DSWXUH,PDJH6WRUDJH 623&ODVV8,'  8,>@623,QVWDQFH8,'  '$>@6WXG\'DWH  70>@6WXG\7LPH  6+ QR YDOXH DYDLODEOH $FFHVVLRQ1XPEHU  &6>:6'@&RQYHUVLRQ7\SH  31>1LFKRODVAA6W@5HIHUULQJ3K\VLFLDQ1DPH  /2>&KULVWPDV(YH@6WXG\'HVFULSWLRQ  31>&ODXVA6DQWD@3DWLHQW1DPH  /2>&+5,670$6@3DWLHQW,'  '$ QR YDOXH DYDLODEOH 3DWLHQW%LUWK'DWH  &6>P@3DWLHQW6H[ G 8,>@6WXG\,QVWDQFH8,' H 8,>@6HULHV,QVWDQFH8,'  6+ QR YDOXH DYDLODEOH 6WXG\,'  ,6>@6HULHV1XPEHU  ,6>@,QVWDQFH1XPEHU  &6 QR YDOXH DYDLODEOH 3DWLHQW2ULHQWDWLRQ  866DPSOHV3HU3L[HO  &6><%5B)8//B@3KRWRPHWULF,QWHUSUHWDWLRQ  863ODQDU&RQILJXUDWLRQ  865RZV  86&ROXPQV  86%LWV$OORFDWHG  86%LWV6WRUHG  86+LJK%LW  863L[HO5HSUHVHQWDWLRQ  &6>@/RVV\,PDJH&RPSUHVVLRQ  &6>,62BB@/RVV\,PDJH&RPSUHVVLRQ0HWKRG IH 2% 3L[HO6HTXHQFH   XO3L[HO'DWD IIIHH SL QR YDOXH DYDLODEOH ,WHP IIIHH SL II?G?II?IH??????????????????G,WHP IIIHHGG QD 6HTXHQFH'HOLPLWDWLRQ,WHP 6HTXHQFH'HOLPLWDWLRQ,WHP Abb. 5  Inhalt eines einfachen DICOM-Bilds vom Typ „Secondary Capture Image IOD“ (Beispiel) für Geräte abrufen, usw.) bedarf es eines Netzwerkprotokolls, das in DICOM Teil 7 (DICOM 2015c) und Teil 8 (DICOM 2015d) festgelegt ist. Grob gesagt baut in der Regel ein Client, genannt „SCU“ (Service Class User), eine Verbindung zum Server (SCP – Service Class Provider) auf und schlägt vor, welche Netzwerkdienste er nutzen möchte. Diese Netzwerkdienste heißen „SOP Classes“. Die „CT Image Storage SOP Class“ dient beispielsweise zur Übertragung von CT-Bildern, das heißt einer Datenstruktur, die den Anforderungen der in Abschn. 2.1 gezeigten CT Image IOD aus Teil 3 genügt. Zu jedem Dienstvorschlag kann der Client noch eine Liste von sogenannten Transfersyntax mitschicken, die jeweils angeben, wie das Bild codiert werden soll. Unter anderem bestimmt die Transfersyntax darüber, ob und gegebenenfalls wie die Pixeldaten im Bildobjekt für die Übertragung komprimiert werden sollen. Der Client kann gegenüber dem Server beim Verbindungsaufbau bis zu 128 Vorschläge für Netzwerkdienste machen, die er auf der Verbindung nutzen möchte. Jeder Einzelne wird vom Server entweder abgelehnt oder angenommen. Bei Annahme muss er eine der im Vorschlag enthaltenen Transfersyntaxen auswählen. Die Verbindung kommt nur zustande, wenn der Server mindestens einen Vorschlag unterstützt. Client und Server weisen sich gegenseitig zudem mit ihrem Namen, dem „Application Entity Title“ aus. Dieser „AE Title“ muss eindeutig für jedes DICOM-Netzwerksystem vergeben werden und im jeweiligen Netzwerk eindeutig sein. Häufig lehnen Server eine Verbindung ab, Internationale technische Standards 633 wenn der Client den Server mit dem falschen AE Title anspricht, oder der AE Title des Clients dem Server nicht bekannt ist. Der Verbindungsaufbau besteht aus „ACSE“-Nachrichten (Association Control Service Element). Die Nutzdaten werden nach dem Verbindungsaufbau über sogenannte „DIMSE“-Nachrichten ausgetauscht, von denen es verschiedene Typen gibt. Der angesprochene CT-Image-Storage-Dienst nutzt beispielsweise die C-STORE-Nachricht. Andere wichtige DICOM-Dienste, abgesehen von denen zur Bildübertragung, sind: • Modality Worklist Management (MWL): Abrufen von Arbeitslisten (Worklists) durch bildgebende Geräte, mit dem Ziel, Patientennamen und andere Details aus dem Auftrag in die DICOM-Bilder zu übernehmen, die später dann per DICOM-Storage SOP Classes ins PACS geschickt werden können. MWL greift auf die DIMSE C-FINDNachricht zurück. • Modality Performed Procedure Step (MPPS): Dienst, mit dem das bildgebende Gerät Rückmeldung geben kann, welcher Patient gerade wie behandelt wird. MPPS ist damit sozusagen das Gegenstück zur Worklist Management und informiert über den aktuellen Stand einer Untersuchung und die angefertigten Bilder. MPPS verwendet die DIMSE-Nachrichtentypen N-CREATE und N-SET. • Query/Retrieve: Sammlung von Diensten, um Bilder zu suchen und herunterzuladen. Hier kommen DIMSE C-FIND, C-MOVE oder C-GET sowie C-STORE zum Einsatz. Das DICOM-Netzwerkprotokoll stammt aus Anfang der 1990er Jahre, in denen das Internet und damit das heute allgegenwärtige HTTP-Protokoll noch nicht bekannt und verbreitet waren. DICOM hat deshalb auf einen anderen Standard namens „OSI“ (Open Systems Interconnection) gesetzt, der sich leider außerhalb von DICOM und dem Forschungsumfeld kaum Verwendung gefunden hat. Allerdings wurden die wichtigsten DICOM-Dienste inzwischen auch auf Basis von HTTP offiziell in DICOM eingeführt (DICOM 2015e) und können alternativ anstelle des althergebrachten OSI-Protokolls verwendet werden. Insgesamt beherrscht zurzeit noch das klassische OSI-Netzwerkprotokoll die DICOM-Praxis, in Zukunft könnte das alternative HTTP-Protokoll jedoch durchaus Zugewinne verbuchen. 2.3 Beispiele für weitere Dienste DICOM ist über die Jahre weit über ein Bildformat und das dazugehörige Netzwerkprotokoll hinausgewachsen. So macht DICOM z. B. auch Vorgaben, wie DICOM-Objekte über Datenträger wie CDs ausgetauscht werden können. Sogenannte „Application Profiles“ (DICOM 2015f) legen jeweils für einen bestimmten Anwendungszweck fest, welche Art von Objekten (z. B. CT Image Storage-Bilder) auf den Datenträger gespeichert werden darf. Dabei werden erlaubte Transfersyntaxen und zum Teil auch die maximale Bildgröße (z. B. 1024×1024) spezifiziert. Zudem wird genau für jedes Application Profile 634 M. Onken angegeben, welcher Art von Datenträger (CD, DVD, Blue-ray, USB-Laufwerk, …) und welches Dateisystem (ISO 9660 Level 1, UDF, usw.) genutzt werden darf. Abgesehen von der Weitergabe von Bildern und anderen Objekten ist auch die Anzeige von Bildern in DICOM ein Thema. So wurde beispielsweise Teil 14 des Standards eingeführt (DICOM 2015g), der die Kalibrierung von Bildschirmen und anderen Geräten regelt, damit dasselbe Bild auf verschiedenen Ausgabegeräten (z. B. Drucker, Befundungsmonitor und „Standard“-Monitor) einen vergleichbaren Bildeindruck beim Betrachter hinterlässt. Zudem lässt sich im Bildarchiv mittels sogenannter „Presentation States“ hinterlegen, wie bestimmte Bilder betrachtet wurden (z. B. Zoom, Rotation, Textannotationen), um diese Ansicht jederzeit herstellerübergreifend wiederherstellen zu können. Weitere verwandte DICOM-Dienste betreffen z. B. die Anordnung von Bildern auf Mehrmonitorsystemen. Ein weiterer großer Bereich von DICOM wird mit „Structured Reporting“ (SR) bezeichnet. SR basiert in erster Linie auf codierten Fakten, die miteinander (ebenfalls codiert) in Beziehung gesetzt werden. Die Codes stammen dabei größtenteils aus DICOM selbst oder anderen Terminologien wie SNOMED oder LOINC. Auf diese Weise können Messungen, Befunde aber grundsätzlich fast jede Art von Informationen abgelegt werden, die durch die Codierung (zumindest im Prinzip) maschinenauswertbar werden, das heißt ein Rechner kann die Informationen selbst „verstehen“, aggregieren, auswerten, usw. DICOM-SR-Objekte enthalten auch einen regulären DICOM Header (s. Abschn. 2.1) und können wie Bilder ebenfalls im PACS gespeichert werden. Es gibt einige generische DICOM-SR-Objekte, die dem Ersteller viele Freiheiten bei der Zusammensetzung der Knoten und ihrer Beziehungen („Dokumentenbaum“) erlauben, während andere (z. B. das Objekt für einen radiologischen Befundbericht) diese Strukturen stark mithilfe sogenannter „Templates“ einschränken, um sie für den Empfänger leichter beherrschbar zu machen. Codes und SR-Templates finden sich in Teil 16 des DICOM-Standard (DICOM 2015h). Neben thematischen Neuerungen wächst DICOM aber auch in die Tiefe, das heißt, dass auch bestehende Konzepte mit der Zeit erweitert werden. So ist es inzwischen erlaubt, Filme (z. B.) OP-Videos oder Endoskopie-Aufnahmen, MPEG-2 oder MPEG4-codiert zu speichern, indem die entsprechenden Transfersyntaxen in den Standard eingeführt wurden. Zudem überholt DICOM auch einige Objekte mit der Zeit: Die alten in 1993 definierten Formate für CT und MR-Bilder wurden z. B. den neueren Gerätegenerationen der Hersteller nicht mehr gerecht. Die alten Formate lassen sich aber nicht beliebig abändern: DICOM versucht immer abwärtskompatibel zu sein, sodass z. B. durch das Hinzufügen von verpflichtenden Daten zu den alten Formaten bestehende Geräte plötzlich ungültige DICOM-Bilder produzieren würden, da sie den nachträglich eingeführten Anforderungen nicht gerecht würden. Deshalb hat DICOM die sogenannten „Enhanced“-Bildformate eingeführt, wie „Enhanced CT“ und „Enhanced MR“, die verschiedene Probleme (zu wenig verpflichtenden Daten, nur eine Schicht pro Bildobjekt, zu wenig Codes und zu viel Freitext, …) der alten Objekte lösen. Für solche neuen Objekte und Transfersyntaxen gilt: Über das Netzwerk können sie angeboten werden Internationale technische Standards 635 und jeder Empfänger, der sie nicht beherrscht, lehnt die entsprechenden Vorschläge bei der Netzwerkaushandlung einfach ab und akzeptiert nur die alten Formate. Auf diese Weise soll die Abwärtskompatibilität gewährleistet werden. 2.4 Conformance Jeder Hersteller, der für ein System die Behauptung aufstellt, „DICOM-konform“ zu sein, muss entsprechende Details auch schriftlich in einem Dokument festhalten. Dieses Dokument heißt „Conformance Statement“ und seine Struktur wird sehr genau durch Teil 2 des DICOM-Standards („Conformance“) vorgegeben (DICOM 2015i). Es ist selbstverständlich, dass kein Produkt den DICOM-Standard mit seinen unzähligen Diensten und Optionen vollständig beherrscht; dies ist auch nicht sinnvoll. Deshalb listet jedes Conformance Statement gezielt auf, welche DICOM-Features das Produkt umsetzt. Die Kapitelstruktur und die zu hinterlegenden Inhalte werden strikt vorgegeben. Eine bestimmte Sprache wird nicht explizit vom Standard gefordert, aber in der Praxis ist alles andere als Englisch eher exotisch. Häufig hinterlegen Hersteller ihre Conformance Statement öffentlich auf der Webseite und geben es nicht nur auf Nachfrage oder sogar nur an bestehende Kunden heraus. 2.5 Weiterentwicklung des Standards Der DICOM-Standard entwickelt sich stetig weiter. Dazu werden zweierlei Änderungsdokumente erarbeitet: „Supplements“ nehmen größere Änderungen am Standard vor, während „Correction Proposals“ (CPs) kleinere Unstimmigkeiten (Tippfehler, Klarstellungen, unkritische Erweiterungen, etc.) beseitigen. Das Erstellen von Supplements, um z. B. neue Bildformate oder Transfersyntaxen einzuführen, wird immer durch eine der Arbeitsgruppen („Working Groups“) des DICOM-Standards erledigt. Nach Durchlaufen verschiedener Phasen (z. B. Entwurf und öffentliche Kommentierung) wird ein Supplement schließlich dem DICOM-Komitee zur Abstimmung übergeben. Während in den Arbeitsgruppen jeder mitarbeiten darf, besteht das Komitee nur aus zahlenden Mitgliedern, die letztendlich darüber entscheiden, ob das Supplement Teil des Standards wird oder nicht. Eine Ablehnung von Supplements bei der Abstimmung ist jedoch selten, sondern findet häufig schon im Vorfeld statt, z. B. indem der entsprechenden Arbeitsgruppe gar nicht erst ein Auftrag zur Entwicklung des Dokuments erteilt wird. CPs dagegen werden immer von der Arbeitsgruppe 6 erstellt (bzw. verwaltet) und blockweise abgestimmt. Interessant ist, dass alle erfolgreich abgestimmten CPs und Supplements sofort nach erfolgreicher Abstimmung Teil des Standards sind. Alle diese Änderungen werden einige Male im Jahr in die Gesamtfassung des Standards eingepflegt. Zurzeit ist das die Fassung „2015c“, die unter http://dicom.nema.org/ in verschiedenen Formaten 636 M. Onken heruntergeladen werden kann. Die aktuelle „Version“ des Standards ist also zurzeit 2015c plus alle seitdem erfolgreich abgestimmten Supplements und CPs. Die Seite http://www.dclunie.com/dicom-status/status.html gibt einen aktuellen und guten Überblick über den aktuellen Stand. Tatsächlich besitzt DICOM auch eine offizielle Version, nämlich seit 1993 die Version 3. Es existiert keine andere offizielle Version des Standards und es ist auch keine absehbar, sodass die offizielle Versionierung kaum dazu taugt, einen bestimmten Stand des Standards zu beschreiben. Allerdings ist eine Versionierung auch gar nicht so wichtig, da DICOM immer abwärtskompatibel bleibt, das heißt, dass ein gültiges DICOM aus dem Jahr 1993 auch heute noch valide ist. Diese Abwärtskompatibilität ist ein großer Vorteil, da viele Geräte Jahrzehnte in Einrichtungen genutzt werden, z. B. sehr teure Anschaffungen wie MR-Geräte. Gleichzeitig ist sie natürlich auch eine Bürde, da der Standard immer (trotz Aushandlung von Diensten usw.) auf einige seiner Grundprinzipien Rücksicht nehmen muss, die heutzutage nicht mehr zeitgemäß erscheinen und die heute technisch anders umgesetzt werden würden. DICOM ist 1993 als Industriestandard gestartet. Inzwischen ist DICOM jedoch auch anerkannt als Europäische Norm EN 12052 sowie als internationaler ISO-Standard IS 12052. Eine Alternative zu DICOM existiert zumindest für den Bereich der medizinischen Bildkommunikation derzeit nicht und es ist auch mittelfristig keine zu erwarten. 3 HL7 HL7 steht für Health Level 7 und ist genau genommen nicht ein Standard, sondern eine ANSI-akkreditierte Standardisierungsorganisation, die verschiedene Standards veröffentlicht hat. Die bekanntesten sind sicherlich HL7 Version 2 und Version 3, sowie der neue Standardentwurf FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources). Diese HL7-Standards sollen hier im Folgenden kurz vorgestellt werden. Alle drei Standardfamilien können kostenfrei (nach Registrierung und Akzeptieren der Lizenzbedingungen) unter http:// www.hl7.org heruntergeladen werden. 3.1 HL7 Version 2 HL7 Version 2 (häufig kurz HL7v2 genannt) ist der am weitesten verbreitete Standard von HL7 und trat 1989 in den USA zum ersten Mal in Erscheinung. Er dient in erster Linie zur Kommunikation administrativer Daten, die z. B. im Rahmen einer Patientenaufnahme oder einer Bestellung („Order“) an eine Fachabteilung anfallen. Deshalb ist HL7 auch ein Nachrichtenstandard, das heißt, die versendeten Informationen sind flüchtig und werden nach der Auswertung durch den Empfänger nicht zwangsläufig archiviert, sondern verworfen. Dies steht z. B. im Gegensatz zu DICOM-Objekten, die als „Dokument“ zur Archivierung gedacht sind. Internationale technische Standards 637 Im HL7v2-Standard sind Ereignisse („Trigger Events“) definiert (wie z. B. die Aufnahme eines Patienten), die dann jeweils eine bestimmte Nachricht auslösen. Beispielsweise existiert das Trigger Event A01 „Admit/Visit Notification“, das immer dann ausgelöst wird, wenn einem Patienten ein Bett zugewiesen wird. Das kann z. B. bei der Aufnahme des Patienten im Krankenhaus geschehen. Die durch A01 ausgelöste Nachricht wird „ADT^A01“ genannt, wobei ADT für „Admission Discharge Transfer“ steht, einer Kategorie von Nachrichten, die von Trigger-Events rund um die Aufnahme, Entlassung und den Transfer eines Patienten ausgelöst wird. Diese Nachricht, wie auch alle anderen HL7v2-Nachrichten, wird in einem Klartextformat übertragen. Sie ist immer in sogenannte Segmente unterteilt, die wiederum aus Feldern bestehen. Die Struktur ist dabei für jede Nachricht vorgegeben. Segmente und Felder sind verpflichtend oder optional, und dürfen sich teilweise sogar wiederholen. Ein Segment wird immer mit drei Großbuchstaben abgekürzt. Die ADT^01-Nachricht zur Patientenaufnahme enthält z. B. genau ein PID-Segment, für das 40 Felder definiert sind. Das 5. Feld heißt „Patient Name“ und besitzt, so wie jedes Feld, einen eindeutigen Datentyp, der die gültigen Werte für das Feld einschränkt. Im Falle des Patientennamens ist das der Datentyp „XPN“ („Extended Person Name“). Tab. 1 zeigt eine Auswahl wichtiger Segmente der ADT^A01-Nachricht und Tab. 2 den Aufbau des PID-Segments. Bei einigen Datentypen ist der Wert noch in Unterkomponenten unterteilt, die jeweils einen eigenen Datentyp besitzen. Dies ist auch beim Datentypen XPN (s. Tab. 3) der Fall, bei dem die erste (verpflichtende) Komponente beispielsweise der Familienname und die zweite der Vorname (optional) ist. Viele weitere optionale Felder (wie der Titel) folgen. Segmente werden immer über einen Zeilenumbruch voneinander getrennt. Die darin enthaltenen Felder werden über das Pipe-Symbol „|“ separiert, etwaige enthaltene Komponenten über „^“ und Wiederholungen via „~“. Tatsächlich sind alle Trennzeichen bis auf den Zeilenumbruch konfigurierbar: Sie werden in den ersten Zeichen des MSHSegments („Message Header“) angegeben, welches immer als Erstes in jeder Nachricht geschickt wird. In der Praxis ist die Angabe anderer als der angegebenen empfohlenen Trennzeichen sehr selten und würde in der Praxis wohl häufig zu Problemen bei Empfängern führen. Das nächste Beispiel zeigt eine ADT^A02-Beispielnachricht, die im Falle einer Verlegung eines Patienten gesendet wird und ähnlich zur ADT^A01 aufgebaut ist: Tab. 1  Auswahl wichtiger Segmente der ADT^A01-Nachricht Segment Beschreibung Kapitel MSH Message Header 2 EVN Event Type 3 PID Patient Identification 3 PV1 Patient Visit 3 Auszug aus der Definition der ADT^A01-Nachricht (HL7 2015a). Es werden nur die verpflichtenden Segmente gezeigt, es sind jedoch noch viele optionale Segmente definiert. Das Kapitel gibt an, wo das Segment im Standard im Detail beschrieben ist 638 M. Onken Tab. 2  Aufbau des PID-Segments SEQ DT OPT ITEM# Elementname 3 CX R 00106 Patient Identifier List 5 XPN R 00108 Patient Name 7 DTM O 00110 Date/Time of Birth 8 CWE O 00111 Administrative Sex Einige der rund 40 Felder aus der Definition des PID-Segments (Patient Identification, HL7 2015a) • SEQ: Gibt die Position innerhalb des Segments an • DT: Die zweite den Datentypen (z. B. XPN für „Extended Person Name“ und CX für „Extended Composite ID with Check Digit“). Die Datentypen werden in Kapitel 2A des HL7 Standards beschrieben • OPT: R verpflichtend anzugeben, O nur optional • ITEM#: Eindeutige Identifikation des Felds innerhalb des HL7-Standards • Elementname. Die vierte Spalte gibt den menschenlesbaren Namen des Felds an Tab. 3  Datentypen XPN SEQ DT OPT Component Name Kapitel 1 FN RE Family Name 2.A.30 2 ST O Given Name 2.A.76 4 ST O Suffix 2.A.76 ST O Prefix 2.A.76 12 5 DTM O Effective Date 2.A.22 13 DTM O Expiration Daten 2.A.22 Einige der 15 Komponenten des zusammengesetzten Datentyps XPN: Familienname, Vorname, Suffix (z. B. JR für Junior), Präfix (z. B. DR für Doktor) und Gültigkeit des Patienteneintrags (Start- und Enddatum) (HL7 2015b). Die Spalten bedeuten: • SEQ: Position der Komponente innerhalb des Feldes • DT: Datentyp (atomar, das heißt nicht zusammengesetzt), hier FN für Family Name, ST für String Data und DTM für Date/Time • OPT: Verpflichtend oder optional (RE: Auszufüllen, sofern bekannt, O Optional) • Component Name: Menschenlesbarer Name des Komponenten • Kapitel: Verweis, wo der entsprechende Datentyp im HL7-Standard nachgeschlagen werden kann MSH|^~\&|MEDOS||SAP-ISH||19990901164122||ADT^A02|13251|P|2.3|||||D| 8859/1|D EVN|A02|19990901164122|19990901140000||| PID|||A24||Morgentau^Franz^^von^^Dr.||19480412|M| PV1||I|CHI2^^^1520|||CHI1^^^1500|||||||||||||003345750034 ||K|||||||||||||||||||||||19990831080000|||||||| ZBE|615^MEDOS|19990901140000||INSERT Internationale technische Standards 639 HL7v2 ist explizit kein Plug’n’Play-Standard: Sehr viele Felder sind optional oder erfordern vorherige Absprache zwischen den beteiligten Kommunikationspartnern. Zudem ist es Herstellern möglich, eigene Segmente (sogenannte „Z-Segmente“) mitzuschicken, um Daten zu übertragen, für die HL7 keine Standardsegmente und -felder vorgesehen hat. Die abgebildete ADT^A02-Nachricht zeigt beispielsweise das in Deutschland gebräuchliche ZBE-Segment, das ansonsten nicht in HL7v2 erfassbare Details zur Verlegung dokumentiert. Auch das Übertragungsverfahren der Nachrichten wird nicht genau festgelegt. In der Praxis wird häufig das von HL7 definierte „Minimal Lower Layer Protocol“ (MLLP) verwendet, aber auch das Ablegen und Lesen von Nachrichten in Textdateien im Dateisystem (z. B. über „Shared Folder“ im Netzwerk) oder andere Varianten (sogar Austausch über Datenträger) sind weder verboten noch unüblich. Diese Flexibilität und die Tatsache, dass häufig in größeren Einrichtungen mehrere Empfänger eine bestimmte Nachricht empfangen sollen, haben in der Praxis dazu geführt, dass Sender und Empfänger oft nicht direkt miteinander kommunizieren, sondern stattdessen ein zentraler Kommunikationsserver dazwischengeschaltet wird. Diese Komponente verteilt Nachrichten entsprechend, sorgt aber insbesondere auch dafür, dass die Werte in den einzelnen Feldern jeweils so gefüllt oder gegebenenfalls transformiert werden, wie das jeweilige Empfängersystem dies erwartet. Die letzte vorgelegte Fassung ist die Version 2.8.2 aus dem Jahr 2015. In der Praxis einigen sich die Kommunikationspartner jedoch vorab häufig auch auf ältere Versionen wie HL7 Version 2.3.1 oder Version 2.5. 3.2 HL7 Version 3 HL7 Version 3 (HL7 2015c) war ursprünglich als (erweiterter) Nachfolger von HL7 Version 2 gedacht. Version 2 ist eher „pragmatisch“ entstanden und besitzt z, B. kein formales Informationsmodell, das zur Herleitung der Nachrichten verwendet wird. Dies führt u. a. zu Inkonsistenzen innerhalb des Standards. Zudem definiert Version 2 nur ein Nachrichtenformat, keine Dokumente, und verwendet ein „altmodisches“, HL7-spezifisches Textformat. Aus diesen Gründen hatte HL7 nach jahrelanger Arbeit im Jahr 2005 die Version 3 veröffentlicht, die einige dieser Mängel beheben sollte. Sie basiert auf einem formalen Informationsmodell („Reference Information Model“ – RIM), das formal modelliert und definiert wurde, und aus dem Nachrichten und Dokumentenformate abgeleitet werden. Als Format wurde XML (Extensible Markup Language) verwendet, um das alte, trennzeichenbasierte HL7v2-Textformat abzulösen. Version 3 definiert zum Teil ähnliche Nachrichten wie Version 2, ist jedoch nicht abwärtskompatibel. Das heißt, ein System, das HL7 Version 2 beherrscht, kann nicht automatisch auch HL7 Version 3 Dokumente und Nachrichten verarbeiten und umgekehrt. Leider hat sich HL7 Version 3 nicht durchsetzen können. Dies hat vermutlich mehrere Gründe: Zum einen war das RIM kaum für verständlich für Neueinsteiger und hat eine Einarbeitung in den Standard stark erschwert. Zudem haben viele Korrekturen am RIM 640 M. Onken bei vielen den Eindruck eines unfertigen Standards hinterlassen. Zudem existierte ja eine grundsätzlich funktionierende HL7 Version 2-Infrastruktur für den Nachrichtenversand, sodass ein Umstieg auf Version 3 vielen nicht als notwendig oder sinnvoll erschien. Insgesamt hat sich Version 3 in der Praxis nicht durchsetzen können und dies ist auch in der Zukunft nicht mehr zu erwarten. Es gibt jedoch eine bedeutende Ausnahme: Die HL7 Clinical Document Architecture (CDA). 3.2.1 HL7 CDA Die HL7 Clinical Document Architecture [HL7 2015d] ist ein Teil von HL7 Version 3 und dient zum Speichern und Übertragen von klinischen Informationen. Ähnlich wie bei DICOM SR können im Prinzip beliebige Inhalte via CDA bereitgestellt werden. Auch CDA setzt wie HL7v3 im Allgemeinen auf ein XML-Format. Alle CDA-Dokumente bestehen grundsätzlich aus einem Header, der Informationen zum Patienten, zur Institution usw. enthält, sowie dem Body, in dem der Großteil der zu übertragenden Informationen abgelegt wird. Ähnlich wie bei DICOM SR ist ein Ziel, Daten maschinenlesbar abzulegen, das heißt sie so abzulegen, dass ein Rechner die darin enthaltenen Informationen selbst „verstehen“ kann. Auch bei CDA wird dies über die Verwendung von Codes erreicht, die wenn möglich, häufig aus internationalen Terminologien wie LOINC entnommen werden. Bei CDA beschreitet man jedoch einen interessanten evolutionären Ansatz: Es wird akzeptiert, dass es (noch) nicht immer möglich ist, komplexe klinische Sachverhalte codiert abzulegen und beim Empfänger auszuwerten, sodass Maschinen diese verstehen und zudem für Menschen wieder verständlich aufbereiten können. Deshalb gibt es drei „Level“, die einen unterschiedlichen Grad an Codierung im Body erfordern. • CDA Level 1: Dieses Level stellt die geringsten Anforderungen an die Codierung. Menschenlesbarer Freitext ist verpflichtend, was auch bei Level 2 und 3 der Fall ist. Zudem können die darin dargelegten Sachverhalte zusätzlich codiert angegeben werden, aber es besteht dazu keinerlei Verpflichtung. • CDA Level 2: Hier ist es immerhin verpflichtend, die Überschriften der Kapitel („Sections“) eines Dokuments zu codieren, also z. B. einen Abschnitt als „Medications“ als solchen mit einem Code auszuzeichnen. • CDA Level 3: Für Level 3 müssen alle enthaltenen Inhalte nicht nur als Freitext, sondern auch in codierter Form vorliegen. Freitext und Code-Abschnitte verweisen dabei aufeinander. Die Verpflichtung, immer menschenlesbaren Freitext aufzunehmen, stellt sicher, dass Menschen die Informationen in jedem Fall korrekt interpretieren können. Ähnlich wie bei DICOM SR werden Dokumente auch in HL7 CDA häufig über „Templates“ eingeschränkt, die z. B. vorgeben, welche Sections im Dokument enthalten sein müssen, welche Werte codiert vorliegen müssen und welche Code-Schemata Verwendung finden sollen. Zusätzlich beschränken schon zahlreiche „Implementation Guides“ auf verschiedene Weise CDA für bestimmte Anwendungszwecke. Internationale technische Standards 641 3.3 HL7 FHIR FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) ist der neueste nach HL7 Version 2 und 3 von HL7 thematisch breit angelegte Anlauf, einen umfassenden Standard zum Austausch von Gesundheitsdaten zu schaffen. Zurzeit liegt ein Standardentwurf vor, der unter http://hl7.org/fhir/ kostenlos verfügbar ist5. In FHIR fließen auch Konzepte aus HL7 Version 2 und Version 3 (speziell CDA) ein. Eine Rückwärtskompatibilität ist jedoch nicht gegeben. HL7 FHIR versucht auch insbesondere die Komplexität zu vermeiden bzw. beherrschbar zu machen, die bei HL7 Version 3 (neben anderen Dingen) dazu geführt hat, dass der Standard sich in der Praxis nicht durchsetzen konnte. FHIR setzt dabei auf Ressourcen („Resources“), die Dinge oder Konzepte aus der realen Welt widerspiegeln. Dazu gehören z. B. die Ressourcen „Patient“, „DiagnosticReport“ (diagnostischer Befund), „MedicationOrder“ (Bestellung für Medikamente) und viele Dutzend weitere. Jede dieser Ressourcen hält entsprechende Werte bereit. Beim Patienten sind das beispielsweise Name, Geburtsdatum, Adresse und viele weitere. Ressourcen verweisen häufig aufeinander, um Beziehungen zwischen ihnen darzustellen. So enthält eine „DiagnosticReport“-Ressource nicht direkt Patientendaten, die zu jedem Befund dazugehören, sondern verweist stattdessen auf eine „Patient“-Ressource. Alle Ressourcen enthalten auch einen Wert „id“, welche sie gegenüber allen anderen Ressourcen desselben Typs auf dem Server (nicht weltweit) eindeutig identifiziert. Das heißt, dass eine „MedicationOrder“ und ein „Patient“ dieselbe id-Kennung haben dürfen, aber Patienten untereinander anhand ihrer id unterscheidbar sein müssen. Viele der von FHIR definierten Ressourcen sind insgesamt so gewählt, dass sie die häufigsten Anwendungsfälle im Gesundheitswesen inhaltlich abdecken sollten. Sie gehen auch größtenteils nicht in dieselbe inhaltliche Tiefe wie es andere Standards im dazugehörigen Anwendungsbereich tun. So z. B. beschreibt die „ImagingStudy“ weniger als zehn Datenelemente pro Bild, die aus dem DICOM-Standard entnommen wurden. DICOM selbst listet aber Hunderte von solchen Datenelementen auf, die ein einzelnes Bild insgesamt ausmachen können. Bestehende Standards wie DICOM zu ersetzen, ist auch nicht das Ziel von FHIR, sondern es sollen die wichtigsten Informationen daraus über Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Sehr häufig, wie in HL7 CDA aber auch in DICOM (inzwischen) üblich, werden Werte sofern möglich codiert, das heißt maschinenauswertbar abgelegt (z. B. DiagnoseCode). Zusätzlich wurde das erfolgreiche Konzept übernommen, menschenlesbaren Freitext mit aufzunehmen. Neben den einzelnen Werten, die eine Ressource beschreiben, kann auch immer Freitext für eine Ressource gespeichert werden, welcher den Inhalt der gesamten Ressource für Menschen verständlich beschreibt. Die Ressourcendefinitionen sind so ausgelegt, dass sie die häufigsten Anwendungsfälle abdecken sollen. Gleichzeitig sind aber auch Erweiterungen („Extensions“) 5http://hl7.org/fhir/. 642 M. Onken vorgesehen, die aus den Ressourcen heraus referenziert werden können, die zum Teil selbstbeschreibend sind. Durch diese Erweiterungen können auch speziellere Anwendungsfälle abgedeckt werden. Extensions werden in der Regel auf den jeweiligen Anwendungsfall zugeschnitten, werden also nicht mit FHIR mitgeliefert. Viele Werte in den Ressourcen sind optional, was dazu führt, dass eine FHIR-Umsetzung kompatibel ist, wenn sie nur die minimal verpflichtenden Daten liefert; für eine „Patient“-Ressource z. B. sind standardmäßig weder der Name noch das Geschlecht oder ähnliche Daten verpflichtend. Dies ist durchaus beabsichtigt und kann von außen über sogenannte „Profiles“ (wie z. B. auch IHE-Integrationsprofile) geändert werden, die z. B. Erweiterungen hinzufügen oder eben auch festschreiben, welcher Satz von Werten innerhalb jedes Ressourcentyps abweichend vom Standard verpflichtend sein sollen. Solche Profile werden wie auch die Extensions explizit aus den Ressourcen heraus referenziert, das heißt, die Ressourcen sichern über den Verweis auf ein oder mehrere Profile zu, diese einzuhalten. 3.3.1 Übertragung Ein besonderes Merkmal von FHIR ist der Ressourcenzugriff über moderne Webprotokolle. Eine Ressource, die auf einem Server liegt, kann über eine relativ schlanke RESTSchnittstelle („Representational State Transfer“) via HTTP abgefragt werden. Einige wichtige API-Methoden z. B. sind: • Create = HTTP POST https://krankenhaus.de/pfad/{resourceType} • Read = HTTP GET https://krankenhaus.de/pfad/{resourceType}/{id} • Update = HTTP PUT https://krankenhaus.de/pfad/{resourceType}/{id} • Delete = DELETE https://krankenhaus.de/pfad/{resourceType}/{id} • Search = GET https://krankenhaus.de/pfad/{resourceType}?searchparameters… • History = GET https://krankenhaus.de/path/{resourceType}/{id}/_history Um einen Patienten mit der Kennung „0815“ zu lesen („Read“), ist also ein HTTP GET-Zugriff auf die URL https://krankenhaus.de/path/Patient/0815 notwendig. Eine Aktualisierung (z. B. Namensänderung nach Heirat) erfordert ein HTTP PUT-Zugriff auf dieselbe URL, bei dem der aktualisierte Datensatz mitgeschickt wird. Der „pfad“Anteil kann natürlich von FHIR-Server zu FHIR-Server unterschiedlich sein. Neben dem Zugriff auf bestimmte Ressourcen (das heißt beispielsweise einen spezifischen Patienten) sind auch REST-URLs für Suchen definiert. Außerdem können FHIR-Server anbieten, alte Versionen der Ressource abfragbar zu machen („History“). Das bei der Übertragung verwendete Datenformat wird ebenfalls von FHIR festgeschrieben: Entweder wird eine XML- oder aber JSON-Struktur (JavaScript Object Notation) verwendet. Beides ist gleichermaßen zugelassen. Das folgende Beispiel6 zeigt einen Patienten (also Ressourcentyp „Patient“) im JSON-Format: 6http://hl7.org/fhir/overview-dev.html. Internationale technische Standards { "resourceType": "Patient", "id" : "23434", "meta" : { "versionId" : "12", "lastUpdated" : "2014-08-18T15:43:30Z" } "text": { "status": "generated", "div": "" }, "extension": [ { "url": "http://example.org/consent#trials", "valueCode": "renal" } ], "identifier": [ { "use": "usual", "label": "MRN", "system": "http://www.goodhealth.org/identifiers/mrn", "value": "123456" } ], "name": [ { "family": [ "Levin" ], "given": [ "Henry" ], "suffix": [ "The 7th" ] } ], "gender": { "text": "Male" }, "birthDate": "1932-09-24", "active": true } Quelle: http://hl7.org/fhir/overview-dev.html (Letzter Zugriff: 01.01.2016) 643 644 M. Onken 3.3.2 Ausblick FHIR ist noch kein fertiger Standard, sondern ein sogenannter DSTU (Draft Standard for Trial Use), der aktuell in der Version 2 (DSTU2) vorliegt. Das heißt bis zu einer ersten normativen Version, deren Veröffentlichung bisher für 2017 geplant ist7, können noch Änderungen vorgenommen werden. Dennoch sind Software-Entwickler auch jetzt schon explizit aufgerufen, den Standard zu testen und prototypisch einzusetzen. Tatsächlich existiert bereits eine Vielzahl von Umsetzungen in verschiedenen Programmiersprachen8, die häufig auch als Open Source kostenlos veröffentlicht worden sind. Dies liegt vermutlich einerseits an der ausgezeichneten und frei verfügbaren Dokumentation, aber auch daran, dass viele Softwareentwickler bereits Erfahrungen mit HTTP, REST, XML und JSON haben. Gerade die offenbar einfache Umsetzung des Standards in die Praxis ist von FHIR beabsichtigt und macht den Standardentwurf zu einem starken Trendthema in den letzten Jahren und setzt sich gemessen an der Popularität bereits stark von HL7 Version 3 (Ausnahme: CDA) ab. Auch einige IHE-Integrationsprofile, die bisher größtenteils auf HL7 Version 2 setzen, sind inzwischen alternativ auch in einer „FHIR-Version“ erschienen. Die Zukunft wird zeigen, ob FHIR auch in der Praxis, das heißt in der Produktivumgebung, großflächig zum Einsatz kommen wird. Literatur Clunie D (2016) DICOM Standard Status – http://www.dclunie.com/dicom-status/status.html. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 DICOM (2015a) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.3: 2015c Information object definitions © 2015 NEMA DICOM (2015b) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.4: 2015c Service class specifications © 2015 NEMA DICOM (2015c) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.7: 2015c Message exchange © 2015 NEMA DICOM (2015d) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.8: 2015c Network communication support for message exchange © 2015 NEMA DICOM (2015e) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.18: 2015c Web services © 2015 NEMA DICOM (2015f) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.11: 2015c Media storage application profiles © 2015 NEMA DICOM (2015g) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.14: 2015c Grayscale standard display function © 2015 NEMA DICOM (2015h) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.16: 2015c Content mapping ressource © 2015 NEMA DICOM (2015i) Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Standard, PS3.16: 2015c Conformance © 2015 NEMA 7http://hl7.org/fhir/timelines.html. 8Teilweise gelistet unter http://hl7.org/fhir/downloads.html. Internationale technische Standards 645 HL7 (2015a) Health Level Seven Standard Version 2.8.2 – an application protocol for electronic data exchange in healthcare environments chapter 3: Patient administration. September 2015 HL7 (2015b) Health Level Seven Standard Version 2.8.2 – an application protocol for electronic data exchange in healthcare environments chapter 2a: Data types (control continued). September 2015 HL7 (2015c) HL7 Version 3 Normative Edition, 2015 Weiterführende Literatur Health Level Seven International – Downloads – FHIR v.1.0.2 – http://hl7.org/fhir/downloads. html. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Health Level Seven International – Homepage: http://www.hl7.org. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Health Level Seven International – Index – FHIR v.1.0.2 – http://hl7.org/fhir/. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Health Level Seven International – Overview-dev – FHIR v.1.0.2 – http://hl7.org/fhir/overviewdev.html. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Health Level Seven International – Timelines – FHIR v.1.0.2 – http://hl7.org/fhir/timelines.html. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 IHE – Integrating the Healthcare Enterprise – http://www.ihe.net. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 IHE – Integrating the Healthcare Enterprise: IHE product registry – http://product-registry.ihe.net. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 IHE – Integrating the Healthcare Enterprise: IHE Connectathon Results Browser – http://connectathon-results.ihe.net. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 IHE (2015a) Integrating the healthcare enterprise (IHE): IT infrastructure technical framework revision 12.0, Bd 1: Integration profiles, September 2015 NEMA (National Electrical Manufacturs Association) DICOM Standard Download – http://dicom. nema.org/. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 Über den Autor Michael Onken gründete mit einem Kollegen 2013 die Open Connections GmbH in Oldenburg. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die DICOM-Beratung und Schulungen zu IHE und HL7 sowie die Softwareentwicklung. Kontakt: onken@open-connections.de Nationale ambulante Standards Karl-Josef Bohrer 119.405 Installationen (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2014) von zur Abrechnung durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zugelassenen Arztinformationssystemen (AIS) basierend auf 172 unterschiedlichen Produkten von 149 Softwareanbietern – eingesetzt von 164.947 Vertragsärzten und Psychotherapeuten mit Millionen behandelten Patienten pro Jahr – allein schon diese Dimensionen machen deutlich, wie wichtig Standards sind. Nur mit Standards ist es möglich, ohne einen erheblichen individuellen Aufwand z. B. Daten von einem medizinischen Gerät an ein AIS zu übertragen oder gar den vollständigen Datenbestand eines AIS an ein anderes AIS zu übergeben, z. B., weil der ursprüngliche Anbieter nicht länger am Markt ist. Im Nachfolgenden soll die Entstehung wichtiger heute existierender Standards, einige ihrer Strukturelemente sowie Aspekte zukünftiger Entwicklungen dargestellt und aufgezeigt werden. K.-J. Bohrer (*)  Qualitätsring Medizinische Software e.V., Albersweiler/Weinstraße, Deutschland E-Mail: bohrer@gmxpro.net © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_33 647 648 K.-J. Bohrer 1 Wie alles begann: ADT (Abrechnungsdatenträgeraustausch später Datentransfer)/KVDT (Kassenärztliche Vereinigung Datentransfer)1 1.1 Entstehung des ADT Der ADT als bundeseinheitliche Datensatzbeschreibung zur Erstellung der KV-Abrechnung wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in den Jahren 1986/1987 erarbeitet und ging mit der Datensatzbeschreibung ADT 03/89 in den Echtbetrieb. Mit Inkrafttreten des ADT 03/89 konnten erstmalig bundeseinheitlich die Abrechnungen per EDV erstellt und per Diskette an die jeweilige regional zuständige Kassenärztliche Vereinigung übergeben werden. 1.2 Bedeutung des ADT für die Standardisierung Die entscheidende Bedeutung des ADT lag darin, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Erfüllung ihrer Aufgaben einerseits mit erheblichem Aufwand eine einheitliche Satzbeschreibung erstellt und ergänzend durch Prüf- und Zertifizierungsverfahren die korrekte Anwendung dieser Datensatzbeschreibung durch die Hersteller von Arzt-EDVSystemen sichergestellt hat. Die Erteilung der „KBV-Zulassung“ war für die Softwareanbieter der Ritterschlag und zwingende Voraussetzung für einen Markterfolg. In der Folge haben quasi alle Anbieter von Arzt-EDV-Systemen diese Datensatzbeschreibung in ihren Systemen realisiert und waren somit mit dieser vertraut. Die weiteren hier dargestellten Standards hätten sich ohne den ADT sicher so nicht entwickeln können. 1.3 Aufbau des ADT Im ADT bildet jedes Feld im Grunde einen eigenen Satz. Es enthält die Elemente Länge, Feldkennung, Feldinhalt und Feldende. Die einzelnen Felder haben alle einen eindeutigen Namen in Form einer numerischen Feldkennung. Es gibt Felder mit in der Größe feststehenden Feldinhalten sowie Felder mit variabler Länge, welche durch die vorangestellte Feldlänge beschrieben werden (Abb. 1). Darüber hinaus werden als Endemarkierung eines Feldes die ASCII Werte 13 und 10, gleichbedeutend mit Carriage 1Kassenärztliche Bundesvereinigung – IT in der Arztpraxis Installationsstatistik Systeme Stand 31.12.2014 http://www.kbv.de/media/sp/Gesamt_Systeme_Installationen.pdf [15.12.2015]. Nationale ambulante Standards 649 Abb. 1  Satzaufbau ADT return und Linefeed, verlangt. Jedes Feld hat die gleiche Struktur. Alle Informationen sind als ASCII-Zeichen dargestellt. Gemäß der Feldkennung wird der zugehörige Eintrag der Feldtabelle herangezogen. Die Länge eines Feldes beträgt immer: Feldinhalt + 9. Struktur eines Datenfeldes: Länge 3 Bytes Feldlänge in Bytes Kennung 4 Bytes Feldkennung Inhalt variabel Abrechnungsinformationen Ende 2 Bytes ASCII-Wert 13 = CR(Wagenrücklauf) + ASCII-Wert 10 = LF (Zeilenvorschub) Die einzelnen Felder des ADT sind zu ganzen anwendungsorientierten Sätzen zusammengefasst. Dabei widerspiegeln die Sätze im Wesentlichen die bis dahin papierene Datenwelt, den Abrechnungsschein in allen seinen Varianten. Die Zusammenhänge zwischen den Feldern sind in Regeltabellen dargestellt. Schlüsseltabellen definieren den Wertevorrat der einzelnen Feldinhalte (Salzwedel und Rehder 2010; Bärwolf et al. 2006). Die ADT-Satzbeschreibung bzw. die darin definierten Inhalte sind aufgrund regelmäßiger Änderungen politischer Rahmenbedingungen oder der Vereinbarungen zwischen KBV und Krankenkassen einem ständigen Wandel – in der Regel quartalsweise – unterworfen. Der zuvor angegebene Aufbau erlaubt dabei relativ einfach Veränderungen zu implementieren, zumal eine Analyse der entstandenen Dateien jederzeit mittels Texteditor möglich war. 1.4 Die Weiterentwicklung zum KVDT Am 1. Juli 1999 wurde eine von Grund auf überarbeitete Version der ADT-Schnittstelle (Abkürzung für AbrechnungsDatenTransfer) in den Arztpraxen eingeführt, der sogenannte KVDT (Abkürzung für KV-DatenTransfer). Ein wichtiges Ziel dieser Weiterentwicklung war es, Arbeitsprozesse beim Datenaustausch zwischen Arztpraxis und Kassenärztlichen Vereinigungen zu optimieren, weitestmöglich zu digitalisieren und damit Aufwand zu reduzieren (Mohr 1999). Ein vollständig überarbeitetes Prüfmodul konnte erweiterte Prüfungen der Abrechnungsdaten bereits in der Praxis durchführen und bei der Erstellung einer fehlerfreien Abrechnung noch besser unterstützen. Erstmalig erzeugte das Prüfprogramm der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auch eine Statistik zu den abgerechneten Gebührennummern und ermöglichte der Praxis damit Vergleiche zu den Statistikdaten aus ihren AIS. 650 K.-J. Bohrer Das optimierte Kryptomodul ermöglicht seitdem die mit dem KVDT zwingend vorgeschriebene Verschlüsselung der Abrechnungsdaten. Verbesserte Stammdatendateien z. B. zu Kostenträgern und Abrechnungsbesonderheiten der verschiedenen Kassenärztlichen Vereinigungen halfen zusätzlich, Fehler und damit Aufwand zu reduzieren. Heute ermöglicht der KVDT in einem Container-Modell Abrechnungsdaten (ADT), Kurärztliche Abrechnungsdaten (KADT) sowie Abrechnungsdaten zum Schwangerschaftsabbruch NRW (SADT) an die Kassenärztliche Vereinigung zu übertragen. Anstelle der Abrechnung via Diskette ist seit 2011 die Onlineabrechnung grundsätzlich Pflicht. Seit 2015 ist dafür das sichere Netz der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV Safenet) zu nutzen. 1.5 Zertifizierung Der Einsatz von AIS zur Abrechnung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen ist nur nach Durchführung eines Prüfungsverfahrens bei der KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2015) und Erhalt eines entsprechenden Prüfzertifikats möglich (sogenannte KBV-Zulassung). Dieses kann auch bei z. B. im Rahmen von Abrechnungen festgestellten Fehlern wieder entzogen werden. Darüber hinaus veröffentlich die KBV regelmäßig Übersichten zugelassener Systeme (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2016). 2 Gerätedatenträger GDT 2.1 Entstehung des GDT Vor dem Hintergrund der immer größeren Verbreitung der Arzt-EDV-Systeme entstand auch die Forderung, medizintechnische Geräte wie EKG, Lungenfunktionsgeräte etc. an die vorhandene Praxis-EDV anzuschließen und Daten zwischen AIS und Gerät auszutauschen. Dieser Aufgabe hat sich der Qualitätsring Medizinische Software angenommen und beginnend 1995 mit der Version 1.0 des GDT in mehrjähriger ehrenamtlicher Arbeit der Mitwirkenden im Jahre 2001 die Version 2.1 des GDT fertiggestellt, welche noch heute den Standard für die Anbindung medizinischer Geräte an AIS darstellt. In 2015 wurde vom GDT-Arbeitskreis die Version 3.0 des GDT fertig gestellt (Mainz 2015) Auf diese wird später ergänzend eingegangen. Änderungszyklen im Bereich medizintechnischer Geräte sind sehr viel länger als im reinen IT-Umfeld. Dies ist zum einen auf regulatorische Anforderungen wie Prüfungsverfahren bei Medizinprodukten zur Sicherstellung der Patientensicherheit zurückzuführen. Des Weiteren sind Updates bei nicht PC-gestützten Systemen, wie sie in der Medizintechnik durchaus noch vorhanden sind, sehr viel aufwendiger und werden daher auch seltener realisiert. Somit sind Verbreitungsgrad der Schnittstelle auf AIS-Seite und langfristige Nationale ambulante Standards 651 Stabilität sowie größtmögliche Abwärtskompatibilität einer Schnittstelle wesentliche Anforderungskriterien, damit der Invest eines Medizintechnikanbieters in die Realisierung einer Schnittstelle aus dessen Sicht sinnvoll ist und tatsächlich realisiert wird. 2.2 Zielsetzung des GDT Die Schnittstelle (Gerätedatenträger – GDT) ist dazu ausgelegt, geräte-, hersteller- und fachgruppen-neutral die Kommunikation zwischen AIS und medizinischen Geräten zu ermöglichen. Sie kann sowohl von Standalone-Geräten, wie auch von PC-gestützten Messgeräten realisiert werden. Sofern eine direkte Kommunikation gemäß dieser Beschreibung technisch nicht realisierbar ist (z. B. ältere Standalone-Geräte mit herstellerspezifischer Schnittstelle), so wird erwartet, dass der Gerätehersteller ein geeignetes GDT-Treiberprogramm zur Verfügung stellt. Aufgrund der Internationalität der Nutzer des GDT liegen alle Datensatzbeschreibungen sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch vor. 2.3 Aufbau des GDT 2.3.1 Kommunikationsweg Die Kommunikation im Rahmen des GDT kann auf drei Wegen erfolgen. 1. Via Datei-Schnittstelle, das heißt, die Kommunikation zwischen Gerät und AIS erfolgt über GDT-Dateien, welche in einem definierten Verzeichnis unter einem definierten Namen angelegt werden. Dabei erfolgt die Verarbeitung durch den Empfänger sortiert nach Datum/Zeit (FIFO). Dieser löscht nach dem Lesen auch die erhaltene Datei. 2. Über serielle Schnittstelle, das heißt, das angeschlossene Gerät (oder auch ein zwischengeschaltetes Treiberprogramm) kommunizieren über eine serielle Schnittstelle mit dem AIS. 3. Via Programm-Schnittstelle, das heißt, Gerät und AIS kommunizieren z. B. über Clipboard, DDE, OLE, UNIX-Pipes und Ähnliches. Da alle Nachrichten als GDT-Sätze übermittelt werden, ist das verwendete Datenformat unabhängig vom Kommunikationsweg. 2.3.2 Kompatibilitätsprüfung Kommunikation Gerät – EDV Es ist grundsätzlich erforderlich, dass mindestens einer der beteiligten Kommunikationspartner (in der Regel das AIS) als „Server“ arbeitet, das heißt auf Anfragen wartet und diese bearbeitet. Ebenso muss mindestens eine Komponente (in der Regel das Gerät) als „Client“ arbeiten, das heißt Anfragen und Kommandos versenden können. Weitere Mischformen Client/Server sind möglich. 652 K.-J. Bohrer GDT-fähige Geräte erhalten daher eine Schnittstellenkennzeichnung, anhand derer überprüft werden kann, ob zwei Komponenten sowohl hinsichtlich des Kommunikationsweges als auch hinsichtlich der geforderten Eigenschaft Client/Server miteinander kommunizieren können. 2.3.3 Satzarten Der GDT kennt lediglich die nachfolgenden fünf Satzarten und ist damit sehr einfach strukturiert: 6300 Stammdaten anfordern, 6301 Stammdaten übermitteln, 6302 Neue Untersuchung anfordern, 6310 Daten einer Untersuchung übermitteln sowie 6311 Daten einer Untersuchung zeigen. In der Regel gelten dabei folgende Kommunikationsrichtungen zwischen AIS und Medizingerät (MG): 6300: MG->AIS – Medizingerät fordert Stammdaten vom AIS an (erfordert 6301 als Antwort) 6301: AIS->MG – AIS übermittelt Stammdaten 6302: AIS->MG – AIS fordert Untersuchung von Medizingerät an 6310: MG->AIS – Medizingerät übermittelt Untersuchungsdaten an AIS 6311: AIS->MG – AIS zeigt Daten einer Untersuchung auf dem Medizingerät 2.3.4 Beispiele zur GDT-Kommunikation In Abb. 2 und 3 sollen an zwei Beispielen typische GDT-Kommunikationsszenarien dargestellt werden. Abb. 2   Serielle GDTKommunikation Nationale ambulante Standards 653 Abb. 3  Kommunikation zwischen Praxis-EDV und Lungenfunktions-Messplatz 2.3.5 Weiterentwicklung GDT 3.0 Nachdem erste Ansätze zur Weiterentwicklung des GDT in Richtung XML Anfang des neuen Jahrtausends mangels Interesse bei den Beteiligten nicht weiter vorankamen, wurde 2011 – parallel zu den Arbeiten am BDT 3.0 – ein neuer Anlauf zur Weiterentwicklung vom GDT-Arbeitskreis unter der Leitung von Ralf Franke gestartet. Verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zu Medizingeräten einerseits, die Veränderungen in 654 K.-J. Bohrer den Praxisstrukturen andererseits und zudem Kompatibilitätserfordernisse mit den anderen XDT-Standards machten diesen Schritt zwingen notwendig. Dabei waren aufgrund des eindeutigen Use Cases und der notwendigen weitestgehenden Abwärtskompatibilität keine revolutionären Veränderungen möglich – aber auch nicht erforderlich. Wesentliche Neuerungen beinhalten: • • • • Einziger Zeichensatz ISO 8859-15 wegen Zeichenvorrat der eGK optional Variable Feldlängen durch Setzen „000“ anstatt der Feldlänge Modularisierung durch Bildung von Objektgruppen Online-Checker/Prüfung und somit einfache Überprüfung auf Einhaltung der Regeln, höhere Sicherheit bei Neuimplementierung und höhere Akzeptanz des Standards Einführung zeitversetzter bzw. örtlich getrennter Bearbeitung, also Batch Processing gegebenenfalls sogar praxisübergreifend • Neuer Datensatz 6303 Stornierung von Aufträgen • Definition von typischen Workflows und damit Veranschaulichung von Abläufen und Vereinfachung von Absprachen zwischen den Parteien Der GDT 3.0 ist am 01.10.2013 in Kraft getreten. 2.3.6 Zertifizierung Der QMS e. V. bietet für den GDT 2.1 eine Eigenzertifizierung mittels eines Onlineprüfmoduls sowie ein Offlineprüfmodul für den GDT 3.0 an (Qualitätsring Medizinische Software e. V. 2001 und 2013). 3 Labordatenträger LDT 3.1 Entstehung des LDT Der „LDT-Datensatz (Labor Daten Transfer)“ wurde Ende der 80er Jahre noch unter seinem vorherigen Namen „Bonner Modell“ von Betroffenen aus dem Laborsektor mit dem Ziel geschaffen, die seinerzeit aufkeimende elektronische Datenübermittlung mit einem standardisierten Protokoll zu ermöglichen und dann im zweiten Schritt Mitte der 90er als LDT 1.0 von der KBV als verbindlicher Standard für die Labordatenkommunikation im Bundesmantelvertrag festgeschrieben. Nach einer Revision in 2001 als LDT 2.0, der im Wesentlichen neben den bis dahin ausnahmslos vorhandenen Ergebnisdatensätzen erstmals auch Auftragsdatensätze vorsah, hat diese Standarddatenschnittstelle seit nunmehr eineinhalb Jahrzehnten ohne grundlegende Anpassungen ihren Dienst zuverlässig verrichtet. Nationale ambulante Standards 655 Wenn man bedenkt, dass jeden Tag die Ergebnisse von bis zu einer Mio. Laboraufträgen von GKV-Versicherten in Deutschland damit übertragen werden, dann kommt man auf die unvorstellbare Zahl von ca. vier Mrd. LDT-Datensätzen seit Beginn dieses Jahrtausends. Gerade in den letzten Jahren gab es jedoch eine signifikante Weiterentwicklung im Laborbereich, diesen gestiegenen Anforderungen konnte der mittlerweile in die Jahre gekommene LDT 2.0 nicht mehr genügen. Die Architektur führte dazu, dass zum Teil wesentliche Inhalte des Datenaustauschs zwischen Laboren und Einsendern nicht mehr oder nur unzureichend präzise übertragen werden konnten. Darüber hinaus fallen bestimmte Themenbereiche nicht in die Verantwortlichkeit der KBV und wurden daher nur eingeschränkt behandelt. So waren Hausarztverträge, Selektivverträge und Privatabrechnungen nicht oder nur unter Zweckentfremdung vorhandener Strukturen abbildbar. Eine Übergabe von Patienten- und Versichertendaten und Worklist-Steuerungen von Laborgeräten beispielsweise POCT war nicht vorgesehen. Eine Anlage von Teilaufträgen, Nachforderungen und die Abbildung verschiedener Abrechnungsformen in einem Laborauftrag waren nicht möglich (Anmerkung: Der Patient möchte ja nicht drei Mal Blut abgeben, nur damit eine Abrechnung möglich ist, obwohl einmal Blut für die Untersuchung reicht). Zudem sind keine ergänzenden Bilddaten vorgesehen (Diagramme, Fotos, etc.). In einer beispiellosen Initiative haben Laborsoftware- und Praxiscomputeranbieter, einzelne Labore, die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie der QMS e. V. dieses Manko aus der Welt geschafft, indem zwischen September 2012 und Oktober 2015 der LDT komplett überarbeitet und an wichtigen Stellen erweitert wurde. Der LDT 3.0 ist das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengung von Fachleuten aus ganz Deutschland. Hiermit steht die Schnittstelle in der endgültigen Fassung als ganzheitlicher Datenstandard für die Laborkommunikation zur Verfügung, wobei die KBV die Verantwortung für den GKV-Teil (Gesetzliche Krankenversicherung) im LDT 3.0 trägt und der QMS für den Nicht-GKV-Part. 3.2 Zielsetzung des LDT Der LDT ermöglicht die Übertragung von Aufträgen und Befundberichten zwischen Auftraggebern und Laboren bzw. Einsendepraxen. Darüber hinaus kann er auch innerhalb eines Labors in Teilprozessen zur Leistungsanforderung oder Befundrückübermittlung zur Anwendung kommen. 3.3 Unterschiede zum vorherigen LDT Der LDT 3.0 (im Weiteren LDT genannt) bildet in seiner jetzigen Version einen deutlich umfangreicheren Bereich von Prozessen ab, welche bei der Kommunikation zwischen 656 K.-J. Bohrer Einsendern und Laboren bzw. zwischen Laboren im Rahmen von diagnostischen Anforderungen auftreten können. Dabei wurden Satzarten erweitert und Objekte bereitgestellt, mit deren Hilfe neben den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auch Selektivverträge, Leistungen der privaten Krankenversicherung und sonstige Laborleistungen abgebildet werden können. Ebenso ist eine Nutzung des LDT von nichtmedizinischen Einrichtungen möglich, sofern eine elektronische Kommunikationsverbindung zwischen Auftraggeber und Labor besteht. Ein grundlegender Unterschied besteht auch in der Herangehensweise bezüglich Probenmaterial und Untersuchung. Bislang wurde einer gewünschten Untersuchung das dafür benötigte Material zugeordnet. Mit dem LDT 3.0 wird immer zuerst das vorhandene Material definiert und darauf aufbauend die dazu möglichen Untersuchungen zugeordnet. Damit wird von vornherein klar definiert, welche Untersuchungsanforderungen aus diesem Material zu realisieren sind und es kann gegebenenfalls mit weniger Probenmaterial ausgekommen werden. Darüber hinaus ist erstmalig jeder angeforderten Untersuchung eine eigene Abrechnungsart zuordenbar. Somit können in einem Laborauftrag und gegebenenfalls nur einer Probe Untersuchungen mit verschiedenen Abrechnungsformen durchgeführt werden. Weiterhin wurde mit dem LDT 3.0 eine objektorientierte Struktur eingeführt, in welchem Objekte konkrete Inhalte beschreiben und gleiche xDT-Inhalte gleiche Objekte bedeuten. Dies vereinfacht die Gesamtstruktur erheblich. Ebenso sind die Anforderungen der „Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung labormedizinischer Untersuchungen – RiliBÄK“ in die LDT 3.0 Satzbeschreibung eingeflossen. Eine Weiterentwicklung des LDT 3.0 in Richtung IHE und XML ist grundsätzlich angedacht. Neben den inhaltlichen Unterschieden ergeben sich noch die in Abb. 4 dargestellten Unterschiede hinsichtlich der Kommunikation der LDT-Daten. 3.4 Aufbau des LDT Grundsätzlich ist der Aufbau des LDT analog zum ADT zu sehen. Ein LDT-Datenpaket ist in Sätze unterteilt. Ein Satz ist unterteilt in Objekte und/oder in Felder. Ein Objekt ist wiederum unterteilt in Felder und/oder Objekte. Ein Feld ist die kleinste Einheit eines Datenpaketes. Es besteht identisch zum ADT aus Längenangabe des Feldes, Kennung (Feldbezeichnung), Feldinhalt, Feld-Ende-Markierung (CR,LF). Die LDT-Spezifikation liefert die Satztabellen LDT, die Feldtabelle LDT (Untermenge des Feldkataloges XDT des QMS), die Regeltabelle LDT, den Objektkatalog LDT (Untermenge des Objektkataloges XDT des QMS) sowie Use-Case-Beschreibungen. Als wichtige Änderung wurde mit der Neufassung der XDT-Kataloge eine neue Kategorie von Feldkennungen, die Objektattribute, eingeführt. Die Objektattribute verstehen sich als Feldkennungen, denen jeweils das Objekt folgen muss, auf das verwiesen wird. Nationale ambulante Standards 657 Abb. 4  Kommunikation im LDT. (KV Telematik GmbH) Mit der Einführung der Objektattribute wird es möglich, den Kontext eines Objektes zu erkennen, ohne den gesamten Inhalt des Objektes eingelesen zu haben. Daraus ergibt sich folgende Struktur für den Aufbau des Datensatzes für die Satzart 8220 (Beispiel s. Abb. 5). 3.5 Workflow Labor Abb. 6 veranschaulicht den Prozess des Workflows im Zusammenhang mit labormedizinischen Untersuchungen, ohne dabei alle vorstellbaren Kombinationen darzustellen. Hieraus wird die komplexe Struktur sowohl externer als auch laborinterner Kommunikation deutlich. 3.6 Zertifizierung Die Zertifizierung des GKV-Teils des LDT 3.0 erfolgt durch die KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2015). Neuzertifizierungen ab 2016 erfolgen ausschließlich gem. LDT 3.0. Altzertifizierungen gem. LDT 2.0 müssen bis Ende 2017 aktualisiert werden. 658 Abb. 5  Beispiel LDT Datensatz und Objektattribute. (QMS) K.-J. Bohrer Nationale ambulante Standards 659 Abb. 6  Prozess Laborkommunikation. (KV Telematik) Die Zertifizierung des Nicht-GKV-Teils des LDT 3.0 (u. a. IGEL-Leistungen, Leistungen nach GOÄ (Privatpatienten), Selektivverträge, „nicht-humane“ Laboruntersuchungen) erfolgt durch den QMS. Das Zertifizierungsverfahren befindet sich derzeit in der Entwicklung und wird ab erstem Halbjahr2016 durchgeführt werden können. Ein Prüfmodul zur Unterstützung der Softwareanbieter steht zur Verfügung. 4 Behandlungsdatenträger BDT 4.1 Entstehung des BDT Der BDT wurde Anfang der 90er Jahre nach Vorarbeiten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Gilbert Mohr) vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) durch Friedrich Lichtner und Jürgen Sembritzki zu Ende entwickelt. Eine finale Datensatzbeschreibung lag in 2/94 vor (Lichtner und Sembritzki 1994). Auf Grundlage dieser Datensatzbeschreibung konnten sich AIS als BDT-konform durch das ZI zertifizieren lassen. Diese Zertifizierung erfolgte bei gemeinsamen Terminen mehrerer AIS-Anbieter beim ZI mit Datenexport und -Import zwischen realen Systemen und der Beurteilung der Qualität dieser Funktionalitäten. 660 K.-J. Bohrer 4.2 Zielsetzung des Ur-BDT 1994 nahm die Ausstattung der Arztpraxen mit IT allmählich Fahrt auf. Veränderungen in der Anbieterlandschaft – auch angesichts des Aufkommens der ersten Windows-Systeme – zeichneten sich ab. Der BDT sollte es ermöglichen, dass alle Daten eines AIS vollständig aus diesem exportiert und ohne Inhaltsverlust in ein anderes AIS importiert werden konnten. Zertifizierte AIS-Anbieter konnten dadurch mit einem zusätzlichen Sicherheitsargument werben. Einem Arzt vor einer Entscheidung für eine EDV-Lösung konnte weiterhin damit die – nicht selbstverständliche – Entscheidung zugunsten der EDV erleichtert werden. 4.3 Neuaufnahme des Themas BDT in 2011 durch den QMS Der BDT wurde seit 1994 nicht wesentlich weiterentwickelt. Ergänzende Spezifikationen gab es zwar noch zur BDT-Tumordokumentation sowie der BDT-Diabetesdokumentation. Final hat jedoch das ZI entschieden, den BDT nicht weiterzuentwickeln. Ab 2011 hat dann der QMS in Absprache mit der KBV und dem ZI beschlossen, dass Thema BDT erneut anzugehen und den BDT einer grundlegenden Überarbeitung zu unterziehen. Diesem Thema hat sich der BDT-Arbeitskreis des QMS unter Leitung von Reinhold Mainz verschrieben. 4.4 Zusätzliche Zielsetzungen für den BDT ab 2011 Die bisherige Zielsetzung, im Falle eines Wechsels des AIS-Systems alle Daten in ein neues System übernehmen zu können, wurde beibehalten. Ergänzend wurde als Zielsetzung aufgenommen, den kompletten Datenbestand eines AIS systemneutral archivieren zu können, um es einem ärztlichen AIS-Anwender zu ermöglichen, seinen rechtlichen Aufbewahrungs- und Archivierungspflichten – auch z. B. nach Aufgabe der Praxis – nachkommen zu können. Möglicherweise wird es hier BDT-Browser geben, die einen einfachen Zugriff auf solchermaßen archivierte Daten erlauben, ohne dass ein Einlesen der Daten in andere Systeme erforderlich ist. Weiterhin wurden Möglichkeiten vorgesehen, einzelfallbezogene Übermittlungen von aktuellen, zweckbezogen bestimmten, patientenbezogenen Daten eines einzelnen Behandlungsfalls vorzunehmen oder auch nach Zeitraum und Inhalt definierte Daten anstelle des Gesamtdatenbestandes zu exportieren und zu kommunizieren. Der BDT entwickelt sich somit weiter – hin zu einem Kommunikationsstandard, über welche beliebige und im Einzelfall zu definierende Daten von einem zu einem anderen System kommuniziert werden können. Unterstützung erfährt der BDT – ohne explizit genannt zu werden – durch nachfolgende Entwicklungen: Nationale ambulante Standards 661 Bereits der 116. Deutsche Ärztetag hat 2013 in einer Entschließung gefordert: „Software für Arztpraxen muss offene, dokumentierte und für den Arzt frei nutzbare Schnittstellen enthalten. Diese müssen die Möglichkeit eröffnen, den gesamten Bestand der gespeicherten Daten zu exportieren und eine einfache und kostengünstige Migration zu einer Software eines anderen Anbieters durchzuführen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird gebeten, sich für eine entsprechende gesetzliche Regelung einzusetzen sowie in Kooperation mit ärztlichen und Industrieverbänden geeignete technische Spezifikationen für Schnittstellen und Formate zu entwickeln und für die Hersteller verbindlich festzulegen.“2 Des Weiteren hat diese Forderung Eingang in das sogenannte E-Health-Gesetz gefunden. § 291d Sozialgesetzbuch Band V „Integration offener Schnittstellen in informationstechnische Systeme“ legt nunmehr gesetzlich fest, dass informationstechnische Systeme, welche Patientendaten beinhalten, baldmöglichst über offene und standardisierte Schnittstellen zur systemneutralen Archivierung bzw. für einen Systemwechsel verfügen müssen3. Ergänzend werden auch die Regelungen des § 291e SGB V „Interoperabilitätsverzeichnis“ mit der darin beinhalteten Forderung nach Förderung der Interoperabilität zwischen informationstechnischen Systemen dazu beitragen, dass die Bedeutung des BDT erheblich zunimmt. Und nicht zuletzt wird die sichere Telematikinfrastruktur – so sie denn vorliegt – zusätzliche inhaltliche Nutzungen des BDT beflügeln. 4.5 Aufbau des BDT – Vorbemerkungen Der BDT 3.0 beschreibt und kategorisiert das in einer Arztpraxis gesammelte Datenmaterial durch Feldbeschreibungen, durch Zuordnung der Felder zu für Übertragungszwecke definierten Sätzen und durch Regeln zur Verwendung und Reihenfolge von Feldern und Sätzen einschließlich von Bedingungen für deren Abhängigkeiten. Feldkennungen sind prinzipiell in der xDT-Familie in Bezug auf Feldbezeichnung und Semantik identisch (z. B. Feldkennung „3000“ für ein Feld mit dem Inhalt „Patientennummer/Patientenkennung/Patienten-ID“). Regeln (Bedingungen) für ein Feld können dagegen von der Satzart abhängen, in denen ein Feld verwendet wird. Feldkennungen, die obsolet werden, sollen nicht wieder verwendet werden. Weiterhin werden auch dann neue Feldkennungen vergeben, wenn die semantische Bedeutung nicht abwärtskompatibel ist. Der Wertevorrat des Inhalts eines Feldes mit einer bestimmten Feldkennung mag davon abhängen, in welchem 2http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/116DAETBeschlussprotok ollfinal20130604LZ.pdf. Jahrgang 2015 Teil I Nr. 54, ausgegeben zu Bonn am 28. Dezember 2015, S. 2417 f. 3Bundesgesetzblatt 662 K.-J. Bohrer Kontext, das heißt innerhalb welchen Standards der xDT-Familie, es verwendet wird. Der BDT 3.0 soll – wegen seiner Verwendung zum vollständigen Export von Daten – dabei die Obermenge aller Wertevorräte definieren und auch solche Werte umfassen, die aktuell nicht mehr verwendet werden, damit auch archivierte Daten mittels BDT 3.0 übermittelt werden können. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) führt den Feldkatalog aller Felder der xDT-Familie; sollte jedoch abweichend von diesem Feldkatalog der Wertevorrat eines Feldes innerhalb der Spezifikation des BDT 3.0 mehr Werte umfassen, so gilt die Definition der BDT-Satzbeschreibung. Der aktuell als Testversion freigegebene BDT 3.0 verwirklicht derzeit einige erste Anwendungsfälle [„Use Cases“] für einen Datentransfer. Der BDT 3.0 beschreibt vor allem die „Karteikarte“ des Patienten mit Patientenstammblattdaten und datumsbezogenen Verlaufsdaten zur Behandlung und bezieht dabei zugehörige externe Dateien über Referenzen mit ein. Referenzierte Dateien in Fremdformaten werden mittels Metadaten in Feldern des BDT beschrieben. Darüber hinaus beschreibt der BDT 3.0 im Gegensatz zu älteren Versionen auch Praxisverwaltungsdaten, wie Adressbestände oder Termine. In nachfolgenden Versionen des BDT werden auch systematisch solche Anwendungsfälle einbezogen werden, bei denen die einzelfallbezogene Übermittlung von aktuellen, zweckbezogen bestimmten, patientenbezogenen Daten eines einzelnen Behandlungsfalls erfolgt. Dies setzt eine weitere technische Modernisierung und eine Angleichung der entsprechenden Standards für die verschiedenen Sektoren des Gesundheitssystems voraus. Die Version 3.0 des BDT stellt einen Zwischenschritt dar bei der Entwicklung eines Standards, der letztlich „state of the art“ sein soll, um in ein Normungsverfahren eingebracht werden zu können, welches dann auch einen Beitrag zur europäischen und internationalen Normung leisten kann. Diese zukünftige Version bedeutet eine vollständige Revision der derzeitigen Festlegungen, sowohl im Hinblick auf ein notwendiges Schichtenmodell (z. B. bestehend aus den Schichten „Daten für die Kommunikationssteuerung“, „Daten zur Prozess- und Anwendungssteuerung, insbesondere auch für ein Gesundheitsmanagement“, „Metadaten“, „Daten“) als auch in Bezug auf ein Informations- und Datenmodell; aber auch die technische Darstellung steht zur Diskussion, damit vorhandene Softwarewerkzeuge (z. B. für XML) eingesetzt werden können. Im Gegensatz zum „Reference Information Model“ (RIM) von HL7 ist das Informationsmodell des BDT – bedingt durch sein pragmatisches Entstehen – patientenzentriert (die „Karteikarte“ des Patienten). Dies erleichtert die Benutzung der Daten für solche Prozesse, die organisationsübergreifend Dienste für Patienten erbringen – und nicht so sehr Abläufe aus Sicht eines behandelnden Arztes abbilden. Kleine Schritte auf dem Weg zu einer zukünftigen Version werden bereits in der vorliegenden Version BDT 3.0 getan, indem zusätzliche Datensätze definiert werden, deren Daten in einem Schichtenmodell auf eine Ebene gehören, in der nicht die Behandlungsdaten dargestellt werden. Darüber hinaus werden Informationsobjekte, kurz Objekte, in einen BDT-Objektkatalog ausgegliedert, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen und um dieselben semantisch zusammengehörigen Daten an verschiedenen Stellen in diesem Dokument referenzieren zu können, Nationale ambulante Standards 663 ohne diese erneut auflisten zu müssen. Informationsobjekte sind als Makros aufzufassen, das heißt, die dort definierten Felder ersetzen jeweils den Namen eines Informationsobjekts in einer Satzbeschreibung. Zusätzlich und daneben wird bereits in der Version BDT 3.0 eine Angleichung von BDT, GDT (Gerätedatenaustausch) und LDT (Labordatenaustausch) vorgenommen, sodass mittelfristig aus der Familie der xDT-Standards ein einheitlicher Standard entstehen kann. Dies hat z. B. zur Folge, dass der BDT 3.0 Datensätze enthält, die bislang nur in den kommunikationsorientierten Standards GDT und LDT erforderlich waren. Im Hinblick auf eine Verwendung des BDT für die Übermittlung von Behandlungsdaten, etwa in ärztlichen Kooperationsverbünden, ist dies nunmehr notwendig geworden. 4.6 Schichtenmodell und Datenstruktur Diese Spezifikation realisiert ein Schichtenmodell aus den drei Ebenen Kommunikation, Dateien, Datensätze. Eine Kommunikation wird durch einen Startsatz („Kommunikations-Header“, Satzart „0001“) eingeleitet und einen Endesatz („Kommunikations-Abschluss“, Satzart „0002“) beendet. Eine Datei wird durch einen Startsatz („Datei-Header“, Satzart „0020“) eröffnet, durch einen Endesatz („Datei-Abschluss“, Satzart „0021“) beendet. Datensätze der verschiedenen Satzarten werden durch ein Startfeld/Anfangsfeld („Satzart“) mit der Feldkennung (FK) „8000“, welches einen Identifier für die Satzart („Satzidentifikation“) enthält, und dem Feld „Satzende“ (FK „8202“), in dem die Anzahl der im Satz übertragenen Felder festgehalten wird, eingerahmt. Der Datenstrom besteht aus Datensätzen verschiedener Satzarten. Jeder Satz besteht aus einer Folge von Feldern, die in der Reihenfolge auftauchen müssen, in der diese in dieser Spezifikation in den Satztabellen beschrieben sind. Jedes Feld besteht aus den vier Komponenten Feldlänge, Feldkennung, Feldinhalt, Feldendemarkierung. Semantisch zusammengehörige Felder sind zu Informationsobjekten (kurz: Objekt) gruppiert, die in einem Objektkatalog zusammengestellt sind. Besondere Feldkennungen dienen zur Strukturierung des Datenstroms; sie zeigen an, dass ein Satz beginnt oder endet (FK „8000“, FK „8202“) oder ein Objekt beginnt oder endet (FK 8200, FK 8201). Bei Betrachtung eines BDT-Datenstroms mit einem Text-Editor erfolgt nach jedem Feld ein Zeilenumbruch, da die Komponente Feldendemarkierung aus der Folge der Zeichen CR und LF (Wagenrücklauf und Zeilenvorschub) besteht. Der Feldinhalt besteht aus zulässigen Zeichen [„String“] einer Zeichentabelle. Neben der Semantik eines Feldes ergibt sich der zulässige Wertevorrat sowie die Formatierung eines Feldinhalts aus der Feldtabelle. Eine gut lesbare Einführung in den BDT 3.0 findet sich in (Mainz 2015). 664 K.-J. Bohrer 4.7 Aktueller Stand des BDT Der BDT 3.0 liegt aktuell (Stand 01/2016) als Beta-Release für Testimplementierungen vor. Derzeit laufen Tests verschiedener Softwareanbieter u. a. für den Einsatz im Bereich Notfalldatenträgeraustausch (NDT) sowie Überlegungen für die Nutzung des BDT zur anonymisierten bzw. pseudonymisierten Extrahierung von Daten zur wissenschaftlichen Nutzung (WDT). 4.8 Zertifizierung des BDT Der QMS e. V. wird eine Zertifizierung nach Fertigstellung des BDT 3.0 anbieten. 5 Herausforderungen für GDT, LDT und BDT Obwohl die Grundstruktur von GDT, LDT und BDT übereinstimmen, führen die unterschiedlichen Anwendungsszenarien der einzelnen Standards sowie die Abhängigkeit vom ADT zu Konflikten. Während für Nutzer des GDT aufgrund der Gerätetechnik die langfristige Stabilität der Schnittstellenbeschreibung im Vordergrund steht, der LDT aktuelle Entwicklungen im Laborworkflow unterstützen soll und der BDT u. a. die komplette Abbildung aller Daten eines AIS beherrschen muss, hat die KBV im ADT aktuell auf rechtliche und vertragliche Veränderungen zu reagieren. Diesen Konflikten widmet sich der xDT-Arbeitskreis des QMS unter Beteiligung aller relevanten Institutionen, um gemeinschaftlich die langfristige Nutzbarkeit der xDTSchnittstellenfamilie sicherzustellen. 6 Der Qualitätsring Medizinische Software e. V. Der Qualitätsring Medizinische Software e. V. (QMS) ist ein Zusammenschluss von Lösungsanbietern und Dienstleistern im Gesundheitswesen. Dazu zählen Systemhäuser, Medizingerätehersteller, Lieferanten von spezieller EDV-Hard- und Software, Unternehmen im Beratungs- und Qualitätssektor, Universitäten sowie Kassenärztliche Vereinigungen und andere Organisationen des Gesundheitssystems. Der Verein hat den Zweck, Standards für die Interoperabilität von IT-Lösungen im Gesundheitssystem zu erarbeiten, zu prüfen, weiterzuentwickeln und zu fördern und damit die Qualität, die Effizienz und die Sicherheit der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu steigern und zu deren Kosten zu senken. Nationale ambulante Standards 665 Die Mitgliedschaft steht grundsätzlich allen Personen und Organisationen offen, welche diese Zielsetzung unterstützen. 7 PAD (Privatabrechnung Diskette – heute Privatabrechnung Digital) – und PADneXt-Schnittstelle – das Äquivalent zum KVDT für die Privatabrechnung Alleine schon die im PVS-Verband zusammengeschlossenen Privatärztlichen Verrechnungsstellen erstellen als Dienstleister für die Privatliquidation pro Jahr mehr als 17,5 Mio. Rechnungen mit einem Honorarvolumen von über 3 Mrd. EUR. Für diese Dienstleister hat sich – ähnlich wie den kassenärztlichen Vereinigungen für den GKV-Bereich – mit der Verbreitung der EDV in der Arztpraxis die Frage gestellt, wie durch einen Datenaustausch zwischen AIS und Dienstleister Prozesse optimiert und Kosten (z. B. für die manuelle Erfassung der Abrechnungsdaten) gesenkt werden können. 7.1 Entstehung der PAD-Schnittstelle Die PAD-Schnittstelle und damit die Möglichkeit zur Abrechnung per Diskette mit der PVS wurde erstmalig bereits zur Medica 1987 vorgestellt. 7.2 Aufbau der PAD-Schnittstelle4 Eine logische PAD Datei besteht aus folgenden Elementen: Datensatz „000“ = Datenträger-Vorsatz – mit Grundangabe zur Erstellung der Datei Datensatz „100“–„900“ = Datenträgeraustauschsatz, diese beinhalten die eigentlichen Rechnungsinformationen sowie ergänzende Angaben z. B. zu Unfällen bei Rechnungen an eine Berufsgenossenschaft. Datensatz „990“ = Datenträger-Nachsatz – enthält abschließende Angaben zum PVSMitglied und Summenangaben zu den enthaltenen Rechnungen. Alle Felder eines Datensatzes haben feste Feldlängen und es ist lediglich der ASCIICode (0–254) (Tab. 437 oder 850 für MS-Dos) als Zeichensatz zulässig. Ebenso ist der Wertevorrat eindeutig festgelegt. Mit PADedit ist auch ein Editor für PAD-Dateien als Freeware verfügbar. (PADeditor 2016) 4Die Privatärztlichen Verrechnungsstellen im Verband – Abrechnung auf Datenträger (2009) http:// www.padinfo.de/index.php/downloads/finish/4-dokumente/22-pad-schnittstellenbeschreibung [15.12.2015]. 666 K.-J. Bohrer 7.3 Weiterentwicklung zu PADneXt Die Einfachheit und langfristige Stabilität der PAD-Schnittstelle hat sicherlich erheblich zu einer raschen Verbreitung beigetragen. Die PAD-Schnittstelle dürfte auch heute noch die am meisten genutzte Schnittstelle zur Übertragung von Abrechnungsdaten an einen Dienstleister für die Erstellung von Privatabrechnungen sein. Diese wird jedoch aktuell nicht mehr weiterentwickelt. Nach Erweiterungen der PAD-Schnittstelle in 2003, 2007 und 2009 wurde mit PADneXt in 2010 eine funktional erweiterte XML-basierte Schnittstelle für die Privatabrechnung via PVS vorgestellt. Dabei sind erstmalig eine bidirektionale Kommunikation und ebenso eine Quittierung der Datenübertragung möglich. In 2013 fand eine umfangreiche Erweiterung der PADneXt-Schnittstelle um die Aspekte der Dentalabrechnung statt. Die Privatärztlichen Verrechnungsstellen erhoffen sich von der PADneXt-Schnittstelle neben höherer Flexibilität und Akzeptanz insbesondere eine bessere Datenqualität (und damit reduzierten Nachbearbeitungsaufwand) durch die Definition über XML-Schemata. Auf der AIS-Seite sind die XML-Daten gegen dieses Schema zu validieren. Bei diesem Vorgang werden Strukturprüfungen, Prüfungen auf Einhaltung des Wertebereichs, Vollständigkeits- und Kombinationsprüfungen vorgenommen und geben direkt in der Arztpraxis eine Rückmeldung zu Fehlern. Diese können dann vor Übertragung der Privatabrechnung an die PVS korrigiert werden. Neben der auch heute durchaus noch üblichen Diskettenabrechnung sind ergänzend eine Onlineübermittlung über das Portal PAD-Transfer – auch über KV-Safenet – möglich. 7.4 Zertifizierung Für die PADneXt-Schnittstelle wird eine optionale Zertifizierung angeboten. Literatur Bärwolff H, Victor F, Hüsken V (2006) IT-Systeme in der Medizin: IT-Entscheidungshilfe für den Medizinbereich - Konzepte, Standards und optimierte Prozesse. Vieweg+Teubner, Wiesbaden Die Privatärztlichen Verrechnungsstellen im Verband – Abrechnung auf Datenträger (2009) http:// www.padinfo.de/index.php/downloads/finish/4-dokumente/22-pad-schnittstellenbeschreibung. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Kassenärztliche Bundesvereinigung – IT in der Arztpraxis (2014) Installationsstatistik Systeme Stand 31.12.2014. http://www.kbv.de/media/sp/Gesamt_Systeme_Installationen.pdf. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Kassenärztliche Bundesvereinigung – IT in der Arztpraxis (2015) Richtlinie Softwarezertifizierung Version 3.25. ftp://kbv.de/ita-update/Allgemein/KBV_ITA_RLEX_Softwarezertifizierung.pdf. Zugegriffen: 23. Dez. 2015 Nationale ambulante Standards 667 Kassenärztliche Bundesvereinigung – IT in der Arztpraxis (2016) Verzeichnis zertifizierter Software – Übersichtsmatrix Stand 04.01.2016. ftp://kbv.de/ita-update/Service-Informationen/Zulassungsverzeichnisse/KBV_ITA_SIEX_Verzeichnis_Zert_Software.pdf. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Lichtner F, Sembritzki J (1994) BDT – Schnittstellenbeschreibung zum systemunabhängigen Datentransfer von Behandlungsdaten. Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung, Köln. http://wiki.qms-de.org/images/6/6a/BDT1994.PDF. Zugegriffen: 10. Jan. 2016 Mainz R (2015) BDT 3.0 für Einsteiger – Ein praxisorientiertes Lehrbuch für Erstnutzer und Umsteiger. QMS Qualitätsring Medizinische Software e. V. Mohr, Gilbert KVDT - die neue Datenschnittstelle im Einsatz: Beschleunigte Kommunikation. Dtsch Arztebl 96(36):7. https://www.aerzteblatt.de/archiv/18848. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 PADeditor (2016) Freeware. http://www.oliver-matuschin.de/projects/padedit. Zugegriffen: 15. Dez. 2016 PADline GmbH - PADneXt Schnittstelle Version 2.11 (2014) http://www.padinfo.de/index.php/downloads/finish/4-dokumente/42-padnext-schnittstellenbeschreibung. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Qualitätsring Medizinische Software e. V. (2001) Anbindung von medizinischen Messgeräten (GDT -Gerätedaten-Träger) – Schnittstellenbeschreibung zum systemunabhängigen Datentransfer zwischen Praxis-EDV Systemen und Messgeräten Version 2.1 (5/2001). http://www.qmsstandards.de/fileadmin/Download/DOWNLOAD-PDFS/GDT2.1_german.pdf. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Qualitätsring Medizinische Software e. V. (2013) GDT 3.0 Gerätedaten-Träger Schnittstellenbeschreibung zum systemunabhängigen Datentransfer zwischen Arzt-Informations Systemen und med. Messgeräten. http://www.qms-standards.de/fileadmin/Download/DOWNLOAD-PDFS/ GDT__V3.0_Release_1.0_01.10.2013.pdf. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Salzwedel A, Rehder P, Medizinische Datenaustauschformate Deutsche und Internationale Datenaustauschformate der Medizin. HS-Bremen – Medizin Informatik. http://www.lippo-design.de/ data/uploads/dev/studies/medizinische-datenaustauschformate.pdf. Zugegriffen: 15. Dez. 2015 Über den Autor Karl-Josef Bohrer  hat bereits von 1999 bis 2004 als Prokurist beim Aufbau von Curagita mitgewirkt. Seit Dezember 2013 ist er zurück an alter Wirkungsstätte im Haus der Radiologie in Heidelberg. Als Prokurist und Mitglied der Geschäftsleitung ist er vor allem für den Ausbau von Radiologienetz Deutschland, die Neugewinnung von Mitgliedern sowie das regionale Radiologienetz Bayern zuständig. Kontakt: bohrer@gmxpro.net Syntaktische und semantische Interoperabilität Sylvia Thun und Heike Dewenter 1 Einleitung Verständigung ist ein wesentliches Kriterium zur erfolgreichen Kommunikation zwischen Menschen und Systemen. Elementare Verständigung findet beispielsweise statt, wenn sich zwei Personen in derselben Muttersprache miteinander unterhalten. In diesem Sinn stellt die gemeinsam verwendete Sprache die interoperable Basis dar. Der flächendeckende Einsatz von IKMT im Gesundheitswesen ist ohne Standardisierung nicht möglich. Die Automatisierung von Prozessen und die Gestaltung einheitlicher Workflows erfordern verbindliche Rahmenbedingungen für die beteiligten Akteure, die durch Standards geschaffen werden. Die International Organization for Standardization (ISO) definiert einen Standard als ein Dokument, welches Anforderungen, Spezifikationen, Richtlinien oder Charakteristika enthält, dass Materialien, Produkte zweckgemäß verwendet oder Prozesse bestimmungsgemäß durchgeführt werden (vgl. ISO 2014). 2 Interoperabilität und Standards Interoperabilität ist im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) von zentraler Bedeutung. Die Voraussetzung, eine ungehinderte Datenübertragung zu gewährleisten, hat nicht zuletzt einen entscheidenden Einfluss auf den S. Thun (*)  Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: Sylvia.Thun@hs-niederrhein.de H. Dewenter  Compentence Center eHealth, Hochschule Niederrhein, Krefeld, Deutschland E-Mail: heike.dewenter@hs-niederrhein.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_34 669 670 S. Thun und H. Dewenter wirtschaftlichen Wettbewerb innerhalb einer Gesellschaft. Eine der Hauptbarrieren für die Funktionsfähigkeit von IKT-Systemen sowie für den Wettbewerb in komplexen Märkten, ist die mangelnde Interoperabilität der jeweils beteiligten Einzelkomponenten. Diese Problematik betrifft insbesondere den hoch differenzierten Bereich des Gesundheitswesens, da eine Vielzahl verschiedener Stakeholder, die wiederum eine Fülle unterschiedlicher Systeme nutzt, in der Lage sein muss, Dokumentations- und Kommunikationsprozesse möglichst optimal und ohne Zeitverzögerung umzusetzen. Interoperabilität ist somit ein wichtiger Baustein in der Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung. Interoperabilität ist ebenfalls ein wichtiger Mechanismus, bestehende wirtschaftlichtechnische Abhängigkeiten innerhalb der Gesundheits-Softwareindustrie abzubauen und Kosten für Lizenzen und Schnittstellen zu senken. Durch die Nutzung von standardisierten Schnittstellen können Produkte fachübergreifend eingesetzt werden und dadurch neue Impulse in der Industrie schaffen. Gültige Standards bilden die Basis für interoperable Systeme der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Medizintechnik (IKMT), mit dem Ziel der Vereinheitlichung von Produkten und Schnittstellen. Durch diese Voraussetzungen werden z. B. der Wettbewerb zwischen den Systemherstellern und eine Angebotsvielfalt gewährleistet. Je breiter ein Standard in der Praxis Anwendung findet, desto größer ist der Markt für Anbieter und Kunden entsprechender Infrastrukturkomponenten (vgl. Haas 2006, S. 293). Unter dem Begriff Interoperabilität wird die Fähigkeit eines Systems verstanden, mit anderen Systemen ohne Zugriffsbeschränkungen oder weitere Barrieren zu interagieren (vgl. Schnabel 2014). Wenn zwei Systeme miteinander vereinbar sind, nennt man sie auch kompatibel. In IKT-Systemen existieren verschiedene Formen der Interoperabilität (angelehnt an Ouksel und Shet 1999, S. 5): • Geistige Interoperabilität – der Wille, einen Austausch zu gewährleisten mit einheitlichen Zielen, fachliche Hintergründen und Geschäftsmodellen • Rechtliche Interoperabilität – einheitliche Rechtsgrundlagen • Organisatorische Interoperabilität – einheitliche Workflows • Semantische Interoperabilität – mit Bezug auf verständlichen Informationsaustausch • Syntaktische und strukturelle Interoperabilität – mit Bezug auf Informationsmodelle und Datenformat • Systeminteroperabilität – mit Bezug auf Systeme 3 Syntaktische Interoperabilität Die syntaktische („grammatikalische“) Interoperabilität beschäftigt sich mit Datenformaten und Informationsmodellen. Hierbei stellt sich die Frage, welche Übermittlungstechniken genutzt und wie die Schnittstellen zwischen den Systemen formal spezifiziert Syntaktische und semantische Interoperabilität 671 werden. In diesem Zusammenhang werden sowohl Schnittstelle als auch Nachrichtenformat und Kommunikationsweg festgelegt. Dies geschieht primär auf einer sehr technischen Ebene. Strukturierte Daten bestehen meist aus einer Auszeichnungssprache (Markup-Language, z. B. XML) oder der Tabellendefinition einer Datenbank. Aktuell wird im Gesundheitswesen häufig unstrukturierter Text in Form von Word oder PDF-Files verwendet. Dadurch können die Daten nicht von einem Medium zum anderen Medium übertragen werden. Nur mit Hilfe von Kommunikationsservern, welche die Nachrichten übersetzen, können relevante Informationen weitergegeben werden. Kommt es dabei nicht nur zu einem Austausch zwischen zwei – sondern multiplen Kommunikationspartnern, sind die einheitlichen Definitionen der Modelle und Formate essenzielle Grundvoraussetzungen. Stellen Sie sich vor, ein Herzkatheterlabor, in dem invasive kardiologische Untersuchungen stattfinden (z. B. bei Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt), erhält bereits gemessene Vitalparameter auf elektronischem Weg. Die zugewiesenen Patienten entstammen einer Fülle unterschiedlicher Kliniken, deren Notaufnahmen und Intensivstationen. Jede Einrichtung verwendet eine andere Grammatik der Datenübermittlung. Die Ergebnisse sollen in das Krankenhausinformationssystem (KIS) eingelesen werden und später unter Umständen im Arztbrief erscheinen. Dies ist unmöglich, wenn jede Einrichtung die Datenfelder und -inhalte unterschiedlich definiert. Das Beispiel in Abb. 1 zeigt sehr anschaulich, wie wichtig die eindeutige Syntax in einer Nachricht ist. Über eine eindeutige Nummer (2.16.840.1.113883.6.1) wird ein Codesystem (LOINC) referenziert. Der LOINC-Code (8867-4) beschreibt wiederum eindeutig das Konzept Herzfrequenz (Heart Rate). Bei dieser syntaktisch definierten Nachricht im XML-Format handelt es sich um einen Abschnitt aus einem standardisierten HL7 Clinical Document Architecture (HL7 CDA). Standards zum Informationsaustausch werden als syntaktische Standards bezeichnet. Diese nehmen z. B. medizinische Daten auf und gewährleisten den informations- und kommunikationstechnologischen Transfer. Wesentliche Vertreter in Deutschland sind die bereits genannten internationalen HL7-Standards, IHE oder DICOM. Es werden jedoch auch häufig proprietäre Datenformate eingesetzt, wie etwas xDT, die nicht auf internationalen Standards fußen, aber als De-facto-Standards von einflussreichen Institutionen des Gesundheitswesens vorgegeben werden. Abb. 1  Syntaktisch definierte Nachricht im XML-Format. (AKTIN 2015) 672 S. Thun und H. Dewenter HL7-Standards  Hierbei handelt es sich um eine Gruppe internationaler, speziell für das Gesundheitswesen entwickelter Standards, die von der gleichnamigen Organisation herausgegeben werden. Der Standard HL7 Version 2 ist im stationären Sektor stark verbreitet und wird vor allem in Krankenhäusern im Rahmen der Kommunikation medizinischer Daten eingesetzt. Er wird insbesondere verwendet, um eine Verständigung zwischen den krankenhausinternen Informationssystemen, wie z. B. KIS und LIS herstellen zu können. Die Weiterentwicklung des Standards, HL7 Version 3, verfügt über das Referenzinformationsmodell (HL7 V3 RIM) sowie über standardisierte semantische Inhalte und Prozesse. Diese Version ist für die Anwendung sowohl im klinischen als auch im administrativen oder finanziellen Bereich konzipiert. Sie soll die Kommunikationserfordernisse des gesamten Gesundheitssystems abdecken können. Durch die sehr weit verbreitete XML-Datenstruktur ist es möglich, den Standard einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Zugang wird durch die einfache und mit geringen Kosten verbundene Implementierung erleichtert. Mittlerweile wird in vielen Ländern HL7 V3 als offizielle Norm bei öffentlichen Ausschreibungen im Gesundheitswesen verlangt. HL7 CDA ist ein Bestandteil der HL7 V3 und ein Dokumentenaustauschstandard. CDA ist ebenfalls ISO-Standard (ISO 10781). Von diversen internationalen Organisationen sind vereinheitlichte medizinische Dokumente in Form von HL7 CDA modelliert worden. Maßgeblich ist dabei die Struktur dieser Dokumente, die vom CDA-Modell vorgegeben und in angemessener Weise auf die Anwendungsfälle zugeschnitten werden. CDA basiert auf dem RIM und XML und besteht aus einem Header und einem Body. Der Header enthält Kopfinformationen, wie z. B. die Identifikationsdaten des Patienten, des Behandelnden sowie weitere Verwaltungsinformationen. Der Body enthält den eigentlichen medizinischen Inhalt des Dokuments, der aus codierten Elementen Informationen zu einer Behandlungsmaßnahme (Procedure) oder strukturiertem Freitext bestehen kann. Ein Beispiel für eine HL7 CDA Anwendung in Deutschland ist der Patientenbezogene Medikationsplan (s. Abb. 2). Allgemein gelten für HL7-CDA-Dokumente folgende Eigenschaften: a) Persistenz (dauerhafte Existenz) b) Verantwortlichkeit für die Verwaltung des Dokuments (verantwortliche Organisation oder Person) c) Kontext (Informationen werden in einem bestimmten Kontext, z. B. bei Entlassung aus dem Krankenhaus, dargestellt) d) Ganzheit des Dokuments (Teile des Dokuments dürfen nicht ohne Bezug auf das ganze Dokument genutzt werden) e) Lesbarkeit (für Menschen) f) Signaturfähigkeit xDT-Spezifikation  Spezifikationen aus der xDT-Familie sind eine durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung definierte Gruppe von Datenaustauschformaten, die im ambulanten Bereich des deutschen Gesundheitswesens genutzt werden. Die Standards werden zu Syntaktische und semantische Interoperabilität 673 Abb. 2   HL7 CDA, Übersicht von Header und Body. (Medikationsplan Plus 2015) diversen Zwecken eingesetzt, z. B. in der Übermittlung von Abrechnungsdaten an die kassenärztliche Vereinigung nach § 286 SGB V (ADT-Standard) oder im Rahmen der Qualitätssicherung für ambulantes Operieren (AODT-Standard) (vgl. Haas 2006, S. 312 ff.) IHE  Das Ziel der „Integrating the Healthcare Enterprise“-Initiative ist die Modellierung der Abläufe innerhalb des Gesundheitswesens durch IT-Standards. IHE konstruiert Technical Frameworks, in denen das Zusammenwirken von IT-Systemen in Geschäftsprozessen unter der Verwendung von Standards wie z. B. HL7 oder LOINC beschrieben wird. IHE veröffentlicht die Rahmenstandards als Leitlinie für die verschiedenen Informationssysteme. Die Arbeit an den Rahmenstandards erfolgt in verschiedenen Arbeitsgruppen. Die Entwürfe werden, wie bei HL7, zur Kommentierung veröffentlicht. Die Interoperabilität beteiligter Anwendungssysteme wird in Massentests, in sogenannten Connect-a-thons, erprobt (Haas 2006, S. 306 ff.). DICOM  Mit dem DICOM-Standard wird eine herstellerunabhängige Plattform angeboten, über die es möglich ist, radiologische Informationen und damit verbundene Daten in komplexen Bild-Management-Netzwerken zu versenden und auszutauschen. 674 S. Thun und H. Dewenter Die Anwendungen von DICOM umfassen z. B.: • Austausch von Bildern • Terminierung von Patienten • Druckeransteuerung • Gerätesteuerung • Archivierung von Bildern Als Zusatz zum DICOM-Basisstandard wurde das sogenannte DICOM Structure Reporting (DICOM SR) entwickelt, das es ermöglicht, strukturierte Daten zu übermitteln. DICOM SR basiert wiederum auf den medizinischen Terminologien SNOMED CT und LOINC. 4 Semantische Interoperabilität Unter dem Begriff „Semantische Interoperabilität“ wird die Fähigkeit eines Systems verstanden, Informationen zu erfassen und mit den geringsten inhaltlichen Verlusten über Systemgrenzen hinweg zu kommunizieren. Sie beinhaltet ein gemeinsames Verständnis von Informationsmodellen und Terminologieinhalten. Semantische Interoperabilität kann sehr anschaulich über das semiotische Dreieck von Ogden und Richards (s. Abb. 3) beschrieben werden (vgl. Homberger 2000). Abb. 3  Das semiotische Dreieck. (Darstellung in Anlehnung an Homberger 2000) Syntaktische und semantische Interoperabilität 675 Die Steinlaus des populären Komikers Loriot erhält z. B. erst dann eine Bedeutung, wenn ein Mensch mit dem Begriff etwas assoziiert (und ebenfalls Loriot kennt). Dasselbe gilt auch für ein EKG bei Verdacht auf Herzinfarkt. Nur ein medizinischer Experte kann mit dem Objekt etwas Pathologisches assoziieren und dem Objekt den richtigen Begriff zuordnen. Erst wenn diese drei Ebenen übereinanderliegen, kommen wir zur semantischen Interoperabilität. In der Medizin können wir nur mit einem einheitlichen Verständnis von gesundheitsrelevanten Inhalten Begriffe wie Gesundheit, Krankheit, Funktionsfähigkeit oder die Funktionsweise von Medizinprodukten sinngemäß kommunizieren, die dann vom Gegenüber verstanden werden. Die einheitliche Sprache und deren präzise Benennung, die Terminologie, sind dafür der Schlüssel. Semantische Interoperabilität wird unter den folgenden Voraussetzungen ermöglicht (vgl. Wunder und Grosche 2009): • Der Informationsaustausch erfolgt in einer Sprache, welche der Sender und der Empfänger beherrschen. • Der Informationsaustausch kann über ein Medium (z. B. eine eindeutige ID) von der Empfänger- in die Sendersprache übersetzt werden. • Es wird eine Referenzsprache verwendet, die sowohl der Sender als auch der Empfänger beherrschen. Die Erreichung semantischer Interoperabilität ist untrennbar mit der Nutzung semantischer Standards verknüpft. Sobald medizinische Informationen in Dokumenten elektronisch weiterverarbeitet werden sollen, muss deren inhaltliche Bedeutung (Semantik) bekannt sein. Zu diesem Zweck werden E-Health-Standards benötigt, die Fachbegriffe strukturiert und mit dem kleinstmöglichen Interpretationsspielraum darstellen, sodass eine allgemeine Verständigung über diese Begrifflichkeiten gewährleistet werden kann. Dies ist im Bereich der Medizin essenziell, da z. B. durch Fehlinterpretationen von Informationen seitens der Akteure die Patientensicherheit gefährdet werden kann (vgl. Ingenerf 2007). Terminologien und Klassifikationen zählen zu den semantischen Standards. Grundsätzlich handelt es sich dabei um unterschiedliche aber gegenseitig ergänzende Ordnungssysteme. Sie dienen der strukturierten Abbildung medizinischer Inhalte in elektronischen Dokumenten und unterscheiden sich hinsichtlich ihres Abstraktionsniveaus und ihres Verwendungszwecks (s. Abb. 4). Das höchste Abstraktionsniveau hat unstrukturierter Freitext, z. B. die Verwendung medizinischer Fachsprache innerhalb eines Arztbriefes. Die hochkomplexe Terminologie (wie z. B. SNOMED CT) enthält einen hohen Anteil dieser Freitextinformationen und bildet diese über Identifier (ID) ab. Klassifikationen wie die ICD-10-GM fassen wiederum Einzelinformationen zu einer übergeordneten Klasse zusammen und sind damit weniger spezifisch als Terminologien. Fallgruppensysteme besitzen das niedrigste Abstraktionsniveau und bestehen aus Zusammenfassungen einzelner Klassen, wie z. B. die G-DRG. 676 S. Thun und H. Dewenter Abb. 4  Medizinische Ordnungssysteme auf verschiedenen Abstraktionsniveaus. (Ingenerf 2007) In Deutschland werden Klassifikationen primär zu Abrechnungszwecken eingesetzt. Hierfür werden für den stationären und ambulanten Bereich unterschiedliche Kataloge verwendet. Die Inhalte dieser Abrechnungskataloge werden elektronisch übermittelt. Grundlage des DRG-basierten Vergütungssystems im Krankenhaus sind die Diagnose- und Prozedurenklassifikationen ICD-10-GM und OPS. Im Rahmen der Weiterentwicklung des DRG-Systems sind eine jährliche Weiterentwicklung der zuvor genannten Klassifikationen und dabei ihre Anpassung an die Bedingungen des neuen Vergütungssystems erforderlich. Im ambulanten Bereich finden der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) und die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) Anwendung. Die privatärztliche Leistungsabrechnung unterliegt wiederum den Bestimmungen der GOÄ. ICD-10-GM  Die International Classification of Diseases-10-German Modification, welche seit 2000 in Deutschland angewendet wird, ist eine an das deutsche Gesundheitssystem angepasste Version der internationalen ICD-10-WHO. Sie ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der stationären und ambulanten Versorgung in Deutschland nach § 295 SGB V und § 301 SGB V. Beispiele für Codierungen in ICD-10-GM zeigt Abb. 5: Sie bildet die Grundlage zur Leistungsabrechnung nach den German Diagnosis Related Groups (G-DRG) und dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) sowie zur Leistungsfinanzierung der Krankenkassen. Prozesse in der medizinischen Versorgung und im regulatorischen Bereich bedienen sich bei der Beschreibung von Krankheitszuständen und Diagnosen in Deutschland in erster Linie der Klassifikation ICD-10-GM. Das Syntaktische und semantische Interoperabilität 677 Abb. 5  Exemplarische Codierung von Grunderkrankung und Komplikation. (In Anlehnung an DIMDI 2015a) DIMDI gibt die ICD-10-GM im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit heraus (vgl. DIMDI 2014a). Alpha-ID  Die Forderungen nach einer weiteren Detaillierung der ICD-Schlüsselnummern, z. B. im Rahmen der elektronischen Kommunikation, mit einer eindeutigen Benennung der Krankheit führten zur Entwicklung des Alpha-ID-Systems. Die Alpha-ID dient der Codierung von Diagnosebezeichnungen und basiert auf der ICD-10-GM. Dabei handelt es sich um eine eindeutige ID mit Bezug auf einen bestimmten ICD-10-GM-Code (s. Abb. 6). Die Alpha-ID dient der Differenzierung der Diagnosedokumentation, insbesondere im Rahmen der elektronischen Dokumentation und der Sicherstellung von Interoperabilität. Sie wird seit dem Jahr 2005 vom DIMDI herausgegeben (vgl. DIMDI 2014b). OPS  Der Operationen- und Prozedurenschlüssel ist die amtliche Klassifikation zur Codierung von Prozeduren, Operationen und medizinischen Maßnahmen im ambulanten und stationären Bereich in Deutschland nach § 295 SGB V und § 301 SGB V. Ein Beispiel für eine Codierung in OPS ist „5-281 Tonsillektomie (Entfernung der Gaumenmandeln)“. Der OPS ist eine wichtige Grundlage des Entgeltsystems G-DRG, des EBM und der Qualitätsberichte der Krankenhäuser. Grundsätzlich ist der OPS eine auf die Erfordernisse in Deutschland angepasste Adaption der Internationalen Klassifikation der Prozeduren in der Medizin (ICPM), welche wiederum von der WHO herausgegeben wird. Es ist aufgrund struktureller inhaltlicher Schwächen nicht beabsichtigt, den OPS zu einem Abb. 6   Struktur der Alpha-ID. (In Anlehnung an DIMDI 2015b) 678 S. Thun und H. Dewenter umfassenden Prozeduren- oder Einzelleistungskatalog auszubauen, der allen erdenklichen Anforderungen der medizinischen Dokumentation genügen kann. Das DIMDI gibt den OPS jährlich im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit heraus (vgl. DIMDI 2014c). ATC/DDD  Die Anatomisch-Therapeutisch-Chemische-Klassifikation ist ein amtlicher Standard für pharmakologische Wirkstoffe. Diesen Wirkstoffen wird eine definierte Tagesdosis (DDD) zugeordnet. Die ATC/DDD erleichtert den Vergleich von Arzneimitteln (auf Basis gleicher Wirkstoffe) und liefert einen Bezug zu anfallenden Therapiekosten. Ziel des ATC/DDD-Systems ist, ein Instrument für die Untersuchung des Arzneimittelverbrauchs zur Verfügung zu stellen. Ein Anwendungszweck sind die Darstellung und der Vergleich von Arzneimittelverbrauchsstatistiken auf internationaler Ebene. Das DIMDI gibt die ATC/DDD seit dem Jahr 2004 gemäß § 73 Abs. 8 SGB V heraus (vgl. DIMDI 2013). Eine weitere Version wird vom WIDO, dem wissenschaftlichen Institut der AOK, herausgegeben. Zusätzlich zu diesen etablierten semantischen Standards aus dem Bereich des deutschen Gesundheitswesens, gewinnen international eingesetzte Vertreter dieser Gruppe kontinuierlich an Bedeutung. Aufgrund ihrer routinierten Verwendung in HL7-Standards kommt den Standards LOINC und UCUM sowie der hoch differenzierten Terminologie SNOMED CT eine besondere Bedeutung zu: LOINC und UCUM  Logical Observation Identifiers Names and Codes ist eine Nomenklatur zur eindeutigen Identifikation von medizinischen Untersuchungsergebnissen. Die durch das US-amerikanische Regenstrief-Institut, ursprünglich für den Laborbereich, entwickelte Systematik wurde auf diverse medizinische (Vital-)Parameter und Dokumententypen ausgeweitet. Das auf LOINC bezogene IT-Programm Regenstrief LOINC Mapping Assistant (RELMA) enthält ab der Version 5.0 eine durch das DIMDI koordinierte und qualitätsgesicherte Übersetzung der LOINC-Ausdrücke in die deutsche Sprache (DIMDI 2014d). Laboratorien und medizinisches Personal im Bereich der medizinischen Dokumentation sollten die LOINC-Codes zusammen mit HL7-Elementen und den dazugehörigen Einheiten unter Verwendung von Unified Codes for Units of Measure (UCUM) in ihren bereits vorhandenen Stammdateien für Test- und Untersuchungsdateien einsetzen, um den Datenaustausch zu gewährleisten (s. Abb. 7). SNOMED CT SNOMED CT gilt als die umfassendste, mehrsprachige medizinische Terminologie der Welt (vgl. IHTSDO 2014). Die Abkürzung SNOMED CT steht für Systematized Nomenclature of Medicine – Clinical Terms. Die Terminologie ist seit dem 26. April 2007 im Besitz der International Health Terminology Standards Development Organisation (IHTSDO) und wird hauptamtlich von der Organisation gepflegt und betreut. SNOMED CT ist eine Terminologie, die viele gesundheitsspezifische Begriffe und deren Relationen zueinander abbildet. Dadurch ist sie mehrachsig, das heißt, dass Syntaktische und semantische Interoperabilität 679 Abb. 7  Abbildung von LOINC in HL7 Version 2. (McDonald et al. 2000, S. 6 ff.) verschiedene Informationen zu einem Konzept verknüpft werden. SNOMED CT hat eine hohe Ausdrucksmacht und kann u. a. für medizinische Dokumentationen, wissenschaftliche Auswertungen und das Information-Retrieval eingesetzt werden. Die grundlegenden Begriffe innerhalb von SNOMED CT bilden Konzepte, definiert als gedankliche Einheiten, denen ein Konzeptidentifikator zugeordnet ist. Konzepte werden darüber hinaus durch die Beziehungen zu anderen Konzepten innerhalb der SNOMED-CT-Architektur definiert. Sie werden einer von derzeit 18 unterschiedlichen Achsen (Hierarchien) zugeordnet. SNOMED CT enthält über 300.000 aktive Konzepte mit ca. einer Mio. Deskriptoren (beschreibende Begriffe) in mehreren Kategorien (z. B. Anatomie, Morphologie, Krankheiten, Prozeduren, Organismen, Medikamente), die über zahlreiche Relationen in mehreren Achsen verknüpft sind. Beziehungen zwischen Konzepten haben semantische Bedeutungen wie z. B. „ist-ein“, „ist-Teil-von“, „ist-Ursache-von“ etc. So ist beispielsweise die Hepatitis eine Erkrankung der Leber. Diese Beziehung wird in SNOMED CT wie folgt dargestellt: 128241005|hepatitis|116680003|is a |235856003|disease of liver| Das Gesamtkonstrukt wird im SNOMED CT Logical Model veranschaulicht (s. Abb. 8). Mit einer solchen Terminologie lassen sich medizinische Befunde, Diagnosen oder Therapien sehr detailliert beschreiben. Dazu werden aus den bereits komponierten Begriffen (Präkoordination) die gewünschten Begriffe gesucht und notfalls unter Verwendung von ergänzenden Angaben weiter verfeinert (Postkoordinierung). Eine Vorversion von SNOMED CT, SNOMED II aus dem Jahr 2004, wurde bereits in die deutsche Sprache übersetzt. Diese ist jedoch noch nicht qualitätsgesichert und nicht durch die IHTSDO anerkannt. Die medizinischen Fachgesellschaften und Terminologieexperten müssen demnach die übersetzten Terms an die deutsche Sprache und die deutschen administrativen Gegebenheiten und Leitlinien anpassen. 680 S. Thun und H. Dewenter Abb. 8  SNOMED CT logical model. (IHTSDO 2014) 5 Fazit Die Bedeutung der Co-Existenz von Terminologien und Klassifikationen hebt Bowman (2005) hervor: Terminologien werden innerhalb elektronischer Patientenakten zur Erfassung und Speicherung medizinischer Einzelinformationen eingesetzt. Dadurch wird eine adäquate Datenbasis, insbesondere zur Sekundärnutzung dieser Daten, geschaffen. Durch das hohe Abstraktionsniveau sind Terminologien im Bereich der Gesundheitsberichterstattung weniger gut geeignet als Klassifikationen. Letztere fassen Informationen für den Bereich klinischer und Public Heath relevanter Fragestellungen in geeigneter Weise zusammen. Zur inhaltlichen Weiterentwicklung der WHO-Family of Classifications sind ausdrucksstarke Terminologien und das Terminologien-Klassifikationen-Mapping von hoher Relevanz (vgl. Bowman 2005). Eine bruchfreie elektronische Kommunikation medizinischer Inhalte wird grundsätzlich durch das korrekte Zusammenwirken semantischer und syntaktischer Standards ermöglicht. Dabei werden semantische Inhalte in syntaktische Übertragungsformate eingebettet. Dies stellt man sich am besten wie ein einheitliches Raster vor (Syntax), in das nach abgestimmten Vorgaben einzelne Bausteine (Semantik) eingesetzt werden. Das Raster wird dann mit den korrekt eingesetzten Bausteinen von System zu System übertragen, mit dem Effekt, dass dieses ungehindert und unverzögert zur Weiterverarbeitung genutzt und interpretiert werden kann. Das hier beschriebene Prinzip der Interoperabilität ist letztlich ein geeignetes Instrument, durch mehr Transparenz im Gesundheitsmarkt und steigenden Wettbewerb die Syntaktische und semantische Interoperabilität 681 Kosten im Zusammenhang mit IKT-Prozessen und -Dienstleistungen zu verringern. Die Zahl der Auswahlalternativen für alle Marktteilnehmer wird darüber hinaus durch interoperable Prozesse nachhaltig positiv variiert. Nicht zuletzt leistet Interoperabilität einen entscheidenden Beitrag im Sinne einer modernen, qualitativ hochwertigen Patientenversorgung, mit einem zentralen Fokus auf größtmögliche Transparenz innerhalb des Gesundheitswesens. Anhang This material includes SNOMED Clinical Terms® (SNOMED CT®) which is used by permission of the International Health Terminology Standards Development Organisation (IHTSDO). All rights reserved. SNOMED CT®, was originally created by The College of American Pathologists. „SNOMED“ and „SNOMED CT“ are registered trademarks of the IHTSDO. The LOINC® codes, LOINC® table (regardless of format), LOINC® Release Notes, LOINC® Changes File, and LOINC® Users’ Guide are copyright © 1995–2015, Regenstrief Institute, Inc. and the Logical Observation Identifiers Names and Codes (LOINC) Committee. All rights reserved. LOINC® and RELMA® are registered United States trademarks of Regenstrief Institute, Inc. Literatur AKTIN (2015) Implementierungsleitfaden Dokumentationsmodule Nationales Notaufnahmeregister. http://wiki.hl7.de/index.php?title=IG:Notaufnahmeregister. Zugegriffen: 20. Sept. 2015 Bowman S (2005) Coordination of SNOMED-CT and ICD-10: getting the most out of electronic health record systems. J AHIMA 76(7):60–61 DIMDI (2013) ATC-Klassifikation mit definierten Tagesdosen DDD. https://www.dimdi.de/static/ de/klassi/atcddd/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2014a) ICD-10-GM. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2014b) Alpha-ID − Identifikationsnummer für Diagnosen. https://www.dimdi.de/static/ de/klassi/alpha-id/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2014c) OPS. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/ops/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2014d) LOINC©/RELMA©. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/loinc/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2015a) ICD 10 GM Version 2015. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2015/. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 DIMDI (2015b) Alpha-ID – Identifikationsnummer für Diagnosen. https://www.dimdi.de/static/de/ klassi/alpha-id/index.htm. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 IHTSDO (2014) What is SNOMED CT. http://www.ihtsdo.org/snomed-ct/what-is-snomed-ct. Zugegriffen: 3. Dez. 2014 ISO (2014) Standards. http://www.iso.org/iso/home/standards.htm. Zugegriffen: 24. Sept. 2015 682 S. Thun und H. Dewenter Haas P (2006) Gesundheitstelematik: Grundlagen, Anwendungen, Potenziale. Springer, Heidelberg Homberger D (2000) Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. Reclam, Leipzig Ingenerf J (2007) Terminologien oder Klassifikationen: Was bringt die Zukunft? Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 50:1070–1083 McDonald C et al (2000) Sprechen Sie LOINC? http://www.loinc.de/literatur/Einfuehrung_in_ LOINC_%28HL7News8-2000%29.pdf. Zugegriffen: 24. Sept. 2015 Medikationsplan 2.0 Plus (2015) Implementierungsleitfaden Patientenbezogener Medikationsplan. http://wiki.hl7.de/index.php/IG:Patientenbezogener_Medikationsplan. Zugegriffen: 20. Sept. 2015 Ouksel AM, Shet A (1999) Semantic interoperability in global information systems – a brief introduction to the research area and the special section. SIGMOD Record 28(1):5–12 Schnabel A (2014) Definition der Interoperabilität. http://interoperability-definition.info/de/. Zugegriffen: 15. Okt. 2014 Wunder M, Grosche J (2009) Verteilte Führungsinformationssysteme. Springer, Heidelberg Über die Autoren Sylvia Thun, Dipl.-Ing.  Direktorin Competence Center E-Health. Im Jahr 2011 wurde sie zur Professorin an der Hochschule Niederrhein berufen. 2014 erhielt sie die Auszeichnung „Digitaler Kopf“ des BMBF und der Gesellschaft für Informatik für ihr Engagement in der Digitalisierten Medizin. Sie ist Vorsitzende von HL7 Deutschland, stellv. Obfrau des DIN Fachausschuss Medizinische Informatik sowie Delegierte des ISO TC 215 „Medizinische Informatik“ und bei IHE aktiv. Dr. Thun ist Inhaberin des gmds-Zertifikats „Medizinische Informatik“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Telemedizin, IT-Standards für z. B. Arzneimittelinformationen und die semantische Vernetzung von Systemen im Gesundheitswesen. Kontakt: Sylvia.Thun@hs-niederrhein.de Heike Dewenter Heike Dewenter arbeitet an der Hochschule Niederrhein als wissenschaftliche Projektleiterin am Competence Center eHealth/Fachbereich Gesundheitswesen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Standardisierung im Gesundheitswesen mit HL7, Terminfo und IHE sowie gesundheitsökonomische Evaluationen von E-HealthAnwendungen auf nationaler und EU-Ebene. Sie verfügt über einschlägige Expertise im Bereich der internationalen Referenzterminologie SNOMED CT und ist Mitglied des IHTSDO Consultant Terminologist Programs. Kontakt: heike.dewenter@hs-niederrhein.de Bildkommunikation in der Medizin: Vom PACS zum flächendeckenden E-HealthSystem Uwe Engelmann und Florian Schwind 1 Hintergrund Die Teleradiologie ist vermutlich das am weitesten entwickelte Gebiet der Telemedizin. Seit der Verbreitung des DICOM-Standards werden medizinische Bilder in Tausenden von Installationen versendet. Die dabei eingesetzten Technologien haben sich im Laufe der Jahre immer weiterentwickelt. Heutige Anwender können zwischen verschiedenen technischen Lösungen auswählen. Inzwischen hat aber auch die organisatorische Einbettung in regionale und überregionale E-Health-Lösungen eine zunehmende Bedeutung gewonnen. Die nahtlose Integration in die Primärsysteme und sektorenübergreifende und herstellerunabhängige Bildkommunikation im Rahmen von Routine-Workflows spielen inzwischen eine wichtigere Rolle als die technischen Fragestellungen der ersten Jahre. Der Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklung der Technik und Anwendungsszenarien der Teleradiologie und E-Health. Er basiert auf den langjährigen Erfahrungen in der Teleradiologie, die die Autoren seit Anfang der 90er Jahre im Rahmen von wissenschaftlichen und kommerziellen Projekten gesammelt haben. U. Engelmann (*) · F. Schwind  CHILI GmbH, Dossenheim, Deutschland E-Mail: u.engelmann@chili-radiology.com F. Schwind E-Mail: f.schwind@chili-radiology.com © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_35 683 684 U. Engelmann und F. Schwind 2 Einführung Die Entwicklung begann in den frühen 90er Jahren mit dem von der DeTeBerkom geförderten MEDICUS-Projekt. Auf der Basis einer Systemanalyse bei zukünftigen Anwendern wurde ein reines Teleradiologie-Projekt entwickelt und zur Vernetzung von dreizehn Kliniken installiert und in Routine eingesetzt. Nach zwei Jahren erfolgreichen Einsatzes der Software mit anschließender Evaluation (Engelmann et al. 1998a, S. 219–225), wurde die Software unter dem Namen CHILI neu konzipiert und ab 1997 als kommerzielles Produkt einer Spin-off-Firma des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg, auf den Markt gebracht. Dabei wurden wichtige Erkenntnisse aus dem MEDICUS-Projekt berücksichtigt. Eine von mehreren wichtigen Erfahrungen war, dass dedizierte Teleradiologie-Systeme keinen Sinn machen! Denn bei projektbegleitenden Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Anwender nur in etwa 30 % der Systemnutzungen ­Teleradiologie machten und hauptsächlich die Bilder ansahen – also befundeten! Daraus folgte die Erkenntnis, dass die Teleradiologie in die arbeitstäglichen Routinewerkzeuge, wie z. B. die Befundungs-Workstation, und insbesondere in den radiologischen bzw. sogar den klinischen Workflow integriert sein muss. Die kontinuierliche Analyse der Anwenderwünsche und Verbesserung der Software (Engelmann et al. 1997, S. 632–637; Engelmann et al. 1998b, S. 20–25) gehört auch heute noch zu den Prinzipien von CHILI. Benutzeranforderungen werden in der Routine gesammelt und dienen als Grundlage für die Weiterentwicklung (Engelmann et al. 2001, S. 449–459). Die Konformität zum Medizinproduktegesetz ist dabei eine wichtige Randbedingung. Mehrere grundlegende Architekturen auf der Basis verschiedener technischer Ansätze wurden so in den letzten Jahren implementiert und werden heute in der täglichen Routine eingesetzt. 3 Teleradiologie-Architekturen 3.1 Der prinzipielle Unterschied: Push oder Pull? In der klassischen Architektur eines Teleradiologie-Systems werden Bilder von einem Sender zu einem Empfänger übertragen (Push-Modell). Abb. 1 zeigt das Prinzip dieser Arbeitsweise: Die Daten werden beim Versand bis auf die Festplatte des Empfängers übertragen. Der Empfänger greift bei der Bildbetrachtung oder -befundung auf seinen lokalen Speicher zu. Eine andere Möglichkeit stellt das Pull-Modell dar (s. Abb. 2). Hierbei werden die Daten an einem vereinbarten Platz zur Verfügung gestellt, von dem der Empfänger sich die Bilddaten aktiv abholt. Dies ist in der Regel nicht der PACS-Server, sondern ein dedizierter Server, der sicherheitstechnisch geschützt ist und z. B. in der DMZ (demilitarisierten Zone) steht. Beispiele für solche Server sind Mailserver oder Webserver. Das prinzipielle Merkmal des serverbasierten Pull-Ansatzes ist, dass die Daten erst beim Bildkommunikation in der Medizin … 685 Abb. 1  Push-Modell Abb. 2  Pull-Modell expliziten Zugriff des Empfängers während der interaktiven Benutzung (Webserver) oder durch einen regelmäßigen Abholprozess zum Empfänger gesendet werden (Mailserver). 3.2 Peer-to-Peer oder serverbasiert? Die Topologie der Netzwerke ist abhängig davon, ob das Push- oder das Pull-Modell zum Einsatz kommt. Abb. 3 zeigt ein kleines Netzwerk aus sechs Partnern. Wie man leicht sieht, werden für eine bilaterale Vernetzung aller Partner (n*(n−1))/2 = 15 Verbindungen benötigt, die sowohl auf Sender- als auch auf Empfängerseite konfiguriert werden müssen und in diesem kleinen Beispiel bereits zu 30 Schnittstellenkonfigurationen führen. Das heißt, dass in bis zu 30 Fällen die Firewall-Einstellungen der Partner beantragt, diskutiert und konfiguriert werden müssen, was zu einem erheblichen 686 U. Engelmann und F. Schwind Abb. 3  Peer-to-Peer-Netzwerk Abb. 4  Serverbasiertes Netzwerk Kommunikations- und Diskussionsaufwand mit den für die Netzwerksicherheit verantwortlichen Personen führt. Betrachtet man dagegen Abb. 4, das den serverbasierten Ansatz skizziert, so sieht man schnell, dass die Zahl der Verbindungen sich von 15 auf 6 (also n) reduziert hat. Somit hat auch die Komplexität der Konfiguration des Netzwerkes stark abgenommen. Für jeden einzelnen Partner bedeutet dies, dass nur noch die Verbindung zum bzw. vom zentralen Server konfiguriert werden muss. Bildkommunikation in der Medizin … 687 3.3 Teleradiologie-Workstations In der klassischen Teleradiologie werden die Bilddaten von einer Workstation zu einer anderen übertragen. Beide Workstations sind in der Regel so ausgestattet, dass sie Bilddaten direkt an die Gegenseite senden können. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass beide Rechner sich gegenseitig per TCP-IP erreichen können. Für die Übertragung selbst werden verschiedene Protokolle auf der Basis von TCP-IP verwendet, wie z. B. DICOM C-Store oder proprietäre Protokolle mit eingebauten Sicherheitsmaßnahmen und Telekonferenzfunktionalität. Der Nachteil dieses Ansatzes besteht darin, dass eine direkte Verbindung zwischen den Workstations benötigt wird. Setzt einer der beiden Kommunikationspartner eine Firewall ein, muss diese Verbindung explizit in der Firewall konfiguriert werden. Die Einrichtung einer bilateralen Verbindung ist so – wenn auch mit hohem Aufwand – einmalig machbar. Benötigt eine Einrichtung jedoch viele Verbindungen und kommen spontan neue Kommunikationspartner hinzu, entsteht durch die Konfigurationsarbeit in den Firewalls ein Engpass, da die Zahl der Einstellungen exponentiell mit der Anzahl der möglichen Verbindungen zunimmt. 3.4 Teleradiologie per DICOM-E-Mail E-Mail ist heute eine akzeptierte und in Deutschland verbreitete Methode des Datenaustausches. Das Supplement 54 des DICOM-Standards definiert, wie DICOM-Bilder als Anhang (sogenannte MIME-Attachments) von E-Mails verschickt werden k­ önnen (DICOM Standards Committee 2000). Abb. 5 zeigt das Prinzip dieses Verfahrens in Teilnehmer 1 Modalities PACS Workstations VERSCHLÜSSELT DICOM TR System SMTP Firewall SMTP (SMTP, IMAP4, SSH) IMAP4 IMAP4 Mail Server Teilnehmer 2 Modalities PACS Workstations DICOM TR System SMTP Firewall IMAP4 (SMTP, IMAP4, SSH) IMAP4 Abb. 5  Datenfluss und Protokolle bei DICOM-E-Mail SMTP 688 U. Engelmann und F. Schwind vereinfachter Form: Teilnehmer 1 sendet z. B. Bilder per DICOM C-Store von der Modalität an das Teleradiologie-System. Dort wird jedes Bild einzeln digital signiert, verschlüsselt und als E-Mail mit dem Standard-Mailprotokoll SMTP auf den Mailserver übertragen. Dort fragt Teilnehmer 2 regelmäßig sein Postfach ab und holt seine E-Mails per IMAP bzw. IMAP/S-Protokoll ab. Dann werden die E-Mails entschlüsselt, die digitale Signatur überprüft und die daraus resultierenden ursprünglichen DICOM-Bilder per DICOM C-Store z. B. an das PACS oder eine Workstation gesendet (Engelmann et al. 2002, S. 612–617; Weisser et al. 2006). Die Verwendung dieser Methode ist in vielfacher Hinsicht vorteilhaft, aber es muss eine Reihe von zusätzlichen Maßnahmen implementiert werden, um z. B. Datenschutz und Datensicherheit zu gewährleisten. Andere zu berücksichtigende Aspekte sind Mengenbeschränkungen in Mailgateways sowie die Tatsache, dass radiologische Untersuchungen sehr viele Dateien umfassen, deren Anzahl bei Schnittbildserien beispielsweise zwischen 50 und 2500 liegen kann und somit ein manueller Versand und Empfang der Bilddaten nicht so einfach ist (Engelmann et al. 2002, S. 612–617). Die Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie @GIT der Deutschen Röntgengesellschaft DRG hat einen Minimalstandard für die Teleradiologie auf der Basis von E-Mail und dem DICOM Suppl. 54 entwickelt, der diese zusätzlich erforderlichen Maßnahmen berücksichtigt. Mehrere 100 Institutionen setzen diesen Standard inzwischen in Deutschland ein (Weisser et al. 2006). Große regionale Netzwerke, die auf DICOM-E-Mail basieren, sind das Teleradiologienetzwerk Rhein-Neckar-Dreieck (Teleradiologie-Projekt RND) und der Westdeutsche Teleradiologieverbund. Der Hauptvorteil in der Verwendung von DICOM-E-Mail besteht darin, dass ein Teleradiologienetzwerk einfach erweitert werden kann und keine aufwendigen Konfigurationen von Teleradiologie-Workstations und Firewalls erfordert. Eine Voraussetzung ist, dass alle Kommunikationspartner einen Mailserver im Internet erreichen können, zu dem die Bilddaten geschickt und von dem sie auch abgeholt werden. Als Mailserver empfiehlt sich ein explizit für die Teleradiologie bereitgestellter Server, da existierende Server möglicherweise den Austausch dieser großen Datenmengen durch Mengenbeschränkungen verhindern oder die Durchlaufzeit eines Standardservers zu lang ist. 3.5 Webserver Die Bildverteilung innerhalb von Kliniken wird in modernen PACS-Systemen (Picture Archiving and Communication Systems) mit Web-Technologie realisiert. Will man diese Technik auch für die Bildzustellung zum Einweiser oder gar bis zum Teleradiologen zu Hause erweitern, werden zusätzliche Funktionen für Datenschutz und Datensicherheit notwendig. Außerdem müssen die geringeren Übertragungsbandbreiten über das Internet berücksichtigt werden. Im lokalen Netzwerk (LAN) der Klinik oder der Praxis stehen heutzutage Netzwerke mit 100 oder 1000 Mbit/s zur Verfügung, während Bildkommunikation in der Medizin … 689 Standard-DSL-Anschlüsse geringere Bandbreiten zur Verfügung stellen, die zeitlich sehr stark schwanken und regional unterschiedlich sein können. Es ist daher erforderlich, Webserver für die Bilddatenverteilung um flexible Kompressionsverfahren und andere Methoden einer besseren Ausnutzung der geringeren Bandbreite zu erweitern, damit sie auch über langsame, öffentliche Leitungen genutzt werden können (Münch et al. 2004, S. 661–668). Das Ergebnis der Konsensus-Konferenz Bildkompression der Deutschen Röntgengesellschaft ist eine wichtige Orientierung bei der Kompression. Sie hat organ- und modalitätenbezogen definiert, bis zu welchem Kompressionsfaktor DICOM-Bilder verlustbehaftet per jpeg oder jpeg-2000 komprimiert werden können, ohne dass die diagnostische Aussagekraft beeinträchtigt wird (Loose et al. 2009; S. 32–37). Außerdem sind geeignete Methoden zur Sicherung des Datenschutzes und der Datensicherheit einzusetzen, um die Vertraulichkeit, Authentizität und Integrität zu gewährleisten. Eine weitere Verbesserung der klassischen Bildverteilung stellt die Möglichkeit der interaktiven Telekonferenz sowohl zwischen Anwendern des Webservers als auch zwischen Webserver und Befundungs-Workstations dar. Bei Realisierung dieser Maßnahmen ist der Ansatz der webbasierten Bildverteilung über die Grenzen einer Institution hinaus eine sehr sinnvolle Methode der Teleradiologie (vgl. Abb. 6) (Münch et al. 2004, S. 661–668). Abb. 6  Webportal zur Bereitstellung von Bildern im Haus, aber auch zum bilateralen Datenaustausch mit externen Partnern 690 U. Engelmann und F. Schwind 3.6 Webportal Das Webportal ist eine Erweiterung des klassischen Webserver-Ansatzes, bei dem nicht nur Bilder zum Ansehen oder Download zur Verfügung gestellt werden, sondern auch Daten zum Server hochgeladen werden können (s. Abb. 6). Das CHILI/Web-System stellt z. B. auch die DICOM-Protokolle zum Versand (C-Store SCU) und Empfang (C-Store SCP) im Applet zur Verfügung (Münch et al. 2004, S. 661–668). Somit können im LAN vorhandene DICOM-Geräte Bilder direkt per C-Store an das im Browser laufende Java-Applet schicken, das die Daten verschlüsselt zum Webserver weiterleitet. Neben dem Upload per DICOM-Protokoll können auch Dateien aus dem Filesystem oder von einer DICOMDIR-CD im Laufwerk des lokalen Rechners eingelesen und hochgeladen werden. Die auf verschiedene Weise zum Webserver hochgeladenen Daten können anschließend in den klinischen Workflow integriert werden. In der umgekehrten Richtung kann das Applet Daten per DICOM-C-Store an ein DICOM-Gerät im LAN senden (s. Abb. 6 unten rechts) (Münch et al. 2004, S. 661–668). Das Webportal ermöglicht außerdem die selektive Bereitstellung von Bildern für Einweiser per Webtechnologie. Auf dem Webserver werden die bereitgestellten Bilddaten explizit für den Einweiser „freigegeben“. Der Zugriff auf diese Daten erfolgt mit einem Schlüssel, den der Einweiser kennen muss. Die Übermittlung des Schlüssels erfolgt in diesem Fall in einer verschlüsselten E-Mail, die automatisch bei der Freigabe an den Einweiser gesendet wird. Zusätzliche Sicherheitsaspekte, wie zeitliche Begrenzung der Zugangsberechtigung, Client-Zertifikate oder Access-Gateways, die die Zugriffe aus dem Internet zusätzlich auf valide URLs prüfen und darauf begrenzen, sind möglich. Ebenso die Übermittlung des Zugangsschlüssels mit dem Arztbrief. Insbesondere zum Empfang von Daten von internationalen Patientenanfragen ist das Webportal ein wichtiges Werkzeug. Ein Beispiel hierzu ist das International Office der Universitätsmedizin Heidelberg, das eine CHILI-Telemedizinakte zum Hochladen von medizinischen Bilddaten und Dokumenten für Patienten aus dem Ausland bereitstellt (Heidelberg University Hospital. International Office). Die empfangenen Daten werden über IHE-Standardschnittstellen in den klinischen Workflow integriert. 3.7 Teleradiologie-Gateways Teleradiologie-Gateways (TR-Gateways) sind Blackbox-Systeme, die einfach in vorhandene PACS-Umgebungen integriert werden können, um darüber eine transparente Kommunikation mit externen Partnern zu realisieren. Dabei kann die Funktionalität des Gateways eine Kombination der bisher beschriebenen Kommunikationsmethoden sein. Der wesentliche Vorteil besteht darin, dass die Teleradiologie-Benutzer ihre vorhandenen Arbeitsplätze für Bildgewinnung und Befundung weiter nutzen können und keine Einarbeitung in neue Anwendungen notwendig ist. Daten werden mit den darin vorhandenen Protokollen des lokalen Systems (z. B. HL7, DICOM) auf das TR-Gateway gesendet, Bildkommunikation in der Medizin … 691 das automatisch die notwendigen Protokollumsetzungen in Abhängigkeit des (externen) Empfängers vornimmt. Zusätzlich werden Datenschutzmaßnahmen, Kompression und Fehlertoleranz durch das TR-Gateway sichergestellt. Diese Art der Realisierung ist gut geeignet, um viele Institutionen in großen Regionen oder ganzen Ländern mit einer wartungsfreundlichen, ausfallsicheren Blackbox-Lösung miteinander zu vernetzen. CHILI hat auf der Basis von zentralen Webservern in Kombination mit Teleradiologie-Gateways landesweite Netzwerke in mehreren Ländern in Südamerika (Chile, Brasilien und Kolumbien), sowie in Grönland realisiert (Engelmann et al. 2006, S. 121–123). 3.8 Heterogene Netzwerke Die zuvor beschriebenen Techniken können auch kombiniert werden, um mit mehreren Kommunikationspartnern, die jeweils verschiedene Protokolle einsetzen, Daten auszutauschen. Ein Beispiel für solch ein heterogenes Netzwerk wurde rund um die Universitätsklinik Freiburg aufgebaut. Die Kommunikationspartner benutzen DICOM über VPN, DICOM-E-Mail und HTTPS, um bildgebende Modalitäten, radiologische Workstations, spezifische Teleradiologie-Workstations, Webserver und E-Mail-Server miteinander zu verbinden. Die zentrale Komponente dieses Netzwerkes ist ein CHILI-Kommunikationsserver, der alle Protokolle beherrscht und per Autorouting mit integrierter Protokollumsetzung die Daten automatisch zwischen den beteiligten Systemen vermittelt (Engelmann et al. 2004, S. 265–269). 3.9 Workflow Integration (IHE) Teleradiologie-Systeme stellen oft isolierte Inseln in der IT-Landschaft der Betreiber dar. Dies liegt darin begründet, dass fremde Patienten-IDs und Auftragsnummern der externen Kommunikationspartner mit den eigenen Nummernkreisen kollidieren können. Ein weiteres Problem entsteht, wenn KIS, RIS und PACS stark miteinander verzahnt sind. Erlaubt ein PACS z. B. den Zugriff auf Bilddaten im PACS nur über das RIS oder KIS, sind normalerweise vom PACS per DICOM empfangene Bilddaten nicht sichtbar, da das KIS und das RIS diese nicht kennen. Dieses Problem betrifft nicht nur Daten, die per Teleradiologie empfangen werden, sondern auch Daten, die z. B. von einer mitgebrachten Patienten-CD eingelesen werden. Die Integration der Teleradiologie in die IT-Infrastruktur und den Workflow des Betreibers ist eine wichtige Voraussetzung für den langfristigen Erfolg einer Teleradiologie-Lösung. Die internationale Initiative „Integrating the Healthcare Enterprise“ (IHE) hat hierzu in ihrem technischen Rahmenwerk (Technical Framework) Lösungsvorschläge auf der Basis von etablierten, herstellerunabhängigen Standards erarbeitet (Hussein et al. 2004, S. 439–447). Das IHE-Profil „Import Reconciliation Workflow“ (IRWF) definiert 692 U. Engelmann und F. Schwind Abb. 7  Bereinigung von Fremddaten gemäß IHE Profil Import Reconciliation Workflow. (IHE d) die notwendigen Schritte der beteiligten Informationssysteme, um eine „saubere“ Integration von Fremddaten in das eigene System zu gewährleisten (Abb. 7) (IHE d). 4 Teleradiologie nach RöV Wenn eine Untersuchung mit Röntgenstrahlung erfolgt und sich der Radiologe, der die rechtfertigende Indikation prüft und die Befundung durchführt, nicht am Ort der Untersuchung befindet, bedarf diese Art der Teleradiologie einer Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde. Da sich dies aus der Röntgenverordnung (RöV) ergibt, spricht man hier von „Teleradiologie nach Röntgenverordnung“. Die Teleradiologie unterliegt gemäß der Röntgenverordnung der behördlichen Genehmigung. Diese erfolgt auf Antrag. Neben technischen Voraussetzungen wird eine Reihe formeller Nachweise verlangt, die aufgrund der föderalen Strukturen in Deutschland von Behörde zu Behörde unterschiedlich sein können. Die Qualitätssicherungsrichtlinie QS-RL (QS-RL 2003) legt die organisatorischen und technischen Voraussetzungen fest, die zur Genehmigung und Anwendung der Teleradiologie zu erfüllen sind. Für die Aufsichtsbehörden, die Teleradiologie-Einrichtungen nach RöV genehmigen und prüfen, ist die QS-RL die wichtigste Grundlage. Die Richtlinie legt dabei gar nicht so viel selbst fest, sondern verweist im Wesentlichen auf die deutsche Norm DIN Bildkommunikation in der Medizin … 693 6868-159: Abnahme- und Konstanzprüfung in der Teleradiologie nach RöV (DIN 6868159:2009-03). Diese ist Teil der Reihe DIN 6868 „Sicherung der Bildqualität in röntgendiagnostischen Betrieben“, in der z. B. auch die Norm zur Qualitätssicherung von Befundungsmonitoren DIN 6868-157 zu finden ist. Eine Zusammenfassung der regulatorischen Anforderungen, Hinweise für die Beantragung, Einrichtung und Qualitätsüberwachung von Teleradiologie-Systemen nach RöV, ist in der Publikation von Engelmann zu finden (Engelmann 2015). 5 Qualitätssicherung in der Teleradiologie Der Normenausschuss Radiologie der Deutschen Röntgengesellschaft NAR hat unter der Federführung des Autors die DIN 6868-159 für die Abnahme- und Konstanzprüfung von Teleradiologie-Systemen nach Röntgenverordnung erarbeitet (Engelmann und Seidel 2010; DIN 6868-159:2009-03 (D) 2009) die 2009 veröffentlicht wurde (DIN 6868159:2009-03 (D) 2009) und seitdem angewendet wird. Eine überarbeitete Version steht kurz vor der Veröffentlichung (Stand Nov. 2016). Fortschrittliche Teleradiologie-Systeme stellen Funktionen für die Sicherstellung und Überwachung der Qualität bereit, um den Betreiber in effektiver und zuverlässiger Weise bei den täglichen und monatlichen Qualitätssicherungsmaßnahmen zu unterstützen. Das Teleradiologie-Statistikmodul des CHILI-Systems ist ein Beispiel für eine solche Software, die dies leistet (Schwind et al. 2011, S. 218–221). Für den DICOM-E-Mail-Standard wurden inzwischen Service-Nachrichten definiert, die u. a. auch der Qualitätssicherung nach der DIN dienen sollen (Deutsche Röntgengesellschaft e. V. 2013). 6 Beispiele für bildbasierte E-Health-Szenarien 6.1 Ein PACS über mehrere Standorte Krankenhaus-Radiologien werden heute zunehmend auch durch niedergelassene Radiologen betrieben, die mehrere Standorte haben, nur an einem Standort archivieren, aber an allen Standorten befunden wollen. In solchen Szenarien muss die Teleradiologie ein integraler Bestandteil des PACS-Systems sein, das so gut implementiert ist, dass es im Grunde „unsichtbar“ für den Anwender ist. Die Herausforderung für die Technik ist hierbei, dass der Übergang zwischen ambulanter und stationärer Versorgung datenschutzmäßig sauber umgesetzt wird. Weitere Herausforderungen sind mangelnde Verfügbarkeit von internationalen Standards, wie HL7 oder IHE-Profile bei den IT-Systemen im niedergelassenen Bereich, die aber lösbar sind, wie Beispiele in der Routine zeigen. 694 U. Engelmann und F. Schwind Auch regionale Verbünde von Krankenhäusern, die zwar mehrere Radiologien haben, aber nur an einer Stelle archivieren wollen, benötigen in ihren verteilten PACS-Systemen Teleradiologie-Funktionalitäten, die sowohl für den Radiologen wie für den Kliniker unsichtbar bleiben sollten, dafür aber in den klinischen Workflow integriert sind. 6.2 TeleRad M-V in Mecklenburg-Vorpommern Radiologisch unterversorgte Regionen setzen die Teleradiologie seit mehreren Jahren erfolgreich in der täglichen Routine ein. Das primäre Ziel des Netzwerkes TeleRad M-V in Mecklenburg-Vorpommern ist die Bereitstellung einer für alle Gesundheitseinrichtungen offenen und landesweiten telemedizinischen Plattform unter Berücksichtigung aller Bedingungen des Datenschutzes, der Datensicherheit sowie der Hochverfügbarkeit gemäß der zuvor genannten DIN 6868-159 (Ministerium für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern). 6.3 Kommerzielle Teleradiologie-Anbieter Inzwischen werden mehrere kommerzielle Teleradiologienetzwerke in Deutschland betrieben, die nicht nur eine Erweiterung der Leistungen eines Krankenhauses darstellen, sondern sich explizit auf die Teleradiologie als Dienstleistung spezialisiert haben. Als Beispiele seien hier die Firmen Imaging Service AG (Niederpöcking) (http://www. imaging-service.de), die Reif und Möller Diagnostic Network AG (Dillingen) (http://diagnostic-network-ag.de), sowie die Radiologie Nordhessen (Bad Zwesten) (http://www. radiologie.net) genannt. Alle genannten Anbieter zeichnen sich dadurch aus, dass neben dem elektronischen Versand der Bilddaten, welcher an sich schon als Teleradiologie bezeichnet wird, auch die vollständige Befundkommunikation integriert ist. Das bedeutet, dass neben den Bilddaten auch alle weiteren Daten (z. B. Klinischer Befund, Protokollfestlegung etc.) und Zeitabläufe dokumentiert werden, und ein Befund in elektronischer Form zur Verfügung gestellt wird. Die in Abschn. 4 genannten regulatorischen Anforderungen werden dabei selbstverständlich eingehalten und die angebotenen Services liegen auf einem hohen qualitativen Niveau mit entsprechender Prozessqualität, die bei den beiden letztgenannten Anbietern auf Qualitätsmanagementsystemen nach ISO/EN/DIN 9001 basieren. Das Netzwerk von Reif und Möller ist mit ca. 60 versorgten Krankenhäusern und ca. 30 Teleradiologen wahrscheinlich das größte kommerzielle deutsche Teleradiologienetzwerk (Reif und Möller Diagnostic Network AG). Dass die teleradiologische Versorgung kleiner Krankenhäuser durch Dienstleister kommerziell für beide Seiten sinnvoll ist, wurde bereits vor ca. zehn Jahren von Plathow und Kollegen publiziert (Plathow et al. 2005, S. 1016–26). Bildkommunikation in der Medizin … 695 6.4 Aktensysteme mit DICOM-Daten und anderen Bildern In den letzten Jahren kommen vermehrt elektronische Akten auf den Markt, die als Gesundheitsakte, Krankenakte, Patientenakte oder unter anderen thematischen Schwerpunkten angeboten werden. Auf Anwenderseite ist zu beobachten, dass am Behandlungsprozess eines Patienten beteiligte Institutionen immer intensiver miteinander kooperieren wollen oder müssen. Auch in der Forschung werden Akten für wissenschaftliche Studien realisiert und angewendet. All diesen elektronischen Akten ist gemeinsam, dass sie in der Regel webbasiert sind und Patientendaten über Institutionen hinweg speichern oder per Link miteinander verbinden. Solche Systeme widmen sich zunächst dem Austausch alphanumerischer Daten. Es stellt sich aber schnell heraus, dass die Integration der medizinischen Bilder im DICOMFormat in solche Systeme ebenfalls notwendig ist. Das heißt, dass auch überregionale Aktensysteme in der Lage sein müssen, mit bildgebenden Geräten oder PACS-Systemen Daten auszutauschen, temporär zu speichern und auch anzuzeigen. In verschiedenen Projekten und kommerziellen Produkten konnte gezeigt werden, dass die Integration eines bildbasierten Webservers, der über die entsprechenden Schnittstellen zu KIS/RIS/PACS verfügt, in solche möglich ist. Hierfür stehen entsprechende Standards aus dem DICOMBereich („Web Access to DICOM Persistent Objects“ (WADO)) (DICOM Part 18) bzw. aus der IHE-Initiative (XDS) (IHE Radiology Technical Framework. Supplement 2005– 2006) als sinnvolle Grundlagen zur Verfügung. Teleradiologische Systeme verschmelzen so mit regionalen oder organisationsübergreifenden E-Health-Lösungen. Ein Beispiel hierfür ist die Integration des CHILI-WADO+ Gateways mit Soarian Integrated Care (Siemens Healthcare AG, jetzt Cerner GmbH) (Siemens Healthcare AG), die in mehreren deutschen Universitätskliniken im Einsatz ist (Haferkamp und Resch 2010, S. 99–100). 6.5 DICOM-Daten in klinischen Studiensystemen Das ‚CIOffice Forschungsnetze‘ der Universitätsmedizin Göttingen stellt IT-Infrastrukturen für verschiedene BMBF-Projekte, insbesondere seltene Erkrankungen, bereit (Universitätsmedizin Göttingen). Dabei wird die CHILI/Telemedizinakte zur dezentralen Sammlung von DICOM-Bildern für multizentrische Studien eingesetzt. Die an der Studie teilnehmenden Partner können die dezentral gewonnenen Daten webbasiert und verschlüsselt in die Studienakte hochladen (Müller-Mielitz et al. 2010, S. 52–55; IHE Radiology Technical Framework. Supplement 2005–2006). Der Charme dieser Lösung liegt darin, dass der Anwender außer einem Internetzugang und einem Webbrowser keine zusätzliche Software benötigt. Die Besonderheit in diesem Kontext ist die Pseudonymisierung der Patientendaten mit dem PID-Generator der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung TMF e. V. (TMF e. V.). Der tangible und intangible Nutzen solcher telemedizinischer Netzwerke und deren Break-Even-Punkt 696 U. Engelmann und F. Schwind zu einem wirtschaftlichen Betrieb wurden von Müller-Mielitz und Kollegen mehrfach untersucht und entsprechende Methoden der ökonomischen Analyse hierfür entwickelt (Müller-Mielitz et al. 2010, S. 52–55; Sarikouch et al. 2010; Müller-Mielitz und Goldschmidt 2012, S. 81–82). 6.6 Die elektronische FallAkte eFA Die elektronische FallAkte (eFA) ist eine 2006 gestartete Initiative für die Schaffung eines einheitlichen, bundesweit gültigen Kommunikationsstandards für Ärzte. Das Ziel ist es, mithilfe der eFA-Plattform den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor deutlich zu verbessern (Fallakte e. V. 2011a). Seit Anfang 2011 hat sich die eFA-Initiative zum Ziel gesetzt, auch DICOM-Bilder in den eFA-Standard mit aufzunehmen. Hierbei fließen die in Abschn. 6 aufgezeigten Implementierungsbeispiele und internationale Standards (DICOM, HL7 und IHE) ein (Fallakte e. V. 2011b). 6.7 Forschungsakten mit medizinischen Bildern in der klinischen Routine Ein weiteres Beispiel aus dem wissenschaftlichen Bereich ist der Einsatz der CHILITelemedizinakte (s. Abb. 8) mit DICOM-Bildern in der Hadronen-Therapie im Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) (HIT Heidelberg). Dort ist die Akte direkt mit dem KIS, Labor-Informationssystem, mehreren Strahlentherapiesystemen und zwei PACS-Systemen integriert. Internationale Kooperationspartner können DICOM-Strahlentherapiedaten verschlüsselt hochladen und an gemeinsamen Studien teilnehmen oder Patienten gemeinsam therapieren (Kessel et al. 2011). In diesem Kontext ist die webbasierte Darstellung der Strahlentherapiepläne im DICOM-Viewer eine extrem wichtige Funktionalität, die im Rahmen des Projektes entwickelt wurde (s. Abb. 9). Dabei stehen nicht nur die Teleradiologie-Funktionen im Vordergrund, obwohl dies mit Strahlentherapiedaten heute nicht selbstverständlich ist, sondern auch die studienindividuelle Dokumentation in der Hadronen-Therapie, bei der neben anderen Datenschutzaspekten auch ausgefeilte Rollen- und Rechtekonzepte zum Einsatz kommen (Kessel et al. 2012a, b). Das System ist inzwischen über fünf Jahre in der klinischen Routine und wurde wissenschaftlich validiert (Kessel et al. 2014). Abb. 8 zeigt das Zusammenspiel der zentralen Akte (ULICE System) mit den anderen Informationssystemen des Heidelberger Universitätsklinikums und den Schnittstellen nach außen zu internationalen Kooperationspartnern. Bildkommunikation in der Medizin … 697 Abb. 8  Zentrale Telemedizinakte (ULICE) mit angeschlossenen Informationssystemen und Schnittstellen nach außen. (HIT Heidelberg 2014) Abb. 9  CHILI/Java Webviewer, Anzeige eines Bestrahlungsplans. (DICOM RT) 698 U. Engelmann und F. Schwind 6.8 Das bundesweite Netzwerk TKmed© Neben den Radiologen sind inzwischen auch die Unfallchirurgen zu wichtigen Akteuren der Teleradiologie geworden. Die deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) hat sich in ihrem Weißbuch zum Ziel gesetzt, dass jeder Schwerverletzte innerhalb von 30 min nach dem Unfall in einem für die Behandlung der Verletzungsfolgen geeigneten Krankenhaus kompetent versorgt werden soll (DGU Weißbuch). Hierzu gehört der Aufbau von Traumanetzen, die nach den Kriterien des DGU-Weißbuchs Schwerverletztenversorgung zertifiziert werden (DGU TraumaNetzwerk). Um dies zu ermöglichen, werden natürlich auch teleradiologische Netzwerke benötigt, die Datenmengen in ganz anderen Dimensionen übertragen, da es sich hier in der Regel um Polytraumen mit über 2000 CT-Bildern pro Untersuchung handelt (DGU Weißbuch). Das von der Akademie der Unfallchirurgie (AUC) hierfür initiierte bundesweite Netzwerk TKmed® unterstützt die Versorgung von Schwerverletzten durch den Austausch von Behandlungs- und Bilddaten im Rahmen einer Notfallkonsultation, einer zweiten Meinung, einer Verlegung, der Rehabilitation oder in der Nachbehandlung (DGU TraumaNetzwerk). Der Datenschutz der TKmed-Lösung wird durch eine 2-Faktor-Authentifizierung (Besitz und Wissen) realisiert. Dabei wird die Ende-zu-Ende-Sicherheit auf Basis einer symmetrischen Verschlüsselung gewährleistet. Die Trennung zwischen dem ITBetrieb und der Bereitstellung der Schlüssel durch ein externes Sicherheitszentrum ist ein weiterer wichtiger Baustein des Sicherheitskonzeptes. Versandpartner können auf Abteilungsebene ausgewählt werden, dabei erhalten nur Personen Zugriff, die gemäß einer Abfrage in einem Organisationsverzeichnis (LDAP) zu dieser Abteilung gehören (TKmed Homepage; s. Abb. 10). TKmed ist im Routinebetrieb und wird derzeit von ca. Sender Empfänger Portal 1 TK- 2 3 4 Externes Sicherheitszentrum TK- 6 5 Schlüsselverwaltung Med. Berechtigung Abb. 10  Architektur der TKmed-Infrastruktur mit verschlüsselter Datenübertragung vom Sender zum Empfänger und einem externen Sicherheitszentrum als unabhängige Instanz für die Schlüsselverwaltung und Zugangsberechtigung Bildkommunikation in der Medizin … 699 200 Einrichtungen genutzt (TKmed Homepage; Staemmler et al. 2013, S. 202–207; Staemmler et al. 2015). Um Teilnehmer des TKmed-Netzwerkes zu werden, erwerben die Einrichtungen eine der drei Softwarelösungen von TKmed, die sich durch unterschiedliche Funktionen, Komfort und Kosten unterscheiden. Weiterhin ist die Teilnahme mit einer abgestuften jährlichen Teilnahmegebühr verbunden. Eine Einschränkung auf bestimmte medizinische Fachgebiete gibt es nicht. Die Lösung ist offen für alle Sektoren des Gesundheitswesens. Die Anwendungsszenarien haben sich nach der anfänglichen Konzentration auf die Versorgung von Schwerverletzten stark erweitert. So wird das Netzwerk heute u. a. auch für die Teleradiologie nach Röntgenverordnung (RöV) genutzt (DIN 6868-159:2009-03; QS-RL 2003; Staemmler et al. 2015). Mit der Erweiterung TKmed Direkt können inzwischen auch Außenstehende den Teilnehmern dieses Netzwerks Daten spontan senden, ohne erst Verträge zu schließen, Software zu installieren oder Investitionen tätigen zu müssen (Engelmann et al. 2015). 6.9 Ein IHE-basiertes Netzwerk für die Patientenversorgung Im Rahmen des BMBF geförderten Projekts INFOPAT wurde in der Metropolregion Rhein-Neckar (MRN) mit der „Persönlichen, einrichtungsübergreifenden, elektronischen Patientenakte“ PEPA eine auf IHE-Schnittstellen basierende Patientenakte geschaffen, bei der der CHILI/Web Viewer als Bildbetrachter sowohl für Fachkräfte als auch für Patienten zum Einsatz kommt (INFOPAT-Projekt, Metropolregion Rhein-Neckar – MRN). Die Schnittstellen zwischen den einzelnen Kernkomponenten (PACS, Akte und Bildverteilung) sind mit dem IHE-Profil XDS.b bzw. XDS-I.b (Cross-Enterprise Document Sharing) realisiert (s. Abb. 11) (IHE a). Das PACS bzw. dessen Konnektor registriert die Daten von Patienten, die ihre Einwilligung erteilt haben via XDS-ProvideAndRegister an einem Registry bzw. Repository. Sollen Daten z. B. aus der Akte heraus zur Anzeige gebracht werden, so werden die entsprechenden Datensätze per XDS Query an der Registry abgefragt und dann je nach Berechtigung aus den zugehörigen Repositories geladen und angezeigt. Bei dieser Lösung werden DICOM Daten nicht zentral vorgehalten, sondern nur referenziert und erst zum Zeitpunkt der Betrachtung aus den verschiedenen Primärsystemen oder Repositories geholt. Alle Verbindungen zwischen den beteiligen Systemen sind verschlüsselt und die Authentifizierung sowie Autorisierung wird zertifikatsbasiert über ein SAML basiertes Single Sign-on-Verfahren abgebildet. Dadurch wird die Sicherheit gewährleistet und den Benutzern der Wechsel zwischen Akte und Bildbetrachter nahtlos ermöglicht (IHE b). Um Zugriffe auf Patientendaten nachvollziehbar zu machen, kommt das IHE-Profil ATNA (Audit Trail and Node Authentication) zum Einsatz (IHE c). Jede Komponente 700 U. Engelmann und F. Schwind XDS Registry XDS Repository Retrieve Imaging Document Set [RAD-69] XDS Source Registry Stored Query [ITI-18] Provide & Register Imaging Document Set [RAD-68] Register Document Set [ITI-42] XDS Consumer PACS HL7 MPI KIS/RIS Abb. 11  Bildkommunikation in einer IHE-Infrastruktur (XDS.b und XDS-I.b Profile) (INFOPATProjekt Metropolregion Rhein-Neckar – MRN). (Uwe Engelmann, Florian Schwind) des Netzwerks schickt kontinuierlich Audit-Nachrichten an ein Audit Repository, welches alle Zugriffe protokolliert und durchsuchbar macht. Das so entstandene Netzwerk ist durch den Gebrauch offener IHE-Standards herstellerunabhängig und bietet eine gute Basis für den Anschluss weitere Partner und zukünftiger Anwendungsfälle. 7 Diskussion Im Laufe der Jahre hat es in der Teleradiologie eine ständige Weiterentwicklung von isolierten Systemen auf der Basis von proprietären Protokollen zu vollständig in den klinischen Workflow integrierten Systemen auf der Grundlage von standardisierten Protokollen gegeben. Vor dem Aufbau eines Teleradiologienetzwerkes oder den Anschluss an ein existierendes Netzwerk sollte eine Analyse der vorhandenen IT-Systeme (z. B. KIS, RIS und PACS, Modalitäten und Teleradiologie-Systeme) vorgenommen werden. Dabei sollte die Sicherheitspolitik der beteiligten Institutionen und deren vorhandene Sicherheitsinfrastruktur (z. B. Firewalls) berücksichtigt werden. Große Aufmerksamkeit ist auch den Bedürfnissen der zukünftigen Teleradiologie-Anwender zu widmen. Die Auswahl der für den individuellen Fall angemessenen technischen Umsetzung sollte auf den Ergebnissen dieser Analyse beruhen und im Ergebnis eine der zuvor dargestellten Bildkommunikation in der Medizin … 701 technischen Möglichkeiten oder eine Kombination verschiedener Techniken sein. Fast alle dargestellten technischen Möglichkeiten wurden mit Softwarekomponenten der CHILI-Software-Familie realisiert und befinden sich im täglichen Routineeinsatz. 8 Zusammenfassung und Ausblick Anfang der 90er Jahre wurden dedizierte Teleradiologie-Systeme, wie z. B. die KAMEDIN- oder MEDICUS-Workstation, entwickelt. Mitte der 90er Jahre wurde erkannt, dass reine Teleradiologie-Workstations, die ausschließlich für die Teleradiologie genutzt werden, keinen Sinn ergeben. Die Restriktion auf diesen Einsatzzweck ist nicht nur teuer, sondern bringt auch gravierende Nachteile bei der (gelegentlichen) Nutzung mit sich, wie vergessene Passwörter oder mangelnde Vertrautheit mit dem System. Mit der Konzeption der CHILI-Architektur wurde daher konsequent auf einer allgemeinen Workstation aufgebaut, die der Anwender in der täglichen Routine primär für seine Standardaufgaben (z. B. Befundung) nutzt, die jedoch über eingebaute TeleradiologieFunktionen verfügt. Heutzutage sind die CHILI-Systeme, sowohl die radiologische Befundungs-Workstation als auch der webbasierte Viewer, telekonferenzfähig und können Daten über verschiedene standardisierte Protokolle mit anderen Partnern austauschen (CHILI GmbH). Krankenhaus- oder konzernübergreifende Telemedizinakten wurden entwickelt und in der Routine eingesetzt (Wiesenauer et al. 2012, S. 187–190). Dabei sind inzwischen auch die radiologischen Bilder integriert. War die Teleradiologie zunächst ein Gebiet, das ausschließlich von Radiologen zur Einholung von Zweitmeinungen und dann zur Primärdiagnostik am entfernten Ort eingesetzt wurde, spielt die Integration von DICOM-Bildern nun auch im generellen klinischen Kontext bei der sektorenübergreifenden Kooperation eine wichtige Rolle. Hierbei werden die Systeme nicht nur in der Diagnostik und Therapie, sondern auch in der multizentrischen Forschung und auch multidisziplinär eingesetzt. Als eine der ersten „Tele-Disziplinen“ hat die Teleradiologie stark von der internationalen Standardisierung in der digitalen Radiologie profitiert. Nach der Lösung der technischen Probleme hat sie sich schon früh mit der Standardisierung von Qualitätssicherungsmaßnahmen beschäftigt und entsprechende Normen entwickelt, die in anderen E-Health-Bereichen noch nicht erkennbar sind. Abschließend kann festgestellt werden, dass die Teleradiologie längst in der Regelversorgung angekommen ist. Sie spielt für die Qualität und Effizienz in der Medizin eine wichtige Rolle und ist insbesondere für die schnelle und kompetente Diagnostik und Therapie der Patienten nicht mehr wegzudenken. Literatur CHILI GmbH, Dossenheim, Heidelberg. Nationale und internationale Publikationen und Vorträge von CHILI-Mitarbeitern. http://www.chili-radiology.com/service/publikationen/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 702 U. Engelmann und F. Schwind Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DGU. TraumaNetzwerkD der DGU. http://www.dgutraumanetzwerk.de/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DGU. Weißbuch Schwerverletztenversorgung. http:// www.dgu-online.de/qualitaet-sicherheit/schwerverletzte/weissbuch-schwerverletztenversorgung.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Deutsche Röntgengesellschaft e.  V. (2013) Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie. DICOM-E-MAIL-Standardempfehlung. Version 1.7. http://www.agit.drg.de/de-DE/1228/ dicom-e-mail-standardempfehlung. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 DICOM Standards Committee, Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM) Part 18: Web Access to DICOM Persistent Objects (WADO) (2015). http://medical.nema.org/standard.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 DICOM Standards Committee, Digital Imaging and Communications in Medicine (DICOM). Supplement 54: DICOM MIME Type. http://medical.nema.org/Dicom/supps/sup54_pc.pdf. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 DIN 6868-159:2009-03 (D) (2009) Sicherung der Bildqualität in röntgendiagnostischen Betrieben – Teil 159: Abnahme- und Konstanzprüfung in der Teleradiologie nach RöV. Beuth, Berlin. Engelmann U (2015) Was Teleradiologen wissen müssen. Teleradiologie – Stand der Technik und regulatorische Anforderungen. Jahreskatalog 2015. RT- Radiologie Technik & IT-Systeme. Mai 2015 Engelmann U, Seidel B (2009) DIN 6868-159: Eine Norm für die Abnahme- und Konstanzprüfung in der Teleradiologie nach Röntgenverordnung In: Duesberg (Hrsg) e-Health 2010. Medical Future, Solingen, S 51–54 Engelmann U, Schröter A, Baur U, Werner O, Schwab M, Müller H, Bahner M, Meinzer HP (1997) Second generation teleradiology. In: Lemke HU, Vannier MW, Inamura K (Hrsg) Computer assisted radiology and surgery. Elsevier, Amsterdam, S 632–637 Engelmann U, Schröter A, Baur U, Werner O, Schwab M, Müller H, Bahner M, Meinzer HP, Borälv E, Göransson B (1998a) The German teleradiology system MEDICUS: system description and experiences in a German field test. Eur J Radiol 26:219–225 Engelmann U, Schröter A, Baur U, Werner O, Schwab M, Müller H, Meinzer HP (1998b) A threegeneration model for teleradiology. IEEE Trans Inf Technol Biomed 2(1):20–25 Engelmann U, Schröter A, Schwab M, Meinzer HP (2001) Reality and perspectives in teleradiology: a personal view based on personal experiences. IEEE Trans Inf Technol Biomed 64(2–3):449–459 Engelmann U, Schroeter A, Schweitzer T, Meinzer HP (2002) The communication concept of a regional stroke unit network based on encrypted image transmission and the DICOM-mail standard. In: Lemke HU, Vannier MW, Inamura K, Farman AG, Doi K, Reiber JHC (Hrsg) CARS 2002. Springer, Heidelberg, S 612–617 Engelmann U, Münch H, Schröter A, Meinzer HP, Jäckel A (Hrsg) (2004) Von der bilateralen Teleradiologie zur Vernetzung von Regionen: Der CHILI-Ansatz. Telemedizinführer Deutschland, Ausgabe 2005. Deutsches Medizin Forum, Ober-Mörlen, S 265–269 Engelmann U, Münch H, Schröter A, Schweitzer T, Christoph K, Eilers R, Olesen H, Møller Jensen J, Meinzer HP (2006) A teleradiology concept for entire greenland. Int J CARS 1:121–123 Engelmann U, Münch H, Rimmler B, Schwind F, Staemmler M, Sturm J (2015) TKmed Direkt: Spontaner Austausch von medizinischen Bildern und Dokumenten mit Kollegen, Zuweisern und Patienten. In: Duesberg F (Hrsg) E-Health 2016. Medical Future, Solingen, S 84–87 Fallakte e. V. (2011a) Homepage. http://www.fallakte.de/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Fallakte e. V. (2011b) Presseerklärung: Röntgenbilder werden Standard für die Fallakte. http:// www.fallakte.de/index.php/presse/28-roentgenbilder-werden-standard-fuer-die-fallakte. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Bildkommunikation in der Medizin … 703 Haferkamp S, Resch S (2010) Die Einführung einer elektronischen Kommunikationsplattform im Rahmen eines Traumanetzwerks am UK Aachen. MDI 2010(3):99–100 Heidelberg University Hospital. International office. http://www.heidelberg-university-hospital. com/en/treatment-inquiry-appointment/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 HIT Heidelberg (2014) Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT). Homepage. http://www. klinikum.uni-heidelberg.de/Heidelberger-Ionenstrahl-Therapie-HIT.106580.0.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Hussein R, Engelmann U, Schröter A, Meinzer HP (2004) Implementing a full-feature PACS solution in accordance with the IHE technical framework: the CHILI approach. Academic Radiology 11(4):439–447 IHE (2005) Radiology Technical Framework. Supplement 2005–2006. Cross-Enterprise Document Sharing for Imaging (XDS-I). http://www.ihe.net/Technical_Framework/upload/IHE_RADTF_Suppl_XDSI_TI_2005-08-15.pdf. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Imaging Service AG. http://www.imaging-service.de/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Integrating the Healthcare Enterprise® (IHE) a. Cross-Enterprise Document Sharing. http://wiki. ihe.net/index.php?title=Cross-Enterprise_Document_Sharing. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Integrating the Healthcare Enterprise® (IHE) b. Cross-Enterprise User Assertion (XUA). http:// wiki.ihe.net/index.php?title=Cross-Enterprise_User_Assertion_%28XUA%29. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Integrating the Healthcare Enterprise® (IHE) c. Audit Trail and Node Authentication (ATNA). http://wiki.ihe.net/index.php?title=Audit_Trail_and_Node_Authentication. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Integrating the Healthcare Enterprise Initiative (IHE) d. Import Reconciliation Workflow. http:// wiki.ihe.net/index.php?title=Import_Reconciliation_Workflow. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Kessel K, Bougatf N, Münch H, Bohn C, Oetzel D, Combs S, Bendl R, Meinzer HP, Debus J, Engelmann U (2011) A web-based telemedicine record for documentation and exchange of DICOM RT images and other RT treatment data for multicenter clinical studies in hadron therapy. Ing J CARS 6(1):S63–65 Kessel K, Bougatf N, Bohn C, Engelmann U, Oetzel E, Bendl R, Debus J, Combs S (2012a) Webbased documentation system with exchange of DICOM RT for multicenter clinical studies in particle therapy Proc. SPIE 8319, Medical Imaging. Advanced PACS-based imaging informatics and therapeutic applications, 83190R (Feb 23, 2012a). doi:10.1117/12.911091 Kessel K, Bougatf N, Bohn C, Habermehl D, Oetzel D, Bendl R, Engelmann U, Orecchia R, Fossati P, Pötter R, Dosanjh M, Debus J, Combs S (2012b) Connection of European particle therapy centers and generation of a common particle database system within the European ULICE-framework. Radiat Oncol 7: 115.doi:10.1186/1748-717X-7-115 (Jul 24, 2012) Kessel K, Bohn C, Engelmann U, Oetzel D, Bougatf N, Bendl R, Debus J, Combs SE (2014) Fiveyear experience with setup and implementation of an integrated database system for clinical documentation and research. Computer Methods and Programs in Biomed114:206–217 Loose R, Braunschweig R, Kotter E, Mildenberger P, Simmler R, Wucherer M (2009) Kompression digitaler Bilddaten in der Radiologie Ergebnisse einer Konsensuskonferenz. Fortschr Röntgenstr 181:32–37 Metropolregion Rhein-Neckar (MRN) Projekt INFOPAT. http://www.infopat.eu. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Ministerium für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern. Teleradiologie-Netzwerk Mecklenburg-Vorpommern. http://www.telerad-mv.de/content/telerad_broschuere.pdf. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Müller-Mielitz S, Goldschmidt AJW (2012) Wirtschaftlichkeitsbewertung bei TeleradiologieProjekten: Einfacher Methodenvorschlag und exemplarisches Vorgehen. In Eiff W von, Lorenz E (Hrsg) Jahrbuch eHealth und Gesundheitswirtschaft. Wegweiser-Verlag, Berlin, S 81–82 (ISBN: 978-3-942324-14-4) 704 U. Engelmann und F. Schwind Müller-Mielitz S, Ohmann C, Goldschmidt AJW (2010) Klinische Studien mit EDC und PACS. MDI 2010(2):52–55 Münch H, Engelmann U, Schröter A, Meinzer HP (2004) The integration of medical images with the electronic patient record and their web-based distribution. Acad Radiol 11:661–668 Münch H, Schröter A, Meinzer HP, Engelmann U (2006) A webbased approach to distributing medical images for referring physicians outside hospitals without specialised user management. Int J CARS 1:130–132 Plathow C, Walz M, Essig M, Engelmann U, Schulz-Erltner D, Delorme S, Kauczor HU (2005) Teleradiologie: Betriebswirtschaftliche Analyse von CT-Untersuchungen eines kleineren Röfo 2005 Juli. 177(7):1016–26 (Abstract at PUBMED) QS-RL – Richtlinie zur Durchführung der Qualitätssicherung bei Röntgeneinrichtungen zur Untersuchung und Behandlung von Menschen nach den §§ 16 und 17 der Röntgenverordnung – Qualitätssicherungs-Richtlinie (QS-RL) – vom 20. November 2003 (GMBL. 2004, S 731), geändert durch Rundschreiben vom 28. April 2004 Radiologie Nordhessen. Das Radiologie-Netz. http://www.radiologie.net/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Reif und Möller Diagnostic Network AG. http://diagnostic-network-ag.de/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Sarikouch S, Beerbaum P, Gutberlet M, Barth P, Rakebrandt F, Müller-Mielitz S, Sax U, Peters B, Kühne T (2010) Nutzen telemedizinischer Netzwerke für die kardiovaskuläre Forschung: MR-Bildgebung angeborener Herzfehler als Beispiel. Kardiologe. 4(6):474–486. doi:10.1007/ s12181-010-0270-6 Schwind F, Münch H, Schröter A, Meinzer HP, Engelmann U (2011) Qualitätssicherung in heterogenen Teleradiologie-Netzwerken. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2012. Informationstechnologien und Telematik im Gesundheitswesen. Medical Future, Solingen, S 218–221 Siemens Healthcare AG. Soarian Integrated Care. http://www.siemens.co.in/en/about_us/index/ our_business_segments/healthcare/soarian-integrated-care.htm. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Staemmler M, Walz M, Weisser G, Engelmann U, Luitjens KD, Schmucker U, Sturm, J (2013) TKmed® – Telekooperation für die einrichtungsübergreifende Versorgung. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2014. Solingen, S 202–207 Staemmler M, Luitjens KD, Boemmel T van, Hafa U, Engelmann U, Muench H, Sturm J (2015) TCmed – a secure tele collaboration network for medical professionals including workflow support and patient participation. Advances in Computing, Communications and Informatics (ICACCI), 2015 International Conference, S 1345–1351, 10.–13. Aug. 2015. doi:10.1109/ ICACCI.2015.7275799 Teleradiologie-Projekt RND. Homepage. http://www.teleradiologie-rnd.de/. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 TKmed Homepage. Bundesweites Netzwerk für den Austausch von medizinischen Daten. http:// tkmed.org/home.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 TMF e. V. Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung – PIDGenerator. http://www.tmf-ev.de/Themen/Projekte/V015_01_PID_Generator.aspx. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Universitätsmedizin Göttingen. CIOffice Forschungsnetze. http://www.mi.med.uni-goettingen.de/ de/content/forschung/90.html. Zugegriffen: 29. Nov. 2015 Weisser G, Walz M, Ruggiero S, Kämmerer M, Schröter A, Runa A, Mildenberger P, Engelmann U (2006) Standardization of teleradiology using Dicom e-mail: recommendations of the German Radiology Society. Eur Radiol 16(3):753–8 Wiesenauer M, Kutsche M, Scherer MA, Marquardt K, Schröter A, Münch A, Engelmann U (2012) Telemedizin aus der Sicht eines Krankenhauskonzerns – technische Grundlagen und Erfahrungen aus der Routine. In: Duesberg F (Hrsg) e-Health 2013. Solingen, S 187–190 Bildkommunikation in der Medizin … 705 Über die Autoren Dr. Uwe Engelmann  hat 1983 ein Diplom in der Medizinischen Informatik der Universität Heidelberg erworben und 1990 auf dem Gebiet der wissensbasierten Bildverarbeitung promoviert. Er ist Gründungsgesellschafter der CHILI GmbH mit Sitz in Dossenheim bei Heidelberg. Das Zertifikat Medizinische Informatik (GI und GMDS) wurde ihm 1992 verliehen. 1993 gründete er mit Kollegen den Berufsverband der Medizinischen Informatiker BVMI, dessen Ehrenmitglied er seit 2006 ist. Er ist aktives Mitglied und Gutachter in der GMDS, in der Deutschen Röntgengesellschaft, der Europäischen Röntgengesellschaft und der deutsche Repräsentant der Europäischen Gesellschaft für Medical Imaging. Kontakt: u.engelmann@chili-radiology.com Florian Schwind  ist seit 2008 ist er bei der CHILI GmbH in Dossenheim/Heidelberg tätig. Dort ist er für die Softwareentwicklung für Clients und Server im Bereich PACS und Teleradiologie zuständig und beschäftigt sich insbesondere mit DICOM E-Mail- und IHE-basierter Vernetzung. Florian Schwind erwarb sich praktische medizinische Kenntnisse durch eine Ausbildung zum Rettungsassistenten, welche er durch das Studium der Informatik im Gesundheitswesen an der Hochschule Mannheim erweiterte und als Diplom-­Informatiker (FH) abschloss. Kontakt: f.schwind@chili-radiology.com Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements für Krankenhäuser im Bereich der Medizintechnik und der IT Armin Gärtner Immer wieder stellen Krankenhäuser die Frage, ob es eine (gesetzliche) Verpflichtung gibt, ein Risikomanagement nach DIN EN 80001-1 über die Integration von Medizinprodukten in ein IT-Netzwerk durchzuführen und wenn ja, in welchen Quellen diese zu finden ist. Diese Frage wird insbesondere regelmäßig im Zusammenhang mit der Diskussion über die Anwendung der Risikomanagementnorm DIN EN 80001-1 (DIN EN 80001-1 2011) gestellt. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, welche Gesetze und Verordnungen klinisches und technisches Risikomanagement fordern und zeigt Anwendungsbeispiele. Zunächst soll hierbei der Begriff „Risikomanagement“ erläutert werden unter Bezugnahme auf die Risikomanagementnormen DIN EN 80001-1 und DIN EN ISO 14971 (DIN EN ISO 14971 2013). 1 Was versteht man unter Risikomanagement im Krankenhaus? Nach Prof. Land (2011) versteht man unter einer Risikoanalyse im Krankenhaus die prospektive Analyse möglicher zukünftiger Probleme. Mögliche Entwicklungen oder Ereignisse werden antizipiert und anhand ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und der möglichen Schadenswirkung bewertet. Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung der TÜV Media GmbH in überarbeiteter Form aus folgendem Werk übernommen: MIT – Medizintechnik und Informationstechnologie, TÜV Media GmbH, ISBN 978-3-8249-1415-9. http://www.tuev-media.de/produkte/91415-medizintechnik-und-informationstechnologie.php A. Gärtner (*)  Ingenieurbüro für Medizintechnik, Erkrath, Deutschland E-Mail: gaertner@gaertner-mit.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_36 707 708 A. Gärtner Eine Risikoanalyse ist immer Bestandteil eines Risikomanagements; das Risikomanagement umfasst neben der Risikoanalyse auch immer die Maßnahmen zur Reduzierung von erkannten Risiken. Mit anderen Worten, Risikomanagement umfasst Vorgehensweisen, mittels derer zukünftige Risiken minimiert oder sogar vermieden werden sollen, noch bevor sie auftreten. Das Initiieren von Risikomanagement obliegt in jedem Unternehmen der Geschäftsleitung. Mithin richten sich die in diesem Beitrag beschriebenen gesetzlichen Anforderungen an ein Risikomanagement im Gesundheitswesen an die Leitung eines Krankenhauses oder anderer Einrichtungen in Form der Geschäftsführung. Dieses belegt beispielsweise auch die bereits erwähnte DIN EN 80001-1. Diese spricht explizit die sogenannte „Oberste Leitung“ an. Unter „Oberster Leitung“ versteht die Norm gemäß Abschn. 2 „Personen oder Personengruppen, welche die verantwortliche Organisation leiten und überwachen und die für das medizinische IT-Netzwerk auf oberster Ebene verantwortlich sind“. Im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet man allerdings nicht diesen normativen Begriff, sondern versteht unter der „Obersten Leitung“ üblicherweise die Geschäftsleitung oder den Vorstand einer Klinik, bestehend aus Ärztlichem Direktor, Pflegedirektor und Kaufmännischen Direktor. Diese übernehmen die medizinische, pflegerische und wirtschaftliche Verantwortung und somit auch für das Risikomanagement. Die DIN EN 80001-1 beschreibt dazu in Abschn. 3.3 die Verantwortung der „Obersten Leitung“, indem sie einen Aufgabenkatalog definiert, mit dem ein Risikomanagement für vernetzte Medizinprodukte umgesetzt werden kann. 2 Was versteht man unter einem klinischen Risikomanagement? Kahla-Witzsch (2005) erweitern den vorher genannten allgemeinen Begriff des Risikomanagements auf alle Verfahren und Techniken in Form des klinischen Risikomanagements, mit denen im klinischen Alltag Gefährdungen von Patienten reduziert, minimiert oder sogar vermieden werden sollen. Die Autoren begründen eine Notwendigkeit zur Durchführung eines umfassenden klinischen Risikomanagements mit, der massiven Zunahme von (Schadensersatz-)Ansprüchen aus Behandlungsfehlern, die Notwendigkeit der Gewährleistung von Patientensicherheit und die zunehmende Zurückhaltung der Haftpflichtversicherer, Krankenhäuser ohne Risikomanagementsystem zu versichern. 3 Worin liegt der Nutzen eines klinischen Risikomanagements? Eine Geschäftsleitung kann/sollte Risikomanagement im klinischen Bereich einsetzen, um Gefährdungen der Patientensicherheit zu ermitteln und daraus resultierende Risiken möglichst zu minimieren oder sogar zu vermeiden. Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 709 Nach dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ 2015) wird Patientensicherheit als „Abwesenheit unerwünschter Ereignisse“ definiert. Unerwünschte Ereignisse können im Krankenhaus vielfältig durch Mängel in allen Bereichen auftreten: • Hygienische Mängel (siehe die Ereignisse im Klinikum Mannheim – Spiegel online 2015) • Technische Mängel in der Betriebstechnik und Medizintechnik • Defekte Geräte mit Gefährdung durch Ableitströme oder Berührungsströme • Fehlende Einweisung oder fehlende Qualifikation der Anwender • Organisationsmängel • Mangelhafte oder nicht ausreichende IT-Sicherheit • Mangelnde Verfügbarkeit von vernetzten Geräten • Fehlender Schutz medizinischer Daten • Mangelnde Ausbildung • U. a. Der Nutzen eines klinischen Risikomanagements liegt darin, alle Bereiche, in denen Patienten behandelt werden, systematisch zu untersuchen und zu analysieren, ob Gefährdungen auftreten (können), durch die Patienten beeinträchtigt und/oder gefährdet werden können. Dies betrifft insbesondere auch die Integration von Medizinprodukten in IT-Netzwerke von Krankenhäusern, um medizinische Daten zu speichern, auszutauschen und/oder zu verarbeiten. Aufgrund der Risikogeneigtheit von medizinischen IT-Netzwerken definiert die Risikomanagementnorm DIN EN 80001-1 drei wesentliche Schutzziele, die bei einer Integration von Medizinprodukten in einem IT-Netzwerk stets zu beachten sind: • Sicherheit (Patientensicherheit) • Daten- und Systemsicherheit (Schutz medizinischer Daten) • Effektivität (Verfügbarkeit) Die Zielsetzung der Norm besteht darin, der Geschäftsleitung eines Krankenhauses ein Risikomanagementverfahren vorzuschlagen, mit dem sie sicherstellen kann, dass diese Schutzziele möglichst erreicht und dauerhaft aufrechterhalten werden. Für die Integration von Medizinprodukten in ein IT-Netzwerk kann ein Krankenhaus eine interne Richtlinie für das Risikomanagement nach Abschn. 3.3 a) der Norm formulieren. Eine solche Richtlinie soll insbesondere beschreiben, • wie das Krankenhaus die drei Schutzziele der DIN EN 80001-1 sicherstellt, • wann ein Risikomanagement durchzuführen ist • und welche Dokumente zu erstellen sind. 710 A. Gärtner Der Nutzen der von der Norm vorgeschlagenen Richtlinie besteht darin, dass die Geschäftsleitung des Krankenhauses mit der Verabschiedung einer solchen Richtlinie manifestiert, dass und wie sie Risikomanagement durchführen will bzw. durchführt. Zunächst sollen erst einmal die Begriffe des Risikomanagements anhand der Risikomanagement DIN EN ISO 14971 erläutert werden, auf die die DIN EN 80001-1 referenziert. 4 Begriffe des Risikomanagements nach DIN EN ISO 14971 Nachfolgend werden die wesentlichen Begriffe des Risikomanagements kurz vorgestellt und an einem Beispiel erläutert. In der Praxis fällt auf, dass insbesondere die Begriffe • Risikomanagement • Risikoanalyse • Risikobewertung • Risikoeinschätzung nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern einige von ihnen, vielfach synonym verwendet werden (Abb. 1). Der Begriff Risikomanagement nach DIN EN ISO 14971 umfasst die systematische Anwendung von Managementstrategien, Verfahren und Praktiken auf die Aufgaben der Analyse, Bewertung, Beherrschung und Überwachung von Risiken. Als Risikoanalyse definiert die Norm einen analytischen Prozess, mit dem man systematisch alle möglichen Informationen zusammenträgt, um Gefährdungen zu identifizieren und daraus resultierende Risiken einzuschätzen. 3RV *HIlKUGXQJ 5LVLNRDQDO\VH 5LVLNREHZHUWXQJ P|JOLFKH 8UVDFKH $: 5LVLNRPLQLPLHUXQJ 6FKDGHQV$XVZLUNXQJDXI 3DWLHQW$QZHQGHU'ULWWH 1RUPHQ 'RNXPHQW 0D‰QDKPH 6WDQGDUGV ]XP ]XU 6SH]LILNDWLRQX 1DFKZHLVGHU 6WDWXVGHU 0LQLPLHUXQJ V 0D‰QDKPH 8PVHW]XQJ 6* %HZHUWXQJ5HVWULVLNR $: 6* Abb. 1  Begriffe des Risikomanagements nach DIN EN ISO 14971 5 1HXHV5LVLNR" 5 Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 711 Als Risikobewertung definiert die Norm einen Prozess, durch den man Risiken aus der Analyse mit vorgegebenen Risikokriterien vergleicht, um die Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz von Risiken zu bestimmen. Als Risikobeherrschung definiert die Norm einen Prozess, mit denen Maßnahmen implementiert werden, um Risiken zu verringern bzw. zu reduzieren. Risiko (Wahrscheinlichkeit und Schaden) Ein Risiko stellt nach DIN EN ISO 14971 die Kombination der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Schadens und des Schweregrades dieses Schadens dar. Unter einem Schaden versteht die Norm eine physische Verletzung oder Schädigung der menschlichen Gesundheit oder Schädigung von Gütern oder der Umwelt. Damit ein Schaden auftreten kann, muss eine Gefährdung bestehen, die nach der Norm als potenzielle Schadensquelle definiert wird. Eine Gefährdung führt nicht zu einem Schaden; ein Schaden kann dann auftreten, wenn eine Gefährdungssituation auftritt, das heißt eine Situation bzw. Umstände vorliegen, unter denen Menschen, Güter oder die Umwelt einer oder mehreren Gefährdungen ausgesetzt sind. Die Begriffe des Risikomanagements sollen an einem allgemeinen Beispiel verdeutlicht werden. Jeder weiß, dass Haie im Meer eine Gefährdung darstellen. Schwimmt ein Mensch im offenen Meer, besteht das Risiko, durch einen Haibiss, zu Schaden zu kommen oder sogar getötet zu werden (Abb. 2). Gefährdung durch Haie Quelle: Rheinische Post Abb. 2  Gefährdung durch einen Hai – Risiko 712 A. Gärtner Solange ein Mensch am Strand bleibt und sich nicht in tieferes Wasser begibt, entsteht keine Gefährdungssituation, also eine Situation, in der ein Mensch der Gefährdung durch einen Hai ausgesetzt ist. Diese entsteht dann, wenn ein Mensch in tieferes Wasser schwimmt, wo der Hai ihn erreichen kann. Der Schwimmer setzt sich durch das Schwimmen in tiefere Gewässer einer konkreten Gefährdungssituation aus, in der der Hai ihn durch einen Biss verletzen oder sogar töten kann. Es besteht also die Wahrscheinlichkeit eines Haiangriffs mit einem möglichen Schaden. Der daraus resultierende Schaden kann im Verlust von Gliedmaßen oder schlimmstenfalls auch im Tod des Schwimmers liegen, der sich einer solchen Gefährdungssituation aussetzt. In diesem Beispielfall stellt das konkrete Risiko die Kombination aus der Wahrscheinlichkeit eines Haibisses (Wahrscheinlichkeit des Schadens) und dem Schweregrad dieses Schadens (Bissverletzung, Verlust von Gliedmaßen, Tod) dar. Ein Schwimmer setzt sich also einem Risiko in Form eines wahrscheinlichen Schadens durch einen Haibiss aus, wenn er im Meer mit einer Haigefährdung schwimmt. 5 Gesetzliche Grundlagen und Verpflichtung zum Risikomanagement In welchen Gesetzen und Verordnungen finden sich nun die Verpflichtung für Krankenhäuser, klinisches Risikomanagement durchzuführen? Es bestehen zwei gesetzliche Grundlagen bzw. Vorgaben, die Krankenhäuser und andere Anbieter im Gesundheitswesen verpflichten, klinisches Risikomanagement durchzuführen: 1. Allgemeine Grundlage in Form des sogenanntes Patientenrechtegesetzes 2013 2. Medizinproduktegesetz speziell in Kombination mit der MedizinprodukteBetreiberverordnung Beide gesetzlichen Vorgaben werden nachfolgend vorgestellt und ihre Bedeutung für Medizinprodukte und speziell für die Integration von Medizinprodukten in IT-Netzwerke beschrieben. 6 Patientenrechtegesetz Das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013 verpflichtet Krankenhäuser allgemein, Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme einzuführen (Patientenrechtegesetz 2013). Es modifiziert dazu Paragrafen des Sozialgesetzbuches (SGB), das als maßgebliches Gesetz die Anforderungen des Patientenrechtegesetzes umsetzt. Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 713 Nachfolgend werden die für das klinische Risikomanagement relevanten Regelungen wiedergegeben. Patientenrechtegesetz Artikel 2 Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch 8. Nach § 137 Abs. 1c wird folgender Absatz 1d eingefügt (1d) Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in seinen Richtlinien über die grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement nach Absatz 1 Nummer 1 erstmalig bis zum 26. Februar 2014 wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und legt insbesondere Mindeststandards für Risikomanagementund Fehlermeldesysteme fest. Über die Umsetzung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen in Krankenhäusern ist in den Qualitätsberichten nach Absatz 3 Nummer 4 zu informieren. Als Grundlage für die Vereinbarung von Vergütungszuschlägen nach § 17b Absatz 1 Satz 5 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss Anforderungen an einrichtungsübergreifende Fehlermeldesysteme, die in besonderem Maße geeignet erscheinen, Risiken und Fehlerquellen in der stationären Versorgung zu erkennen, auszuwerten und zur Vermeidung unerwünschter Ereignisse beizutragen. Ein Fokus der Modifikation des Sozialgesetzbuches durch das Patientenrechtegesetz liegt also auf der Patientensicherheit, indem Krankenhäuser und Arztpraxen verpflichtet werden, Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme einzuführen. Mithilfe dieser Verfahren soll die Sicherheit Behandlungsabläufe in medizinischen Prozessen zum Schutz der Patientinnen und Patienten optimiert werden, indem sowohl Fehler ausgewertet und prophylaktisch Gefährdungen reduziert bzw. vermieden werden. 7 Gesetzlicher Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland1. Er legt in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für mehr als 70 Mio. Versicherte fest und definiert, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der GKV erstattet werden. Darüber hinaus beschließt der G-BA Maßnahmen der Qualitätssicherung für den ambulanten und stationären Bereich des Gesundheitswesens. Mit der Änderung des § 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB (Sozialgesetzbuch) wurde der G-BA beauftragt, eine Richtlinie zu formulieren und zu veröffentlichen, in der grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement festgelegt werden. 1https://www.g-ba.de. 714 A. Gärtner Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme werden als wesentliche Elemente eines Qualitätsmanagements angesehen. Der G-BA hat am 23.01.2014 auftragsgemäß diese Richtlinie veröffentlicht, mit der die Krankenhäuser verpflichtet werden, wesentliche Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Patientensicherheit ein- und durchzuführen. Richtlinie über grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, Psychotherapeuten und medizinischen Versorgungszentren Fassung vom: 18.10.2005 BAnz. Nr. 248 (S. 17 329) vom 31.12.2005 Letzte Änderung: 23.01.2014 BAnz AT 16.04.2014 B3 In Kraft getreten am: 17.04.2014 Zuständig: Unterausschuss Qualitätssicherung § 1 Zweck der Richtlinie Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, Psychotherapeuten und medizinischen Versorgungszentren sind nach § 135a Abs. 2Nr. 2 SGB V verpflichtet, ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln. § 2 Ziele eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements (…) Durch die Identifikation relevanter Abläufe, deren systematische Darlegung und dadurch hergestellte Transparenz sollen Risiken erkannt und Probleme vermieden werden. (…) Die Richtlinie führt in § 3 weiter aus, wie die Grundelemente eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements aussehen können, zu dem insbesondere auch Risikomanagementund Fehlermeldesysteme zählen. Nachfolgend werden die für die Betrachtung des technischen Risikomanagements in der Medizintechnik und IT-relevanten Grundelemente auszugsweise aus der Richtlinie wiedergegeben: • Patientensicherheit, • Strukturierung von Behandlungsabläufen, • Mitarbeiterschulung und -training, • Kooperation und Management, • Gestaltung von Kommunikationsprozessen (intern/extern) und Informationsmanagement inklusive Risikokommunikation • u. a. Dazu schlägt die Richtlinie gemäß § 4 folgende beispielhafte Instrumente für ein einrichtungsübergreifendes Qualitätsmanagement vor: • Prozess- und Ablaufbeschreibungen, Durchführungsanleitungen, • Organigramm, Checklisten, • Risiko- und Fehlermanagement: Festlegungen zum Umgang mit Risiken und sicherheitsrelevanten Ereignissen (das heißt, diese zu erkennen, zu bewerten, zu bewältigen, zu überwachen) und Implementierung von Verbesserungsprozessen. Dafür können z. B. Erkenntnisse aus Patientenbefragungen, Teambesprechungen, Beschwerden, Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 715 sicherheitsrelevanten Ereignissen (z. B. Beinaheschäden und Fehler) sowie die Teilnahme an einem Fehlermeldesystem genutzt werden, • u. a. Anlässlich der Veröffentlichung der Richtlinie hat der G-BA am 23. Januar 2014 einen Presseartikel veröffentlicht, der die aufgestellten Anforderungen plastisch zusammenfasst. Hierin heißt es (Leitfaden G-BA 2014): Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme zur Verbesserung der Patientensicherheit in Klinik und Praxis Berlin, 23. Januar 2014 – In vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Praxen sowie in Krankenhäusern gelten künftig neue Vorgaben zum Aufbau von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen. Dies hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am Donnerstag in Berlin beschlossen und erfüllt damit fristgerecht einen Auftrag aus dem im Februar 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz. Dieses sieht unter anderem vor, dass der G-BA Mindeststandards für Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme in der medizinischen Versorgung GKV-Versicherter festlegt. So hat der G-BA in den Qualitätsmanagement-Richtlinien zur vertragsärztlichen, vertragszahnärztlichen sowie stationären Versorgung nach umfassender Einbeziehung von Experten für das Risikomanagement beispielsweise das Erfordernis einer Risikoanalyse, -bewertung, -bewältigung und -überwachung sowie Schulungen der Beteiligten als Mindeststandards vorgegeben. Für Fehlermeldesysteme soll gelten, dass diese für Mitarbeiter in Praxen und Kliniken niederschwellig zugänglich sind und Meldungen freiwillig, anonym und sanktionsfrei erfolgen können und dass daraus entsprechende Verbesserungen resultieren. 8 Beispiel für Risikomanagement im Sinne des § 2 der Richtlinie des G-BA Es stellt sich mithin die Frage, wie ein Krankenhaus mit der vom G-BA aufgestellten Richtlinie umgehen sollte? Insbesondere stellt sich die Frage, wie ein Krankenhaus die Anforderungen aus § 2 der Richtlinie, wie • • • • die Sicherstellung von Patientensicherheit, die Strukturierung von Behandlungsabläufen, die Schulung und das Training usw. effektiv und effizient umsetzen kann? Im Nachfolgenden sollen diese Anforderungen anhand eines konkreten Beispiels erläutert werden, das die Sicherheit von beatmeten Patienten auf einer Intensivstation mit zehn Beatmungsplätzen betrachtet. Die Station betreut beatmungspflichtige Patienten, die aufgrund von Operationen und/ oder Erkrankungen von der Funktionsfähigkeit der Beatmungsgeräte zwingend abhängen. Ohne die Sicherstellung des dauerhaften Einsatzes der Beatmungsgeräte könnten 716 A. Gärtner diese Patienten nicht behandelt und versorgt werden, insbesondere, weil sie eine zu schwache Eigenatmung haben, einen eingeschränkten Gasaustausch haben oder ihre Eigenatmung durch Relaxierung und/oder Sedierung aus medizinischen Gründen ausgeschaltet bzw. stark gedämpft ist. Beatmungsgeräte sind medizinische elektrische Geräte, die den Patienten durch ein Gemisch aus Druckluft und Sauerstoff kontinuierlich beatmen. Sie sind auf eine kontinuierliche, ununterbrochene elektrische Spannungsversorgung angewiesen. Die ausreichende Spannungs- und Gasversorgung stellen mithin die wesentlichen kritischen Aspekte für die Sicherheit der Patienten dar. Welche Ursachen können nun aus Sicht des klinischen Risikomanagements die sichere Versorgung und Betreuung von Beatmungsgeräten beeinträchtigen? • Unvorhergesehene Geräteausfälle bzw. -defekte • Fehlende Reservegeräte (Zehn Beatmungsplätze mit zehn Beatmungsgeräten, kein Reservegerät) • Fehlende Einweisung bzw. Unsicherheit der Mitarbeiter im Umgang mit Beatmungsgeräten • Fehlendes Verständnis aufgrund mangelnder Sprachbeherrschung • Fehlendes Training der Mitarbeiter im Umgang mit Geräteausfällen • Unvorhergesehene Ausfälle der Spannungsversorgung und der Sicherheitsstromversorgung (SV) • Überlastung der Mitarbeiter • Zu wenig Mitarbeiter nachts und am Wochenende • Usw. Folgende beispielhafte Fragen können herangezogen werden, um mögliche Gefährdungen von beatmeten Patienten auf einer Intensivstation zu ermitteln: • Reicht die Personalbesetzung im ärztlichen und pflegerischen Bereich aus, zehn Beatmungspatienten zu betreuen? • Welche Mindestbesetzung muss sichergestellt werden? • Beherrschen die Mitarbeiter das oder die eingesetzten Beatmungsgeräte? • Gibt es einen Mix an unterschiedlichen Beatmungsgeräten oder gibt es eine einheitliche Ausstattung mit einem einheitlichen Beatmungsgerätetyp? • Beherrschen die Mitarbeiter die Gerätetechnik einer inhomogenen Ausstattung von unterschiedlichen Beatmungsgeräten auch in Notfällen und Krisensituationen? • Führt das Krankenhaus regelmäßige Wartungen an den Beatmungsgeräten durch bzw. hat es diese Aufgabe im Rahmen eines Wartungsvertrages an den Hersteller übertragen? • Sind die Stufen der Patientenversorgung bei einem Ausfall der Spannungsversorgung im Sinne eines Eskalationsprozesses gemäß den nachfolgenden Fragestellungen beschrieben und mit den Mitarbeitern der Station abgestimmt? Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 717 • Verfügen die Beatmungsgeräte über einen eingebauten Akku mit genügend Kapazität, um bei einem Ausfall der regulären Spannungsversorgung und einem Ausfall der Sicherheitsstromversorgung z. B. über ein Dieselaggregat bis zu einer Übernahme der manuellen Beatmung durch weitere Mitarbeiter Patienten zu beatmen? • Verfügt jedes Beatmungsgerät über eine manuelle Beatmungsmöglichkeit in Form eines Beatmungsbeutels? • Kann jeder Mitarbeiter im Extremfall (Ausfall der Spannungsversorgung, Ausfall der Sicherheitsstromversorgung SV) manuell beatmen? • Verfügt die Intensivstation über ein elftes Beatmungsgerät als Reservegerät für einen Defekt Ausfall eines der zehn Geräte? • Werden die Mitarbeiter im Notfallmanagement trainiert, wenn z. B. die Spannungsversorgung ausfällt, der sogenannte Notstromdiesel aber nicht startet oder ausfällt? • Können zwei bis drei Anwender nachts bei einer kritischen Situation die Versorgung von zehn Beatmungspatienten aufrechterhalten, wenn z. B. die Spannungsversorgung ausfällt und der Notstromdiesel nicht anspringt? • U. a. Ein klinisches Risikomanagement, das die Sicherheit bzw. die Abhängigkeit von beatmeten Patienten von Beatmungsgeräten betrachtet, beinhaltet nicht nur eine Analyse von Gefährdungen und Risiken, sondern umfasst vor allem Maßnahmen, mit denen erkannte Risiken so weit wie möglich reduziert oder sogar vermieden werden. Dabei sind nicht nur Risiken durch die technische Infrastruktur, sondern vielmehr auch organisatorische/personelle Risiken wie z. B. eine zu niedrige Personalausstattung zu betrachten. Ergibt eine Risikoanalyse, dass kritische Situationen wie ein Ausfall der Elektroversorgung mit der vorhandenen Personalzahl nicht zu bewältigen ist, muss als Maßnahme zur Reduzierung eines solchen Risikos die Personalzahl einer Intensivstation mit Beatmungspatienten entsprechend erweitert werden. Dies bedeutet in Konsequenz, dass die Personalkosten zur Vermeidung von Risiken steigen. Klinisches Risikomanagement macht aber nur dann Sinn, wenn eine Klinikleitung auch Konsequenzen aus einer Risikoanalyse zieht, um erkannte Risiken zu reduzieren, vor allem dann, wenn entsprechende Maßnahmen Geld kosten. Dies gilt insbesondere dann, wenn zusätzliches Personal benötigt wird, um ein Risiko zu minimieren. Die Tab. 1 verdeutlicht, wie das Ergebnis eines Risikomanagements speziell für die Sicherheit von Beatmungspatienten beim Ausfall der Spannungsversorgung einer Intensivstation aussehen sollte. Dass die Auseinandersetzung mit den vorstehend beschriebenen Fragen alles andere als überflüssig und durchaus sinnvoll ist, lässt sich an einem Beispiel aus dem Jahre 2007 veranschaulichen, als der Orkan Kyrill über Europa hinweg zog. Der Orkan führte in einigen Städten zum Ausfall der allgemeinen Spannungsversorgung der Stadtwerke. Auch einige Krankenhäuser waren hiervon betroffen, wie z. B. ein Krankenhaus in NRW mit je einer chirurgischen und einer internistischen Intensivstation 718 A. Gärtner Tab. 1  Ursachen der Gefährdung der Patientensicherheit und Maßnahmen Ursachen für die Gefährdung der Patientensicherheit Maßnahme Zu niedrige, reduzierte Personalausstattung für Intensivstation Anpassung der Stellenzahl – Sicherstellen der Versorgung der Patienten durch ausreichende Anzahl von Mitarbeitern Ausfall der allgemeinen Spannungsversorgung durch Bauarbeiten Unwetter oder anderes Sicherheitsstromversorgung (SV) über Notstromdiesel Ausfall Sicherheitsstromversorgung über Notstromdiesel Beatmungsgeräte enthalten Akku-Option Beatmungsgeräte enthalten Akku-Option Alarmierung zusätzlicher Mitarbeiter im Haus und aus der Freischicht Alarmierung zusätzlicher Mitarbeiter im Haus und aus der Freischicht Festlegung in einem Notfallplan, regelmäßige Kommunikation und Übung mit den Mitarbeitern mit 20 beatmeten (beatmungspflichtigen) Patienten. Durch den Ausfall der allgemeinen Spannungsversorgung sprang der Notstromdiesel des Krankenhauses an, um in Form der Sicherheitsstromversorgung (SV) nach VDE 0100 Teil 710 (DIN VDE 0100-710 VDE 0100-710, 2012) die Spannungsversorgung lebenserhaltender Geräte, wie z. B. von Beatmungsgeräten zu übernehmen. Kurz nach dem Starten des Diesels kam es jedoch zu einem Kurzschluss auf der Steuerungsplatine, sodass der Diesel ausfiel und keine SV zur Verfügung stand. Der Ausfall der allgemeinen Spannungsversorgung und des Notstromdiesels erfolgte am frühen Nachmittag mit einer geringeren Personalbesetzung als in der Frühschicht. Dennoch gelang es den Mitarbeitern, alle im Haus verfügbaren Pflegekräfte und Ärzte zusammenzuholen, um die 20 Patienten manuell zu beatmen. Sogar Mitarbeiter aus der Technik/Medizintechnik wurden herangezogen, um unter Aufsicht eines Oberarztes einige Zeit Patienten manuell zu beatmen. Insgesamt kam kein Patient während dieses ca. sechsstündigen Ausfalls der allgemeinen Spannungsversorgung zu Schaden, weil alle 20 Beatmungsgeräte einen eingebauten Akku für einen begrenzten, netzunabhängigen Betrieb über zehn Minuten verfügten. Diese Zeit reichte aus, um aus dem gesamten Haus Mitarbeiter zu holen, um die Beatmung der Patienten sicherzustellen. Dass solche Ereignisse keinesfalls Einzelfälle darstellen, berichteten der Focus und die Taz (Focus 2013; TAZ 2013). Danach verstarb 2013 in Schwerin ein Patient auf einer Intensivstation bei einem ähnlichen Ausfall der Spannungsversorgung. Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 719 9 Medizinproduktegesetz (MPG) Das Patientenrechtegesetz spricht über die G-BA-Richtlinie nur eine allgemeine Verpflichtung aus, betrachtet jedoch die Besonderheiten von Medizintechnik bzw. Medizinprodukte nicht weiter. Folglich bestimmen sich die maßgeblichen Anforderungen für diese Produkte aus dem Medizinproduktegesetz (MPG 2015) und den hierzu ergangenen Verordnungen. Die Pflichten der Betreiber von Medizinprodukten lassen sich aus der zum MPG ergangenen Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) (MPBetreibV 1998) ableiten. Maßgeblich für die Verpflichtung eines Risikomanagements ist dabei § 2 Abs. 3 dieser Verordnung. Hierin heißt es: § 2 Allgemeine Anforderungen (3) Miteinander verbundene Medizinprodukte sowie mit Zubehör einschließlich Software oder mit anderen Gegenständen verbundene Medizinprodukte dürfen nur betrieben und angewendet werden, wenn sie dazu unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung und der Sicherheit der Patienten, Anwender, Beschäftigten oder Dritten geeignet sind. Aus dem vorstehenden Paragrafen lassen sich die beiden nachfolgend zusammengefassten Anforderungen an die Betreiber herleiten. 1. Ein Betreiber muss prüfen, welche Aussagen ein Hersteller über die zulässige Kombination seines Medizinproduktes mit anderen Medizinprodukten/Nichtmedizinprodukten tätigt. 2. Der Betreiber darf eine Kombination nur einsetzen, wenn nachgewiesen wird, dass die Kombination für die Sicherheit von Patienten, Anwendern und Dritten geeignet ist. Wie kann nun ein Betreiber einen Nachweis erbringen, dass eine Kombination für die Sicherheit von Patienten, Anwendern und Dritten geeignet ist? Dieser Nachweis zur Erfüllung der Anforderungen des zweiten Halbsatzes des § 2 Abs. 3 der MPBetreibV kann über eine Dokumentation geführt werden, mit der der Betreiber eine Kombination beschreibt. Diese Dokumentation sollte folgende wesentliche Informationen enthalten: • Workflow der Anwender • Technisches Konzept • Betriebskonzept • Risikomanagement • u. a. Das Risikomanagement einer solchen Dokumentation kann beispielsweise nach Regeln der Technik in Form der Risikomanagementnormen DIN EN ISO 14971 bzw. DIN EN 80001-1 durchgeführt werden. 720 A. Gärtner Erstellt ein Betreiber eine solche Dokumentation und weist damit nach, dass die Sicherheit einer Kombination gegeben ist, erfüllt er die Anforderungen des § 2 Abs. 3 der MPBetreibV. Die Verwendung der genannten Normen richtet sich danach, wie und womit ein Medizinprodukt kombiniert wird. Die DIN EN ISO 14971 kann herangezogen werden, wenn ein Medizinprodukt mit einem weiteren Medizinprodukt oder Nichtmedizinprodukt kombiniert wird; die DIN EN 80001-1 kann herangezogen werden, wenn ein Medizinprodukt mit dem IT-Netzwerk eines Krankenhauses vernetzt wird. Die Abb. 3 zeigt bildhaft, welche Konsequenzen sich für den Betreiber bei der Kombination eines Medizinproduktes mit dem IT-Netzwerk eines Krankenhauses ergeben. Vernetzt also ein Betreiber (z. B. ein Krankenhaus) beispielsweise ein bildgebendes Ultraschallgerät mit dem IT-Netzwerk, um Daten darüber zu senden und auszutauschen, ist es die zwingende Pflicht des Krankenhauses, nachzuweisen, wie es hierbei die Anforderungen des § 2 Abs. 3 der MPBetreibV erfüllt (Abb. 4). Anwendung Risikomanagement-(Norm) Anbindung Medizinprodukt an ITNetzwerk Proprietär DIN EN ISO 14971 Klinik-Netzwerk DIN EN 80001-1 § 2 Abs. 3 MPBetreibV Abb. 3  Darstellung Risikomanagement entsprechend § 2 Abs. 3 MPBetreibV Integration Kann dieses System einen Patienten gefährden? IT-Netzwerk Ultraschallgerät Server Datenbank Abb. 4  Kombination (Vernetzung) Ultraschallgerät mit IT-Netzwerk Gesetzliche Grundlagen des Risikomanagements … 721 Bei der Integration eines Ultraschallgerätes in das IT-Netzwerk bietet es sich an, die DIN EN 80001-1:2011 heranzuziehen, um über das in dieser Norm beschriebene Risikomanagement den Nachweis zu führen, dass die vorgenommene Vernetzung trotzdem für Patient, Anwender und Dritte sicher ist. 10 Zusammenfassung Der Gesetzgeber hat eindeutige rechtliche Anforderungen an ein Risikomanagement für Betreiber von Krankenhäusern im Patientenrechtegesetz und in der MPBetreibV auf Basis des Medizinproduktegesetzes (MPG) formuliert. Es ist davon auszugehen, dass das geplante IT-Sicherheitsgesetz bezüglich Risikomanagement auch im Krankenhaus eine weitere gesetzliche Grundlage für Risikomanagement im Krankenhaus darstellen wird. Hinweis: Die MPBetreibV tritt am 1.1.2017 in einer weitgehend novellierten Fassung in Kraft. Der § 2 Abs. 3 wird dann als § 4.4 mit leicht geänderter Formulierung umbenannt. Literatur Carini M (Hrsg) (2013) Staatsanwaltschaft eermittelt gegen Klinik: Einfach abgeschaltet! http:// www.taz.de/!5056010/. Zugegriffen: 23. Aug. 2016 DIN EN 80001-1:2011 (2011) Anwendung des Risikomanagements für IT-Netzwerke, die Medizinprodukte beinhalten – Teil 1: Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Aktivitäten DIN EN ISO 14971 (2013) Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte (2013-04) DIN VDE 0100-710 VDE 0100-710 (2012) Errichten von Niederspannungsanlagen Teil 7-710: Anforderungen für Betriebsstätten, Räume und Anlagen besonderer Art – Medizinisch genutzte Bereiche (2012-10) Heike A (2005) Kahla-Witzsch, Praxis des klinischen Risikomanagement http://patientensicherheit-online.de/definition-ps https://www.g-ba.de/. Zugegriffen: 20. Feb. 2015 http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/mpg/gesamt.pdf. Zugegriffen: 16. Feb. 2015 http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/mpbetreibv/gesamt.pdf. Zugegriffen: 16. Feb. 2015 http://www.hochschule-heidelberg.de/fileadmin/srh/heidelberg/pdfs/fakultaeten/wirtschaft/BWL_ Bachelor/Land_Risikomanagement_im_Krankenhaus_01.pdf. Zugegriffen: 23. Aug. 2016 Kaup H (2015) Es ist das pure Chaos. Dreckiges Op-Besteck in Mannheim. http://www.spiegel.de/ unispiegel/jobundberuf/uni-klinik-mannheim-op-stopp-wegen-hygieneskandal-a-1036538.html. Zugegriffen: 23. Aug. 2016 Leitfaden G-BA (2014) https://www.g-ba.de/institution/presse/pressemitteilungen/516/. Zugegriffen: 16. Feb. 2015 Patient stirbt nach Stromausfall in Schweriner Krankenhaus. Unglück auf der Intensivstation (30.10.2013) http://www.focus.de/panorama/welt/drama-auf-intensivstation-patient-stirbt-inschwerinerklinik-bei-stromausfall_aid_1144046.html. Zugegriffen: 20. Feb. 2015 Patientenrechtegesetz (2013) http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Patientenrechtegesetz_BGBl.pdf. Zugegriffen: 16. Feb. 2015 722 A. Gärtner Über den Autor Armin Gärtner ist Medizintechnikingenieur und arbeitet als beratender Ingenieur in Form eines Ingenieurbüros. Er war lange Jahre als Abteilungsleiter Medizintechnik für die Beschaffung und Instandhaltung der Medizintechnik in einem großen Klinikum und Projektleiter Telemedizin in privaten Krankenhauskonzernen tätig. Er ist seit 2002 öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Medizintechnik und Telemedizin der IHK Düsseldorf sowie Mitglied im Normungsgremium DIN EN 80001-1. Er führt Beratungen sowie Seminare und Fortbildungen zu Themen der Medizintechnik, Risikomanagement DIN EN 80001-1 und des Medizinproduktegesetzes sowie Fragen des IT-Einsatzes in der Medizintechnik durch. Er ist Verfasser zahlreicher Fachartikel und zweier Buchreihen sowie Herausgeber eines Loseblattwerkes zu Themen der Medizintechnik und IT (MIT). Kontakt: gaertner@gaertner-mit.de E-Mental-Health – am Beispiel von internetbasierten Gesundheitsinterventionen Stephanie Nobis, Dirk Lehr und David Daniel Ebert 1 Einführung E-Mental-Health ist ein Überbegriff für die Anwendung neuer Medien zur Prävention, Behandlung und Nachsorge psychischer Erkrankungen, und kann als ein Teilbereich von E-Health angesehen werden. In einer frühen Definition beschreiben Christensen und Kollegen (2002) E-­MentalHealth als die Form von E-Health, die sich mit psychischer Gesundheit und psychischen Störungen beschäftigt (vgl. Christensen et al. 2010). In der Folge wurde von einem Team international führender Forscher eine umfassende Definition vorgeschlagen: „E-Mental Health“ kann als ein allgemeiner Begriff verstanden werden, der die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie beschreibt – insbesondere Technologien, die das Internet betreffen – die dazu eingesetzt werden, die psychische Gesundheit und die Versorgung im Bereich der psychischen Gesundheit zu verbessern. Dies schließt Menschen mit Substanzmissbrauch und komorbiden körperlichen Erkrankungen ein. „E-Mental-Health umfasst die Nutzung digitaler Technologie und neuer Medien, um S. Nobis (*)  GET.ON Institut für Online Gesundehitstrainings GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: s.nobis@geton-institut.de D. Lehr  Institut für Psychologie, Abteilung Gesundheitspsychologie und Angewandte Biologische Psychologie, Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland E-Mail: lehr@leuphana.de D. D. Ebert  Klinisch Psychologie und Psychotherapie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: David.Ebert@fau.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_37 723 724 S. Nobis et al. Screening-Maßnahmen, Gesundheitsförderung, Prävention, Behandlungen oder Rückfallprophylaxe anzubieten. Auch Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung (z. B. elektronische Patientenakten), berufliche Weiterbildung (z. B. mittels E-Learning) und Onlineforschung im Bereich der psychischen Gesundheit ist Teil von E-Mental Health“ (Riper et al. 2010; Übersetzung durch die Autoren). In den meisten Betrieben und Haushalten ist die Nutzung des Internets ein fester Bestandteil des Alltags. Im Jahr 2013 hatten fast 80 % der deutschen Bevölkerung einen Internetzugang. Im Vergleich zum Jahr 2003 ist dies ein Anstieg von 26,4 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2015). Eine bevölkerungsrepräsentative Befragung in Deutschland hat gezeigt, dass 64,5 % das Internet nutzen, um medizinischen Fragestellungen nachzugehen (vgl. Eichenberg und Brähler 2012). Hierbei ist eine Differenzierung zwischen reinen Informationsseiten im Internet (z. B. über Erkrankungen, Nebenwirkungen oder Therapiemöglichkeiten) und Interventionen zur Prävention, Selbsthilfe, Beratung, Behandlung oder Nachsorge dringend erforderlich (vgl. Bauer und Kordy 2008). Der Bereich der internetbasierten Gesundheitsinterventionen (IGI) ist dem zweiten Aspekt zuzuordnen und Bestandteil dieses Beitrages. Internetbasierte Gesundheitsinterventionen (Synonyme: Online-Gesundheitstraining, Online-Therapie, Internet-Interventionen, Online-Gesundheitsinterventionen, Online-Programm …) werden in einer Definition von Ritterband und Thorndike (2006) als Behandlungen bezeichnet, die typischerweise auf Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie beruhen und über das Internet angeboten werden. Normalerweise sind internetbasierte Gesundheitsinterventionen sehr strukturiert aufgebaut; als Selbsthilfeversion oder als minimal unterstütze Selbsthilfeversion; basierend auf effektiven Face-to-Face-Interventionen. Die IGI sind meist so konzipiert, dass Teilnehmer differente, personalisierte Bausteine vorfinden, wie beispielsweise Grafiken, Animationen, Videos und Feedbacks. Das vorrangige Ziel dieser IGI ist es, die Teilnehmer bei der selbst gesteuerten Bewältigung ihrer Probleme mit evidenzbasierten Methoden zu unterstützen (vgl. Ritterband und Thorndike 2006). 2 Internetbasierte Gesundheitsinterventionen Internetbasierte Gesundheitsinterventionen lassen sich hinsichtlich des Ausmaßes der persönlichen Unterstützung durch einen Trainer und/oder Therapeuten, der Art der Kommunikation, die Vernetzung mit anderen Maßnahmen und im Hinblick auf das Anwendungsgebiet unterscheiden. 2.1 Ausmaß der persönlichen Unterstützung Interventionen können Angebote zur Selbsthilfe, ohne jegliche Begleitung (sogenannte „self-help Interventionen“) sein, Unterstützung punktuell bei Bedarf bereitstellen (sogenannte „Feedback on-demand Interventionen“) oder regelmäßigen Kontakt zwischen E-Mental-Health … 725 Nutzer und Trainer bzw. Therapeuten beinhalten (sogenannte „Guided Interventionen“) (vgl. Ebert und Erbe 2012). 2.2 Art der Kommunikation Besteht ein Kontakt mit dem Nutzer, kann dieser synchron (das heißt in Echtzeit) erfolgen, wie dies bei virtuellen Klassenräumen der Fall ist. Bei internetbasierten Gesundheitsinterventionen erfolgt die Kommunikation meist asynchron (zeitversetzt) per elektronischer Nachrichtenfunktion (vgl. Ebert und Erbe 2012). Die Kommunikation beinhaltet in der Regel schriftliche Rückmeldungen zu den Übungen, die darauf abzielen, die Ressourcen des Nutzers zu stärken, die Motivation zu erhalten und somit die Adhärenz zum Programm zu fördern (vgl. Nobis et al. 2015). 2.3 Vernetzung mit anderen Maßnahmen Internetbasierte Gesundheitsinterventionen können auch in einem Wechsel von Trainingseinheiten im Internet und persönliche Treffen vor Ort angeboten werden. Dies wird als „Blended Care“ bezeichnet. Diese Variante vereint den persönlichen Therapeutenkontakt mit online basierten Elementen. Konkret werden einige psychotherapeutische Sitzungen zu Hause anhand von Onlinelektionen umgesetzt, wobei trotzdem der Therapeutenkontakt in einigen Sitzungen bestehen bleibt. Das Ziel ist es, so die Therapeutenzeit effektiv für ausgesuchte Themen zu nutzen, die eine klassische Sitzung erfordern (vgl. Ebert und Erbe 2012). Ein weiterer Vorteil dieser Variante ist die Reduktion langer Wegstrecken aufgrund von fehlenden psychotherapeutischen Versorgungseinrichtungen in nächster Umgebung. 2.4 Anwendungsgebiete Internetbasierte Gesundheitsinterventionen können potenziell in differenten Bereichen Anwendung finden (Prävention, Behandlung, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Nachsorge, Rehabilitation). Im Folgenden sind einige Beispiele aufgelistet: Im Bereich der Prävention besteht beispielsweise laut Präventionsleitfaden die Möglichkeit nach § 20 Abs.1 SGB V in den Handlungsfeldern Bewegungsgewohnheiten, Ernährung, Stressmanagement und Bewegung evaluierte Selbstlernprogramme mit persönlicher Betreuung im Internet anzubieten und über die gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen (vgl. GKV-Spitzenverband 2014). Einige Anbieter haben sich hiernach bereits zertifizieren lassen. Internetbasierte Interventionen können auch als Baustein einer gestuften Versorgungskette eingesetzt werden. Das sogenannte Stepped-Care-Konzept basiert auf einem Unterstützungsangebot, das sich am individuellen Bedarf orientiert. Innerhalb dieses Konzeptes unterscheidet man zwei Interventionen (vgl. Ebert und Erbe 2012): 726 S. Nobis et al. • Step-up-Interventionen: Die Behandlung startet mit einer internetbasierten Intervention (self-help oder guided self-help). Ist dieser Ansatz nicht ausreichend, um die Beschwerden weitestgehend zu lindern, erfolgt ein Übergang in eine intensivere Versorgungsebene (ambulante oder stationäre Psychotherapie). • Step-down-Interventionen: Step-down-Interventionen erfolgen im Anschluss an eine intensivere Versorgung. Ein Beispiel hierfür wäre die Durchführung einer internetbasierten Intervention im Anschluss an einen stationären Aufenthalt. Dadurch sollen Rückfälle verringert und die erlangten Kenntnisse gefestigt werden. Unternehmen können zudem im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements für ihre Mitarbeiter zeitlich befristete Zugänge erwerben, um so beispielsweise arbeitsbedingtem Stress präventiv entgegenzuwirken. Interessierte können auch eigenständig einen zeitlich befristeten Zugang zu einem Training, meistens direkt bei den Unternehmen, die IGI anbieten, käuflich erwerben. 3 Wirksamkeit internetbasierter Gesundheitsinterventionen In Bezug auf die Wirksamkeit gilt es, die internationale Evidenz zur allgemeinen Wirksamkeit des Ansatzes zusammenzutragen, die Evidenz für einzelne deutsche Maßnahmen zu beurteilen und die Kommunikation zur Wirksamkeit gegenüber den Nutzern zu betrachten. In den letzten Jahren wurde international eine große Anzahl an randomisierten kontrollierten Studien im Bereich E-Mental-Health durchgeführt. Eine Metaanalyse von Richards und Richardson (2012) über 19 randomisierten kontrollierten Studien belegt, dass internetbasierte Gesundheitsinterventionen effektiv in der Reduzierung depressiver Beschwerden sind. Die Studienergebnisse zeigten einen durchschnittlichen Effekt von Cohen’s d1 = 0,56 hinsichtlich einer Reduzierung depressivere Beschwerden. Dieser Effekt wurde noch höher (d = 0,78), wenn man nur die Interventionen betrachtet, die eine Unterstützungskomponente (guided self-help) beinhalteten (vgl. Richards und Richardson, 2012). Ebenso zeigen Metaanalysen, die Wirksamkeit im Bereich von Angststörungen (vgl. Ebert et al. 2015) oder zur Reduktion von problematischem Alkoholkonsum (vgl. Riper et al. 2014). In der Regel wird die Wirksamkeit im Vergleich zu Wartegruppen untersucht. Entsprechend ist wenig bekannt, ob die Wirksamkeit von internetbasierten Gesundheitsinterventionen und etablierten Therapien gleich ist oder für viele Zielgruppen internetbasierte Gesundheitsinterventionen im Vergleich zu etablierten Therapien besonders geeignet sind. Entsprechende Äquivalenzstudien fehlen aktuell noch (vgl. Arnberg et al. 2014). 1Interpretation der Ergebnisse nach Cohen: Es liegt ein kleiner Effekt ab 0,2 vor; ein mittlerer Effekt ab 0,5 und ein großer Effekt ab 0,8 (vgl. Cohen 1988). E-Mental-Health … 727 Eine kürzlich durchgeführte systematische Übersichtsarbeit von Donker et al. (2015) hat zudem gezeigt, dass internetbasierte Gesundheitsinterventionen für Erkrankungen wie Depression oder Angst eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen, kostengünstiger im Vergleich zu differenten Kontrollbedingungen zu sein (vgl. Donker et al. 2015). Insgesamt können internetbasierte Gesundheitsinterventionen als positiv bewertet werden, wobei die Unterschiede zwischen konkreten Maßnahmen beträchtlich sein können. Entsprechend ist die Evidenz nicht global zu beurteilen, sondern in Bezug auf konkrete Interventionen. Dies bedeutet auch, dass jede Maßnahme einzeln auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden sollte. Aufgrund kultureller Unterschiede betrifft dies auch Maßnahmen, die sich in anderen Ländern bereits als wirksam erwiesen haben. In Deutschland besteht wissenschaftliche Evidenz für die Effektivität von IGI bei beispielsweise Depressionen (Krieger et al. 2014; Buntrock et al. 2015), Schlafstörungen (vgl. Thiart et al. 2015), und bei Personen mit Diabetes mellitus und depressiven Beschwerden (Nobis et al. 2015). Zudem werden in Deutschland zunehmend internetbasierte Gesundheitsinterventionen für die Routineversorgung zu Verfügung gestellt. Es existieren einige internetbasierte Gesundheitsinterventionen sowie differente Anbieter. Besonders für den Nutzer stellt sich die Herausforderung, die Wirksamkeit angemessen beurteilen zu können (vgl. Bauer und Kordy 2008). Zumal häufig nicht deutlich ist, wie die Interventionen hinsichtlich ihrer Effektivität untersucht wurden und wie diese Ergebnisse zu interpretieren sind. Der Goldstandard, um eine Wirksamkeit zu belegen, ist die randomisierte kontrollierte Studie (für mehr Informationen vgl. Kabisch et al. 2011). Eine zentrale Stelle zur Bewertung und Aufbereitung fehlt. Entsprechend können Nutzer sich aktuell kaum über die Vor- und Nachteile sowie die Wirksamkeit von internetbasierten Gesundheitsinterventionen informieren. 4 Entwickelte internetbasierte Gesundheitsinterventionen an der Leuphana Universität Lüneburg Vom Oktober 2011 bis Juli 2015 wurden an der Leuphana Universität Lüneburg im Innovations-Inkubator „GesundheitsTrainings.Online“ in Kooperation mit mehreren nationalen (z. B. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Universität Freiburg) und internationalen Universitäten (z.  B. Freie Universität Amsterdam) internetbasierte Gesundheitsinterventionen zur Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen entwickelt und evaluiert. Das Projekt wurde von der Europäischen Union sowie dem Land Niedersachsen finanziert2. Die entwickelten Trainings fokussieren auf verschiedene Erkrankungen sowie auf verschiedene Schweregrade. An der Leuphana Universität Lüneburg wurden IGI zu folgenden Bereichen entwickelt und evaluiert3: 2http://www.leuphana.de/partner/regional/gesundheit/geton.html. 3www.geton-training.de. 728 S. Nobis et al. • Training zur Reduktion von Depression bei Personen mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 • Training zur Prävention von depressiven Beschwerden • Training zur Reduktion von Major Depression • Training zur Reduktion von arbeitsbedingtem Stress • Training zur Regenerationstraining bei beruflichem Stress • Training zur Reduktion von Panik und Agoraphobie • Training zur Reduktion von problematischem Alkoholkonsum • Training zur Förderung der Dankbarkeit • Training zum Umgang mit Selbstkritik 5 Beispiel einer internetbasierten Gesundheitsintervention: GET.ON Mood Enhancer Diabetes Um einen besseren Einblick in das Konzept von internetbasierten Gesundheitsinterventionen zu gewähren, wird im Folgenden das Onlineprogramm für Personen mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 und depressiven Beschwerden (GET.ON Mood Enhancer Diabetes = GET.ON M.E.D.) vorgestellt (s. Abb. 1). Diese Intervention wurde speziell für Personen mit Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2 und depressiven Beschwerden (Allgemeine Depressionsskala (ADS) ≥ 23) (vgl. Hautzinger und Bailer 2012) entwickelt. Ausgeschlossen wurden Personen, bei denen ein erhöhtes Suizidrisiko bestand, die auf einer Warteliste für eine Psychotherapie standen oder die derzeit bereits psychotherapeutische Unterstützung erhielten. GET.ON M.E.D. besteht aus sechs aufeinanderfolgenden Lektionen. Die Teilnehmer wurden angehalten pro Woche ein bis zwei Lektionen zu bearbeiten, sodass die Trainingszeit zwischen drei und sechs Wochen liegen sollte (s. Abb. 2). Die Intervention GET.ON M.E.D. basiert auf empirisch überprüften Inhalten der kognitiven Verhaltenstherapie: dem systematischen Problemlösen (vgl. Cuijpers et al. 2007a) und der Verhaltensaktivierung (vgl. Cuijpers et al. 2007b). Neben dem zentralen Thema Depression, wurden in jeder Lektion Diabetes-Themen (z. B. Blutzucker, Sorge um Folgeerkrankungen, Arzt-Patient-Gespräch) angeboten. Alle Lektionen enthalten Informationen zum Lesen, Videos, Audiodateien, lebensnahe Beispiele von anderen Personen mit Diabetes und interaktive Übungen sowie Übungen für den Alltag. Das Programm wurde als Guided-self-help-Version konzipiert, sodass die Teilnehmer durch psychologische Begleitung per E-Mail Rückmeldung auf die Bearbeitung der Lektionen (innerhalb von 48 h) erhielten. Zudem hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, Motivations-SMS sowie Erinnerungs-SMS zu erhalten, um die Inhalte alltagsnah und kontinuierlich einzuüben. Weiterhin wurden den Teilnehmern zwei Wahlmodule (Gesunder Schlaf; Umgang mit Übergewicht) offeriert. Vier Wochen nach dem Training wurde eine Auffrischungslektion freigeschaltet (vgl. Nobis et al. 2013). E-Mental-Health … 729 Das Programm im Überblick 1. Einfuhrung und Ziele Diabetes und Depression 2. Aktiv werden! sorgen und probleme aufgrund des Diabeles 3. Probleme und Wege sie zu losen - Teil 1 Lösbane und unlösbare Probleme 4. Probleme und Wege sie zu lösen - Teil 2 Grübeln stoppen! 5. Schöne Aktivitaten und Bewegung Meinen selbstwert steigem 6. Zukunftsplan Erfolgreich Gesprache fuhren mit Ärzten Zwei Zusatzlektionen (auf Ihren Wunsch hin) 7. Erholsamer Schlaf Tipps für einen guten schlaf 8. Der Umgang mit Übergewicht wege um sich zu akzeptieren und wohl zu fühlen Abb. 1  Das Programm im Überblick. (Leuphana Universität Lüneburg) Sollten Teilnehmer in Krisen kommen, oder sich die depressive Symptomatik nicht ausreichend bessern, wurden die Teilnehmer motiviert, psychotherapeutische Versorgung in Anspruch zu nehmen und dabei unterstützt, Zugang zu dieser zu erhalten (vgl. Nobis et al. 2013). 5.1 Studiendurchführung und Ergebnisse Um die Wirksamkeit des Trainings zu untersuchen, wurde eine randomisierte kontrollierte Studie (N = 260 Personen) mit zwei Studienarmen durchgeführt (s. Abb. 3). Die Interventionsgruppe erhielt sofortigen Zugang zum Onlineprogramm; die Kontrollgruppe erhielt detaillierte Informationsmaterialien über depressive Beschwerden (Patientenleitlinie Unipolare Depression; vgl. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2011) 730 S. Nobis et al. Abb. 2  Screenshot der Lektion 2 aus dem Training GET.ON M.E.D. (Leuphana Universität Lüneburg) Abb. 3  Studienverlauf E-Mental-Health … 731 in einer online aufbereiteten Form. Onlinebefragungen wurden sowohl direkt vor der Gruppenzuteilung (Randomisierung) als auch acht Wochen (Post-Messung) sowie sechs und zwölf Monate (Follow-up) danach durchgeführt (vgl. Nobis et al. 2013, 2015). 5.1.1 Charakteristika der Studienteilnehmer Von den 260 Teilnehmern waren mehr als 60 % weiblichen Geschlechts, im Durchschnitt 51 Jahre und an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt (55 %). Etwas weniger als die Hälfte der Teilnehmer (45 %) konnte einen hohen Bildungsabschluss (Abitur) vorweisen; 56 % gaben an, bereits psychotherapeutische Vorerfahrungen zu haben. Knapp zwei Drittel der Teilnehmer (62 %) absolvierten alle sechs Lektionen des Onlinetrainings. Zudem durchliefen 75 Teilnehmer (58 %) die Zusatzlektion „Gesunder Schlaf“ und 67 Personen (52 %) die Zusatzlektion „Umgang mit Übergewicht“. Der Großteil der Teilnehmer (95 %) war mit dem Programm sehr zufrieden und würde dies einem Freund in der gleichen Situation weiterempfehlen (vgl. Nobis et al. 2015). 5.1.2 Entwicklung depressiver Beschwerden Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der randomisierten kontrollierten Studie dargelegt. Mit einem durchschnittlichen Wert von 32 auf der Allgemeinen Depressionsskala (vgl. Hautzinger et al. 2012) wiesen die Studienteilnehmer moderate bis starke depressive Beschwerden zum Studienstart auf. Bei der Nachbefragung nach acht Wochen zeigten die Teilnehmer der IGI im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant geringere depressive Beschwerden. Unter Einbezug aller Teilnehmer (Intention-to-treat-Methode; Abb. 4) liegt der Effekt zwischen den Gruppen nach Cohen’s d bei d = 0,89 (95 % CI: 0,64–1,15). Betrachtet man nur die Teilnehmer, die das Programm abgeschlossen haben (Onlineprogramm: 80; Kontrollgruppe: 127; Abb. 5), liegt der Effekt bei d = 1,00 (95 % CI: 0,70–1,29; p < 0,001) (detaillierte Studienergebnisse: vgl. Nobis et al. 2015). Die weiteren Analysen nach sechs und zwölf Monaten werden zeitnah publiziert. 5.1.3 Entwicklung diabetesbezogener Belastungen Zum Studienstart waren die diabetesbezogenen Belastungen (gemessen mit der Kurzform des PAID, vgl. Ehrmann et al. 2010) mit einem durchschnittlichen Wert von 10 als ausgeprägt anzusehen. Die internetbasierte Gesundheitsintervention war effektiv hinsichtlich einer Reduzierung dieser diabetes-spezifischen Belastungen. Nach zwei Monaten liegt der Effekt t bei d = 0,58 (ITT) (vgl. Nobis et al. 2015). 5.1.4 Teilnehmermotivation Da der Bereich E-Mental-Health in Deutschland ein relativ neues Forschungsfeld darstellt, sind die Gründe der Teilnehmermotivation und Akzeptanz von IGI von großer Bedeutung. Eine randomisierte kontrollierte Studie von Baumeister et al. (2014) zeigt 732 S. Nobis et al. Abb. 4   Effekt auf depressive Symptome nach zwei Monaten (Intention-to-treat) Abb. 5   Effekt auf depressive Symptome nach zwei Monaten (Per-Protocol) beispielsweise auf, dass Personen mit Diabetes eine geringe Akzeptanz vorweisen, IGI zu nutzen (vgl. Baumeister et al. 2014). Als Grund für die Teilnahme in der hier vorgestellten Studie wurde am häufigsten genannt, dass bereits früher eine klassische Psychotherapie durchgeführt wurde und nun nach einer Alternative gesucht wurde (37 %). Jeweils 20 % gaben an, dass eine Psychotherapie nicht möglich war, bzw. Bedenken aufgrund einer befürchteten Stigmatisierung ausschlaggebend waren, keine klassische Therapie zu beginnen (vgl. Nobis et al. 2015). E-Mental-Health … 733 6 Möglichkeiten und Grenzen der Anwendbarkeit im deutschen Gesundheitssystem In anderen europäischen Ländern, wie z. B. in den Niederlanden4 oder Großbritannien5, zählen internetbasierte Gesundheitsinterventionen bereits zur Regelversorgung und werden dementsprechend von den Krankenkassen finanziert. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfiehlt in ihrer Richtlinie zur Behandlung subklinischer Depression einen Stepped-Care Ansatz, der die Möglichkeiten von internetbasierten Interventionen inkludiert (vgl. NICE). In Deutschland gilt jedoch das Fernbehandlungsverbot als rechtliche Grenze. Dementsprechend kann in der Breite Online-Psychotherapie für Betroffene mit diagnostizierten psychischen Störungen bislang ausschließlich zu Forschungszwecken online durchgeführt werden (vgl. Almer 2008). Die Integration von internetbasierten Gesundheitsinterventionen geschieht aktuell ausschließlich im Rahmen von umgrenzten Modellprojekten. In einem Projekt des St. Alexius-/St. Josef-Krankenhauses und der AOK zur Internettherapie6 wurde von 2011–2015 die Behandlung von Depressionen, Panikstörung und sozialer Phobie im Rahmen der regionalen ambulanten Routineversorgung erstmalig in Deutschland erfolgreich erprobt. Dennoch gibt es Möglichkeiten, IGI niedrigschwellig bereits jetzt im deutschen Gesundheitswesen in der Fläche zu implementieren. Einerseits besteht die Möglichkeit im Rahmen der Primärprävention über den § 20 Abs. 1 SGB V internetbasierte Gesundheitsinterventionen in den Handlungsfeldern Bewegungsgewohnheiten, Ernährung, Stressmanagement und Bewegung über die gesetzlichen Krankenkassen zu offerieren (vgl. GKV-Spitzenverband 2014). Im Jahr 2016 soll zudem der Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung mehr gestärkt werden. Das Präventionsgesetz sieht vor, dass die Leistungen pro Versicherten von 3,09 EUR auf sieben Euro jährlich erhöht werden (Deutscher Bundestag 2015). Derzeit bieten einige gesetzliche Krankenkassen ihren Versicherten bereits eigene internetbasierte Gesundheitsinterventionen an, die sie entweder selber entwickelt oder extern eingekauft haben. Darüber hinaus werden derzeit in ersten Pilotprojekten internetbasierte Gesundheitsinterventionen in der Routine erprobt. Beispielsweise erprobt die Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen in Zusammenarbeit mit den Schön-Kliniken und der BARMER GEK videogestützte Therapieverfahren im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Modellvorhabens7. Im Rahmen dieses Modellprojektes erhalten Versicherte in ländlichen Gebieten ohne Zugang zu zeit- und ortsnaher ambulanter psychotherapeutischer Versorgung die Möglichkeit, nach intensiver Diagnostik in einer der bundesweiten Schön-Kliniken an einer videobasierten Kurzzeittherapie teilzunehmen8. 4www.interapy.nl. 5www.beatingtheblues.co.uk. 6www.net-step.de. 7www.mastermind-project.eu. 8www.schoen-kliniken.de/ptp/kkh/bar/anmeldung/online-therapie. 734 S. Nobis et al. Zusammenfassend haben internetbasierte Gesundheitsinterventionen das Potenzial, niedrigschwellig eine große Anzahl an Personen mit evidenzbasierten Konzepten zu versorgen. Ein wichtiger Vorteil ist, dass durch IGI Personen erreicht werden können, die aus differenten Gründen keine klassische Psychotherapie in Anspruch nehmen würden. Darüber hinaus können Teilnehmer das Programm entsprechend ihrer zeitlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse bearbeiten und sind nicht örtlich gebunden, was insbesondere in ländlicheren Regionen mit einer schlechteren Versorgungsstruktur ein bedeutender Aspekt ist. Limitierend ist festzustellen, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern die Rahmenbedingungen für die Implementierung in die Regelversorgung noch nicht so weit fortgeschritten sind. Dennoch sind solche Konzepte von hoher Aktualität und haben aus versorgungs- und ökonomischen Aspekten ein großes Potenzial. Die Pilotprojekte der Krankenkassen in Deutschland können als richtungsweisend angesehen werden, wie sich das Thema E-Mental-Health in den nächsten Jahren in Deutschland weiterentwickeln kann. Literatur Almer S (2008) Das Fernbehandlungsverbot als rechtliche Grenze im Einsatz Neuer Medien in der psychosozialen Versorgung. In: Bauer S, Kordy H (Hrsg) E-Mental Health. Neue Medien in der psychosozialen Versorgung. Springer, Heidelberg, S 14–17 Arnberg FK, Linton SJ, Jonsson U (2014) Internet-delivered psychological treatments for mood and anxiety disorders: a systematic review of their efficacy, safety, and cost-effectiveness. PLoS One 9(5):e98118 Bauer S, Kordy H (2008) Computervermittelte Kommunikation in der psychosozialen Versorgung. In: Bauer S, Kordy H (Hrsg) E-Mental Health. Neue Medien in der psychosozialen Versorgung. Springer, Heidelberg, S 4–12 Baumeister H, Nowoczin L, Lin J, Seifferth H, Seufert J, Laubner K, Ebert DD (2014) Impact of an acceptance facilitating intervention on diabetes patients’ acceptance of Internet-based interventions for depression: a randomized controlled trial. Diabetes Res Clin Pract 105(1):30–39 Beating the blues (2015) Beat depression and anxiety. www.beatingtheblues.co.uk. Zugegriffen: 19. Nov. 2015 Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung & Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2011) Patienten Leitlinie zur Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. Barrierefreie Internetversion. Version 1.0. http://www.leitlinien. de/mdb/downloads/nvl/depression/depression-1aufl-vers1.0-pll.pdf. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 Buntrock C, Ebert D, Lehr D, Riper H, Smit F, Cuijpers P, Berking M (2015) Effectiveness of a Web-Based cognitive behavioural intervention for subthreshold depression: pragmatic randomised controlled trial. Psychother Psychosom 84(6):348–358 Christensen H, Griffiths KM, Evan K (2002) e-Mental health in Australia: implications of the Internet and related technologies for policy. http://unpan1.un.org/intradoc/groups/public/documents/apcity/unpan046316.pdf. Zugegriffen: 18. Nov. 2015 Cohen J (1988) Statistical power analysis for the behavioral sciences, 2. Aufl. Erlbaum, Hillsdale Cuijpers P, Straten A van, Warmerdam L (2007a) Problem solving therapies for depression: a meta-analysis. Eur Psychiatry 22(1):9–15 Cuijpers P, Straten A van, Warmerdam L (2007b) Behavioral activation treatments of depression: a meta-analysis. Clin Psychol Rev 27(3):318–326 Deutscher Bundestag (2015) Ausschuss beschließt Präventionsgesetz. https://www.bundestag.de/ presse/hib/2015_06/-/379160. Zugegriffen: 13. Nov. 2015 E-Mental-Health … 735 Donker T, Blankers M, Hedman E, Ljótsson B, Petrie K, Christensen H (2015) Economic evaluations of Internet interventions for mental health: a systematic review. Psychol Med 45(16):3357–3376 Ebert DD, Erbe D (2012) Internet-basierte psychologische Interventionen. In: Berking M, Rief W (Hrsg) Klinische Psychologie und Psychotherapie für Bachelor. Springer, Berlin, S 131–140 Ebert DD, Zarski AC, Christensen H, Stikkelbroek Y, Cuijpers P, Berking M, Riper H (2015) Internet and computer-based cognitive behavioral therapy for anxiety and depression in youth: a meta-analysis of randomized controlled outcome trials. PLoS One 10(3):e0119895 Ehrmann D, Hermanns N, Kulzer B, Krichbaum M, Mahr M, Haak T (2010) Kurzform des PAIDFragebogens zur Erfassung diabetesbezogener Belastungen. Diabetol und Stoffwechs, 5. FV-14 Eichenberg C, Brähler E (2012) Internet als Ratgeber bei psychischen Problemen. Bevölkerungsrepräsentative Befragung in Deutschland. Psychotherapeut 58:63–72 GKV-Spitzenverband: Leitfaden Prävention (2014) Handlungsfelder und Kriterien des GKV-Spitzenverbandes zur Umsetzung der §§ 20 und 20a SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 10. Dezember 2014. http://www.dosb.de/fileadmin/fm-sportprogesundheit/GKV-UEbersicht_ Neuerungen_Leitfaden_Praevention.pdf. Zugegriffen: 15. Okt. 2015 Hautzinger M, Bailer M, Hofmeister D, Keller F (2012) Allgemeine Depressionsskala. 2., überarbeitete und neu normierte Auflage. Hogrefe, Göttingen Interapy (2015) sneller better. www.interapy.nl. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Kabisch M, Ruckes C, Seibert-Grafe M, Blettner M (2011) Randomisierte kontrollierte Studien. Teil 17 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. Dtsch Arztebl Int. http://www. aerzteblatt.de/archiv/106949/Randomisierte-kontrollierte-Studien. Zugegriffen: 1. Nov. 2015 Krieger T, Meyer B, Sude K, Urech A, Maercker A, Berger T (2014) Evaluating an e-mental health program („deprexis“) as adjunctive treatment tool in psychotherapy for depression: design of a pragmatic randomized controlled trial. BMC Psychiatry 8(14):285 Master Mind project (2015) MAnagement of mental health diSorders Through advancEd technology and seRvices – telehealth for the MIND. www.mastermind-project.eu. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Nobis S, Lehr D, Ebert DD, Berking M, Heber E, Baumeister H, Becker A, Snoek F, Riper H (2013) Efficacy and cost-effectiveness of a web-based intervention with mobile phone support to treat depressive symptoms in adults with diabetes mellitus type 1 and type 2: design of a randomised controlled trial. BMC Psychiatry 13:306 Nobis S, Lehr D, Ebert DD, Baumeister H, Snoek F, Riper H, Berking M (2015) Efficacy of a web-based intervention with mobile phone support in treating depressive symptoms in adults with type 1 and type 2 diabetes: a randomized controlled trial. Diabetes Care 38(5):776–783 Richards D, Richardson T (2012) Computer-based psychological treatments for depression: a systematic review and meta-analysis. Clin Psychol Rev 32(4):329–342 Riper H, Andersson G, Christensen H, Cuijpers P, Lange A, Eysenbach G (2010) Theme issue on e-mental health: a growing field in internet research. J Med Internet Res 12(5):e74 Riper H, Blankers M, Hadiwijaya H, Cunningham J, Clarke S, Wiers R, Ebert D, Cuijpers P (2014) Effectiveness of guided and unguided low-intensity internet interventions for adult alcohol misuse: a meta-analysis. PLoS One 9(6):e99912 Ritterband LM, Thorndike F (2006) Internet interventions or patient education web sites? J Med Internet Res 8(3):e18 Schön-Klinik (2015) Online-Therapie & Online-Nachsorge. http://www.schoen-kliniken.de/ptp/ kkh/online-klinik/. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 St. Alexius, St. Josef-Krankenhaus (2015) net-step Internet-Therapie. www.net-step.de. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Statistisches Bundesamt (2015) Anteil der Internetnutzer in Deutschland von 2001 bis 2013. http:// de.statista.com/statistik/daten/studie/13070/umfrage/entwicklung-der-internetnutzung-indeutschland-seit-2001/. Zugegriffen: 10. Okt. 2015 736 S. Nobis et al. Thiart H, Lehr D, Ebert DD, Berking M, Riper H (2015) Log in and breathe out: internet-based recovery training for sleepless employees with work-related strain – results of a randomized controlled trial. Scand J Work Environ Health 41(2):164–174 Über die Autoren Dr. Stephanie Nobis  studierte Public Health an der Universität Bremen sowie Medizin-Management an der Universität Duisburg-Essen. Von Oktober 2011 bis Juli 2015 war Stephanie Nobis wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kompetenztandem Gesundheitstraining. Online an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen ihrer Promotion hat sie sich mit der Entwicklung und Überprüfung der Wirksamkeit eines OnlineGesundheitstrainings für Personen mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 und depressiven Beschwerden beschäftigt, wofür sie 2014 den Heinrich-Sauer-Preis erhielt. Stephanie Nobis ist Gründungsgesellschafterin und Mitarbeiterin der GET.ON Institut GmbH sowie seit Oktober 2016 Fachbereichsleiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement am Klinikum Osnabrück. Zudem ist sie seit Oktober 2014 als Tutorin und Autorin an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen tätig. Kontakt: s.nobis@geton-institut.de Prof. Dr. Dirk Lehr  Studium der Psychologie an der Philipps Universität Marburg. Seit 2015 Professur für Gesundheitspsychologie und Angewandte Biologische Psychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. 2011–2015 Projektleiter von GET.ON GesundheitsTraining. Online im Innovations-Inkubator an der Leuphana Universität. 2002–2011 Tätigkeit als Medizin-Psychologe am Fachbereich Humanmedizin der Philipps Universität Marburg. Approbation als Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie). Der Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit, der Entwicklung und Evaluation von Angeboten zur Gesundheitsförderung für Berufstätige sowie berufsbezogener Therapie. Kontakt: lehr@leuphana.de E-Mental-Health … 737 Dr. David Daniel Ebert  erhielt seinen Doktortitel in Psychologie 2013 von der Philipps-Universität Marburg mit besonderer Auszeichnung (summa cum laude). Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter (2009–2014) in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg, operativer Projektleiter des Kompetenztandems Gesundheitstraining. Online der Leuphana Universität Lüneburg, Gastwissenschaftler an der Harvard Medical School in Boston und leitet derzeit ein Team zur Entwicklung und Evaluation Internet-und Mobil-basierter Interventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Er ist Präsident Elect der International Society for Research on Internet Interventions (ISRII) und erhielt für seine Arbeiten zahlreiche Preise unter anderem den Charlotte-Karl Bühler Award 2016, den Early Career Research Award der ISRII, und den Förderpreis 2014 der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) sowie den Förderpreis 2015 der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPS). Kontakt: David.Ebert@fau.de Teil X Projekte, Evaluationen, Positionen in der ambulanten und stationaren Versorgung Die vorliegenden Projekte sind von Praktikern geschrieben worden. Im Beispiel der „OP-Logistik on demand“ werden Bestellvorgang, Lieferung und Rechnungsstellung über eine einheitliche IT-Oberfläche dargestellt und damit die Abläufe extrem vereinfacht. Mit dem Thema der „Business-Intelligence“ widmet sich das zweite Praxisbeispiel der Radiologie und zeigt auf, wie die Prozesssteuerung in Kliniken zu einem Mehr an Effizienz und Effektivität führen kann. Die Analyse zeigt tiefe Einblicke in die Welt der Prozesse in der Radiologie. Die einheitliche Präsentation von gescannten Papierdokumenten (pDokumente) und originär erzeugten eDokumenten erfolgt heute im Dokumentenmanagementsystem. Die Weiterentwicklung zum EnterpriseContent-Management System (ECM) auf einer standardisierten Datenablage und Datenbankinfrastruktur auf Basis von IHE-Profilen zeigt der dritte Praxisbeitrag auf und führt damit ein in die moderne digitale Welt des digitalen Dokumentenmanagements im Gesundheitswesen. Praxisbeispiel: OP-Logistik on Demand – Bestellung, Lieferung und Rechnungsstellung pro Eingriff Markus Stein Die ETHIANUM Klinik für Plastische Chirurgie, Rekonstruktion und Ästhetik in Heidelberg wurde im Jahre 2010 in einem Neubau eröffnet. Bei der Konzeption von baulichen und (IT-)technischen Strukturen wurden schon frühzeitig die Belange der Leistungserbringer, aber auch des Klinikmanagements, berücksichtigt. Zudem stellte sich die Klinik der Herausforderung, quasi „bei Null“ zu beginnen, also zu Beginn mit geringeren Erlösen zu starten, gleichzeitig jedoch umfangreichere Kosten und Abschreibungen vorhalten zu müssen. Um die Kosten für den laufenden operativen Betrieb gering zu halten, stellte sich vor Klinikeröffnung schon die Frage, ob sich Lagerkosten mit gebundenem Kapital vermeiden lassen. Analog zur Automobilbranche sollte ein Ansatz der Lieferung von OP-Material „on demand“ erwogen werden. 1 Konzentration der Logistikprozesse Aus Sicht der ärztlichen Leistungserbringer wünschen sich die Ärzte bei der Materialauswahl einen „Best-of-Breed“-Ansatz. Materialien sollten sich an den neuesten Behandlungsstandards anlehnen und einen komplikationslosen und nachhaltigen Therapieerfolg gewährleisten. Dem gegenüber hat das Klinikmanagement das Interesse, die Materiallieferung zum Zwecke der Aufwandsreduktion auf wenige bis einen Lieferanten zu bündeln. Zum anderen ist das Interesse groß, in den Lagern der Klinik nicht zu viel Material anzuhäufen und somit „totes Kapital“ zu bilden. M. Stein (*)  Rechenzentrum Volmarstein, Berlin, Deutschland E-Mail: MStein@rzv.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_38 741 742 M. Stein Blickt man nun auf die Prozesse im OP-Bereich, der Abteilung mit dem höchsten Materialverbrauch, so ist die Personalbindungszeit im Vorfeld der Operationen durch Richtzeiten zum Teil sehr hoch. Ge- und Verbrauchsmaterialien müssen vorab aus den Lagern entnommen, auf Wagen gesammelt und für die Operation zweckmäßig gerichtet werden. Ge- und Verbrauchsmaterialien müssen vorab aus den Lagern entnommen, auf Wagen gesammelt und für die Operation zweckmäßig gerichtet werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob eine Transparenz über die tatsächlichen Verbrauchskosten pro Eingriff und Patient hergestellt werden kann. Im Allgemeinen setzen Klinikcontroller hierfür Umlageverfahren ein, die sich eventuell an der DRG-Kalkulationsmatrix orientieren. Valider wäre es jedoch, wenn die tatsächlichen Kosten pro Operation ermittelt werden könnten. Für das ETHIANUM gelten im Bereich der OP-Logistik folgende Prämissen: 1. Reduktion der Vorbereitungszeiten für das OP-Personal 2. Lieferung von Materialien „just-in-time“ bei elektiven Eingriffen (ca. 90–95% der Operationen im ETHIANUM) 3. Vorhalten von ausreichend Materialien für Notfalleingriffe 4. Rechnungsstellung durch den Lieferanten pro Eingriff bzw. Patient Damit sind die Kernbedingungen für die OP-Logistik beschrieben. 2 Definition des Logistik-Prozessablaufs Vor Inbetriebnahme der Klinik wurde ein Ablauf für die Lieferung von Materialien bei elektiven Eingriffen definiert und zunächst mit den Operateuren und der OP-Pflege abgestimmt. Dabei sollten schon die im ETHIANUM eingesetzte IT-Struktur berücksichtigt werden – diese besteht im Kern aus dem administrativen SAP mit den Modulen IS-H und FI sowie dem klinischen Arbeitsplatzsystem MCC der Firma Meierhofer. Abb. 1 stellt das Ergebnis der Prozessdefinition dar; der zeitliche Ablauf erfolgt gemäß der in die Grafik eingestreuten Ziffern. Durch diesen definierten Prozess wird das Richten der Materialien komplett an den Logistikpartner delegiert, somit der erste Punkt unter den angegebenen Prämissen erfüllt. Direkt ersichtlich ist auch die Erfüllung der vierten Prämisse, nämlich der Rechnungsstellung pro Eingriff. Es leitet sich daraus ab, dass möglichst ein einziger Logistikpartner für die Lieferung der verschiedenen OP-Materialien gefunden werden sollte. Eine Organisation dieser Prozesskette auf unterschiedliche Lieferanten wäre sicher möglich, jedoch erhöht sich dadurch der im Abschn. 3 geschilderte technische Aufwand. Wie verhält es sich nun mit Notfalleingriffen, für die auch Materialien in ausreichender Menge in der Klinik vorgehalten werden müssen? Bei der Verhandlung mit dem Logistikpartner, der Firma Stoss-Medica, konnte erzielt werden, dass ein derartiges Praxisbeispiel: OP-Logistik on Demand – Bestellung, Lieferung … 743 Abb. 1  Schematischer Ablauf der Prozesskette zur Implementierung in die IT-Struktur der Klinik Notfalllager komplett in Konsignation bereitgestellt wird – also auch hier wird kein Kapital gebunden, sondern nur bei einem Materialverbrauch dieser in Rechnung gestellt wird. Der Algorithmus für den Logistikpartner zur Abgrenzung von elektiven zu Notfalleingriffen ist insofern abzuleiten, als bei Letzteren die Nachricht des Prozessschritts 4, aber keine des Schrittes 1 erfolgen. 3 Abbildung des Prozessablaufs in der IT-Kommunikation Grundsätzlich findet die Kommunikation zwischen der ETHIANUM Klinik und dem Logistikpartner Stoss-Medica über eine file-basierte SSL-Verbindung statt. Datenschutzkriterien wurden darüber hinaus noch dadurch berücksichtigt, als für die Zuordnung der Patienten nur Daten verwendet werden, die zwar im klinischen System eine Identifikation möglich machen, beim Logistikpartner jedoch keine Rückschlüsse auf Personen gestattet werden. Um die Kommunikation zwischen dem IT-System von Stoss-Medica und den KISKomponenten SAP bzw. MCC in der Klinik zu organisieren, wurde im Projekt der Kommunikationsservers Cloverleaf dazwischengeschaltet. Dieser nimmt HL7-basierte Nachrichten aus dem klinischen System MCC auf und übersetzt sie in die spezifische Syntax/Semantik der Logistik-IT. Als Nachrichten sind die folgenden Wege definiert: 744 M. Stein 1. Übermittlung von Katalogdaten vom Logistiksystem in das MCC 2. Bestellung von Materialien über das OP-Modul des MCC und Übertragung an das Logistiksystem nach Freigabe (Prozessschritt 1 der Abb. 1) 3. Korrektur der Materialien während bzw. nach der OP, ebenfalls über das OP-Modul des MCC, und Übertragung an das Logistiksystem nach Freigabe (Prozessschritt 4 der Abb. 1) 4. Übersendung von Listen verbrauchter Materialien pro OP/Patient inkl. Preis an das Klinikmanagement (Prozessschritt 5 der Abb. 1) Diffiziler war die Einrichtung der Katalogschnittstelle, da hier die besonderen Strukturen des MCC-Systems berücksichtigt werden mussten. Diese Schnittstelle ist nicht einmalig anzusehen, sondern wird regelmäßig gebraucht, wenn beispielsweise Materialien aus dem Sortiment genommen und dafür andere aufgenommen werden. Im Sinne einer Datenintegrität auf KIS-Seite dürfen die ausgelaufenen Materialposten im Katalog nicht gelöscht, sondern über Datumsgrenzen „deaktiviert“ werden. Wichtig war für die Klinik, dass die Bestellung wie Dokumentation der Materialien in der gewohnten OP-Dokumentationsumgebung des Personals erfolgte. Der Aufruf eines gesonderten Programms, selbst durch direkten Link aus dem KIS heraus, wurde nicht toleriert. In der Abb. 2 ist ein Screenshot im OP-Modul des MCC zu ersehen, und zwar der aktivierte Punkt der Materialverwaltung. Zentral sind die der jeweiligen OP Abb. 2  Definition von Materialgruppen im KIS MCC der Meierhofer AG Praxisbeispiel: OP-Logistik on Demand – Bestellung, Lieferung … 745 zugewiesenen Materialien zu erkennen; in dieser Sicht können auch einfach die Mengen der bestellten bzw. tatsächlich verbrauchten Materialien modifiziert werden. Damit das Personal nicht immer wieder gleiche Materialien pro Eingriffsart einzeln erfassen müssen, wurden Materialgruppen erstellt, die in der Abb. 2 rechts zu sehen sind. Diese Gruppen können einfach ausgewählt und alle diesen zugewiesenen Materialien dem jeweiligen Eingriff angehängt werden. Aus dieser Sicht erfolgt der Versand an Stoss-Medica nach Freigabe der erfassten/modifizierten Materialien. Die Anlieferung der Materialien erfolgt rechtzeitig vor Durchführung der Operationen in sogenannten Fallwagen (s. Abb. 3). Dort befinden sich in Körben die Materialien zu einem Eingriff und können schnell durch die Springer den sterilen OP-Kräften angereicht werden. 4 Ergebnis der IT-gestützten Logistikkette Ausgehend von den zuvor gesetzten Prämissen lassen sich die folgenden Ergebnisse konstatieren. 1. Reduktion der Vorbereitungszeiten für das OP-Personal a) Auch wenn die Klinik neu gebaut, also intern keine Erfahrungen mit einem „Vorher“ machen lassen, zeigen Erfahrungsberichte der OP-Pflege eine mittlere Einsparung von 12,5 min pro OP durch den Einsatz der Fallwagen und dem damit verbundenen Wegfall der Richtzeit. b) Das ergibt bei ca. zehn Eingriffen pro Tag eine Jahreseinsparung von 27.500 min, also über 450 h. 2. Lieferung von Materialien „just-in-time“ bei elektiven Eingriffen a) Mit Beginn der klinischen Tätigkeit stand die fehlerfreie Kommunikation zwischen KIS und dem externen Logistikpartner, sodass mit den ersten Operationen die Materialien nicht telefonisch, sondern wie beschrieben bestellt und geliefert werden konnten. b) Diese Erfahrung führte zu einer Reduktion des anfänglich, aus Misstrauen in die IT-gestützte Kommunikation, umfangreicher bestückten „Notfalllagers“. 3. Vorhalten von ausreichend Materialien für Notfalleingriffe a) Der im Prozessmodell fixierte Ablauf lässt einen Algorithmus für den Logistikpartner zu, aus dem er elektive von Notfalleingriffen unterscheiden kann. b) Die Nachbestückung des Notfalllagers ist hierdurch gewährleistet. c) Dadurch akzeptiert der Logistikpartner auch die Einrichtung als Konsignation, das heißt, Ware wird nur nach Verbrauch bezahlt. 4. Rechnungsstellung durch den Lieferanten pro Eingriff bzw. Patient a) Das Klinikmanagement erhält seit Start des Logistikmodells einzelne Rechnungen pro OP/Patient. 746 M. Stein Abb. 3   Foto des Fallwagens für die Lieferung der bestellten OP-Materialien b) Gesonderte EDV-Listen mit allen Einzelmaterialien und Preisen gehen monatsweise an das Klinikcontrolling, wodurch der (OP-)Sachmittelverbrauchs innerhalb einer, im ETHIANUM angelegten, Kostenträgerrechnung berücksichtigt werden kann. Das Personal hat die anfängliche Skepsis und vor allem Furcht vor Engpässen schnell abgelegt und kann sich eine Änderung dieser Prozesskette nicht mehr vorstellen. Ein positiver Nebeneffekt ist auch der Wegfall der Inventur für die Verbrauchsmaterialien – da selbst das Notfalllager als Konsignationsware deklariert ist, fällt die Inventurpflicht auf die Seite des Logistikpartners. Praxisbeispiel: OP-Logistik on Demand – Bestellung, Lieferung … 747 Über den Autor Markus Stein  ist Diplom-Dokumentar (FH) und Krankenpfleger. Seit Oktober 2015 Wechsel zur RZV GmbH in den Bereich der Strategischen Produktentwicklung, Standort Berlin. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit technischen wie ökonomischen Aspekten des Medizinischen Informationsmanagements. Langjähriger Vorsitzender des Fachverbandes für Dokumentation und Informationsmanagement in der Medizin (DVMD), aktuell Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) sowie Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift „mdi“ für Medizinische Dokumentation und Medizinische Informatik. Kontakt: MStein@rzv.de Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären Versorgung am Beispiel der klinischen Radiologie Bernd May 1 Einleitung Aussagefähige Kennzahlen zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von radiologischen Versorgungsprozessen und der Qualität des Outcomes mit der Wirkung auf die gesamtstationäre Versorgung interessieren das Management von Kliniken und deren Chefärzte, seitdem das InEK die ersten Kostendaten zur klinischen Radiologie in Abhängigkeit vom Versorgungstyp und der Klinikgröße veröffentlicht hat. Besonders relevant ist die Möglichkeit des sinnvollen Vergleichs solcher Kennzahlen mit klinischen Einrichtungen einer ähnlichen Versorgungsstruktur und -größe. Die veröffentlichten Ansätze unterscheiden sich erheblich und werden von den verschiedenen Teilnehmern kontrovers diskutiert. Hier wird ein Ansatz mit endogenen Bezugsgrößen aus den jeweiligen spezifischen Strukturen verfolgt. Unter Business Intelligence wird die gezielte Auswertung von Daten (hier: KIS/RIS) mithilfe entsprechender spezieller Software/IT-Systeme mit dem Ziel verstanden, Prozesse zu analysieren, Wertschöpfung zu vergrößern, Risiken zu minimieren und dabei erfolgskritisches Wissen über den Status (in der Radiologie aus verschiedenen Blickwinkeln), die Potenziale (z. B. Personalkosten, Produktivität, Sachkosten, Kapazitätsnutzung etc.) und die Entwicklungsperspektiven zu erzeugen (s. Wikipedia). Die klinische Radiologie kann mit einer frühzeitigen Bestimmung des klinisch relevanten Patientenproblems in erheblichem Umfang zu einer Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der stationären Behandlung beitragen. Eine betriebswirtschaftliche Bewertung zeigt, dass dieser Beitrag denjenigen um mindestens eine Größenordnung B. May (*)  MBM-Medical - Unternehmensberatung GmbH, Mainz, Deutschland E-Mail: b.may@mbm-medconsult.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_39 749 750 B. May übersteigt, der durch Management der direkten Kosten der radiologischen Versorgung möglich ist. 2 Material und Methode Es gibt bereits zahlreiche Arbeiten zu diesem Thema. J. Schlüchtermann et al. haben sich 2013 mit den bekannten Ansätzen kritisch auseinandergesetzt, die überwiegend auf der Verwendung von GOÄ-Punkten (Gebührenordung Ärzte) als Bewertungsgrundlage beruhen, und für weiterführende Analyse die Data-Envelopement-Analyse (DEA) vorgeschlagen (Schlüchtermann et al. 2013). H.P. Busch empfiehlt den erlösorientierten (InEK) Ansatz (Busch HP 2013a, b, c). Schlüchtermann et al. (2013) kritisieren zutreffend die Verwendung der GOÄ als exogene Bewertungsbasis mit Äquivalenzziffern für heterogene Leistungen an den unterschiedlichen Modalitäten. Dem gegenüber ermöglicht die DEA eine endogene Gewichtung und über ein Optimierungsverfahren einen relativen Effizienzvergleich verschiedener radiologischer Abteilungen (Imaging-Department). Die aus dem Jahr 1982 stammenden Bewertungsrelationen der GOÄ berücksichtigen nicht den seit dieser Zeit entstandenen technologiebedingten Produktivitätsfortschritt bei den einzelnen Modalitäten wie z. B. Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT). Die GOÄ wird in den radiologischen Abteilungen auch nicht konsequent angewendet, so werden willkürlich und auf unterschiedliche Weise Leistungen und Punkte gesammelt und einzelnen Untersuchungen zugeordnet. Der InEK-Ansatz (InEK, Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) befasst sich mit Kostenbewertungen, ohne dass die einzelnen Kostenpositionen immer verursachungsgerecht der Radiologie zugerechnet werden. Dieser Ansatz verfolgt die retrograde Mittelwertbildung aus Istdaten von teilnehmenden Kliniken zur Ermittlung der anteiligen Ist-Sach- und Personalkosten bei unterschiedlichen Kliniktypen. Busch (2013b, c) empfiehlt diesen sogenannten erlösorientierten Ansatz und nutzt den jeweiligen Konvergenzrahmen zur Erarbeitung personeller Potenziale für eine Verbesserung des Prozessmanagements und der -Qualität. Damit erhebt er zu Recht die Kostenreduktion/Personalkostenreduktion nicht zur höchsten Priorität bei der Steuerung eines Imaging-Departments. Als geeignete Bezugsgröße wird hier der radiologische Fall in einem der zuvor genannten Leistungsbereiche verwendet und als Gewicht die durchschnittliche zeitliche Bindung in Minuten für das mit der Leistungserbringung befasste Personal (Radiologie, medizintechnischer Dienst, administrativer Dienst). Der radiologische Fall wie auch die radiologische Untersuchung werden im RIS (Radiologisches Informationssystem) eindeutig beschrieben und können, anders als die Leistungs- oder Punktmenge, mengenmäßig nicht manipuliert werden. Die Personalbindung je Fall korreliert stark mit der Personalausstattung und der dabei eingesetzten Personalqualität (beim ärztlichen Dienst das Verhältnis von trainierten Ärzten (Fachärzten) zu Assistenzärzten), erst nachrangig mit der Gerätetechnologie (moderne Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 751 Geräte erlauben eine höhere Produktivität als ältere) und der Infrastruktur (Clusterbildung gleichartiger Geräte im Vergleich zur Verteilung über zum Teil weit voneinander entfernte Installationsstandorte) und ist insofern ein endogener Gewichtsfaktor. Natürlich spielen Soft-Skill-Faktoren wie die Einstellung der Abteilungsleitung zu einem patientenorientierten Workflow-Management eine Rolle. Auch dieser Einflussfaktor lässt sich quantifizieren. Damit lassen sich das Leistungs- und Prozessgeschehen wie auch der Personaleinsatz durch aussagefähige Kennzahlen abbilden. Zur Entwicklung einer Plattform im Sinne der Business Intelligence mit der Möglichkeit der gezielten Auswertung aller mit der radiologischen Versorgung verbundenen Daten werden außer den zuvor genannten Leistungsdaten noch die Sachkosten benötigt. Die Erlösdaten lassen sich bei Ansatz von durchschnittlichen Fallerlösen aus den vom RIS analysierten Leistungsdaten mit Privatpatienten und KV-Patienten aus den Ambulanzen sowie denen aus der vor- und nachstationären Versorgung berechnen. Sämtliche für die Abbildungen und Tabellen verwendeten Daten entstammen der MBMDatenbank aus durchgeführten Projekten. Die Daten sind für diese Arbeit anonymisiert. 3 Grundlagen radiologischer Prozesse In diesem Abschnitt werden die zur Prozessbeschreibung des Leistungsgeschehens einer klinischen Radiologie erforderlichen Kennzahlen abgeleitet und beschrieben. Zunächst werden die in Abb. 1 erwähnten Begriffe präzisiert und bestimmt. Ein radiologischer Patient ist dadurch bestimmt, dass er der radiologischen Abteilung zur Durchführung einer Untersuchung zugewiesen wird. Das kann mehrfach geschehen. Jedes derartige Ereignis definiert einen Besuch in der Radiologie. Ein radiologischer Fall entsteht, wenn ein Patient auf dem Untersuchungstisch einer Modalität behandelt wird. Das kann während eines Besuchs auf derselben Modalität oder anderen mehrfach vorkommen (s. Abb. 1). In Abhängigkeit von der zugewiesenen Untersuchungsindikation können je radiologischer Fall durchaus mehrere Untersuchungen durchgeführt werden. Damit sind die in einschlägigen Gebührenordnungen wie Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) umschriebenen Organregionen gemeint wie Kopf, Hals, Becken, Gefäße etc. Je Untersuchung einer bestimmten Organregion können unterschiedliche Leistungen erbracht werden wie Beratung, native Untersuchungen, Untersuchungen mit Kontrastmittel, Anbringen von Punktionsverschlüssen, unterschiedliche Untersuchungsprotokolle etc. Ein praktisches Beispiel zur Leistungsbeschreibung gibt die Abb. 2 wieder. Zu unterscheiden ist zwischen einem radiologischen Patienten, der erstmals eine radiologische Behandlung erfährt (erster Balken in Abb. 2) und einem, der erstmals an einer bestimmten Modalität behandelt wird (zweiter Balken in Abb. 2). Im letzteren Fall kann ein Patient beispielsweise mehrmals am CT und am konventionellen Röntgen untersucht werden. Ein Patient, der mehrere Behandlungen an einer Modalität erhält, wird dabei nur einmal gezählt. 752 B. May Radiol. Patient Besuche in Radiologie Radiol. Fälle Untersuchungen Leistungen WS Rö Be Knie re Abd. CT B1 Be WS MR PAT WS MR B2 Be Abb. 1  System der unterschiedlichen Leistungsbegriffe 60000 Erstpatienten Fälle Patn./Modal. Untersuchungen 52.329 (100%) U/Fall 1,32 50000 Fälle/Patn. 2,13 40000 (100%) 30000 18.566 20000 1,38 2.372 1,47 Scanner (7%) (100%) Uro 255 MOB2.086 4.210 1,01 3.483 1,07 BU 5.806 33.003 amb. 24.874 Rö (100%) 963 1.219 10000 39.517 (9%) 617 3.045 US 3.739 702 30.110 DL/A/I/ERCP 712 4.731 23.719 175 17.827 1,33 4.409 1,22 1.840 1,10 1,39 13.342 7.634 1.958 0 909 Abb. 2  Beispiel zur Leistungsbeschreibung 5.385 (14%) 2.018(5%) 1,42 1,24 CT 2.510 MR Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 753 Bei dem Beispiel (Abb. 2) wird ein Patient 2,13 Mal an unterschiedlichen oder der gleichen Modalität behandelt mit durchschnittlich 1,32 Untersuchungen je Fall. 3.1 Die zeitliche Bindung des ärztlichen Dienstes Zur methodisch einwandfreien Analyse des Leistungs- und Prozessgeschehens ist eine Abgrenzung zwischen Regeldienst (etwa zwischen 8.00 Uhr und 17.00 Uhr) und Bereitschaftsdienst (zwischen 17.00  Uhr und 8.00  Uhr) erforderlich. Beim Personaleinsatz ist eine dreistufige Abgrenzung sinnvoll: Regeldienst, Bereitschaftsdienst und der hier sogenannte „Overhead“ (die Zusammenfassung der Tätigkeitsbereiche: Management und Organisation, Teilnahme an den klinischen und Tumorboards, Ausbildung von Nachwuchs sowie Forschung und Lehre). Die klinischen und Tumorboards gehören aber zur Krankenversorgung. Der Personalanteil des „Overhead“ ist bei Uniklinika im Allgemeinen am größten (hauptsächlich wegen der Ausbildungsfunktion und Forschung und Lehre-Tätigkeit), und nimmt bei nichtuniversitären Maximalversorgern (diese bedienen wie die Uniklinika mitunter über 40 Tumorboards), Schwerpunktversorgern und Regelversorgern mit abnehmendem Anteil von klinischen und Tumorboards sowie Ausbildungstätigkeit ab. Der Overhead-Anteil kann bei Uniklinika durchaus bei 40 % liegen, wie in Abb. 3 beispielhaft angegeben. Dort sind die Daten zur Personalstruktur abgefragt bzw. aus den Ist-Verhältnissen gemessen. Die Fallzahl je Modalität lässt sich aus den RISDaten ableiten. Damit lässt sich die durchschnittliche Personalbindung je Modalität (in Minuten) berechnen, hier für den ärztlichen Dienst. Dadurch ist auch die IstProduktivität für den ärztlichen Dienst im Regeldienst bestimmt. Die Diskussion einer Produktivität im Bereitschaftsdienst ist wenig sinnvoll, da hier keine regelhaften Anmeldungen mit einem definierbaren Workflow organisierbar sind. Für jede Modalität ist im Regeldienst in der ersten Säule der Abb. 3 die personelle Besetzung für den ärztlichen Dienst mit Vollzeitkräften (VK) angegeben und in der zweiten Säule die Fallmenge p. a. Zusätzlich sind auch die Daten für den Bereitschaftsdienst erwähnt. Multipliziert man für jede Modalität/Modalitätengruppe die Anzahl der Vollzeitkräfte im Regeldienst mit der Netto-Jahresarbeitszeit in Minuten und dividiert das Ergebnis durch die Anzahl der Fälle pro Jahr, die mit dieser Modalitätengruppe untersucht werden, erhält man die durchschnittliche Arztbindung in Minuten je Fall im Regeldienst. Mit dieser Kennzahl entsteht ein endogener Gewichtsfaktor für die Vergleichbarkeit des Leistungsgeschehens in einer heterogenen Modalitätenstruktur. Die Ergebnisse für die durchschnittliche Personalbindung je Modalitätengruppe sind im rechten horizontalen Balkendiagramm der Abb. 3 angegeben. Aus der Abb. 3 lässt sich die Produktivität je Modalitätengruppe für den ärztlichen Dienst aus der Division der Fallzahl p. a. und der Anzahl VK ableiten (Fälle je VK). Am MRT beträgt diese Kennzahl 2391 Fälle je VK, am CT 4545, in der Sonografie 4587 754 B. May Uniklinik Ø Anzahl Vollzeitkräfte (VK) je Modalität Radiologen 37,7 (100%) relativer Fallanteil im Regeldienst Anzahl Fälle 112.000 (100%) Ist-Arztbindung (Min./Fall) 24.000 "Overhead" Bereitschaftsdienst (7%) 16,38 VK (43%) 2.000 (2%) 20.000 (23%) 40.000 (45%) ... 22 2,46 A/I 3,5 US 4,36 Regeldienst Rö 3,3 CT 3,52 16.000 (18%) MRT 4,2 10.000 (11%) 8,3 26 42 0 Abb. 3 176 Ist-Personalbindung im Regeldienst 10 20 30 40 50 60 Arztbindung (Min./Fall) (Netto-Jahresarbeitszeit x Anzahl VK/ (Anzahl Fälle)) VK: Vollzeitkraft, A/I: Angio/Intervention, US: Ultraschall, Rö: Röntgen Abb. 3  Produktivität je Modalitätengruppe und beim Röntgen 12.121. Es handelt sich hierbei um abgeleitete Ist-Zahlen aus der Ist-Struktur. Als eine weitere wichtige Kennzahl lässt sich aus der Abb. 3 das Verhältnis der Fallzahlen ableiten, die mit den einzelnen Modalitätengruppen im Regeldienst erbracht werden: Rö:US:CT:MRT:Angio/Interv. = 45 %:23 %:18 %:11 %:2 %. Diese Kennzahl hat für den Gesamtpersonalbedarf eine große Bedeutung; wie mit Abb. 3 gezeigt, liegt dort die Produktivität beim Röntgen beispielsweise um den Faktor 5 über der am MRT (durchaus typisch). Hat also beim Benchmarking eine Klinik einen höheren Röntgenanteil bei gleicher Gesamtfallzahl (im Regeldienst), müsste sie mit einem geringeren Personalbedarf auskommen. Das gilt aber nur dann, wenn bei den verglichenen Kliniken im Regeldienst der gleiche Anteil an Fachärzten tätig ist. Der Anteil der Fachärzte im Regeldienst hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Produktivität und Qualität der Versorgung. Wenn z. B. sämtliche Befunde der Assistenzärzte erst von den Fachärzten geprüft werden, bevor eine Freigabe erteilt wird, hat dies keine Auswirkung auf die Qualität, jedoch einen erheblichen auf die Gesamtproduktivität des Teams und auf die Zeitspanne zwischen Anmeldung zur Untersuchung und Verfügbarkeit eines Befundes. Insofern ist das Verhältnis von Fachärzten (Oberärzte) zu Assistenzärzten eine maßgebliche Kennzahl. Mithilfe der folgenden Formel lässt sich die Anzahl von Fachärzten im Regeldienst aus dem Verhältnis von Fachärzten (FÄ) zu Assistenzärzten (AÄ) in Abhängigkeit von der Bettenzahl (B) ableiten (Abb. 4): Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … Anzahl FÄ im Regeld. FÄ AÄ 1 + FÄ AÄ -0,2 x 755 3.000 2.400 - B Uniklinik 3.000 2.700 - B alle anderen Kliniken B = Bettenzahl d. Klinik, FÄ = Fachärzte, AÄ = Assistenzärzte Abb. 4  Verfügbarkeit von Fachärzten im Regeldienst in Abhängigkeit vom Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten Die Zahl 0,2 in der Klammer gibt den ungefähren Anteil der Fachärzte von allen beschäftigten Ärzten an, die durch den sogenannten Overhead gebunden sind. Diese Zahl kann zwischen 0,18 und 0,24 schwanken. Beträgt beispielsweise bei einem Maximalversorger mit 1200 Betten das Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten 1:4, gibt es so gut wie keine Fachärzte im Regeldienst! Solche Verhältnisse kommen vor! Bei einem Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten von 1:2 liegt der Anteil der an der Regelversorgung teilnehmenden Fachärzte bei knapp 27 %. Beträgt das Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten bei einem Schwerpunktversorger mit 600 Betten z. B. 3:1, was durchaus üblich ist, sind knapp 80 % der in der Regelversorgung tätigen Ärzte Fachärzte. Ein Regelversorger (300 bis 400 Betten) arbeitet üblicherweise mit einem Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten von 4:1. Dann sind über 75 % der in der Regelversorgung tätigen Ärzte Fachärzte. Ein Grundproblem der Maximalversorger/Universitätsklinika, die üblicherweise die Hauptlast der Ausbildung des Nachwuchses tragen, ist die relativ hohe Arztbindung durch den klinischen Overhead, der wegen der Aufgaben in den klinischen und Tumorboards, der Ausbildung, der Organisation des Workflows und in der Forschung und Lehre überwiegend Oberärzte bzw. Fachärzte erfordert. Bei einem Regelversorger müssen aufgrund des kleinen Ärzteteams sämtliche Ärzte als Generalisten arbeiten. Dies trifft auch auf einen Teil der Ärzte bei Schwerpunktversorgern zu, während bei Maximalversorgern Teams von Spezialisten tätig sind, die in ihrem Arbeitsbereich eine höhere Produktivität als Generalisten entwickeln können. 3.2 Zwei wichtige Kennzahlen Die beiden Kennzahlen • Verhältnis Fachärzte inkl. Oberärzte: Assistenzärzten • Verhältnis der Fallzahlen an den einzelnen Modalitätengruppen (im Regeldienst) Rö:US:CT:MRT:Angio/Intervention 756 B. May beschreiben in entscheidender Weise das Leistungsvermögen eines Imaging Departments/ einer radiologischen Abteilung. Über das Verhältnis Fachärzte zu Assistenzärzten informiert z.  B. die Personalabteilung und über das Fallzahlenverhältnis an den Modalitäten im Regeldienst das RIS. Aus beiden Kennzahlen lässt sich unter Verwendung von Erfahrungswerten (s. Abschn. 3.4) die Soll-Personalstruktur des ärztlichen Dienstes im Regeldienst bestimmen, damit auch die durchschnittliche Personalbindungszeit je Fall an den einzelnen Modalitäten, auch die Soll-Produktivität, schließlich auch die Soll-Personalkosten bei Ansatz durchschnittlicher Gehälter. Damit sind die Grundlagen zur Berechnung der Fallkosten geschaffen. Aber auch noch eine andere, wesentliche Grundlage zur Beurteilung der Kongruenz der tatsächlich im Imaging Department vorhandenen fachlichen Schwerpunkte und der in den zuweisenden klinischen Abteilungen gelebten klinischen Schwerpunkte. Hier kann es große Abweichungen geben. Auch sind diese beiden Kennzahlen maßgeblich zur Bestimmung der Geräteauslastung und das Response-Verhalten der Radiologie bei Untersuchungsanforderungen (Zeitabstand zwischen Anmeldung zur Untersuchung, Durchführung der Untersuchung und Verfügbarkeit eines zutreffenden Befundes in der zuweisenden Klinik). 3.3 Die Ermittlung der Soll-Arztbindung Diese beiden Kennzahlen werden in der folgenden Systematik gemäß Abb. 5 verwendet. Die Verteilung der Kenntnisse und Erfahrungen, die letztlich die Arztbindung je Untersuchungsfall an einer Modalität bestimmen, unterliegen einer gaußschen Normalverteilung. In Abb. 5 ist die Arztbindung je Modalität in der vertikalen Achse in Abhängigkeit vom Kenntnis-/Erfahrungsstand dargestellt. Die bestimmenden Daten sind aus einer Reihe von Analysen von RIS-Datensätzen aus Einzelmessungen zusammengestellt. Zur Ermittlung quantitativer Ergebnisse für die Soll-Arztbindung je Modalität und damit die Soll-Produktivität unter Verwendung der Systematik gemäß Abb. 5 muss im konkreten Einzelfall für jede Modalität das wahrscheinlichste Datum für die Arztbindung des zu analysierenden Ärzteteams eingesetzt werden, und zwar getrennt für trainierte Ärzte (Oberärzte/Fachärzte) und Assistenzärzte. In der Abb. 5 ist dazu mit den beiden gestrichelten Linien ein Beispiel für einen Schwerpunktversorger angegeben. Die durchgezogene Linie ist das Rechenergebnis unter Ansatz der Kennzahl für das Verhältnis FA:AA = 1:1. Bei diesem Beispiel unterstellen wir, dass dieses Verhältnis für jede Modalität in gleicher Weise gilt. Das kann im konkreten Einzelfall abweichen (z. B. MRT 2:1). Als Ergebnis dieser Mittelungsrechnung erhält man die durchschnittliche Arztbindung je Modalitätenfall für jeden Arzt des Teams (durchgezogene Linie). Wird im nächsten Schritt auf die Daten der durchgezogenen Linie der Abb. 5 das dort angegebene Beispiel für den modalitätenbezogenen Fallmix angewendet (Rö:CT:US:MRT = 50 %:23 %:16 %:11 %), erhält man die in der folgenden Tab. 1 in der Zeile 4 angegebenen Ergebnisse für die mittlere Arztbindung je Fall an einer bestimmten Modalität. Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 757 Arztbindung (Min./Fall) Ärztlicher Dienst Kenntnisse, Erfahrungen 90 Beispiel Schwerpunktversorger(Regeldienst) : 80 OA : AA = 50% : 50% 80 Beginner Assistenzarzt 70 65 60 5,52 50 50 52 Facharzt 50 42 40 40 30 30 29 20 20 15 10 9 8 6 10 21 21 16 16 11 63 60 46 38 40,5 34,5 30 25 19 Oberarzt 21 20 18 sehr gut trainiert 14 12 0 Rö Beispiel: 50 % CT 23 % US 16 % MRT (Diagnostik100%) 11 % Abb. 5  Ermittlung der Soll-Arztbindung (durchgezogene Linie) Tab. 1  Durchschnittliche Arztbindung je Fall/Modalität, Produktivität =HLOH  $VVLVWHQ]DU]W V$EE  2EHUDU]W V$EE 0LWWOHUH]HLWO%LQGXQJMH)DOOMH$U]WEHL  2$$$  ‘7HDPOHLVWXQJ (UJHEQLV=HLOHJHZLFKWHWPLW)DOOPL[  5|&78605   $QWHLOLJH9ROO]HLWNUlIWH 9. EHL GLDJQ)lOOHQ  3URGXNWLYLWLlW )lOOHMH5DGLRORJH  )lOOHMH5DGLRORJHSUR7DJ 5|   $U]WELQGXQJLQ0LQXWHQ)DOO &7 86 057           ϭͿ 6XPPH                   3.4 Soll-Personalbedarf für den ärztlichen Dienst (Diagnostisches Verfahren im Regeldienst) Die mittlere zeitliche Bindung je Modalitätenfall und Arzt beträgt also gemäß Zeile 3 für das Röntgen acht Minuten, für den CT 29 min, für Sono 34,5 min und für den MRT-Fall 40,5 min. 758 B. May Jeder Arzt benötigt im Durchschnitt 20,65 min bei Zugrundelegen dieser beiden Kennzahlen (Verhältnis FA:AA und Fallmix an den Modalitäten im Regeldienst) und der endogenen Gewichte der Zeile 3. Auf das Röntgen entfallen von diesen 20,65 min vier Minuten (19 %), auf CT 6,67 min (32 %), auf die Sonografie 5,52 %min (27 %) und auf MRT 4,46 min (22 %). Bei einer Gesamtfallzahl von 48.000 im Regeldienst (üblicherweise deckt dieser 70 % bis 80 % der Gesamtfälle ab) und einer 42-h-Woche für den ärztlichen Dienst ist in der Zeile 5 die Anzahl der je Modalität erforderlichen Vollzeitkräfte berechnet. Danach benötigt diese Klinik im Regeldienst 9,13 VK Radiologen. Diese Sollzahl ist mit der IstZahl zu vergleichen. In Zeile 6 ist die durchschnittliche Produktivität je Modalität angegeben und in der Zeile 7 die Zahl der behandelten Fälle je Arbeitstag und Radiologen. 3.5 Soll-Personalbedarf für invasive Verfahren, z. B. Angio/ Intervention Hier muss der diagnostische Anteil vom therapeutischen getrennt werden. Die Zeitbindung unterscheidet sich erheblich in beiden Fällen. Auch ist zwischen radiologischen und neuroradiologischen Verfahren zu unterscheiden. Letztere dauern im Durchschnitt erheblich länger. Auch ist die Fallmenge im Allgemeinen so gering, dass eine Einzelberechnung nach tatsächlichem Aufwand sinnvoll ist. Hinzu kommt die Ausbildungsfunktion, dass dann ein zweiter Arzt mitarbeitet und nur eine MTA zur Gerätebedienung und Zuarbeit notwendig wird. Bei einem Beispiel eines Angio-/Interventionsarbeitsplatzes mit 1200 Fällen (Körperstamm) mit 60 % diagnostischem Anteil und einer durchschnittlichen Zeitbindung von 40 min sowie einem 40 prozentigen Therapieanteil mit einer durchschnittlichen Zeitbindung von 120 min erhält man bei einer 40-h-Woche einen Personalbedarf von 0,8 VK für den ärztlichen Dienst, bei einer Personalbesetzung von zwei Radiologen entsprechend 1,6 VK. Die ärztliche Zeitbindung bei einem neuroradiologischen Arbeitsplatz liegt zwischen dem Zwei- und Dreifachen darüber. 3.6 Abschätzung des Personalbedarfs für den „Overhead“ beim ärztlichen Dienst Als Overhead wird hier ein Sammelbegriff für die Tätigkeitsbereiche Management, Organisation, Ausbildung, klinische Besprechung, Tumorboards und Forschung und Lehre verwendet. Der Aufwand für die Zeitbindung durch klinische Besprechungen und Tumorboards lässt sich durch die bei den Besprechungen vorgegebenen Zeitabschnitte und die dafür notwendigen Vorbereitungen leicht quantifizieren. Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 759 Ein Maximalversorger benötigt für den Aufgabenkomplex Management und Organisation mindestens eine Vollzeitkraft, ein Schwerpunktversorger etwa eine halbe VK. Der Aufwand für Forschung und Lehre ist im Einzelfall zu quantifizieren. Die Ausbildung des Nachwuchses wird unterschiedlich durchgeführt, z. B. Mitarbeit an den Modalitäten einerseits und eigenständige Befundung mit anschließender Kontrolle durch einen trainierten Arzt andererseits. Eine Faustregel zur ungefähren Bestimmung des Personalaufwandes für den ärztlichen Dienst lässt sich jedoch aus einer Vielzahl von Analysen ableiten mit einem in etwa linearen Zusammenhang zwischen Overhead-Aufwand und Personalaufwand für den Regeldienst in Abhängigkeit von der Klinikgröße und Versorgungsstufe (s. Abb. 6). Der lineare Zusammenhang wird hier durch den in Abb. 6 bezeichneten Faktor (Koppelungsfaktor) beschrieben. Die Normierung auf 600 Betten stellt dabei einen oberen Grenzwert dar, ein unterer liegt bei ca. 750 Betten, dabei ist also 600 durch 750 zu ersetzen. Mit dem Personalbedarf für den klinischen Overhead und denjenigen für invasive Verfahren lässt sich der Soll-Bedarf im Regeldienst zusammen mit den Ergebnissen der Tab. 1 bestimmen. Es fehlt noch die Bedarfsermittlung für den Bereitschaftsdienst. Faktor zur Berechnung des Gesamtbedarfs aus dem Regeldient Gesamtbedarf = Faktor x Bedarf f. Regeldienst (VK) 2 2/1 1,8 1,6 1,4 3/2 Faktor = 1 + 0,5 x Bettenzahl 600 1,2 (VK) 4/3 1/1 1 1 O'head-Anteil v. Regeldienst = 0,5 x Bettenzahl 600 0,8 Gesamtbedarf 0,6 0,4 0,2 (VK) (VK) 1/3 1 Anteil "O'head" 1 Anteil Regeldienst 3 2 400 600 1/2 1 0 0 200 800 1000 Grund-und SchwerpunktRegelversorger versorger Abb. 6  Personalbedarf für den „Overhead“ aus dem Regeldienst 1200 Bettenzahl Maximalversorger 760 B. May 3.7 Der ärztliche Personalbedarf im Bereitschaftsdienst Lediglich Maximalversorger haben eine Vorhalteverpflichtung für den ärztlichen Dienst, niedrigere Versorgungsstufen decken den Personalbedarf durch Rufbereitschaft üblicherweise mit Überstunden ab. Meistens besetzen Maximalversorger den Bereitschaftsdienst mit Assistenzärzten, die ein Training in der Sonografie, dem konventionellen Röntgen und CT erhalten haben. MRT-Untersuchungen werden nach 20 Uhr im Allgemeinen nicht durchgeführt. Werden bei Maximalversorgern Assistenzärzte mit Problemfällen konfrontiert, wird über die Rufbereitschaft ein trainierter Radiologe hinzugezogen, der die anfallenden Überstunden gesondert abrechnet. Lediglich die ärztliche Vorhaltung im Bereitschaftsdienst wird für den Personalbedarf berechnet und ist hier einfach zeit- und auslastungsabhängig zu bestimmen. Üblicherweise fällt die Hauptlast bis 24 Uhr an (wochentags), sodass zwei Ärzte erforderlich werden. 3.8 Der Personalbedarf für den medizinisch-technischen Dienst (MTA) Auch hier ist eine Trennung des erforderlichen Personalaufwands im Regeldienst vom Bereitschaftsdienst und einem Overhead-Anteil erforderlich, der mindestens Organisations- und Managementaufgaben umfasst, aber auch die Beteiligung an Forschung und Lehre sowie Ausbildungsaufgaben. Die Personalbindung im Regeldienst ist deckungsgleich mit den Taktzeiten der Modalitäten (Patientenwechselzeiten). Daraus lässt sich der Personalbedarf Bottom-up berechnen. Es lässt sich aber eine Faustregel zur Bestimmung des notwendigen Personalanteils für MTA in Abhängigkeit von dem für den ärztlichen Dienst ableiten. Die Beziehung ist einigermaßen linear. Danach benötigt ein Schwerpunktversorger im Regeldienst etwa den 1,9-fachen Personalaufwand des ärztlichen Dienstes im Regeldienst. Liegt beim ärztlichen Dienst der Sollwert für den Personalaufwand unterhalb des Istwertes (Überbesetzung), müsste der Personalaufwandsanteil für den medizinisch-technischen Dienst beim 1,8-Fachen liegen, ist das Verhältnis umgekehrt (Unterbesetzung), müsste der Personalaufwandsanteil für den medizinisch-technischen Dienst höher liegen. 4 Benchmarking von radiologischen Abteilungen (Personalbindung, Produktivität, Personalkosten) Für die Leitung einer Klinik, auch der radiologischen klinischen Abteilung, ist vorrangig die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der radiologischen Versorgung wichtig, also zunächst die Kostendeckung. Die radiologische Diagnostik erwirtschaftet im DRG-System Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 761 keine eigenständigen Erlöse und wird über die Umlage ihrer Versorgungskosten auf die klinischen Abteilungen im Verhältnis der Inanspruchnahme durch angeforderte Untersuchungen finanziert. Das DRG-System stattet die von den klinischen Abteilungen erwirtschafteten Erlöse mit entsprechenden Anteilen für die Inanspruchnahme einer radiologischen Versorgung aus. Die absoluten Kosten einer radiologischen Abteilung sind zwar eine wichtige Größe, relevanter sind jedoch wenige, aussagefähige Kennzahlen (möglichst spezifische Größen), die einen Vergleich mit den entsprechenden Versorgungskosten in anderen Kliniken ermöglichen. Unter den Bedingungen der hier vorgestellten Systematik ist der diagnostische Anteil in der Regelversorgung ohne Einschränkungen benchmarkfähig. Das vorrangige Ziel ist die Durchführung von Abweichungsanalysen je Modalität/Modalitätengruppe, für abgrenzbare Teilbereiche und insgesamt. Wegen der starken Unterschiede bei der modalitätenbezogenen Produktivität – sowohl für den ärztlichen Dienst wie für den medizinisch-technischen Dienst – spielt der modalitätenbezogene Fallmix bei den verglichenen Kliniken eine wesentliche Rolle, ebenso der Anteil trainierter Ärzte zu Assistenzärzten. Eine Abweichungsanalyse kann z. B. folgende Ursachen aufdecken: • Mangel an fokussiertem Workflow-Management • Infrastrukturschwächen (mit größeren Abständen verteilte Geräte im Vergleich zu Clustern von gleichartigen Geräte) • Auf unterschiedliche Standorte verteilte Radiologie-Schwerpunkte mit überlappenden Aufgabengebieten für die betreuenden Radiologen • Relativ hoher Anteil an Assistenzärzten (mit denen die klinischen Schwerpunkte nicht vollständig abgedeckt werden können) • Hoher Schnittbildanteil versus konventionelles Röntgen • Bei den Schnittbildverfahren arbeiten die verantwortlichen/betreuenden Ärzte nicht patienten- und modalitätennah Die therapeutischen Verfahren an den Arbeitsplätzen Angio/Intervention bzw. CT bzw. MRT bzw. Mammografie erfordern eine gesonderte Analyse. Dieser Anteil liegt üblicherweise nicht über drei Prozent des gesamten Fallaufkommens in der Radiologie. Wichtig ist auch die Abgrenzung der neuroradiologischen von den allgemeinradiologischen Verfahren. In der Diagnostik können diese gleichbehandelt werden. Die interventionellen Verfahren sind dagegen erheblich zeitaufwendiger als diejenigen der Allgemeinradiologie. Benchmarking-Ergebnisse (diagnostischer Anteil im Regeldienst) Dieser Anteil liegt im Allgemeinen bei etwa 70 % des gesamten Fallaufkommens, unabhängig vom Kliniktyp (Versorgungsstufe, Bettenzahl), vorausgesetzt, die Klinik beteiligt sich an einer Notfallversorgung. 762 B. May Die mit der Tab. 2 vorgestellten Beispiele werden gemäß der hier diskutierten Systematik für die Berechnung des Soll-Personalbedarfs insgesamt und je Modalität wie auch für die jeweilige Produktivität im Folgenden verwendet. Zunächst ist mithilfe der Abb. 4 – wie am Beispiel der Tab. 1 durchgeführt – die Personalbindung für Assistenzärzte und Oberärzte für jedes der genannten Beispiele zu bestimmen. Bei Einzelnen hängt dies je Modalität vom unterschiedlichen Ausbildungsstand, Erfahrungs- und Kenntnisstand der jeweiligen Ärzte ab. Dies ist in der Tab. 3 für alle drei Beispiele der jeweiligen Versorgungsstufe durchgeführt (ersten beiden Zeilen). Unter Verwendung des Verhältnisses von trainierten Ärzten (Fachärzte/Oberärzte) zu Assistenzärzten lässt sich die durchschnittliche Arztbindung des jeweiligen Teams gemäß Zeile 3 in der Tab. 3 berechnen. Das Verhältnis von Fachärzten zu Assistenzärzten ist im Index 1 der Tab. 3 angegeben. Zur Ermittlung der durchschnittlichen Arztbindung in jedem der drei Beispiele ist die Mittelung mithilfe des jeweiligen Fallmixes an den Modalitäten durchzuführen. Dieser ist im Index 2 der Tab. 3 angegeben. Das Ergebnis ist in Zeile 4 der Tab. 3 berechnet. Aus der Multiplikation der durchschnittlichen Arztbindung je Fall je Modalität mit der Gesamtfallzahl und anschließenden Division durch die Netto-Jahresarbeitszeit lässt sich in der Zeile 5 der Tab. 3 der diagnostische Personalbedarf für jede Modalität/ Modalitätengruppe im Regeldienst für die drei angegebenen Beispiele berechnen. Zur Ermittlung des Gesamtpersonalbedarfs ist der Bedarf für Angio/Intervention sowie der für den Overhead zu addieren (s. Tab. 3 letzte Zeile). Beim Maximalversorger befasst sich also jeder Arzt mit dem diagnostischen Anteil im Regeldienst im Durchschnitt 21,74 min, beim Schwerpunktversorger 20,65 min und beim Regelversorger 13,35 min. Für die Bewältigung dieser Aufgaben beschäftigt der Maximalversorger 17,21 VK im ärztlichen Dienst, der Schwerpunktversorger 8,18 VK und der Regelversorger 3,56 VK. Der Radiologe eines Maximalversorgers wird im Durchschnitt für diagnostische Untersuchungen also länger beansprucht als ein Radiologe des Schwerpunkt- beziehungsweise Regelversorgers. Das liegt vor allem am höheren MRT- und niedrigeren Röntgenanteil. Wie bereits am Beispiel der Tab. 1 diskutiert, differieren die Personalbindungszeiten an diesen Modalitäten erheblich (ca. Faktor 5). Tab. 2  Drei Beispiele für Benchmarking des Leistungsgeschehens $Q]DKO)lOOHLP5HJHOGLHQVW [ *UXQGXQG5HJHOYHUVRUJHU 6FKZHUSXQNWYHUVRUJHU 0D[LPDOYHUVRUJHU QXU'LDJQ QXU'LDJQ QXU'LDJQ $Q]DKOSD   $Q]DKOSD   $Q]DKOSD   86          5|          &7          05          $QJLR,QWHUY          6XPPH             Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 763 Tab. 3  Durchschnittliche Personalbindung je Arzt/Modalität, Personalbedarf/Modalität ‘]HLWO $U]W %LQGXQJ 0LQ $VV$U]W 2EHUDU]W 7HDP‘  7HDP‘  PLW)DOOPL[ 0D[ 9HUVJ    3HUVRQDOEHGDUI 9. 'LDJQRVWLN 5|QWJHQ &7       69 *X5 0D[ 9HUVJ 9HUVJ       69 *X5 0D[ 9HUVJ 9HUVJ       6RQR 69    *X5 0D[ 9HUVJ 9HUVJ       057 69    0D[ 9HUVJ       *X5 9HUVJ    2EHUDU]W$VV$U]W  )DOOPL[PLW0RGDOLWlWHQ 5|&786057 69                                     3HUVRQDOEHGDUIDXV $QJLR,QWHUYHQWLRQ 9.  6XPPH ‘ *X5 9HUVJ    0D[9HUVRUJHU 6FKZHUSXQNWYHUVRUJHU *UXQGX5HJHOYHUVRUJHU 0D[9HUVRUJHUQ 6FKZHUSXQNW9HUVRUJHU *UXQGX5HJHOYHUVRUJHU *HVDPW3HUVRQDOEHGDUI 9. 5HJHOGLHQVW 2YHUKHDG$QWHLObU]WO'LHQVW 9.    *HVDPW3HUVRQDOEHG5DGLRORJHQ 9.    Bei einem Maximalversorger liegt auch die durchschnittliche modalitätenbezogene Arztbindung je Fall höher als bei einer niedrigeren Versorgungsstufe, da im Allgemeinen bei einem Maximalversorger im Regeldienst relativ mehr Assistenzärzte eingesetzt werden. Dies ist einerseits der Ausbildungsfunktion geschuldet, zum anderen der umfangreicheren Personalbindung durch den sogenannten Overhead für trainierte Ärzte (vor allem Tumorboards). Die in der Zeile 4 der Tab. 3 berechneten Durchschnittswerte für die modalitätenbezogene Arztbindung je Fall lassen sich z. B. in der Abb. 7 grafisch darstellen. Die Abb. 7 zeigt auf den ersten Blick, dass der Regelversorger seine Radiologen hauptsächlich mit der Durchführung von Röntgenuntersuchungen beschäftigt. Anders der Schwerpunktversorger mit einem hier deutlichen Schwerpunkt bei der CT-Diagnostik, während der Maximalversorger diagnostische Schwerpunkte in der Sonografie und MRT ausweist. Man darf erwarten, dass der Maximalversorger den durchschnittlich geringsten Anteil an ärztlicher Personalbindung in der Röntgendiagnostik hat und bei der CT auch über dem Schwerpunktversorger liegt. Insofern gestattet die Abb. 7 eine Abweichungsanalyse: Bei dem Maximalversorger gibt es in der CT-Diagnostik einen aus den beiden CT gebildeten Cluster von gegenüberliegenden Geräten mit einem gemeinsamen Bedienraum, während bei dem Schwerpunktversorger die beiden CT über zwei Etagen voneinander getrennt installiert sind, dadurch hat der Schwerpunktversorger eine höhere Personalbindung als der Maximalversorger. Entsprechend müsste die Produktivität der CT-Radiologen beim Maximalversorger über derjenigen des Schwerpunktversorgers liegen (s. dazu Tab. 4, die aus den Daten der Tab. 3 und 2 abgeleitet ist). Tab. 4 zeigt die typischen durchschnittlichen Produktivitäten für den ärztlichen Dienst in einem Imaging-Center jeweils eines Maximalversorgers, eines Schwerpunktversorgers und eines Regelversorgers sowohl für die einzelnen Modalitäten/Modalitätengruppen wie auch für das gesamte Team (letzten drei Zahlen). Die typische Produktivität 764 B. May Ø Arztbindung je Ø Fall (Min.) 9,00 8,06 8,00 7,00 6,64 Ø Gesamtarztbindung (Min. je Ø Fall) (Summe an d. Modal.) 6,67 6,00 5,52 5,00 4,60 4,00 4,00 4,18 21,74 MV* 20,65 SV* 1,24 13,35 GRV* 3,23 3,00 2,24 2,00 1,00 0,00 5,03 4,46 Rö CT US MRT *: MV = Maximalversorger; SV = Schwerpunktversorger; GRV = Grund- und Regelversorger Abb. 7   Modalitätenbezogene Versorgungsstufen Soll-Arztbindung im Vergleich dreier unterschiedlicher Tab. 4  Produktivitätsvergleich ärztlicher Dienst 5|QWJHQ 0D[ 0D[ 9HUV 69 *59 9HUV &7 0D[ *59 9HUV 6RQR 0D[ *59 9HUV 057 ‘7HDPSURGXNWLYLWlW 0D[ *59 9HUV 69 *59 69 69 69 6ROO3URGXNWLYLWlW'LDJQRVWLN )lOOHMH5DGLRORJHSD                696FKZHUSXQNWYHUVRUJHU *59*UXQGXQG5HJHOYHUVRUJHU des Regelversorgers liegt deutlich über derjenigen der beiden anderen Versorgungsstufen wegen des im Vergleich wesentlich höheren Röntgenanteils mit einer grundsätzlich die anderen Modalitäten weit übersteigenden Produktivität. Dabei liegt die Röntgenproduktivität des Schwerpunktversorgers über derjenigen des Regelversorgers, weil der Schwerpunktversorger wesentlich höhere Fallzahlen als der Regelversorger hat und damit Radiologen auslastet (Spezialisten), während die Radiologen beim Regelversorger als Generalisten an im Allgemeinen nicht ausgelasteten Arbeitsplätzen arbeiten und unterschiedliche Modalitäten gleichzeitig betreuen. Die Ursache für die höhere Produktivität des Maximalversorgers beim CT im Vergleich zu den beiden anderen Versorgungstypen liegt – wie bereits erwähnt – an der gegenüberliegenden Anordnung zweier CTs mit einem gemeinsamen Bedienraum und einer im Vergleich zu den beiden anderen relativ hohen Geräteauslastungen. Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 765 Beide Systeme werden von lediglich einem Radiologen betreut, während die beiden CTs des Schwerpunktversorgers über zwei Etagen voneinander entfernt installiert sind und der Regelversorger nur einen zu 30 % ausgelasteten CT mit Generalisten betreut. Anders der Workflow bei den drei MRT-Geräten des Maximalversorgers, die auf unterschiedliche Standorte verteilt sind, während die beiden MRTs des Schwerpunktversorgers gegenüberliegen. Die Radiologen des Maximalversorgers bevorzugen die Befundung vom Monitor in einem von den MRT-Geräten deutlich entfernten Raum mit der Anweisung an den medizinisch-technischen Dienst, möglichst wenig Patientenkontakt zu haben. Dagegen betreut ein erfahrener Radiologe die beiden MRT des Schwerpunktversorgers geräte- und patientennah. Der Regelversorger betreibt keinen eigenen MRT und nutzt ein Gerät in einer kooperierenden Klinik. Als Fazit lässt die Tab. 4 nicht den Schluss zu, dass die Produktivität einer kleineren Klinik statistisch signifikant über derjenigen einer größeren Klinik liegen muss. Bei MRT mehr noch als bei CT kommt es auf ein geräte- und patientennahes Workflow-Management durch einen trainierten Radiologen an. Dieses Kriterium ist nicht nur für den gerätebezogenen Workflow entscheidend, sondern auch für die Qualität des Outcomes. Dass im Mittel die Teamproduktivität eines Regelversorgers über der einer höheren Versorgungsstufe liegt, ist dem modalitätenbezogenen Fallmix mit einem wesentlich höheren relativen Röntgenanteil geschuldet. Grundsätzlich müsste der Schwerpunktversorger bei gleichen Infrastrukturbedingungen am besten abschneiden, da er im Allgemeinen den höchsten Anteil an trainierten Ärzten und eine Untersuchungsnachfrage hat, die meistens einen ausgelasteten Gerätebetrieb sicherstellen kann. Allerdings befunden die Radiologen bei Schwerpunkt- und Regelversorgern das während des Bereitschaftsdienstes anfallende Untersuchungsprogramm am Folgetag. (Maximalversorger haben demgegenüber außerhalb des Regeldienstes einen Präsenzdienst, der das Programm selbst befundet, von komplexeren Fällen abgesehen, für die ein Hintergrunddienst zuständig ist.) Beim medizinisch-technischen Dienst wird die Produktivität im Regeldienst ermittelt, indem die anfallende Fallzahl durch die damit gebundenen Anzahl Vollzeitkräfte geteilt wird. Dieses Verfahren lässt sich auf einzelne Modalitäten/Modalitätengruppen und auf das gesamte Team anwenden. Die Gesamtproduktivität der medizinischen Dienste (ärztlicher Dienst und medizinisch-technischer Dienst) lässt sich in einem orthogonalen System darstellen, auf einer Achse die Anzahl Befunde je Radiologe, auf der dazu senkrechten die Anzahl der Fälle je MTA, jeweils für den gleichen Zeitraum. Die hohe Produktivität der Regelversorger hängt – wie bereits früher diskutiert – von dem gegenüber den anderen Versorgungstypen relativ höchsten Röntgenanteil ab, die den beiden Diensten eine entsprechend hohe Produktivität ermöglichen. Es werden im Verhältnis hier mehr trainierte Ärzte eingesetzt, die allerdings als Generalisten arbeiten und dadurch die Prozesse wieder retardieren. Dadurch ist die Teamproduktivität bei Regelversorgern grundsätzlich nicht höher als die von Schwerpunktversorgern. 766 B. May Die klinische Nachfragemenge sorgt bei Schwerpunktversorgern für ausgelastete Arbeitsplätze im Allgemeinen auch bei den Schnittbildverfahren, sodass die dort eingesetzten Ärzte einen hohen Erfahrungsstand gewinnen und diesen in ein hohes Produktivitätsniveau umsetzen können. Bei einem Regelversorger ist evtl. der Röntgenarbeitsplatz voll ausgelastet, der CT zu selten mehr als 40 %. Ein MRT oder ein Interventionsarbeitsplatz stehen in der Regel nicht zur Verfügung. Uniklinika setzen im Allgemeinen in der Regelversorgung den geringsten Anteil an trainierten Ärzten ein. Dies liegt an der Ausbildungsfunktion sowie an dem im Vergleich zu den anderen Versorgungstypen hohen Overhead-Anteil mit starker Bindung trainierter Ärzte durch Tumorboards, Ausbildung sowie Forschung und Lehre. Auch liegt bei Uniklinika der Schnittbildanteil, insbesondere MRT, höher als bei den anderen beiden Versorgungsstufen. Unter allen diagnostischen Verfahren erlaubt die MRT, gleichen Trainingsstand vorausgesetzt, die geringste Produktivität für beide Dienstarten. Schwerpunktversorger haben im Verhältnis zu Maximalversorgern einen wesentlich geringeren Overhead und im Allgemeinen einen mit über 70 % sehr hohen Anteil an trainierten Ärzten. Deren Ausbildungsaufgaben sind im Vergleich zu Maximalversorgern geringer. Außerdem erlaubt die Geräteauslastung fallweise eine modalitätenbezogene Spezialisierung, sodass Schwerpunktversorger für beide Dienste eine hohe Produktivität ermöglichen können. 5 Die vielfältigen Aussagemöglichkeiten bei der Analyse des Fallspektrums Um aus der „Vogelperspektive“ einen schnellen Überblick über das Leistungsgeschehen eines Imaging-Department zu erhalten, stellt man das Fallspektrum zunächst insgesamt und nach stationären und ambulanten Anteilen auf. 5.1 Wie nutzen die zuweisenden Kliniken die Radiologie? Wichtige Fragen zur Leistungsbeziehung zwischen Radiologie und den klinischen Fächern befassen sich mit der Nutzung der Radiologie durch die zuweisenden klinischen Abteilungen und der Kongruenz zwischen den Leistungsschwerpunkten der Radiologie und denjenigen der klinischen Abteilungen. Zur Erläuterung sind für das Beispiel eines Schwerpunktversorgers in der Abb. 8 die wichtigsten klinischen Abteilungen mit dem jeweils angeforderten durchschnittlichen Modalitäten-Fallspektrum p. a. aufgeführt. Die Gastroenterologie ist der größte CT-Nutzer und die Neurologie der größte MRTNutzer. Die Neurologie hat mit 45 Betten (ohne Intensivbetten) einen Schwerpunkt in der Schlaganfallversorgung. In der Kardiologie ist ein gut ausgelasteter Linksherzkatheter-Arbeitsplatz installiert. Insofern ist das organbezogene Fallspektrum für CT und Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 767 Zuweiser und Modalitäten (Fälle) 7603 3785 3877 3796 3137 100% 100% 100% 100% 100% MR 2% 177 3% 102 CT 8% 636 8% 284 9% 25% 3% 100 19% 589 345 19% 718 17% 647 14791 0% 100% 32 14% 2114 954 44% 1684 Rö 78% 5939 78% 11537 54% 2031 66% 45% Sono 11% 2434 1715 851 11% 1% UCH 78% 2558 ACH 400 20 GAS 0% NEU 14 KAR 7% 1108 AMBNOT Abb. 8  Zuweiser und das modalitätenbezogene Fallspektrum MRT für diese beiden klinischen Zuweiser, Neurologie und Kardiologie, interessant. Zunächst das CT- und MRT-Fallspektrum in der Kardiologie: Dieser Schwerpunktversorger betreibt in der Radiologie einen technologisch aktuellen 128-Zeiler, mit dem in guter Qualität z. B. die Herzkranzgefäße bei der Frage nach einer etwaigen Gefäßverengung auf nicht invasive Weise untersucht werden können. Von den 593 Fällen entfallen nur 26 (vier %) auf Herzuntersuchungen. Die Möglichkeiten dieses CT werden also hier nicht genutzt. Dem gegenüber wird der LinkherzkatheterArbeitsplatz zu über 60 % für invasive Diagnostik der Herzkranzgefäße verwendet. Lediglich etwa 100 Fälle überweist die Kardiologie zur Untersuchung am MRT. Davon entfallen 44 (45 %) auf das Herz. Gerade in der Kardiologie besetzt die MRTUntersuchung inzwischen einen hohen Stellenwert zur Beurteilung der Herzfunktionalität (z. B. Muskeldurchblutung nach Infarkt). Hier divergiert also der klinische Schwerpunkt vom radiologischen, obwohl methodisch geeignete Modalitäten vorgehalten werden. Für eine 45-Betten-Neurologie ist die Anzahl von 647 MRT- und 718 CT-Fällen (s. Abb. 8) viel zu niedrig. Eine vergleichbar große neurologische Abteilung in einem anderen Schwerpunktversorger etwa gleicher Größenordnung mit einem Schwerpunkt in der Schlaganfallversorgung überweist p. a. etwa 2500 MRT-Fälle und etwa 1500 CT-Fälle in die Radiologie. 768 B. May Die Klinik hat gemäß Abb. 8 einen Schwerpunkt für Wirbelsäulenerkrankungen. Das radiologische Fallspektrum korrespondiert nicht mit den klinischen Schwerpunkten bei der Therapie von Schlaganfall- und Wirbelsäulenerkrankungen. Die Ursachen liegen zum Teil darin, dass nur etwa 60 % der 6,3 Vollzeitkräfte im Ärzteteam Fachärzte sind und diese das gewünschte Spektrum der gesamten klinischen Nachfrage fachlich nicht vollständig abdecken, obwohl die apparativen Voraussetzungen vorgehalten werden. Die relativ einfache Analyse des Fallspektrums nach Modalitäten, Organkomplexen und Zuweisern erlaubt bereits eine gute Beurteilung der Leistungsbeziehung zwischen der Radiologie und den klinischen Zuweisern und gibt Hinweise auf die Divergenzen/ Schwachstellen, die einer weiteren Analyse bedürfen. 5.2 Benchmarking des Fallspektrums von sieben Uniklinika Bereits ein einfacher Vergleich der modalitätenbezogenen Fallspektren erlaubt erste Hinweise auf die Qualität der radiologischen Versorgung für die gesamte stationäre Behandlung. Die Abb. 9 zeigt zum Teil große Unterschiede im modalitätenbezogenen Fallspektrum zwischen sieben Uniklinika. Exzellenzklinika Ki-R MRT UK0 UK1 UK 2 UK 3 UK4 UK 5 UK6 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 3 4 6 8 } 25% CT MA A/I 1 5 7 } 19% } 22% 16 10 } 29% 10 17 US } 41% 14 80% 19 10 1 90% 17 } 44% } 26% 2 1 6 100% 3 12 12 16 1 1 4 1 16 3 3 28 24 1 2 4 2 3 3 2 14 14 70% 60% 5 50% 40% Rö 65 65 30% 55 42 47 48 46 20% 10% 0% Ki-R. = Kinderradiologie, MA = Mammographie, A/I = Angio/Intervention, US = Ultraschall Abb. 9  Benchmarking von sieben Uniklinika Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 769 In Deutschland gibt es einige universitäre Einrichtungen, die aus unterschiedlichen Gründen zu Exzellenzkliniken bestimmt worden sind. Auffällig ist bei diesen beiden Exzellenzklinika (UK 5 und UK 6) der relativ hohe Anteil der Schnittbildverfahren mit über 40 %. Im Vergleich liegt der Schnittbildanteil (CT, MRT) bei den anderen Kliniken zum Teil deutlich unter 30 %. Umgekehrt dazu verhält sich der Röntgenanteil mit dem Hinweis, dass mit CT und MRT im Allgemeinen differenzierendere diagnostische Aussagen möglich sind, insbesondere bei der Weichteil-Diagnostik. So hat die Klinik UK 0 erhebliche Qualitätsprobleme. Dort kommen auf einen Facharzt fünf Assistenzärzte. 6 Die Geräteauslastung und was sie über Prozessmanagement und die Personalbindung beim medizinisch-technischen Dienst aussagt Eine geringe gerätebezogene Produktivität (Fallzahl je Stunde, je Modalität) wird von den verantwortlichen Radiologen gern als Kriterium für besonders komplexe Fälle genannt oder auch für eine besonders sorgfältige Arbeitsweise mit hohem Qualitätsniveau. Diese Aussagen korrespondieren oftmals nicht mit der Wirklichkeit! So gibt es Uniklinika mit extrem hoher Produktivität z. B. bei CT mit durchschnittlich vier bis fünf Fällen die Stunde und einem üblichen Anteil unterschiedlicher Traumafälle, (unfallchirurgischer Schwerpunkt), und die klinischen Hauptzuweiser erteilen dem verantwortlichen ärztlichen Dienst Bestnoten. Dann gibt es Schwerpunktversorger mit einem CT modernster Multislice-Technologie (z.  B. 128-Zeiler) und einer Produktivität von zwei Fällen die Stunde und nicht immer übereinstimmenden Beurteilungen durch die Zuweiser. Die Analyse führt in jedem Fall immer wieder auf das qualitätsentscheidende Kriterium hin: Gibt es einen für den geräte- und patientennahen Workflow verantwortlichen trainierten Radiologen? Die Abb. 10 zeigt das Profil der Häufigkeitsverteilung der Taktzeiten an einem universitären CT mit dem Häufungsmaximum bei zehn Minuten. Die Taktzeiten sind auf der horizontalen Achse angetragen, die korrespondierenden Häufigkeiten vertikal. Am CT der Abb. 10 ist ein trainierter Radiologe für das Prozessmanagement zuständig. Die Taktzeit am Gerät (Patientenwechselzeit) definiert die Produktivität des medizinisch-technischen Dienstes, wobei die Anzahl der an dem Dienst teilnehmenden Mitarbeiter berücksichtigt werden muss. Beispielsweise fand der Autor bei einem Maximalversorger einen CT mit einer Auslastung von über 12.000 Fällen p. a. mit einer Dreierbesetzung des medizinischtechnischen Dienstes vor, ein Mitarbeiter war zuständig für die Gerätebedienung, einer für das Patientenmanagement und einer für das Management des Hol- und Bringdienstes sowie die Vollständigkeit/Beschaffung der für die jeweilige Untersuchung erforderlichen klinischen Informationen. 770 B. May &73DWLHQWHQZHFKVHO]HLWHQ QXU&7 +lXILJNHLWGHU 7DNW]HLWHQ   3DWLHQWHQZHFKVHO]HLW0LQ HUPLWWHOWDXV3DWLHQWHQ LQQHUKDOEYRQ0LQXWHQ DOOHVGDUEHUQLFKWEHUFNVLFKWLJW *HVDPW]HLW 0LQ3DW 0LQ3DW       DOOHVREHUKDOEYRQ0LQQLFKWEHUFNVLFKWLJW              ĺ7DNW]HLW 0LQ Abb. 10  Verteilung der Häufigkeit über die Taktzeiten an einem CT mit 64 Zeilen in einer Uniklinik 7 Über Mehrfachuntersuchungen, diagnostische Kaskaden, Pathway-Management und die Gatekeeping-Funktion in der Radiologie Die Aufgabe der klinischen Radiologie besteht darin, die klinische Versorgung durch geeignete diagnostische und interventionelle Maßnahmen zu unterstützen (zutreffende Diagnose bzw. erfolgreiche interventionelle Maßnahme). Üblicherweise verordnet ein Arzt einer klinischen Abteilung eine radiologische Untersuchung und stellt dazu eine klinische Indikation, meistens mit Angabe der von ihm für die Untersuchung für erforderlich gehaltenen radiologischen Modalität. Ist die klinische Indikation ausreichend umschrieben, dass der medizintechnische Dienst (MTD) die Untersuchung durchführen kann, befundet später ein Radiologe das Untersuchungsergebnis und stellt dieses der zuweisenden Klinik im IT-Netzwerk zur Verfügung. Bei Zweifeln zur Untersuchungsdurchführung steht ein Radiologe dem MTD mit einer Antwort zur Verfügung. Bei Zweifeln zur Untersuchungsindikation befragt er den zuweisenden Kollegen. Selten überprüft ein erfahrener Radiologe vor Durchführung der Untersuchung die klinische Indikation, stellt dann eventuell Rückfragen beim zuweisenden Kollegen und/ oder befragt den Patienten vor Durchführung der Untersuchung nach seinem Problem. In einem solchen Fall übt der Radiologe eine sogenannten Gatekeeper-Funktion aus. Ihm obliegt auch die Entscheidung über den bestgeeigneten Imaging Pathway, Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 771 also den für die letztendlich identifizierte Untersuchungsindikation bestgeeigneten Untersuchungsweg (radiologische Modalität, Untersuchungsprotokolle). Nach den Erfahrungen des Autors ist diese Funktion in der Mehrzahl der Fälle nicht besetzt, stattdessen wird die in der Überweisung gewünschte Untersuchung in der zuvor beschriebenen Abfolge durchgeführt. In etwa 30 % der Fälle wird eine Diagnostik durchgeführt, die das Patientenproblem nicht bestimmt (Untersuchungen des Autors zusammen mit erfahrenen Radiologen). Der Autor hat bei einem Kongress den Leiter der radiologischen Klinik einer berühmten Universitätsklinik in einer europäischen Großstadt befragt, ob er aus seinen Erfahrungen den Prozentsatz angeben könne, bei dem die klinische Zuweisungsindikation nicht das Patientenproblem trifft. Der Professor dachte einige Sekunden nach, lachte dann und antwortete, er kenne diese Zahl, werde diese aber nicht öffentlich nennen, da er die Freundschaft zu den zuweisenden Kollegen nicht belasten wolle! Wenn die radiologische Untersuchung das Patientenproblem für die weitere klinische Versorgung nicht zutreffend beschreibt, werden Folgeuntersuchungen notwendig (Wiederholungsuntersuchungen mit den gleichen oder anderen Modalitäten, sogenannte diagnostische Kaskaden). Die Wirkung des radiologischen Outcomes auf die Qualität und Kosten der gesamtstationären Versorgung kann eine wirtschaftliche Dimension haben, die die Wirkungen des auf die Radiologie konzentrierten Kostenmanagements um den Faktor 5 bis 10 übersteigt! Deshalb hat das hier dargestellte Kapitel eine nicht unerhebliche Relevanz. Die Abb. 11 zeigt für eine Universitätsklinik modalitätenbezogen die Anzahl der Patienten, bei denen eine Modalität nur einmal (singulär) eingesetzt wird im Vergleich zur     0HKU IDFK     XQWHU VXFK  XQJHQ  )ROJHXQWHUVXFKXQJHQ PLWGHUJOHLFKHQ 0RGDOLWlW   )ROJHXQWHUVXFKXQJHQ PLWDQGHUHQ 0RGDOLWlWHQ   1XUPLWHLQHU 0RGDOLWlWXQWHUVXFKWH 3DWLHQWHQ              05 &7 86      $1,5 Abb. 11  Struktur der Mehrfachuntersuchungen bei einer Uniklinik (AN/IR: Angio/Intervention) 772 B. May Anzahl derjenigen, bei denen mit der gleichen Modalität bzw. mit anderen Modalitäten Folgeuntersuchungen durchgeführt werden. MR und Sonografie (US) werden hier etwa in gleicher Weise (33 %) als singuläre Modalität sowie für Folgeuntersuchungen eingesetzt. Bei CT liegt z. B. der Anteil der Folgeuntersuchungen mit anderen Modalitäten deutlich höher. Die Unfallchirurgie und die medizinische Klinik mit einem onkologischen Schwerpunkt müssen systembedingt Untersuchungen wiederholen, die Unfallchirurgie vor und nach OP und die Onkologie vor, während und nach der Therapie. Deshalb sollte in der Unfallchirurgie und der onkologischen Klinik der Anteil an Mehrfachuntersuchungen relativ höher ausfallen. Das trifft im Vergleich zu den anderen beiden analysierten Kliniken, Allgemeinchirurgie und Medizinische Klinik II mit kardiologischem Schwerpunkt, nur eingeschränkt zu. In der Unfallchirurgie beträgt der Anteil der Erst- und Folgeuntersuchungen mit der gleichen Modalität 47 % der Folgeuntersuchungen und ragt damit signifikant heraus. Das betrifft vor allem den Einsatz des konventionellen Röntgens bei Brüchen. Das konventionelle Röntgen (KR) als Erst- und Folgeuntersuchungsverfahren ragt mit insgesamt 80 % signifikant heraus. MRT und die Sonografie ziehen den jeweils geringsten Anteil an Folgeuntersuchungen mit der gleichen Modalität nach sich, aber immer führt das konventionelle Röntgen die Anzahl der Folgeuntersuchungen an. Die Gründe für den Einsatz einer Kaskade aus konventionellem Röntgen, CT und MRT mit 1632 Patienten konnte die radiologische Leitung nicht nachvollziehbar erklären, ebenso wenig diejenigen für den Klassiker unter den diagnostischen Kaskaden: erst Sono, dann Röntgen, dann CT mit hier 1951 Patienten. Die Gatekeeper-Funktion ist hier nicht immer besetzt. Deshalb gibt es auch kein effizientes Pathway-Management. 8 Aspekte der Kosten der radiologischen Versorgung Die Kosten der radiologischen Versorgung lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien darstellen und erlauben im Hinblick auf eine Restrukturierung aufschlussreiche Analysen. Dazu ist zuerst eine Zuordnung der Sach- und Personalkosten zu den einzelnen Modalitätengruppen zweckmäßig. Unter anderem lassen sich daraus auch sofort die Fallkosten ermitteln und beispielsweise zu den Fallerlösen in Beziehung setzen oder mit denen ähnlich strukturierter Kliniken vergleichen. Beim konventionellen Röntgen (Rö) fällt der hohe Personalkostenanteil auf. Wie bereits zuvor diskutiert, kann der Anteil der Röntgenfälle bei 70 % liegen. Der überwiegende Anteil der Patienten, auch wenn man den für Liegendpatienten in den Intensivabteilungen abzieht, erhält eine Röntgenuntersuchung mit dem Erfordernis der Einrichtung entsprechender Infrastruktur für Wartezonen, Empfangspersonal, IT-Aufwand etc (Abb. 12). Für diese drei Modalitätengruppen absorbiert das konventionelle Röntgen 43 % der Personalkosten. Von diesen 43 % entfallen neun Prozent auf den ärztlichen Dienst, 14 % Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären …   $Q] 0RGDOLWlWHQ        6DFK NRVWHQ 7¼      Σ        Σ      Σ                3HUVRQDO NRVWHQ           773       7¼ 05  RKQH,QWHQVLYU|QWJHQ &7 5| 86 $, $, $QJLR,QWHUYHQWLRQ Abb. 12  Aufteilung der Sach- und Personalkosten auf die Modalitäten einer Uniklinik auf den medizinisch-technischen Dienst, jeweils im Regeldienst, und die restlichen 77 % auf den administrativen Dienst sowie den „Overhead“ mit Bereitschaftsdienst und ITAdministration. Das konventionelle Röntgen bildet den überwiegenden Anteil der im Bereitschaftsdienst versorgten Fälle. Für die kaufmännische Leitung einer Klinik sind die Gerätekosten oftmals die wichtigste Kennzahl. Dazu sind in der folgenden Abb. 13 sämtliche Kostenarten für einen MRT bei einem Schwerpunktversorger beispielhaft dargestellt. Aus den fixen und den variablen Kosten lassen sich für die Ist-Auslastung die Ist-Fallkosten mit 232,– Euro grafisch ermitteln. Die Investitionskosten sind auf Basis der Anschaffungskosten in Höhe von 1,3 Mio. EUR über acht Jahre mit drei Prozent interner Verzinsung als jährliche Annuität einschließlich Zins und Tilgung gerechnet (wie in einem Mietvertrag). Bei acht Jahren Laufzeit kann man einen nahezu vollständigen Wertverzehr unterstellen, da die anhaltende technologische Innovationsgeschwindigkeit bei MRT einen längeren Innovationszyklus nur mit Ersatz einzelner Module zulässt (Aufrüstinvestitionen). Die Personalkosten sind mit 132.000,– Euro relativ niedrig, da das Gerät mit knapp über 2000 Fällen p. a. zu höchstens 50 % ausgelastet ist. Berücksichtigt man den tatsächlichen klinischen Bedarf, müsste das Gerät mit etwa 4000 Fällen p. a. ausgelastet werden zu Soll-Fallkosten von dann 170,– Euro (s. Abb. 13). 774 B. May (UO|VH.RVWHQSD 7¼  ‘)DOOHUO|V ¼   ,VW)DOONRVWHQ ¼   *HPHLQNRVWHQ     (QHUJLH9HUVLFKHUXQJ 5DXPNRVWHQ    :DUWXQJVNRVWHQ  ,QYHVWLWLRQVNRVWHQ     3HUVRQDONRVWHQ   *HZLQQ 7¼ 9DULDEOH.RVWHQ‘¼)DOO         ‘6ROO)DOONRVWHQ ¼   )lOOHSD Abb. 13  MRT-Kostenstruktur (Bruttoanschaffungskosten von 1,3 Mio. EUR, 3 % Nominalzins, 8 Jahre AfA) Mit einem relativ hohen P-Patientenanteil erwirtschaftet dieser MRT aktuell einen Fallerlös von 215,– Euro durchschnittlich. Die Ist-Fallkosten liegen bei 232 EUR. Ließe sich der Fallerlös bei einer Verdoppelung der Fallzahl auf 4000 halten, könnte dieser MRT einen Gewinn von 180.000 EUR erwirtschaften (inkl. Erhöhung der Personalkosten). Dies setzt die Fortsetzung der erfolgreichen Akquisitionstätigkeit in den ambulanten Sektor hinein voraus und die damit verbundene Akzeptanz des ärztlichen Teams, das durch einen weiteren Arzt erweitert werden müsste. Die Gesamtkostenverteilung auf die einzelnen Modalitäten/Modalitätengruppen ist für diese Klinik (Klinik A) in der Abb. 14 im Benchmark mit einer gleichgroßen Klinik dargestellt, die jedoch kein eigenes MRT-Gerät betreibt. Die Klinik B ohne MRT mit einem höheren Röntgenanteil hat höhere korrespondierende gerätebezogene Kosten. Bei einem fehlenden MRT setzt die Radiologie den CT (und auch das Röntgen) substitutiv für MRT ein; deshalb hat die Klinik B auch einen höheren auf CT entfallenden relativen Kostenanteil. Für das Beispiel einer Uniklinik sind die Kosten von Diagnostischen Kaskaden beim Einsatz von gleichen bzw. verschiedenen Modalitäten zur Untersuchung von Erkrankungen/Bestimmung des Patientenproblems hier aufgelistet: Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 775 .RVWHQYHUWHLOXQJ                  5| Abb. 14   Verteilung der Schwerpunktversorger &7 05 Gesamtkosten   86 auf die .OLQLN$ 7¼JHV .OLQLN% 7¼JHV $,'/ Modalitäten im Vergleich zweier • Die mit dem konventionellen Röntgen (KX) begonnenen Kaskaden verursachen Folgekosten mit anderen Modalitäten in Höhe von ca. 700.000,– Euro p. a. und Zusatzkosten für Folgeuntersuchungen mit der gleichen Modalität in Höhe von ca. 620.000,– Euro p. a. (Summe 1,32 Mio. EUR). • Die mit CT begonnenen Kaskaden verursachen Zusatzkosten in Höhe von 320.000,– Euro p. a. für Folgeuntersuchungen mit anderen Modalitäten und etwa 825.000,– Euro Zusatzkosten für Folgeuntersuchungen mit der gleichen Modalität (Summe 1,145 Mio. EUR). • MRT verursacht die geringsten Zusatzkosten für Folgeuntersuchungen mit anderen Modalitäten (ca. 62.000,– Euro), dagegen Kosten für Folgeuntersuchungen mit MRT in Höhe von 516.000,– Euro p. a. (Summe 0,578 Mio. EUR). • Die mit der Sonografie begonnenen Kaskaden verursachen Kosten durch Mehrfachuntersuchungen mit anderen Modalitäten in Höhe von 217.000,– Euro und für die mit der gleichen Modalität in Höhe von 356.000,– Euro (Summe 0,573 Mio. EUR). • Die gesamten Folgekosten für diese Uniklinik belaufen sich auf etwa 3,6 Mio. EUR, das entspricht 36 % der Gesamtkosten in Höhe von zehn Mio. Euro. Selbst wenn ein auf unfallchirurgische und onkologische Mehrfachuntersuchungen entfallender Anteil von 50 % abgezogen wird, verbleiben immer noch ca. 18 % der Gesamtkosten für Mehrfachuntersuchungen (die bei Prüfung durch einen erfahrenen Radiologen überwiegend vermeidbar sein dürften). Der Prozess der 776 B. May Mehrfachuntersuchungen induziert Verlängerungen bei der durchschnittlichen Verweildauer, auch Fehlbehandlungen mit Auswirkungen auf die Versorgungsqualität der betreffenden Klinik. Die Dimensionen dieser beiden Faktoren, wollte man sie kostenmäßig bewerten, übersteigen die hier ermittelten direkten Kosten von Mehrfachuntersuchungen um ein Vielfaches. Diese Wirkung des radiologischen Outcomes auf die gesamtstationäre Versorgung ist erheblich größer als das Kostenmanagement innerhalb der Radiologie erreichen kann. Unnötige Mehrfachuntersuchungen, mangelndes patienten- und prozessnahes Management etc. und verdienen insofern die größere Aufmerksamkeit des Managements. Die Produktivität des ärztlichen und medizinisch-technischen Dienstes an den einzelnen Modalitäten ist sicher ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Prozesseffizienz in einem Imaging-Department. Produktivitätsverbesserungen müssen konsequenterweise Kostensenkungen bewirken. Die Abb.  15 quantifiziert diesen Zusammenhang in Abhängigkeit von der Klinikgröße sowie vom Versorgungsauftrag. RV bedeutet hier Regelversorger, SV Schwerpunktversorger und MV Maximalversorger. Der Zusammenhang zwischen Produktivitätssteigerung und Kostensenkung ist quasi linear bis etwa 15 % und wird oberhalb 15 % zunehmend nicht linear. Abb. 15 sagt aus, dass beispielsweise eine 15-prozentige Verbesserung der Produktivität des gesamten Teams (ärztlicher Dienst, medizinisch-technischer Dienst, administrativer Dienst) bei einem Maximalversorger eine Kostenreduktion um knapp vier Prozent, bezogen auf die Gesamtkosten des Imaging Departments, verursacht, bei einem Schwerpunktversorger 5HGXNWLRQGHU *HVDPWNRVWHQ  GHV ,PDJLQJGHS *HVDPWNRVWHQ  59 §0LR¼    69 §0LR¼   $QWHLO5HJHOGLHQVW            09 §0LR¼ EHGV  UHJ$QWHLO5HJHOGLHQVW     EHGV  $QWHLO5HJHOGLHQVW            6WHLJHUXQJGHU 3URGXNWLYLWlWLP 5HJHOGLHQVW S Abb. 15  Kostenveränderung in Abhängigkeit von Veränderungen der Produktivität Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 777 zwischen 4,4 % und fünf Prozent und bei einem Grund- und Regelversorger etwa 6,3 %. In Abhängigkeit von der Bettenzahl kann zwischen den in Abb. 15 angegebenen Kurven interpoliert werden. Wir verzichten hier auf die genaue mathematische Darstellung der Zusammenhänge. Die Kinderradiologie spielt innerhalb der radiologischen Versorgung eine Sonderrolle. Das Fallaufkommen liegt bei etwa fünf bis sieben Prozent der Erwachsenenradiologie. Die gerätebezogene Produktivität in der Kinderradiologie liegt zwischen 30 und 70 % niedriger als in der Erwachsenenradiologie (30 % bei Praxen, 50–70 % in der Klinik). Details zur betriebswirtschaftlichen Überlegung in der Kinderradiologie in Klinik und Praxis (May 2013). Eine übliche Taktzeit für klinische MRT in der Erwachsenenradiologie liegt zwischen 35 und 48 min, in der Kinderradiologie zwischen 70 und 80 min, kann aber bei prozessnahem Management durch einen trainierten Radiologen auf 40 bis 35 min abgesenkt werden. 9 Die Zeitfenster zwischen Anmeldung, Durchführung und Freigabe des Befundes einer Untersuchung Die Responsivität in der klinischen Radiologie spielt für die zuweisenden Kliniken eine entscheidende Rolle. In der Abb. 16 ist für die Modalitäten Angio (AN), CT, DL (Durchleuchtung) KR (konventionelles Röntgen) und MRT das Zeitfenster zwischen Untersuchungsanforderung und Untersuchungsdurchführung dargestellt. Auffallend ist der Unterschied für die einzelnen Modalitäten. Nur 40 % der angemeldeten Fälle erhalten am gleichen Tag (s. 1 in Abb. 16) einen MR-Untersuchungstermin, 23 % am Folgetag und immer noch acht Prozent erst nach drei Tagen. Dabei hat gerade bei dieser Uniklinik die Abfrage bei den vier klinischen Hauptzuweisern (Allgemeinchirurgie, Unfallchirurgie, Innere Med (Onko) und Innere Med (Kardio)) für MRT eine erheblich höhere Untersuchungsnachfrage ergeben als die Radiologie abzudecken bereit war, obwohl ausreichend Geräte- und Personalkapazitäten vorhanden waren. Hier fehlte es an patientenund gerätenahem Prozessmanagement durch trainierte Radiologen. Die Abb. 17 zeigt für die beiden CT der gleichen Klinik die Zeitdauer zwischen Beendigung der Untersuchung (Quittierung) und Freigabe des Befundes mit Verfügbarkeit bei der zuweisenden Klinik. Tagesgleich werden im Mittel nur 15 % der Befunde freigegeben, erst nach einem Tag ein weiteres Drittel, also zusammen 50 %. Die Zeitfenster zwischen Untersuchungsanmeldung und -durchführung sowie zwischen Ende der Untersuchung und Verfügbarkeit des Befundes beim Zuweiser sind für die stationäre Versorgung hoch kostenrelevant. 778 B. May 5DGLRORJLHVWDWLRQlU     $1  &7  '/ .5  05 $OOH          Abb. 16  Zeitfenster (in Tagen) zwischen Anmeldung und Durchführung einer Untersuchung an den verschiedenen Modalitäten einer Uniklinik Abb. 17  Zeitfenster zwischen Quittierung einer CT-Untersuchung und Befundfreigabe Business Intelligence: Prozesssteuerung der stationären … 779 10 Ergebnisse und Schlussfolgerung Business Intelligence aus den RIS/KIS-Daten mit den Verknüpfungen zu einfachen Daten aus der Personalabteilung (wie Anteil Fachärzte zu Assistenzärzten) und dem Med-Controlling (Sachkosten), erlaubt eine vollständige Beurteilung der gesamten betriebswirtschaftlichen Situation des klinischen Imaging-Departments mit Prozesseffizienz, auch die Beurteilung von speziellen Fragestellungen wie Kinderradiologie oder der Wirkung von technologischen Innovationen auf den Versorgungs-Outcome eines Imaging-Departments (May 2015). Zusammengefasst sind die Haupterfolgsfaktoren für eine effiziente klinische Radiologie: • Das radiologische Management ist Workflow-orientiert, • trainierte und erfahrene Radiologen arbeiten prozessnah (patienten- und modalitätennah) und nehmen eine Gatekeeper-Funktion war, • der Facharztanteil liegt deutlich über dem der Assistenzärzte, • Spezialisierung versus Generalisierung, • Schaffung kompakter Infrastrukturen durch Cluster von gleichartigen Geräten mit gemeinsamen Bedienzentren versus dezentraler Installation (Letzteres erfordert mehr Personal bzw. kann qualitative Nachteile bedeuten), • Befundverfügbarkeit bei der zuweisenden Klinik innerhalb von 48  h nach Untersuchungsanmeldung, • stark frequentierte Arbeitsplätze im zentralen Workflow-Bereich installieren, • technologische Innovation erlaubt z.  B. Prozessvorteile erst bei hoher Geräteauslastung und Qualitätsverbesserung nur im Zusammenhang mit dafür trainierten, ausgebildeten Ärzten. Aus den inzwischen in jeder Klinik eingesetzten Management-Workflow-Systemen RIS/KIS lassen sich Kennzahlen zur Beschreibung des Leistungsgeschehens, zur Prozesseffizienz, zum Zeitfenster zwischen Anmeldung zur Untersuchung, Verfügbarkeit eines Befundes, zum Personalbedarf, zur Produktivität des eingesetzten Personals und an den Geräten, zur Leistungsmengen-Redundanz (diagnostische Kaskaden), zu den kostenrelevanten Daten, auch zu den erlösrelevanten Daten und andere ableiten, die eine vollständige betriebswirtschaftliche Beschreibung und Bewertung einer radiologischen Abteilung erlauben. Diese Kennzahlen sind dann benchmarkfähig, wenn sie aus den endogenen Abläufen abgeleitet werden (modalitätenbezogene Arztbindung), und ermöglichen daraus Abweichungsanalysen zur Verbesserung und Weiterentwicklung der radiologischen Versorgung. Darüber hinaus schafft das vorgestellte Business-IntelligenceSystem den Rahmen zur Beurteilung, ob die Schwerpunkte der radiologischen Versorgung deckungsgleich mit den klinischen Schwerpunkten der Zuweiser sind. Die vorgestellten Kennzahlen helfen dem Management bei der Beurteilung, inwieweit die klinische Radiologie ihre Aufgaben u. a. bei der Unterstützung der Qualitäts- und Kostensteuerung der gesamtstationären Versorgung wahrnimmt. 780 B. May Literatur Busch HP (2013a) Management im Krankenhaus – Herausforderungen in den Dimensionen medizinische Qualität, Servicequalität, Wirtschaftlichkeit und Mitarbeiterführung. Arzt und Krankenhaus, Sonderdruck:3–90 Busch HP (2013b) Auf die Strategie kommt es an. Management & Krankenhaus 9:1–2 Busch HP (2013c) Imaging Center-Optimierung der diagnostischen Bildgebung im DRG-Zeitalter. RöFo 185:1–7 May B (2013) Betriebswirtschaftliche Überlegungen/Analysen zum Betrieb einer Kinderradiologie in Klinik und Praxis. Kind Radiol 2013(2):36–42 May B (2015) Neue Technologien erlauben bessere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Radiologie-Journal 2015(2):21–26 Schlüchtermann J, Reimer P, Layer G, Hierholzer J, Landwehr P (2013) Benchmarking von Krankenhaus-Radiologien. Gesundheitsökonomie Qualitätsmanagement 18:68–75 Wikipedia (Deutsch) (2016) Business Intelligence (Begriff, Begriffverständnis) . https://de.wikipedia. org/wiki/Business_Intelligence. Zugegriffen: 31. Aug. 2016 Über den Autor Bernd May  Promovierter Diplom-Physiker an der RWTH Aachen. Seit 1984 selbstständig mit der MBM MedicalUnternehmensberatung GmbH und den Tätigkeitsfeldern (Re-)Strukturierung klinischer Abteilungen (Radiologie, Strahlentherapie, Nuklearmedizin, Innere Med. mit Dialyse, Kardiologie), seit 1985 Planung und Realisierung von Projekten zur integrierten Versorgung (Radiologie, Nuklearmedizin, Strahlentherapie, Dialyse). Arbeitsschwerpunkte sind: Betriebswirtschaftliche Analysen mit gezielter Auswertung Ergebnis kritischer Daten zur Kosten-, Erlös- und Risikosteuerung. Kontakt: b.may@mbm-medconsult.de DMS, ECM und IHE Oliver Gäng und Stefan Müller-Mielitz 1 Hintergrund In den letzten 15 Jahren entwickelte sich aus der klassischen Aktenverwaltung das heutige Konzept des Enterprise-Content-Management-Systems (ECM). Ein erster Schritt in diese Richtung war die Zielsetzung, dass zusätzliches Papier und Medienbrüchen zu vermeiden sind. Insbesondere Einrichtungen der stationären Versorgung gelten aufgrund des Dokumentationszwangs seit jeher als „Papierfabriken“. Die klassische Verwaltung physischer Akten wurde daher um das Digitalarchiv ergänzt und ausgestattet mit Workflow-Funktionalitäten als erweitertes Dokumentenmanagementsystem (DMS) am Markt etabliert. Dabei stellt das DMS originär elektronische Dokumente und auch gescannte Dokumente in einer Benutzeroberfläche zur Verfügung. Das von der AIIM (Association for Information and Image Management) entwickelte Modell zur elektronischen Archivierung hat mit seinen Bestandteilen capture, manage, store, preserve und deliver weiterhin Bestand (Abb. 1). Es dient heute als Basisarchitektur für moderne ECM-Systeme. Wobei vor allem „manage“ und „deliver“ von besonderer strategischer Bedeutung sind, um den sich stetig wandelnden Anforderungen einer modernen und effizienten Informationslogistik gerecht zu werden (vgl. AIIM 2016). Unter Berücksichtigung der fortgeschriebenen wirtschaftlichen Lage vieler Krankenhäuser und den sich ändernden Strukturen des deutschen Krankenhauswesens sind O. Gäng (*)  Fachberatung und Vertrieb, Marabu EDV-Beratung und –Service GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: oliver.gaeng@marabu-edv.de S. Müller-Mielitz  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_40 781 782 O. Gäng und S. Müller-Mielitz Abb. 1  AIIM-Modell mit CaptureProzess für eDokumente und pDokumente. (vgl. Wikipedia 2004) effiziente und effektive Lösungen notwendig. Diese sollen sich nicht nur positiv auf die Prozesse der Leistungserbringung und die Qualität der Patientenversorgung auswirken, sondern ebenfalls nachhaltige Effekte für das Erlös- und Risikomanagement bei den Leistungserbringern erzeugen. Mithilfe moderner Frameworks und Schnittstellen ermöglichen ECM-Systeme effiziente wie innovative Lösungen für den systemübergreifenden Austausch von Informationen und Funktionalitäten. Nur deren optimale und individuell auf die Unternehmensprozesse abgestimmte Kombination ermöglicht eine nachhaltige Umsetzung der auf die Unternehmensstrategie abgestimmten IT-Strategie. 2 ECM und IHE Allgemein beschrieben, wird die Entstehung eines ECM durch Kombination bestehender „Technologien, Werkzeuge und Methoden zur Erfassung, Verwaltung, Speicherung, Aufbewahrung und Bereitstellung von elektronischen Inhalten im ganzen Unternehmen“ (vgl. GMDS 2012, S. 14). Die Entwicklung des klassischen DMAS (Dokumenten-Management und Archivierungs-System) zu einem modernen ECM erfolgte mit der Verknüpfung und Zusammenführung medizinischer als auch administrativer Daten und Dokumente. Voraussetzung hierzu sind eine modulare Bauweise der Software und flexible und damit schnittstellenoffene IT-Produkte. DMS, ECM und IHE 783 Aufgrund der sich im Laufe der Zeit stetig ändernden Anforderungen entwickelten sich unterschiedliche Ausprägungen und Trends. Diese führten jedoch zu einer heterogenen Anbieter- und Systemlandschaft. Der geringe Nutzen von auf den ersten Blick oftmals durchaus charmant aussehenden Einzelsystemen oder Insellösungen erweist sich häufig mangels Flexibilität als nachteilig. Ebenfalls die Einführung oder Erweiterung eines ECM-Systems be- oder verhindernd, waren in der Vergangenheit die oftmals hohen Kosten für Schnittstellen. Dank moderner Systeme und innovativer IT-Konzepte scheint diese negative Entwicklung überwunden zu sein. Zentrale Fragen sind aber weiterhin: • • • • • • • • Welche Daten und Dokumente werden benötigt? Aus welchen Systemen sind diese zu übernehmen? Über welche Schnittstellen kommen eDaten und eDokumente ins ECM? Wie können Medienbrüche vermieden werden? Mit welchem Ressourcenaufwand wird Papier digital? Scannen in Eigenregie oder mithilfe eines Dienstleisters? Verfahrensweise bei mitgebrachten Dokumenten und Nachzüglern? Wie können oder müssen diese effizient auf Abruf verteilt werden? Es wird deutlich, dass Software und Schnittstellen Werkzeuge für die Prozesse sind und diese daher miteinander abgestimmt werden müssen. Diesen Ansatz verfolgt das Konzept „Integrating the Healthcare Enterprise“, kurz IHE genannt. Es versteht die Verbindung sämtlicher standardisierter Prozesse zu einem Gesamtprozess unter Berücksichtigung und Einbindung verfügbarer Schnittstellenstandards (vgl. IHE Deutschland 2016). IHE beschreibt und definiert hierzu, wie vorhandene technische Standards für die intersektorale und Einrichtungen übergreifende Systemkommunikation anzuwenden sind. Jedes IHE-Profil ist einer von derzeit insgesamt elf IHE-Domänen zugeordnet, welche wiederum einem medizinischen oder anderen fachlichen Gebiet im Gesundheitswesen zugeordnet sind. IHE-Domänen veröffentlichen ihre Spezifikation als Technical Framework, welches in zwei oder mehrere Teile untergliedert ist. Volume 1 beschreibt logische Abläufe als „Integration Profiles“, Volume 2 stellt Details der Implementierung dieser Profile als „Transaction Specification“ dar. IHE-Profile orientieren sich daher zum einen an medizinischen Prozessabläufen zwischen Systemen innerhalb und außerhalb von Kliniken (einrichtungsübergreifend). Sie decken immer einen Anwendungsfall und eine abgeschlossene Folge von Teilprozessen ab, die wiederum eine Anzahl an individuellen Schritten beinhalten. Zum anderen erfolgt die Implementierung nicht etwa mit Hilfe noch neu zu erfindender, sondern über bereits existierende Standards wie z. B. HL7, DICOM oder XML. Mittels dieser Profile lassen sich technische Grundlagen z. B. für den Austausch von Patienteninformationen schaffen sowie durch deren Kombination komplette Prozessabläufe definieren. Jedes einzelne Profil beschreibt seine möglichen Akteure und die 784 O. Gäng und S. Müller-Mielitz Transaktionen zwischen diesen, das heißt den Datentransfer mit den zu verwendenden Technikstandards und dem detaillierten Aufbau der Nachrichten. Dabei handelt es sich um standardisierte und prozessorientierte Integrationsprofile. Die Abb. 2 stellt eine generische IT-Infrastruktur in einem Krankenhaus dar. Als E-Source kommen medizintechnische Modalitäten (z. B. Sonografie, EKG, EEG, Lungenfunktion und weitere) infrage. Die IT-Subsysteme kommen aus unterschiedlichen Abteilungen (z. B. Laborsystem, Radiologiesystem und weitere). Technisch sind einzelne Modalitäten nicht ohne Weiteres ins Rechtekonzept des Hauses (z. B. durch einen LDAP-Server) eingebunden. Auch werden technische Standards erst nach ausdrücklicher Nachfrage unterstützt (HL7 für den krankenhausinternen Austausch, IHE-Profile für den intersektoralen und regionalen Datenaustausch). Das wäre bei Ausschreibungen seitens der Krankenhaus-IT und/oder Medizintechnik immer zu fordern. Das Klinische Arbeitsplatzsystem (KAS) stellt die aktuelle Schnittstelle zu den dokumentierenden Leistungserbringern dar. Aktuelle Krankenhaus-Informationssysteme (KIS) verfügen über eine proprietäre Datenbank (DB). Darüber hinaus muss die technische Unterscheidung von Anwendungsarchiven (DMS), welche die Akten z. B. für Wiederkehrer bereithalten, und der digitalen Langzeitarchivierung vollzogen werden. Die digitale Langzeitarchivierung sollte idealerweise an einem anderen Standort die Archivierung von mehreren Jahrzehnten ermöglichen und im Havariefall die Datenbestände wieder für die Krankenhaus-IT zur Verfügung stellen. Um diese insbesondere für die Revisionssicherheit sehr relevante Aufgabe nicht immer neu und selbst zu erstellen (es sind die notwendigen elektronischen Sicherheitsschlüssel zu generieren), können externe Dienstleister für die Langzeitarchivierung beauftragt werden. Beim Blick auf eine generische Netzwerktopologie in einem Krankenhaus wird deutlich, was an Abstimmung im Einzelnen zwischen den beteiligten Medizintechnik- und Abb. 2  Aktuelle generische Krankenhaus-IT-Infrastruktur DMS, ECM und IHE 785 IT-Komponenten notwendig ist, damit der eWorkflow vollzogen werden kann. Die generische Netzwerktopologie hilft damit, Projekte zu strukturieren und einzelne Arbeitspakete in einen sinnvollen zeitlichen Verlauf zu bringen. 3 IHE als strategischer Faktor IHE-Integrationsprofile können für die Implementierung heterogener Systeme in einem Verbund, einer sogenannten Affinity-Domain, im Rahmen des Aufbaus von Anwendungen für die Vernetzung von Leistungserbringern verwendet werden und stellen so einen strategisch wichtigen Faktor dar. Weiterhin erweist sich als nachhaltig vorteilhaft vor allem, dass lediglich die für den Informationsaustausch benötigten Akteure und Transaktionen implementiert werden müssen. Durch die im Detail bereits vordefinierten IHE-Profile entfällt der sonst relativ hohe Definitions- und Abstimmungsaufwand, sodass die verbundenen Systeme schnell und unkompliziert miteinander kommunizieren können. IHE ermöglicht also einen standardisierten Austausch über Systemgrenzen hinweg und unterstützt so die Verbesserung der Behandlungsqualität. Durch diesen strategischen Charakter kann eine IHE-konforme Systemlandschaft helfen, nachhaltige Einsparungen zu erzeugen und gewährt mithilfe ihrer Standardisierung eine gewisse Form von Investitionssicherheit. Aufgrund der Komplexität und des strategischen Charakters einer IHE-konformen Systembasis, geht dessen Aufbau allerdings nie mit einer häufig von Entscheidern gewünschten kurzfristigen Amortisation einher! Um den zeitlichen wie monetären Projektaufwand dennoch so gering wie möglich zu halten, leisten Partner mit einschlägiger IHE-Erfahrung einen nicht unerheblichen Beitrag für den Projekterfolg. Am Markt etablierte ECM-Anbieter stellen ihre IHE-Konformität im Rahmen des jährlich stattfindenden IHE-Connectathon regelmäßig gegen andere Anbieter unter Beweis. Dadurch gewährleisten sie ihre IHE-Konformität und dürfen als Zertifikat ihrer erfolgreichen Prüfung ein sogenanntes „IHE Integration Statement“ veröffentlichen. Wichtigstes IHE-Profil für den Bereich DMS/ECM ist vor allem das Cross Enterprise Document Sharing (XDS). Weitere Profile helfen bei der Abbildung des Master Patient Index (MPI) in Form des Patient Identifier Cross Referencing (PIX) und der Umsetzung komplexer Berechtigungskonzepte. Letzteres ist entscheidend, um die jeweils geltenden Datenschutzanforderungen erfüllen zu können. Es existieren folgende Akteure innerhalb einer IHE-Architektur: • MPI/PIX: Ermöglicht einrichtungsübergreifend eindeutige Patientenidentifikation • Registry: Verwaltung des zentralen Inhaltsverzeichnisses für Dokumente eines oder mehrerer IHE-Archive • Repository: IHE-Archiv für Dokumentenablage 786 O. Gäng und S. Müller-Mielitz • Source: Quellsystem, welches Dokumente IHE-konform an IHE-Archiv sendet • Consumer: Konsumentensystem, welches Dokumente IHE-konform aus IHE-Archiv abruft und anzeigt Um eine Domain zu definieren, werden eine XDS Dokument Registry, mindestens ein XDS Dokument Repository und ein zentraler PIX-Manager benötigt. Mithilfe der Profile und Akteure ergeben sich verschiedenste IHE-Anwendungsfelder. Flexible ECM-Systeme sind in der Lage, sämtliche IHE-Akteure sowohl im Einzel- als auch im Mischbetrieb in einer Kombination von IHE-Welt und klassischem DMS abzubilden (Abb. 3). Im Einzelbetrieb kann ein ECM-System z. B. als Consumer entsprechende Dokumente aus einem externen IHE-Archiv abrufen und anzeigen (Präsentation) oder es sendet diese als Source an ein solches (im Sinne einer Dateneingabe). Im Mischbetrieb wiederum können Komfortmerkmale von Dokumenten erschlossen und zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise wird die relativ einfache Umsetzung komplexer jedoch IHE-konformer Systemkonstruktionen wie z. B. Portallösungen in einer Sicherheitszone (demilitarisierte Zone, DMZ) möglich. Das ECM kann dann parallel als IHE-Source und IHE-Consumer arbeiten. Ebenso sind Konstruktionen möglich, in denen das interne ECM-System ein IHE-Archiv (Registry und Repository) abbildet und gleichzeitig eine Source oder einen Consumer zur Verfügung stellt. Der Aufbau einer IHE-Architektur wird zukünftig einen entscheidenden strategischen Faktor im Wettbewerb der Krankenhäuser darstellen. Voraussetzung hierzu ist jedoch vorab die Durchführung einer umfassenden Anforderungs- und Systemanalyse, um den strategischen Aspekt nachhaltig zu sichern. Als DMAS implementiert z. B. PEGASOS ECM von Marabu aktuell vorrangig IHEProfile, welche für den Dokumentenaustausch benötigt werden. Einige der Akteure dieser Profile sind dabei direkt in PEGASOS in ihren Funktionen zu sehen, andere wiederum arbeiten im Hintergrund, sodass der Anwender gar nicht merkt, dass IHE-Transaktionen ausgeführt werden. Abb. 3  Künftige generische IHE-Infrastruktur in einem Krankenhaus DMS, ECM und IHE 787 Im Rahmen eines der größten IHE-Projekte Deutschlands, unterstützt PEGASOS ECM bei der Realisierung der Vision einer dreischichtigen Architektur durch optimierte Trennung von Speicherung, Workflow und Darstellung. Hierbei werden medizinische Dokumente und Daten aus dem KIS sowie anderen Subsystemen in das klassische PEGASOS DMAS übernommen, um diese anschließend an ein herstellerunabhängiges IHE-konformes Archiv für die revisionssichere Archivierung weiterzuleiten (DMAS als IHE-Source). Weiterhin vorhandene physische Dokumente werden nach Behandlungsabschluss durch einen externen Dienstleister digitalisiert und dem DMAS übergeben. Sämtliche der im DMAS archivierten Dokumente und Daten können dann wiederum aus dem KIS heraus aufgerufen und dargestellt werden (DMAS als IHE-Consumer). PEGASOS dient dabei als zentrale Informationsdrehscheibe aller etablierten Systeme (vgl. Marabu 2015). Als vorteilhaft kann sich in solch einem Konstrukt die Verbindungsmöglichkeit der „alten“ mit der „neuen“ Welt durch Einbindung von proprietären (Alt-)Systemen mittels geeigneter Schnittstellen erweisen, da diese unter Umständen nicht über geeignete Mittel für die IHE-Kommunikation verfügen. In der Praxis ergeben sich allerdings ebenfalls Aspekte, welche seitens der einzelnen Leistungserbringer häufig Widerstand gegen eine ganzheitliche Sicht auf Patienten erzeugen. Vor allem für Ärzte steigt unter Umständen das Haftungsrisiko der Ärzte, da viele Patientendaten zur Verfügung stehen, welche mangels Zeit jedoch weder gesichtet noch in eine Diagnose oder Therapie einbezogen werden können. „Er hatte die Möglichkeit, jedoch die Zeit nicht …“ 4 Von der Strategie zur Einführung Entscheidendes Kriterium bei der Einführung eines IHE-konformen ECM-Systems ist eine fest in der Unternehmensstrategie verankerte und konsequent umgesetzte IT-Strategie. Intersektorale oder interregionale Perspektiven sollten für das Krankenhaus mittelfristig im Fokus stehen oder eine Konsolidierung der IT-Repositories innerhalb des Krankenhauses durch IHE Profile geplant sein. Um den Unternehmenszielen gerecht zu werden, sollten moderne ECM-Systeme für den Gesundheitsmarkt drei Merkmale erfüllen können: 1. Sie sollten multimedial sein, das heißt sämtliche gängigen Formate archivieren. 2. Sie sollten intersektoral sein, das heißt Schnittstellen offen und IHE-Konformität bieten. 3. Sie sollten interdisziplinär sein, das heißt, übergeordnete Standard-Fachlösungen und Funktionsmodule lassen sich kombinieren und ermöglichen die Komposition benötigter Individuallösungen. 788 O. Gäng und S. Müller-Mielitz In der Praxis haben sich zur ECM-Einführung eine gut funktionierende und aufeinander abgestimmte Kombination von Aktenverwaltung für physische Akten, einem Digitalarchiv für die konsolidierte „elektronische Patientenakte“ sowie Workflow-Funktionalität als optimale Basis zur Erzeugung von Mehrwerten bewährt. Die Basisprozesse in Medizin und Verwaltung sind in den Einrichtungen der Leistungserbringer oberflächlich gesehen immer dieselben. In Abhängigkeit der Größe (z. B. Leistungsumfang, Tiefe und Breite fachlicher Spezialisierung und Bettenanzahl) ergeben sich jedoch durchaus sehr unterschiedliche Ausprägungen und Umsetzungsvarianten. Modernisierungsgrad und Funktionalität der bereits vorhandenen IT-Infrastruktur können daher weitere entscheidende Faktoren darstellen, um im Wettbewerb bestehen und nachhaltig erfolgreich ECM-Projekte durchführen zu können. Nicht zu unterschätzen sind allerdings ebenso die Erfahrung und das Engagement der Projektpartner, da nur gemeinsam die individuell vorhandenen Mehrwertpotenziale gehoben werden können. Im Gegensatz zu Projekten, bei denen es ausschließlich um separate und eigenständige Einzellösungen geht, handelt es sich im Rahmen von ECMProjekten immer um langfristige Kooperationen, welche bewiesener Maßen nur als gelebte (strategische) Partnerschaften dauerhaft erfolgreich sind. 5 Schlussfolgerung Nach vielen Jahren der endlosen Debatten um Visionen, hat die IT des Gesundheitsmarktes mit IHE-konformen ECM-Systemen endlich einen Reifegrad erreicht, um entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen interdisziplinäres Arbeiten sowie intersektorale einrichtungsübergreifende Kooperationen nachhaltig realisieren zu können. Wer bisher weder eine Strategie festgelegt noch mit deren Umsetzungen begonnen hat, sollte sich daher umgehend auf den Weg machen, um weiterhin dauerhaft im Wettbewerb der Leistungserbringer am Gesundheitsmarkt bestehen zu können. Das DMS stellt in der derzeit hybriden Welt von elektronisch erzeugten Daten und der noch stark verbreiteten Papierdokumentation eine Möglichkeit dar, eDokumente und dDokumente an einem Platz, dem Klinischen Arbeitsplatz (KAS) zu betrachten. Dadurch erfüllt das DMS zwei Funktionen: a) Die Möglichkeit zur Betrachtung von eDokumenten. b) Die Möglichkeit zur digitalen Speicherung und Verarbeitung dieser Daten. Mit Enterprise-Content-Management-Systemen (ECM) ist im Sinne eines übergreifenden Electronic-Content-Managements eine weiter gehende englische Bezeichnung in diesem Bereich eingezogen. ECM-Systeme erheben für sich den Anspruch, universeller zu arbeiten, Standards bei der Speicherung (wie z. B. mittels IHE-Profil) und bei der Präsentation mehr Quellen zu unterstützen als es bisher durch DMS-Systeme möglich war. DMS, ECM und IHE 789 Literatur AIIM (2016) http://www.aiim.org/What-is-ECM-Enterprise-Content-Management. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 GMDS (2012) Praxisleitfaden. Antares Computer Verlag, Dietzenbach IHE Deutschland (2016) http://ihe-d.de. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Marabu (2015) Aufbau einer ganzheitlichen digitalen Kommunikationsinfrastruktur. http://www. marabu-edv.de/vivantes-462.html. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Wikipedia (2004) Enterprise Content Management: ECM Komponenten. https://de.wikipedia.org/ wiki/Datei:ECM_Komponenten.jpg. Zugegriffen: 5. Jan. 2016 Über die Autoren Oliver Gäng ist gelernter Industriekaufmann (IHK), DiplomVolkswirt (TU Berlin) und Mitglied der GMDS. Seit 2011 ist er für die Marabu EDV-Beratung und -Service GmbH (Berlin) tätig und entwirft u. a. innovative ECM-Lösungen für Krankenhäuser und Krankenhauskonzerne. Nach seiner kaufmännischen Ausbildung in der Baumaschinenbranche und freiberuflicher Tätigkeit als IT-Berater, befasste er sich während des Studiums der Volkswirtschaftslehre mit der Gesundheitsökonomie sowie der betriebswirtschaftlichen Finanzierung und Investition, insbesondere der Finanzierung von Krankenhäusern. Anschließend durchlief er im Rahmen eines umfangreichen Absolventenprogrammes wesentliche Ressorts der Geschäftsführungsbereiche Finanzmanagement, Klinikmanagement und Personalmanagement der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH (Berlin). Kontakt: oliver.gaeng@marabu-edv.de Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Teil XI Grundlagen der Evaluation von E-Health Juliane Köberlein-Neu Strukturelle und soziokulturelle Veränderungen, der medizinische Fortschritt sowie die stetige Erweiterung des medizinisch Machbaren stellen das Versorgungssystem in Deutschland vor große Herausforderungen. Bei zunehmend begrenzten Ressourcen und steigenden Kosten muss eine wachsende Anzahl von Versorgungsleistungen auf einem hohen Niveau und in einer für alle Beteiligten angemessenen Art und Weise erbracht werden. Verschärfend wirken dabei die Zunahme chronischer Krankheitsverläufe und multimorbider Patienten, ein sich vor allem im ländlichen Raum manifestierender Mangel an (fach-)ärztlicher Expertise sowie die im Gesundheitswesen immer noch bestehende sektorale Trennung der Versorgung. Die Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologie hat in den vergangenen Jahren neue Möglichkeiten eröffnet, mit den bestehenden Herausforderungen umzugehen. E-Health-Anwendungen erleichtern nicht nur die Kommunikation der am Behandlungsprozess beteiligten Akteure. Vielmehr verfügen sie über das Potenzial, Diskontinuitäten im Versorgungsablauf chronisch kranker Patienten zu reduzieren und im System bestehende Rationalisierungsreserven auszuschöpfen. Dieser Vorteile zum Trotz haben E-Health-Anwendungen im Gesundheitswesen derzeit häufig nur Insellösungscharakter und noch keine flächendeckende Verbreitung in der Regelversorgung erlangt. Als mögliche Umsetzungsbarrieren kommen u. a. Unsicherheiten bezüglich rechtlicher Rahmenbedingungen in Betracht. Die Patientenversorgung wird durch mannigfaltige Normen datenschutz-, haftungs- sowie berufsrechtlicher Natur reguliert. Somit unterliegt auch der elektronische Austausch von Patientendaten strengen Vorschriften, welche die Entwicklung klarer Regelungen in Bereichen mit fehlender Rechtssicherheit, insbesondere bei komplexen telemedizinisch gestützten Versorgungskonzepten, unübersichtlich gestalten. Zudem behindern fehlende Vergütungsoptionen in der Versorgungspraxis die Fortführung bereits ausgereifter Anwendungen. Vor allem das Fehlen intersektoraler Vergütungsregelungen in der Regelversorgung stellt ein Hemmnis für den Einsatz von E-Health-Anwendungen dar (Dittmar et al. 2009). 792 Teil XI  Grundlagen der Evaluation von E-Health Um ökonomische Anreize zu setzen, bedarf es zunächst klarer Evidenz mit Blick auf die Wirksamkeit und Kosteneffektivität telemedizinischer Versorgungslösungen. Bisher wurde die Mehrzahl der international sowie national erfolgten gesundheitsökonomischen Evaluationen an kleinen und regional begrenzten Studienpopulationen durchgeführt. Die Untersuchungen verfügen meist über eine kurze Laufzeit (Agboola et al. 2014) und haben quasi-experimentellen Charakter. Randomisierte, kontrollierte Studien sind kaum zu finden. Da diese jedoch für die Mehrzahl der Akteure als Goldstandard gelten, wirkt sich die scheinbar schwache Evidenzlage u. a. nachteilig in Vergütungsdebatten aus. Ebenso fehlen eindeutige Belege, welche unschlüssige Anwender überzeugen könnten. Als eine weitere Ursache für die noch unzureichende Verbreitung und Anwendung von telemedizinischen Konzepten konstatieren van Gemert-Pijnen et al. in einem systematischen Review die häufig fehlende Partizipation des späteren Anwenders am Entwicklungsprozess (van Gemert-Pijnen et al. 2011). Die in der Übersichtsarbeit berücksichtigten Studien zeigen, dass Technologien, welche nicht die Wünsche, Vorstellungen, Gewohnheiten und Verhaltensmuster der Nutzer integrieren, weniger stringent oder gar nicht genutzt werden. Die Autoren fordern in ihrer Arbeit daher zu einem Umdenken in der derzeitigen Evaluationskultur telemedizinischer Anwendungen auf. Sie plädieren neben einer klareren Orientierung der Entwicklungsarbeit am Endverbraucher für einen im stärkeren Maß strukturierten Methodenpluralismus in der Evaluation von E-Health-Anwendungen (van Gemert-Pijnen et al. 2011). Diese Intention möchte das vorliegende Kapitel aufgreifen und dem Leser einen Eindruck über die vielschichtigen Möglichkeiten vermitteln, welche für die Bewertung von E-Health, beginnend bei der Entwicklung bis hin zum Monitoring ausgereifter Lösungen zur Verfügung stehen. Ausgehend von einer Arbeitsdefinition für den Begriff Evaluation, welche gleichzeitig das Grundverständnis in Bezug auf die Bewertung von E-Health widerspiegelt, werden zunächst Herausforderungen beschrieben, denen sich die Evaluation von telematischen Versorgungskonzepten gegenübersieht. Hiermit eng verbunden ist die Einordnung von telematischen Konzepten als komplexe Intervention. Gemeint ist an dieser Stelle weniger die sich mehrstufig darstellende Wirkweise von E-Health, also die Betrachtung der rein technischen Ebene, der Mensch-Maschine-Interaktion und des soziotechnischen Systems. Vielmehr stellt sich E-Health als eine Intervention bestehend aus mehreren interdependenten Komponenten dar. Bereits eine einzelne Komponente kann zum Ausbleiben des erwarteten Benefits führen. Typischerweise sind es jedoch mehrere Komponenten, deren Zusammenwirken den Erfolg komplexer Interventionen ausmachen. Ein Beispiel ist die elektronische Patientenakte. Softwaremodule und das Design des Interfaces bilden zunächst lediglich die technischen Komponenten. Die effektive Nutzung wird jedoch vielmehr durch die Integration der Akte in den lokalen Workflow, die Informationsstruktur, Zugriffsprozeduren und Schulungen erreicht. Über sie wird der Anwender befähigt, Informationen abzurufen, zu dokumentieren und in die klinischen Entscheidungsprozesse aufzunehmen. Die Versorgungsforschung bietet zur Evaluation von komplexen Interventionen den geeigneten Forschungsrahmen. Teil XI  Grundlagen der Evaluation von E-Health 793 Vor diesem Hintergrund werden in Kap. 41 die Grundzüge der Versorgungsforschung sowie ihr systemtheoretisches Rahmenmodell dargelegt. Daran anschließend gibt Kap. 42 einen Überblick über die derzeit in der internationalen Literatur beschriebenen Rahmenkonzepte, an welchen sich die Bewertung telemedizinischer Anwendungen orientieren kann. Zu unterscheiden sind an dieser Stelle Konzepte, welche ausschließlich auf die Implementierung von Anwendungen hinarbeiten und solche, die auf die Generierung von Evidenz in Bezug auf die Wirksamkeit, Kosten und Kosteneffektivität von E-Health fokussieren. Zudem werden ausgewählte Evaluationstechniken entlang des Lebenszyklus von E-Health vorgestellt. Das Kapitel schließt mit einer Roadmap zur Entwicklung eines projektspezifischen Evaluationskonzeptes ab. Hauptanliegen ist es, die Leserin/den Leser dazu ermuntern, nach Beurteilung des eigenen Evaluationssettings methodische Ansätze zu wählen, die den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Kap. 44 stellt hierzu verschiedene Fallstudien vor. Literatur Agboola S, Hale TM, Masters C, Kvedar J, Jethwani K (2014) “Real-World” Practical Evaluation Strategies: A Review of Telehealth Evaluation. JMIR Res Protoc 3:e75 Dittmar R, Wohlgemuth WA, Nagel E (2009) Potentiale und Barrieren der Telemedizin in der Regelversorgung. GGW 9:16−26 van Gemert-Pijnen JEWC, Nijland N, van Limburg M, Ossebaard HC, Kelders SM, Eysenbach G, Seydel ER (2011) A Holistic Framework to Improve the Uptake and Impact of eHealth Technologies. J Med Internet Res 13:e111 Einführung Juliane Köberlein-Neu 1 Definition des Evaluationsbegriffs In der Literatur finden sich vielfältige Definitionen des Begriffs „Evaluation“, welche je nach Fachrichtung und Anwendungskontext in ihrer Ausgestaltung variieren. Den Evaluationsbegriffen gemein ist eine vielschichtige Betrachtungsweise. Während Bortz und Döring (1995) Evaluation als „Überprüfung der Wirksamkeit einer sozialen Intervention (…) mit den Mitteln der empirischen Forschung“ definieren, abstrahieren andere Autoren, z. B. Wottawa und Thierau (1998), den Begriff auf einer allgemeineren Ebene. Dabei wird der Evaluation stets eine Ziel- und Zweckorientierung zugesprochen. Ihre Anwendung wird im Kontext von Planungs- und Entscheidungssituation gesehen. Eine zusammenfassende und für den hier vorliegenden Kontext stimmige Formulierung zum Evaluationsbegriff bietet die Ausführung von Rindermann (2001), welcher Evaluation als eine „systematische, empirische Analyse von Konzepten, Bedingungen, Prozessen und Wirkungen zielgerichteter Aktivitäten zum Zwecke ihrer Bewertung und Modifikation“ beschreibt. Dabei geht der Evaluationsbegriff über eine reine Messung und Beschreibung hinaus und umfasst die Bewertung sowie Optimierung von Prozessen. Abzugrenzen sind formative von summativen Evaluationsansätzen. Die formative Herangehensweise legt den Schwerpunkt auf die Verbesserung von laufenden Verfahren, summative Ansätze nehmen Wirkungsbeurteilungen vor und optimieren Entscheidungen. Ziel ist es, durch Untersuchungsmethoden, welche wissenschaftlichen Kriterien genügen müssen, relevante Informationen für die Gestaltung der Praxis zu erlangen und den jeweiligen Entscheidungsträgern eine fundierte, evidenzbasierte Grundlage zur Verfügung zu stellen. J. Köberlein-Neu (*)  Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_41 795 796 J. Köberlein-Neu Evaluation ist als eine fortwährende Handlung zu verstehen, welche Interventionen in unterschiedlichen Entwicklungsabschnitten/Bereichen ihres Lebenszyklus analysiert und bewertet (Khoja et al. 2013). In der aktuellen Evaluationsliteratur werden für den Lebenszyklus einer E-Health-Anwendung fünf Entwicklungs- bzw. Implementierungsstadien beschrieben (Khoja et al. 2013; Kushniruk 2002; etc.): • Zielformulierung und Bedarfsanalyse (Initialisierungsphase): Formulierung von Zielen, Erhebung bestehender Bedarfe (auf individueller und auf Organisationsebene) sowie Beschreibung der vorliegenden Rahmenbedingungen. • Anforderungsanalyse: Erhebung von Anforderungen an das System, Formulierung von Use Cases und gegebenenfalls theoriegeleitete Zusammenstellung der Interventionskomponenten. • Design und Entwicklung der technischen Komponenten sowie der organisationsbezogenen Implementierungshilfen: Entwicklung des telemedizinischen Services (Workflow-Module, Schnittstellen, Routinen) und formative Evaluation des Prototyps (in der Regel finden mehrere Evaluationszyklen statt). • Evaluation: Anwendung des Testsystems im Studiensetting und summative Evaluation. • Implementierung: Verstetigung der E-Health-Anwendung in der Organisation (Verstetigung in der Routineversorgung); überregionale Adaption/Translation der E-HealthAnwendung. Innerhalb eines jeden Zyklusabschnittes stehen für die Evaluation quantitative und qualitative Methoden zur Verfügung. Ein quantitatives Vorgehen erfolgt in der Regel kriterienbasiert und ist häufig auf ausgewählte Komponenten der E-Health-Anwendung fokussiert. Darüber hinaus werden die Fragestellungen auf verschiedenen Ebenen untersucht, das heißt, auf Ebene der Organisation, des individuellen Anwenders oder auf Systemebene. Beispielsweise wird die Zufriedenheit der Anwender in Bezug auf die Benutzeroberfläche analysiert. Qualitative Evaluationsmethoden dienen der verstehenden Interpretation von Sachverhalten. Hauptaugenmerk gilt dabei dem Prozess als dynamische, sich verändernde Größe und weniger seinen objektiv messbaren Eigenschaften. Ziel des Einsatzes qualitativer Methoden ist es, Erklärungsansätze quantitativ erhobener Zustände oder Ereignisse zu finden und zu einem Kontextverständnis zu gelangen (Kaplan und Shaw 2004). 2 Herausforderungen bei der Evaluation von E-HealthAnwendungen Informations- und Kommunikationstechniken werden in der Gesundheitsversorgung zur Effizienzsteigerung sowie zur qualitativen und prozessualen Verbesserung der Versorgung eingesetzt. Sie schaffen damit eine wertvolle Grundlage, um mit ökonomischen und kapazitären Restriktionen in der medizinischen Versorgung umzugehen Einführung 797 (Carius-Düssel et al. 2009). Trotzdem ist die aktuelle Situation zu ihrem Einsatz in der Routineversorgung in Deutschland widersprüchlich. Während auf der Konsumentenebene, dem 2. Gesundheitsmarkt, Applikationen zunehmend Anwendung finden, steht diesen Entwicklungen eine noch unzureichende Verbreitung auf der Ebene der traditionellen Akteure im Gesundheitssektor (niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser) gegenüber (Deloitte 2014). Fehlende adäquate Rahmenbedingungen, wie z. B. mangelnde Vergütungsoptionen, bieten diesbezüglich nur einen ungenügenden Erklärungsansatz. Bereits die Ergebnisse des Projekts S.I.T.E. (Schaffung eines Innovationsniveaus für Telemedizin) aus dem Jahr 2009 veranschaulichen, dass vielmehr eine fehlende Interoperabilität der Systeme, geringe Bereitschaft zur Änderung von Arbeits- und Behandlungsprozessen sowie langfristige Planungsunsicherheiten als große Innovationsbarrieren agieren. Wesentliches Hemmnis aus Sicht der Kostenträger aber auch der Anwender ist jedoch die Studienlage, welche nach Auffassung der Befragten keine hinreichende Evidenz für den tatsächlichen Mehrnutzen von E-Health-Anwendungen liefert (Carius-Düssel et al. 2009). Sieben Jahre später ermöglichen die vorliegenden Studien immer noch keine allgemeingültigen Aussagen zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität von E-Health. Metaanalysen, welche ohne Zweifel eine Entscheidungsgrundlage bieten würden, können aufgrund des engen Kontextbezuges der Studien und den mannigfaltigen Evaluationsansätzen, welche in Wissenschaft und Praxis für die Prozess- und Ergebnisbewertung zum Einsatz kommen, nicht erarbeitet werden (Ekeland et al. 2012). Das Scoping Review von Bassi und Lau veranschaulicht am Beispiel der ökonomischen Evaluation von E-Health eindrucksvoll die Heterogenität der Studien in Bezug auf die Qualität ihrer Durchführung, das Studiendesign und die gewählten Beobachtungsparameter (Bassi und Lau 2013). Doch worin liegen die Ursachen für den unstrukturierten Methodenpluralismus bei der Evaluation von telemedizinischen Anwendungen und die eingeschränkte Nutzbarkeit bisheriger Studien im Rahmen des politischen (allokativen) Entscheidungsprozesses? Die Gesundheitsversorgung eines Patienten erfolgt in einem komplexen System, in welchem unterschiedliche Akteure in funktionaler Arbeitsteilung und mit den ihnen zuzuordnenden Interessen zusammenwirken. Evaluationen müssen somit unterschiedlichen Perspektiven genügen, können jedoch aufgrund der mit einem Projekt verbundenen Komplexität häufig nur monoperspektivisch und mit einer begrenzten Anzahl an Beobachtungsparametern durchgeführt werden. Ebenso werden E-Health-Anwendungen häufig aus der Praxis heraus initiiert, wodurch die zu wählende Perspektive im gewissen Sinne zunächst vorbestimmt und auf die formative Ebene sowie auf die organisationsinterne prozessuale Sicht reduziert ist. Bei Untersuchungen aus dem Bereich der OutcomeForschung finden sich unterschiedliche nicht-standardisiert erhobene Endpunkte. Dies führt dazu, dass Studien zwar ähnliche Beobachtungsparameter aufweisen, aber möglicherweise die zur Erhebung verwendete Arbeitsdefinition eines Ereignisses differiert (Ekeland et al. 2012). Dies resultiert in einer durch Diversität gekennzeichneten Studienlage. Die systematische Aggregation von Ergebnissen (z. B. in Form einer Metaanalyse), 798 J. Köberlein-Neu welche über eine reine narrative Darstellung hinausgeht, ist somit kaum realisierbar. Darüber hinaus kommen E-Health-Anwendungen über ein breites Diagnosespektrum hinweg zum Tragen. Allgemeine Beobachtungsparameter, welche ein krankheitsunspezifisches Ergebnis messen (z. B. Mortalität, Hospitalisierung, Morbidität, Lebensqualität), können von verschiedenen Ereignissen im Behandlungsprozess der Patienten beeinflusst werden. Das Ausbleiben eines erwarteten Outcomes muss nicht zwingend dem Misserfolg eines telemedizinischen Services geschuldet sein (Agboola et al. 2014). In Ergänzung zu den vielschichtigen Einflüssen, welche die Komplexität des Versorgungsgeschehens auf die Evaluationsplanung, den Ablauf und die Verwertbarkeit der Ergebnisse nimmt, erschweren E-Health-Anwendungen selbst die Vergleichbarkeit von Evaluationsstudien sowie die Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Die Entwicklung von Kommunikations- und Informationssystemen und ihr Optimierungsprozess erfolgen in einem engen Bezug zum späteren Anwendungskontext, das heißt zur Organisation und zum individuellen Nutzer. Die Entwicklung und Anpassung der telemedizinischen Intervention wird in einem fortwährenden Prozess betrieben. Es ergeben sich hierdurch zwei wesentliche Schwierigkeiten für eine Aggregation oder generalisierende Interpretation der Ergebnisse: 1) das Entwicklungsstadium der Intervention zum Zeitpunkt der Evaluation kann nicht genau identifiziert werden, 2) die Intervention ist während der Effektmessung eine dynamische und keine konstante Größe. Effektänderungen können somit keiner klar definierten Intervention zugeordnet werden. Hinzu kommt, dass E-Health-Anwendungen zu den sogenannten komplexen Interventionen zählen. Sie bestehen aus mehreren interdependenten Komponenten, welche einzeln oder im komplexen Zusammenspiel evaluiert werden können. Jedoch ist die Wirksamkeit der einzelnen Komponenten selten Untersuchungsgegenstand. Ihre Auswahl und Zusammenstellung zu einem Bündel an Interventionskomponenten erfolgt in der Regel theoriegeleitet. Evaluationen richten sich meist ausschließlich auf die Intervention als Ganzes. Um vergleichbar zu sein, müssten die in den Studien adressierten E-Health-Anwendungen demnach identische Komponentenbündel aufweisen. Die einzelnen Bestandteile der Intervention sind hierbei nicht auf die technischen Elemente beschränkt, sondern umfassen ebenfalls Komponenten auf der Stufe der MenschMaschine-Interaktion (z. B. Schulungen), oder der soziotechnischen Ebene (z. B. organisationsindividuelle Anreizsysteme, Selbstverständnis einer Organisation zum Einsatz von E-Health). Die bereits angesprochene enge Einbindung telemedizinischer Services in den jeweiligen Anwendungskontext sowie ihre Beschaffenheit als komplexe Intervention bergen in ihrer Konsequenz weitere methodische Herausforderungen. Klinische randomisierte, kontrollierte Studien (RCT), die aufgrund ihres experimentellen Ansatzes und der damit verbundenen Fähigkeit, für bekannte und unbekannte Einflussfaktoren zu kontrollieren, in der Arzneimittelforschung als sogenannter Goldstandard gelten, erfordern in der Evaluation komplexer Versorgungsszenarien Anpassungen (s. Craig und Petticrew 2013). So ist es eine Herausforderung, den Kontext des Versorgungsgeschehens adäquat abzubilden. Beispielsweise können die organisationsabhängige Gestaltung des Workflows und Einführung 799 die Variabilität in der Personalstruktur von Organisationen für eine höhere Heterogenität der Ergebnisse bei multizentrischen Studien sorgen. Die fehlende Möglichkeit der Verblindung von Studienteilnehmern, Untersuchenden und gegebenenfalls des Forschers verursachen Übertragungseffekte, welche die eindeutige Zuordnung der Teilnehmer auf die Untersuchungsgruppen verhindern und somit den experimentellen Charakter der klassischen RCT aufweichen können. Zudem ist eine sowohl aus Anwender- als auch aus wissenschaftlicher Sicht adäquate Studienlaufzeit festzulegen. Aus der IT-Praxis heraus betrachtet, werden randomisierte kontrollierte Studien häufig als zu langfristig angelegt kritisiert. Eine zu evaluierende E-Health-Anwendung könnte bei Abschluss der Untersuchungen bereits veraltet und ihre Effektivität in der Anwendungspraxis trotzdem nicht belegt sein (Agboola et al. 2014). Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht wird hingegen für eine möglichst lange Laufzeit plädiert, um neben kurzfristigen Effekten auch patientenrelevante Endpunkte beobachten zu können. Um den Herausforderungen bei der Evaluation von E-Health-Anwendungen zu entsprechen, bedarf es demnach einem sich von einfachen Interventionen und vom klassischen experimentellen Design klinischer randomisierter, kontrollierter Studien abgrenzenden Forschungsansatz. Diesbezüglich bietet die Versorgungsforschung den entsprechenden Rahmen. Zwar erhebt sie den gleichen methodischen Anspruch hinsichtlich der Durchführung einwandfreier Studien und der Generierung belastbarer, qualitätsgesicherter Daten, unterscheidet sich von der klinischen Forschung (im speziellen von den Denkweisen randomisierter, klinischer kontrollierter Studien) jedoch durch ihren stetigen Bezug zum Versorgungskontext. Eines ihrer Anliegen ist es, die Wirksamkeit von Interventionen in der Routineversorgung zu bewerten. Das Kapitel „Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungs-forschung“ umreißt die grundlegenden Ziele und Ansätze der Versorgungsforschung. Ergänzend zu einem Umdenken vom klassischen Goldstandard hin zu alternativen Forschungsansätzen sind weitere Maßnahmen notwendig. Ausgewählte Aspekte sollen im Folgenden stichpunktartig genannt werden, finden jedoch im Rahmen dieses Buches keine weitergehende Vertiefung: • Stringentere Anwendung bereits bestehender Handlungsempfehlungen zur Durchführung von Evaluationen und einer standardisierten Berichterstattung bei der Publikation von Evaluationsstudien (z. B. STARE-HI – Statement on Reporting of Evaluation Studies in Health Informatics; Erweiterung des CONSORT-Statements für die Anwendung auf komplexe Interventionen); • Entwicklung standardisierter und für den deutschen Versorgungskontext relevanter Evaluationskriterien (krankheitsspezifisch und krankheitsübergreifend); • Entwicklung eines Kriterienkataloges für die standardisierte Beschreibung umgesetzter E-Health-Anwendungen sowie der sie umfassenden Komponenten auf technischer Ebene, der Stufe der Mensch-Maschine-Interaktion sowie des soziotechnischen Systems. 800 J. Köberlein-Neu Literatur Agboola S, Hale TM, Masters C, Kvedar J, Jethwani K (2014) „Real-world“ practical evaluation strategies: a review of telehealth evaluation. JMIR Res Protoc 3:e75 Bassi J, Lau F (2013) Measuring value for money: a review on economic evaluation of health information systems. Am Med Inform Assoc 20:792–801 Bortz J, Döring N (1995) Forschungsmethoden und Evaluation. Springer, Berlin Carius-Düssel C, Schultz C, Pelleter J, Helms T, Schulz M, Lee S-Y, Hahn C, Becks T (2009) Innovationsbarrieren von Telemonitoring – Identifikation und Diskussion der Barrieren sowie mögliche Lösungsansätze. Telemed 2009 (Berlin) Craig P, Petticrew M (2013) Developing evaluating complex interventions: reflections on the 2008 MRC guidance. Int J Nurs Stud 50:585–587 Deloitte & Touche GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (2014) Perspektive E-Health – Consumer-Lösungen als Schlüssel zum Erfolg? Stand 04/2014 Ekeland AG, Bowes A, Flottorp S (2012) Methodologies for assessing telemedicine: a systematic review of reviews. Int J Med Inform 81:1–11 Kaplan B, Shaw NT (2004) People, organizational, and social issues: future directions in evaluation research. Methods Inf Med 43(3):215–231 Khoja S, Durrani H, Scott RE, Sajwani A, Piryani U (2013) Conceptual framework for development of comprehensive e-Health evaluation tool. Telemed J E Health 19:48–53 Kushniruk A (2002) Evaluation in the desgin of health information systems: application of approaches emerging from usability engineering. Comput Biol Med 32:141–149 Rindermann H (2001) Evaluation. In: Wenninger G (Hrsg) Lexikon der Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Wottawa H, Thierau H (1998) Lehrbuch Evaluation. Huber, Bern Über die Autorin Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und Juniorprofessorin für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie leitet die am BKG angesiedelte Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“ und übernahm 2014 den Vorstandsvorsitz des Bergischen Kompetenzzentrums für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer derzeitigen Tätigkeit liegt in der Entwicklung und Evaluation von Konzepten zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Kontakt: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung Andrea Icks und Juliane Köberlein-Neu Die Versorgungsforschung hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland als ein eigenständiges Forschungsgebiet etabliert. Dabei definiert sie sich weniger durch eine fest umgrenzte Methodik als vielmehr durch ihren Untersuchungsgegenstand, der medizinischen Versorgung (Busse 2006). Die Definition der Bundesärztekammer beschreibt Versorgungsforschung als „wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen“ (BÄK 2004). Versorgungsforschung wird darüber hinaus charakterisiert als „ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert“ (Pfaff 2003). Kernelement dieser Definitionen ist die Untersuchung von Versorgungsleistungen im Versorgungsalltag. Somit ist die Versorgungsforschung bestrebt, die relative Wirksamkeit von Interventionen unter Alltagsbedingungen zu bestimmen. In diesem Sinne wird sie auch als „dritte Säule“ der Gesundheitsforschung bezeichnet. Bei der Versorgungsforschung steht die patientenrelevante Ergebnisqualität von Gesundheitsleistungen im A. Icks (*)  Institut für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: Andrea.Icks@uni-duesseldorf.de J. Köberlein-Neu  Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_42 801 802 A. Icks Mittelpunkt. Darüber hinaus wird der Kontext einer Gesundheitsleistung, als wesentlicher Bestimmungsfaktor der Ergebnisqualität in besonderem Maße berücksichtigt (Pfaff und Schrappe 2011). Betrachtet man den Untersuchungsgegenstand der Versorgungsforschung, sieht man, dass die Versorgung unter Nutzung von E-Health-Technologien und deren Evaluation ein unmittelbares Anwendungsfeld ist. Sie stellt aufgrund der bereits angesprochenen, kontextabhängigen Wirkung vieler E-Health-Interventionen u. a. das notwendige Verbindungselement zwischen der formativen Evaluation im Entwicklungsprozess und der Überführung einer Technologie in den Routinebetrieb dar. Um E-Health-Lösungen systematisch zu untersuchen, lässt sich das systemtheoretische Rahmenmodell der Versorgungsforschung, das Throughput-Modell (Pfaff und Schrappe 2011), heranziehen (s. Abb. 1). Im Fokus seiner Input-Komponente stehen die Patienteneigenschaften (risikobezogener Input) und der ressourcenbezogene Input in Form materieller und immaterieller Ausstattungen zur Erbringung einer Gesundheitsleistung (z. B. Technik, finanzielle Mittel, Gesetze) sowie die Gesundheitsdienstleister (z. B. Qualifikationsstruktur, Werte der Organisation). Auf der Ergebnisseite des Modells findet sich die erbrachte Versorgungsleistung (Output) direkt am Ende eines Prozesses wieder, welche kurz-, mittel- oder langfristig eine gesundheitliche Wirkung auf den Patienten nimmt (Outcome). Das Zentrum des Modells (s. Abb. 1) bildet der Throughput, eine Kombination aus Gesundheitsleistung und ihrem Kontext (Pfaff und Schrappe 2011; Busse 2006). Bei der Gesundheitsleistung geht es um den eigentlichen Wirkbestandteil der Versorgung, das heißt, die Anwendung einer oder mehrerer Technologien im Rahmen der Gesundheitsversorgung (bei E-Health z. B. eine elektronische Entscheidungshilfe). Der Kontext wiederum kann gesundheitlich positiv oder negativ wirken, wird jedoch nicht als eigentliche Versorgungsmaßnahme eingesetzt (Pfaff und Schrappe 2011). Klassische Beispiele für den Kontext einer Gesundheitsleistung stellen die Merkmale eines Versorgungssettings, z. B. einer Arztpraxis, eines Krankenhauses oder eines Versorgungsnetzwerkes (organisatorischer Kontext) oder die Arzt-Patient-Interaktion (sozialer Kontext) dar. Im Throughput-Modell wird angenommen, dass die Elemente in einem (möglicherweise kausalen) Zusammenhang stehen, das heißt, dass das Ergebnis einer Versorgungsleistung, Input Risikobezogener Input Ressourcenbezogener Input Throughput Gesundheitsleistung Kontext der Gesundheitsleistung Output Outcome Versorgungsleistung Gesundheits outcome Direkte Ergebnisse Körperlich, psychisch, sozial … Abb. 1  Systemtheoretisches Rahmenmodell der Versorgungsforschung nach. (Pfaff und Schrappe 2011, S. 4) Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung 803 welche gegebenenfalls unter Anwendung von E-Health erbracht wurde, durch Einflussfaktoren bedingt wird. Zur umfassenden Erforschung dieser komplexen Fragestellungen bedient sich die Versorgungsforschung vielfältiger qualitativer und quantitativer Methoden, welche aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen eingehen und durch eine gemeinsame Orientierung an hohen wissenschaftlichen Standards zueinanderfinden. Solche Bezugsdisziplinen der Versorgungsforschung sind z. B. die Gesundheitsökonomie, Evidence-based Medicine, Epidemiologie, Soziologie und die Psychologie (Pfaff und Schrappe 2011). In Anlehnung an die für die Versorgungsforschung definierten Aufgabenfelder (s. hierzu Bundesärztekammer 2004) kann die Begutachtung von E-Health-Technologien auf fünf Ebenen erfolgen: 1. Beschreibung: Deskriptive Darstellung der Inputs, Prozesse und Ergebnisse einer Versorgung unter Nutzung von E-Health-Anwendungen. 2. Erklärung: Zusammenhänge in der Versorgung (kausal) ergründen. 3. Gestaltung: Neu- oder Weiterentwicklung von Versorgungskonzepten. 4. Evaluation der Wirksamkeit: Bewertung von Versorgungskonzepten unter Alltagsbedingungen, sowie 5. Evaluative Begleitung: Erforschen von Implementierungs- und Umsetzungsproblemen bei E-Health-Anwendungen. Die jeweils zu wählende Methodik ist neben den Erwägungen zur Machbarkeit insbesondere vom Ziel der Forschung abhängig. Für eine zusammenfassende Darstellung unterschiedlicher Methoden sei an dieser Stelle auf das von Reinhard Busse verfasste Kapitel „Methoden der Versorgungsforschung“ im Kursbuch Versorgungsforschung sowie auf das Lehrbuch „Versorgungsforschung“ von Holger Pfaff und Matthias Schrappe verwiesen (Busse 2006; Pfaff und Schrappe 2011). Ausgehend von den dort beschriebenen Methodiken wird deutlich, dass grundsätzlich zwischen deskriptiven, analytischen und evaluativen Ansätzen unterschieden werden kann. Auf der dritten Ebene (Gestaltung) ist zudem auf die Ergebnisse bereits bestehender Forschung zurückzugreifen, welche einen Anhaltspunkt liefern sollen, wie eine E-Health-Lösung optimal in die Versorgung einzubetten ist. Dies erfolgt möglichst in Form systematischer Reviews. Die bestmögliche Vorgehensweise bei bestimmten Methoden ist mittlerweile in verschiedensten E-Health Publikationen (Ammenwerth 2015; Rigby et al. 2013; s. auch Kapitel „Evaluationsmethoden“) und übergreifenden (vgl. z. B. Busse 2006; Pfaff und Schrappe 2011) Leitlinien sowie Consort Statements niedergelegt worden. E-Health-Anwendungen lassen sich auch als komplexe Interventionen verstehen, deren Entwicklung und Evaluation vom British Medical Council beschrieben ist (Craig et al. 2008; Craig et al. 2013). Nach einer Entwicklungsphase mit theoriebasierter Herleitung folgen Pilotierung und Machbarkeitsprüfung sowie Evaluation. Dann erfolgt die Implementierung. Entwicklung und Evaluation werden dabei explizit als zyklischer Prozess verstanden (s. Abb. 2). 804 A. Icks Feasibility/piloting • • • Testing procedures Estimating recruitment/retention Determining sample size Development Evaluation • • • • • • Identifying the evidence base Identifying/developing theory Modelling process and outcomes Assessing effectiveness Understanding change process Assessing cost-effectiveness Implementation • • • Dissemination Surveillance/monitoring Long term follow-up Abb. 2  Schlüsselelemente des Entwicklungs- und Evaluationsprozess komplexer Interventionen. (Nach Craig et al. 2008 und 2013) Literatur Ammenwerth E (2015) Evidence-based health informatics: how do we know what we know? Methods Inf Med 54(4):298–307 Bundesärztekammer (2004) Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer: Definition und Abgrenzung der Versorgungsforschung, 09.09.2004. Berlin. www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.3289.3293.3294&all=true. Zugegriffen: 23. Apr. 2010 Busse R (2006) Methoden der Versorgungsforschung. In: Hey M, Maschewsky-Schneider U (Hrsg) Kursbuch Versorgungsforschung. WMV, Berlin Craig P, Petticrew M (2013) Developing evaluating complex interventions: reflections on the 2008 MRC guidance (2013). Int J Nurs Stud 50:585–587 Craig P, Dieppe P, Macintyre S, Michie S, Nazareth I, Petticrew M (2008) Developing and evaluating complex interventions: the new medical research council guidance. BMJ 337:a1655 (Clinical research ed) Pfaff H, Pfaff H (2003) Versorgungsforschung. Begriffsbestimmung, Gegenstand und Aufgaben. In: Pfaff H, Schrappe M, Lauterbach KW, Engelmann U, Halber M (Hrsg) Gesundheitsversorgung und Disease Management. Grundlagen und Anwendungen der Versorgungsforschung. Huber, Bern, S 13 Pfaff H, Schrappe M (2011) Einführung in die Versorgungsforschung. In: Pfaff H, Neugebauer EAM, Glaeske G, Schrappe M (Hrsg) Lehrbuch Versorgungsforschung: Systematik – Methodik – Anwendung. Schattauer, Stuttgart, S 1–39 Rigby M, Ammenwerth E, Beuscart-Zephir MC, Brender J, Hypponen H, Melia S et al (2013) Evidence based health informatics: 10 years of efforts to promote the principle. Joint contribution of IMIA WG EVAL and EFMI WG EVAL. Yearb Med Inform 8:34–46 Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung 805 Über die Autoren Prof. Dr. Andrea Icks  ist Medizinerin mit Postgraduierung in Public Health (MPH) und Business Administration (MBA). Sie ist als Professorin der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Direktorin des Instituts für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie, Center for Health and Society, und seit 2016 Leiterin der Paul-Langhans-Gruppe für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie des Deutschen Diabetes-Zentrums. Ihre F ­orschungsschwerpunkte sind health outcome research und gesundheitsökonomische Evaluation vor allem im Bereich Diabetes und Verletzungen im Alter. Kontakt: Andrea.Icks@uni-duesseldorf.de Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und Juniorprofessorin für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie leitet die am BKG angesiedelte Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“ und übernahm 2014 den Vorstandsvorsitz des Bergischen Kompetenzzentrums für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer derzeitigen Tätigkeit liegt in der Entwicklung und Evaluation von Konzepten zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Kontakt: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de Evaluationsmethoden Juliane Köberlein-Neu Für die Evaluation von E-Health-Anwendungen stehen derzeit mannigfaltige Guidelines und Evaluationsansätze zur Verfügung. Sie alle sind mit der Intention entwickelt worden, sich den Herausforderungen anzunehmen, welche mit der Bewertung komplexer soziotechnischer Interventionen einhergehen (s. Abschn. 2 in Kapitel „Einführung“), und einen Beitrag zur Verbesserung der internen Validität von Evaluationsstudien zu leisten (Ammenwerth 2015; Rigby et al. 2013). Weitreichende Hilfestellungen zur Planung von Evaluationsvorhaben gibt beispielsweise die bereits 2009 veröffentlichte Methodensammlung des Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ 2009). Das Toolkit unterliegt einem ständigen Überarbeitungsprozess und bietet neben allgemeinen Hinweisen zur Erstellung eines Evaluationsplans nützliche Übersichten über Evaluationskriterien und Fragebögen (Cusack et al. 2009). Eine Erweiterung dieser Leitlinie stellt der 2011 publizierte Evaluationsleitfaden „Good Evaluation Practice“ der International Medical Informatics Association (IMIA) sowie der European Federation of Medical Informatics (EFMI) dar, in dem zusätzlich Fragestellungen zu finanziellen Rahmenbedingungen eines Evaluationsvorhabens sowie Instrumentarien zur Studiendurchführung adressiert werden (Nykänen et al. 2011). Die Übersichtsarbeiten von Ekeland sowie von van Gemert-Pijnen und Kollegen (Ekeland et al. 2012; van Gemert-Pijnen et al. 2011) bieten der interessierten Leserin/ dem interessierten Leser einen umfassenden und grundlegenden Überblick über die in Studien verwendeten Evaluationskonzepte und unterstützen bei ihrer Einordnung und Bewertung. Dabei sprechen die Autoren Empfehlungen aus, welche der dort beschriebenen Konzepte für das formative und summative Assessment eingesetzt werden können. J. Köberlein-Neu (*)  Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_43 807 808 J. Köberlein-Neu Die Übersichtsarbeit von van Gemert-Pijenen et al. (2011) stellt zudem sehr detailliert die theoretische Fundierung der Evaluationskonzepte und -kriterien dar. Dieses Kapitel stellt ein entwicklungsbegleitendes Rahmenkonzept zur Bewertung von E-Health-Technologien vor und benennt in den wesentlichen Phasen des Lebenszyklus von Interventionen ausgewählten Evaluationstechniken. 1 Evaluation als kontinuierlicher und lebenszyklusbegleitender Prozess E-Health-Interventionen gelten sowohl national als auch international als entscheidende Erfolgsfaktoren für die Zukunft und die Modernisierung des Gesundheitswesens. Ihnen wird das Potenzial zugesprochen, Kosten zu begrenzen oder gar zu reduzieren, Effizienz und Qualitätssicherung zu verbessern sowie die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern (Steyer 2007). Vor allem in der Sektoren übergreifenden Versorgung sind sie ein wichtiges infrastrukturelles Element zur engeren Verzahnung des in Deutschland sektoral geprägten Gesundheitswesens (Brettreich 2009). Dem gegenüber stehen die Risiken auf Organisations- und Patientenebene, welche mit der Anwendung von E-Health-Interventionen einhergehen können, z. B. durch Fehler in der Funktionalität, schlechter Service Support oder nutzerunfreundliche Gestaltung. Unstrittig ist daher, dass E-Health-Technologien umfassend überprüft werden sollten. Vor allem eine kontinuierliche Evaluation entlang ihres Lebenszyklus, das heißt, die Bewertung vor und nach Implementierung einer Anwendung, kann Risiken entgegen wirken und trägt dazu bei, das vorhandene Potenzial von E-Health umfänglich auszuschöpfen. In Anlehnung an die Ausführungen von Catwell und Sheikh (2009) wird im Folgenden ein lebenszyklusbegleitender Bewertungsansatz zur Überprüfung von E-HealthTechnologien dargestellt. Der vorgeschlagene Evaluationsansatz distanziert sich von der Mehrzahl der publizierten Konzepte (s. hierzu van Gemert-Pijnen et al. 2011), indem er eine strikte Trennung des formativen und summativen Bewertungsprozesses vorsieht. Während die formative Evaluation entwicklungsbegleitend und als stetig wiederholender Vorgang erfolgt, wird die Durchführung des summativen Assessments erst nach Abschluss der Entwicklungsarbeit und vor Implementierung in die Versorgungspraxis empfohlen. Unter Implementierung wird bei den hier beschriebenen Evaluationsansätzen die Überführung einer erprobten E-Health-Anwendung in die Routineanwendung verstanden. Die summative Bewertung von E-Health unter Laborbedingungen im klassischen Sinne ist im beschriebenen Ansatz als eigenständige Phase im Lebenszyklus vorgesehen. Sie unterscheidet sich von der Wirksamkeitsbetrachtung eines Arzneimittels dahingegen, dass das Studiensetting bei vielen E-Health-Technologien eine deutlich stärkere Versorgungsnähe aufweist und stets gemeinsam mit dem Anwendungskontext untersucht werden sollte. Abb. 1 stellt den Evaluationsprozess schematisch dar. Evaluationsmethoden Phase 1 809 Phase 2 Phase 3 Phase 4 Phase 5 Initialisierung Anforderungsanalyse Design und Entwicklung Evaluation Implementierung Bedarfsanalyse Lastenheft Systemarchitektur und Design Umsetzung in das Studiensetting Verstetigung in der Organisation/Region Vision und Zielformulierung Pflichtenheft Prototypentwicklung Formative Evaluation (z.B.Prozessanalysen) Formative Evaluation (z.B.Kog.Walkthrough) Können Nutzer es anwenden? Stakeholder-Analyse und Abstimmung Formative Evaluation (z.B. Interviews, Prozessanalyse, Delphi-Befragung) Ja Mehrheitlich akzeptiert? Werden Bedarfe abgedeckt? Nein Überarbeitung Überarbeitung Summative Evaluation (z.B. RCT) Ja Ja Nein Ja Funktioniert das System? Formative Evaluation (z.B. Kognitive Aufgabenanalyse) Usability Test (z.B. Think-aloudprotocol, Akzeptanz) Können es Nutzer anwenden? Nein Überregionale Adaption/Translation Implementierungsforschung; Monitoring im Rahmen des internen Qualitätsmanagements, Beobachtungsstudien KostenEffektiv? Ja Neue Bedarfe festgestellt Nein Nein Nein Abb. 1  Lebenszyklus-begleitender Evaluationsprozess in Anlehnung an Catwell und Sheikh (2009) Der Lebenszyklus einer E-Health-Intervention startet mit der Initialisierungsphase, in welcher die auf individueller (z. B. Patient, Mitarbeiter) und organisationaler Ebene bestehenden Bedarfe analysiert und hieraus die Vision und Ziele für das Entwicklungsvorhaben definiert werden. Ausgehend von Workflow-Analysen, Interviews und gegebenenfalls auf Basis der Literatur, werden Problemstellungen in der aktuellen Versorgung identifiziert, die Lösung in Form einer Visionsbeschreibung festgehalten und Ziele, welche darlegen sollen, wie die Vision erreicht wird, formuliert. Um im weiteren Verlauf des Prozesses eine möglichst hohe Akzeptanz aller relevanten Stakeholder sicherzustellen, sind die Ergebnisse der Initialisierungsphase mit allen Beteiligten abzustimmen. Die zweite Phase sieht die Erhebung von Systemanforderungen sowie eine Definition der Interventionskomponenten vor. Methoden, welche bei der Festlegung der Anforderungen (Lastenheft) eingesetzt werden können, sind vielfältig und reichen von einfachen qualitativen Einzelinterviews bis hin zu Delphi-Verfahren, Fokusgruppen und kognitiver Aufgabenanalyse. Ziel der Phase ist es, durch wiederholte formative Bewertungsprozesse und gegebenenfalls unter Hinzunahme von „Mock-ups“ (rudimentäre Prototypen, in der Regel ohne Programmierung) zu einem Interventionsentwurf (Pflichtenheft) zu gelangen, welcher bestmöglich die in Phase eins identifizierten Problemstellungen trifft 810 J. Köberlein-Neu und auf größtmögliche Akzeptanz unter den späteren Nutzern stößt. Darüber hinaus sollten bereits in dieser Phase Wirkmechanismen der geplanten Intervention entwickelt und übergreifende Evaluationskriterien (Operationalisierung der Ziele) zur Bewertung der Effektivität und der Kosten, erwartete Effekte auf die Organisation sowie mögliche Einflussfaktoren auf das Ergebnis dokumentiert werden. Diese gilt es in Phase drei weiterzuentwickeln. Im Zentrum der dritten Phase steht die Entwicklung eines Prototyps und Erprobung im Testbetrieb. Ausgehend vom Interventionsentwurf werden zunächst die Systemarchitektur und das Design entworfen. In einem nächsten Schritt erfolgen die Entwicklung des Prototyps und die Definition von Testszenarien für seine Pilotierung. Phasen­ begleitend sind wiederholte formative Assessments mit dem Bestreben durchzuführen, Designfehler auf Seite der E-Health-Anwendung und Schulungsbedarfe bei den Nutzern aufzudecken. Neben analytischen Evaluationsverfahren zur Bewertung des Systems (z. B. Kognitiver Walkthrough) kommen im Rahmen des Usability Tests teilnehmende Beobachtungen mit „Think-aloud-protocol“ und Fragebögen (z. B. System Usability Scale) zur Untersuchung von Akzeptanz zum Einsatz. Die Erprobung des Prototyps erfolgt dabei zunächst an Testszenarien. Die Evaluation der E-Health-Anwendung im späteren Anwendungskontext erfolgt in Phase vier. In einem ersten Schritt wird zunächst das System in der Organisation verankert und entsprechende Schulungsmaßnahmen durchgeführt. Über Prozessanalysen (z. B. Analyse von Arbeitsproben, Time-Motion-Studien) wird sichergestellt, dass die Intervention den für die summative Evaluation notwendigen Umsetzungsgrad erreicht. Die Effekte der E-Health-Technologie auf Prozess und Outcome-Ebene sowie die Kosten werden im Rahmen der summativen Evaluation bewertet. Hierfür sollten, wenn möglich, randomisierte, kontrollierte Studien zum Einsatz kommen. Um eine erfolgreiche Durchführung der Studie sicherzustellen, können im Vorfeld kleinere Machbarkeitsuntersuchungen erfolgen und geplante Elemente einer Studie (z. B. Rekrutierungsprozess, Verhalten der Studienteilnehmer) auf ihre Anwendbarkeit prüfen. Entscheidend für die Generalisierbarkeit der erlangten Ergebnisse ist, dass die E-Health-Anwendung während der summativen Bewertung keine Änderung erfährt. Zudem sollten Faktoren (Kontextfaktoren, z. B. Akzeptanzverhalten), welche einen signifikanten Einfluss auf den Veränderungsprozess nehmen, identifiziert werden. Nach Abschluss der summativen Evaluation und bei Vorliegen positiver Ergebnisse wird in einer letzten Phase die Intervention in der Organisation implementiert und steht zur Adaption durch andere Organisation oder Regionen zur Verfügung. Ähnlich der PostMarketing-Studien bei der Bewertung von Arzneimitteln empfiehlt es sich, den Einfluss der Technologie langfristig zu monitorieren, um auf Veränderungsbedarfe reagieren zu können. Evaluationsmethoden 811 2 Allgemeine Methoden der formativen und summativen Evaluation Ausgehend von einem lebenszyklusbegleitenden Bewertungsprozess bei E-Health-Technologien, welcher im Abschn. 1 dargelegt wurde, lassen sich formative von summativen Evaluationsansätzen unterscheiden. Die formative Bewertung ist dabei primär auf die Unterstützung der Entwicklungsarbeit durch einen stetigen Abgleich der entworfenen Intervention mit den an sie gestellten Anforderung ausgerichtet (Pflichten-LastenheftAbgleich). Darüber hinaus werden die Funktionalität des Systems, das Zusammenspiel von Mensch und Technik sowie die Prozesseinbindung einer Technologie untersucht. Hierfür bedient sich das formative Assessment vorrangig qualitativer Ansätze, ergänzt um quantitative Erhebungsmethoden (s. Tab. 1). Die summative Evaluation von E-Health-Technologien ist vor allem auf die Bewertung der Wirksamkeit der Intervention sowie der mit ihr einhergehenden Kosten mittels quantitativer Methoden ausgerichtet (s. Tab. 1). In Analogie zur evidenzbasierten Medizin ist an dieser Stelle ein Untersuchungsdesign zu wählen, mit welchem sich ein Wirksamkeitsbeleg auf möglichst hohem Evidenzlevel erbringen lässt (Sackett et al. 1996). Als Endpunkte für die Effektmessung werden in der Regel sowohl Prozess- als auch Outcome-Parameter genutzt. Vor allem in Studien mit kurzem Zeithorizont oder geringer Fallzahl können zunächst Ergebnisse auf der Prozessebene als Surrogat-Parameter Tab. 1  Ausgewählte Methoden zur Datenerhebung im Rahmen der formativen und summativen Evaluation von E-Health Formative Evaluationsansätze Summative Evaluationsansätze • Randomisierte, Kontrollierte Studie Allgemein:  – K  lassische RCTs, d. h. randomisiert auf • Fokusgruppe Patientenebene • Anwenderbefragung  – Cluster-randomisiert (randomisiert auf z. B.  – Interview (qualitativ) Praxisebene)  – Delphi-Befragung  – Stepped Wedge Design  – Feedback-Fragebogen (z. B. System Usabi(„Wartegruppendesign“) lity Scale) • Kontrollierte Studie • Experteninterviews  – Kohortenstudien Workflow-Analysen (empirische  – Fall-Kontroll-Studien Evaluationsverfahren): • Studien ohne Kontrollgruppe • Prozess-Tracking/Time-Motion Studie • Analyse von Arbeitsproben Bewertung des Systems (analytische Evaluationsverfahren): • Heuristische Evaluation • Cognitiver Walkthrough (CW)/Cognitive-Task Analyse (CTA) Usability Test: • Teilnehmende Beobachtung mit „Think-aloud-protocol“ 812 J. Köberlein-Neu bzw. Proxy-Indikator für die schlussendliche Outcome-Ebene herangezogen werden. Beispielsweise kann über eine Reduktion von Medikationsfehlern und unerwünschten Ereignissen auf eine verbesserte Patientensicherheit geschlossen werden, wenn Endpunkte wie Morbidität der Patienten oder Mortalität aus methodischen Überlegungen heraus zum Zeitpunkt der Evaluation nicht realisierbar wären. Grundlage für die Auswahl geeigneter Endpunkte können Wirkungs- und Evaluationsmodelle (s. Abschn. 1 – Beschreibung zu Phase zwei) sein, welche neben einem theoriegeleiteten Verständnis zu Wirkmechanismen sowie Wirkzusammenhängen weitreichende Erklärungsansätze für die Ergebnisinterpretation bieten und die Ableitung anwendungsfallspezifischer Nutzenpositionen unterstützen. Analysen des Anwendungskontextes, z. B. im Rahmen organisationsbezogener Forschung, liefern diesbezüglich wertvolle Daten. Studien zur Nutzerakzeptanz werden darüber hinaus angewendet, um das Verhalten der Anwender zu analysieren, theoriegeleitet zu erklären (z. B. Technologieakzeptanzmodell, Diffusionsmodell) und gegebenenfalls notwendige Optimierungsansätze zu identifizieren. Abb. 2 zeigt beispielhaft ein Evaluationsmodell, welches auf Basis der Ausführungen von Lilford et al. (2009) erarbeitet wurde. Das Modell orientiert sich an dem in Kapitel „Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung“ beschriebenen Throughput-Modell der Versorgungsforschung. Die dargestellten Boxen zeigen beispielhafte Beobachtungsparameter/Endpunkte, welche zu verschiedenen Zeitpunkten der Behandlungskette eines Patienten und auf den Ebenen System, Organisation und Patient gemessen werden. Die Evaluationskriterien Systemqualität, Informationsqualität und Servicequalität bewerten die Gesundheitsleistung (das heißt die Anwendung einer Gesundheitstechnologie), die intervenierenden Variablen charakterisieren den Kontext Patientenerleben (z.B. Zufriedenheit) Systemqualität: • Implementierung einer Intervention Funktionalität, Performance, Sicherheit Direkte Effekte/ modifizierter Behandlungsprozess Informationsqualität: • Inhalt, Verfügbarkeit Servicequalität: • Reaktionszeit Patientenrelevante Endpunkte Intervenierende Variablen: • • • • Mitarbeiterzufriedenheit Arbeitsmoral Akzeptanz und Nutzungsintensität Interaktion mit dem Patienten Fehler/ Behandlungsqualität Mortalität Morbidität Lebensqualität Abb. 2  Wirkungskette von E-Health Anwendungen. (Modifizierte Darstellung in Anlehnung an Lilford et al. 2009) Evaluationsmethoden 813 der Gesundheitsleistung. Als patientenrelevante Endpunkte sind in der Wirkungskette zum einen die Patientenzufriedenheit, zum anderen die Lebensqualität, Mortalität und Morbidität berücksichtigt. Die Behandlungsqualität geht als intermediärer Faktor in das Modell ein. Wirkungsketten können vor allem dann von Nutzen sein, wenn sich in Wirksamkeitsbetrachtungen einer E-Health-Anwendung nicht die erwarteten Verbesserungen des Patienten-Outcomes gezeigt haben. Beispiel Ein neues Kommunikationssystem, welches die Kommunikation zwischen Hausarzt und Patient per Videokonferenz ermöglicht, wurde im Einzugsgebiet einer Beispielregion mit gut ausgeprägten vernetzten Strukturen implementiert. Die Notwendigkeit eines persönlichen Besuchs in der Praxis entfällt. Evaluationen ergeben eine gute Akzeptanz und hohe Nutzerzufriedenheit beim Hausarzt sowie bei den Patienten. Zudem wird die Anwendung viel genutzt. Leider kann kein signifikanter Effekt auf die Lebensqualität der Patienten oder auf klinische Endpunkte nachgewiesen werden. Trotzdem erreicht die Kommunikationslösung im Vergleich zum bisherigen Versorgungssetting eine bessere Kosteneffektivität (aus gesellschaftlicher Perspektive). Mögliche Ursachen für die im Beispiel beschriebenen Sachverhalte sind u. a. in der bereits sehr guten Qualität der bisherigen Regelversorgung (das heißt ohne Einsatz der Kommunikationslösung) zu finden. Da die Kommunikation via Videokonferenz lediglich die sonst übliche Face-to-Face-Kommunikation ablöst, können zwar unnötige Fahrtkosten und Krankheitstage (sowie die hiermit in Verbindung stehenden Produktivitätsausfälle), welche bei einem persönlichen Besuch in der Arztpraxis angefallen wären, eingespart werden. Eine signifikante Verbesserung der beobachteten Endpunkte bleibt jedoch aus. Würde die gleiche Intervention in unterversorgten Gebieten (z. B. ländlichen Regionen) implementiert werden, könnten sich möglicherweise andere Ergebnisse als die im Beispiel beschriebenen zeigen. Ein alternatives Wirkungs- bzw. Evaluationsmodell bietet die von Enrico Coiera (2015) in seinem Kompendium „Guide to Health Informatics“ entwickelte (Informations-)Wertschöpfungskette (s. Abb. 3). Der Ansatz entstammt aus der Entscheidungstheorie und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Mehrzahl der E-Health-Anwendungen lediglich die Entscheidungsfindung und den Versorgungsprozess beeinflussen, auf der Patientenebene jedoch nur indirekt wirken. Die Kette beschreibt den Informationsfluss sowie den Wertschöpfungsprozess beginnend bei der Nutzerinteraktion mit dem System bis hin zur Änderung des Outcomes (z. B. patientenrelevantes Outcome). Coiera geht in seinem Modell davon aus, dass aus der Interaktion heraus nur zum Teil Informationen gewonnen werden, welche im Behandlungsprozess genutzt und dort wiederum lediglich anteilig zu einer Entscheidungsänderung führen. Seiner Argumentation weiter folgend werden sich Prozessänderungen nicht in jedem Fall beobachten lassen. Ähnlich beeinflussen nur 814 J. Köberlein-Neu Anzahl der Ereignisse Interaktion mit dem System Information erhalten Entscheidung/ Verhalten verändert Versorgungsprozess geändert Outcome geändert (Informations-)Wertschöpfungsprozess Abb. 3  (Informations-)Wertschöpfungskette nach Coiera (2015) wenige Prozessänderungen das Behandlungs-Outcome. Die Evaluation einer E-HealthAnwendung kann nun auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette erfolgen, in dem jeweils die erwartete Wertschöpfung entscheidungstheoretisch, z. B. durch Kombination der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (z. B. angeforderte Information enthalten) mit seinem Nutzwert (Utility), bestimmt wird (Coiera 2015). Die sich hieraus ergebenden Wertschöpfungsprofile von E-Health-Interventionen können dann als Erklärungsund Interpretationshilfe genutzt werden. Abb. 4 veranschaulicht zwei hypothetische Wertschöpfungsprofile. Dargestellt ist zum einen die elektronische Patientenakte (EPA) und zum andern eine Intervention zur Entscheidungsunterstützung. Während die Entscheidungshilfe Informationen bereitstellt, welche eine umgehende Outcome-Veränderung bewirken, nehmen EPAs nur indirekt und damit begrenzt Einfluss auf die Ergebnisebene. Erwartete Nutzwerte Elektronische Entscheidungshilfe ePA Regelversorgung Interaktion Information Entscheidung Versorgungsprozess Outcome (Information-)Wertschöpfungsprozess Abb. 4  Wertschöpfungsprofile von E-Health Anwendungen im Vergleich. (Coiera 2015) Evaluationsmethoden 815 3 Gesundheitsökonomische Bewertung von E-Health Die gesundheitsökonomische Evaluation von E-Health-Interventionen ist Teil der summativen Bewertung. Hinter dem Begriff verbirgt sich jedoch kein einheitliches Studiendesign. Vielmehr sind verschiedene Studienformen zu differenzieren, welche die Kosten- und Nutzenpositionen unterschiedlich berücksichtigen. Für eine allgemeine Orientierung bei der Durchführung einer gesundheitsökonomischen Analyse sei an dieser Stelle auf den Hannoveraner Konsens sowie auf das Memorandum des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung verwiesen (Graf von der Schulenburg et al. 2007; Icks et al. 2010). Grundsätzlich lassen sich in der gesundheitsökonomischen Evaluation nicht-vergleichende von vergleichenden Studienformen unterscheiden. Während für die Beurteilung der Effizienz von Maßnahmen sowie zur Optimierung der Ressourcenallokation immer vergleichende Studien notwendig sind, können zu einer rein deskriptiven Darstellung der Kosten nicht-vergleichende Studien eingesetzt werden. Die einfachste Form der ökonomischen Betrachtung von E-Health-Anwendungen stellt in diesem Sinne die Kostenanalyse dar. Diese umfasst ausschließlich die Input-Kosten, die sie umfassenden Kostenposition lassen sich in der Regel in folgende Bereiche gliedern (Bassi und Lau 2013): • Entwicklungs- und Einführungskosten, • Implementierungskosten und • Technologiekosten. Das Anliegen vergleichender Studien ist es hingegen, in Ergänzung zur allgemeinen Bewertung der Vorteile einer Technologie, den potenziellen Nutzen in Relation zu den Kosten zu bringen und somit Aussagen über eine optimale Allokation der Ressourcen zu treffen. Die Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen lässt sich vereinfacht anhand einer Bilanz darstellen, welche den Nutzen der Aktivseite zuordnet. Kosten sind auf der Passivseite zu verzeichnen. Dabei sollte zwischen direkten Kosten einer Intervention, das heißt, Ausgaben in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erbringung von Gesundheitsleistungen (z. B. Behandlungskosten, Implementierungskosten, Kosten der Technologie), und dem direkten Nutzen einerseits sowie indirekten Wirkungen anderseits unterschieden werden. Indirekte Wirkungen umfassen auf Kosten- und Nutzenseite externe Effekte einer Gesundheitsleistung (Graf von der Schulenburg et al. 1995). Zur Bewertung der Effizienz einer E-Health-Intervention wird in der Regel ein Vergleich zur besten Alternative durchgeführt. Dabei erfolgt eine Inkrementalanalyse, welche Kosten- und Nutzendifferenzen zwischen den Vergleichsszenarien errechnet und in Relation zueinander betrachtet (Drummond et al. 2005). Als Vergleichs- oder Referenzsystem wird dabei der Status quo, die Einführung einer anderen Technologie oder ein Szenario aus der Routinebehandlung herausgezogen. 816 J. Köberlein-Neu Die Analyse eines solchen inkrementellen Kosten-Nutzen-Verhältnisses (das heißt des Quotients aus Kosten- und Nutzendifferenz) kann aus verschiedenen Perspektiven heraus erfolgen, z. B. Leistungserbringer, Patienten, Gesellschaft oder GKV-Versichertengemeinschaft. Beachtet werden muss, dass die gewählte Perspektive vorgibt, welche Kosten- und Nutzenkomponenten in die Untersuchung einfließen und wie sie zu bewerten sind (vgl. Kapitel „Roadmap zur Entwicklung eines Evaluations-konzeptes“; z. B. Schöffski et al. 2011). Ferner spielt der Zeithorizont der Analyse eine wesentliche Rolle. Dieser sollte hinreichend lang gewählt werden, um alle relevanten Interventionseffekteund Kosten abbilden zu können (Drummond et al. 2005). Bei den Studien mit vergleichendem Charakter lassen sich, je nachdem wie die Effekte bzw. der Nutzen einer Intervention gemessen und bewertet werden, vier Formen unterscheiden: • Kosten-Minimierungs-Analyse, • Kosten-Effektivitäts-Analyse, • Kosten-Nutzwert-Analyse und • Kosten-Nutzen-Analyse im engeren Sinne. Als übergreifende Bezeichnung für die benannten Analyseformen wird auch der Begriff Kosten-Nutzen-Analyse „im weiteren Sinne“ verwendet. Kosten-Minimierungs-Analysen betrachten nur die Kostenunterschiede von Interventionen mit dem Ziel, die kostengünstigere Alternative zu ermitteln. Hierfür wird Effektäquivalenz zwischen den zu vergleichenden Interventionen angenommen. Mit der Kosten-Effektivitäts-Analyse wird untersucht, wie groß die Kosten sind, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die Effekte werden dabei in natürlichen, nichtmonetären Einheiten gemessen. Es lassen sich klinische Surrogatparameter (z. B. Senkung des Blutdrucks, vermiedene Medikationsfehler) oder patientenrelevante Outcomes berücksichtigen (z. B. gewonnene Lebensjahre). Wesentlich ist, dass das ausgewählte Effektmaß auf der Ergebnisebene angesiedelt ist. Darüber hinaus muss die Nutzenseite beider zu vergleichenden Interventionen in gleichen Einheiten gemessen werden. Die Kosten-Nutzwert-Analyse legt besonderes Gewicht auf die Qualität der gesundheitlichen Effekte einer Intervention und versucht damit, der Mehrdimensionalität des Gesundheitsbegriffs Rechnung zu tragen. In der Analyse werden auf der Nutzenseite verschiedene Wirkungen einer Maßnahme (z. B. Lebensverlängerung und Änderung des Gesundheitszustandes) durch Gewichtung aggregiert und in Nutzwerteinheiten zu überführen (Chernyak et al. 2011). Das am häufigsten verwendete Verfahren ist das QALYKonzept (Quality-Adjusted Life Years). Bei der Kosten-Nutzen-Analyse handelt es sich um die klassische Form der gesundheitsökonomischen Evaluation. Ihr Hauptmerkmal ist, dass neben den Kosten auch die Effekte einer Intervention in monetären Einheiten gemessen werden, z. B. ein Evaluationsmethoden 817 gewonnenes Lebensjahr wird monetär bewertet. Dabei können Kosten-Nutzen-Analysen mehrere Outcomes gleichzeitig berücksichtigen. Ein Unterschied zu allen anderen vergleichenden Studienformen besteht in der Bewertung von Maßnahmen. Während die übrigen beschriebenen Analysen Interventionen parallel bewerten und anschließend die Ergebnisse zueinander in Relation setzen, wird bei der Kosten-Nutzen-Analyse nur eine Bewertung durchgeführt. Der Nutzen der zu bewertenden Maßnahme entspricht dabei den Kosten der alternativen Behandlungsform, die durch den Einsatz vermieden werden können. Erfolgt nun ein Abgleich der beiden Seiten der „Bilanz“, resultiert dies entweder in einem Nettonutzen (Nutzen höher als Kosten) oder in einem Nettoverlust. Alternativ ist auch die Division der Kosten durch den Nutzen möglich. Im Falle eines Kosten-Nutzen-Verhältnisses kleiner eins, würde eine neue Intervention weniger Kosten produzieren, als dass sie Nutzen erzeugt. Wird der Quotient durch Division des Nutzens durch die Kosten gebildet, ist das Ergebnis entgegengesetzt zu interpretieren (Schöffski et al. 2011). Im Gegensatz zur Kosten-Effektivitäts- und Kosten-Nutzwert-Analyse ist die Kosten-Nutzen-Analyse damit geeignet, die Frage nach der Vorteilhaftigkeit einer Intervention unmittelbar zu beantworten, während erstgenannte Analysen lediglich eine Rangordnung der relativen Effizienz von sich gegenseitig ausschließenden Maßnahmen liefern, jedoch ohne eine Aussage darüber zu treffen, bis zu welchem Schwellenwert eine Intervention noch durchgeführt werden sollte (Chernyak et al. 2011). Besonders aus Sicht des Leistungserbringers liefert eine aus seiner Perspektive durchgeführte Kosten-Nutzen-Analyse wertvolle Informationen zum Einsatz von E-Health im Versorgungsalltag, in dem sie Aussagen darüber generiert, ob sich eine E-Health-Technologie betriebswirtschaftlich rentiert. Sie ermöglicht zu analysieren, wie sich das quantitative Verhältnis zwischen den positiven Effekten und vermiedenen Kosten sowie den Aufwendungen für die Realisierung einer E-Health-Anwendung gestaltet. Darüber hinaus können die Investitionskosten, der prozessuale Aufwand und die Ressourcenbindung transparent dargestellt werden. Gesundheitsökonomische Evaluationen werden typischerweise in randomisierte kontrollierte Studien als sogenannte „piggyback“-Studie integriert, um den Ressourcenverbrauch parallel zur Erhebung klinischer Outcomes erfassen zu können. Darüber hinaus bieten Beobachtungsstudien eine Basis für gesundheitsökonomische und betriebswirtschaftliche Analysen. Die fehlende Randomisierung und das damit verbundene BiasRisiko lassen hier jedoch methodische Herausforderungen entstehen. Eine weitere Form zur Durchführung gesundheitsökonomischer Analysen bieten Modellierungen. Da die Mehrzahl der Studien nur kurze Zeiträume überblickt und damit selten alle relevanten Kosten und Effekte einer Intervention (z. B. Vermeidung von Komplikationen durch verbesserte Versorgungsprozesse oder Mortalität) erfasst werden können, erlauben sie es, Studieneffekte über längere Zeitpunkte zu extrapolieren. Sie ermöglichen zudem die Berücksichtigung zukünftiger Systementwicklungen (über Schätzwerte) und Lerneffekte/-kurven. 818 J. Köberlein-Neu Literatur AHRQ (2009) Ageny for Healthcare Research and Quality: AHRQ Evaluation Toolkit. https:// healthit.ahrq.gov/health-it-tools-and-resources/health-it-evaluation-toolkit-and-evaluation-measures-quick-reference. Zugegriffen: 1. Okt. 2015 Ammenwerth E (2015) Evidence-based health informatics: how do we know what we know? Methods Inf Med 54(4):298–307 Bassi J, Lau F (2013) Measuring value for money: a review on economic evaluation of health information systems. Am Med Inform Assoc 20:792–801 Brettreich T, Philipp R, Friedenberger M, Kottmair S (2009) Informationstechnologien für kooperative Versorgungsformen. In: Hellmann W, Eble S (Hrsg) Gesundheitsnetzwerke initiieren, S 177–189 Catwell L, Sheikh A (2009) Evaluating eHealth interventions: the need for continuous systemic evaluation. PLoS Medicine 6:e1000126 Chernyak N, Icks A, Schrappe M (2011) Gesundheitsökonomische Methoden. In: Pfaff H, Neugebauer EAM, Glaeske G, Schrappe M (Hrsg) Lehrbuch Versorgungsforschung. Systematik – Methodik – Anwendung. Schattauer, Stuttgart Coiera E (2015) Guide to health informatics, 3. Aufl. CRC Press, Boca Raton Cusack CM, Byrne CM, Hook JM, McGowan J, Poon E, Zafar A (2009) Health Information Technology Evaluation Toolkit. 2009 Update. AHRQ Publication No. 09-0083-EF Drummond MF, Sculpher MJ, Torrance GW, O’Brien B, Stoddart GL (2005) Methods for the economic evaluation of health care programs. Oxford University Press, Oxford Ekeland AG, Bowes A, Flottorp S (2012) Methodologies for assessing telemedicine: a systematic review of reviews. Int J Med Inform 81:1–11 Gemert-Pijnen JEWC van, Nijland N, Limburg M van, Ossebaard HC, Kelders SM, Eysenbach G, Seydel ER (2011) A holistic framework to improve the uptake and impact of eHealth technologies. J Med Internet Res 13:e111 Graf von der Schulenburg JM, Uber A, Köhler M, Andersen HH, Henke KD, Laaser U, Allhoff PG (1995) Ökonomische Evaluation telemedizinscher Projekte und Anwendungen. Nomos, Baden-Baden Graf von der Schulenburg JM, Greiner W, Jost F, Klusen N, Kubin M, Leidl R et al (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation - dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. Gesundh ökon Qual manag 12(5):285–290 Icks A, Chernyak N, Bestehorn K, Brüggenjürgen B et al (2010) Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation in der Versorgungsforschung. Memorandum des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung. Gesundheitswesen 72:917–933 Lilford RJ, Foster J, Pringle M (2009) Evaluating eHealth: how to make evaluation more methodologically robust. PLoS Med 6:e1000186 Nykanen P, Brender J, Talmon J, de Keizer N, Rigby M, Beuscart-Zephir MC et al (2011) Guideline for Good Evaluation Practice in Health Informatics (GEP-HI). Int J Med Inform 80:815–827 Rigby M, Ammenwerth E, Beuscart-Zephir MC, Brender J, Hypponen H, Melia S et al (2013) Evidence based health informatics: 10 years of efforts to promote the principle. Joint Contribution of IMIA WG EVAL and EFMI WG EVAL. Yearb Med Inform 8:34–46 Sackett D, Rosenberg W, Gray J, Haynes R, Richardson S (1996) Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 312:71–72 Schöffski O, Graf v. d, Schulenburg JM (Hrsg) (2011) Gesundheitsökonomische Evaluationen, 4. Aufl. Springer, Berlin Evaluationsmethoden 819 Steyer G (2007) Deckt eHealth die komplette Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen ab? In: Schmücker P (Hrsg) KIS 2007 – Praxis der Informationsverarbeitung in Krankenhaus und Versorgungsnetzen, S 3–10 Über die Autorin Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und Juniorprofessorin für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie leitet die am BKG angesiedelte Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“ und übernahm 2014 den Vorstandsvorsitz des Bergischen Kompetenzzentrums für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer derzeitigen Tätigkeit liegt in der Entwicklung und Evaluation von Konzepten zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Kontakt: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de Solimed Pflegemanagement – EDVgestütztes Pflegemanagement in der integrierten Versorgung Mark Kuypers und Juliane Köberlein-Neu 1 Einleitung Aufgrund von demografischen Entwicklungen und damit einhergehender Multimorbidität ist eine multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung unerlässlich. Eine lückenlose Kommunikation aller am Pflegeprozess Beteiligten ist für eine adäquate Patientenversorgung Grundvoraussetzung (Lasker et al. 2001). Zäher Fluss im Datenaustausch und erschwerter Zugang zu benötigten Daten sind nach Graves et al. (2005) die Hauptursachen für Ineffektivität auf der Prozessebene in Versorgungsnetzwerken. Beides verlangsamt klinische Prozesse und verursacht Mehrarbeit. Weiterhin werden die meisten medizinischen Fehler durch fehlende Informationen bzw. durch mangelhafte Kommunikation verursacht und sind nur sehr selten auf Kompetenzen oder Motivation der behandelnden und pflegenden Professionen zurückzuführen (Graves et al. 2005). Es ist somit davon auszugehen, dass eine Verbesserung des Informationsaustausches die Effektivität in der gesundheitlichen Versorgung durch Senkung der Kosten einerseits und Reduzierung bzw. Vermeidung von Behandlungsfehlern andererseits steigert (Graves et al. 2005; Kohn et al. 2000). Die meisten technologischen Systeme, die zum Datenmanagement genutzt werden, genügen zwar derzeit den jeweiligen Anforderungen der einzelnen behandelnden und pflegenden Organisationen (z. B. Krankenhaus, Pathologie, Hausarzt etc.), entsprechen M. Kuypers (*)  solimed – Unternehmen Gesundheit, Solingen, Deutschland E-Mail: kuypers@solimed.de J. Köberlein-Neu  Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_44 821 822 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu jedoch nicht dem Bedarf der Kommunikation der einzelnen Partner in einem medizinischen Netzwerk untereinander (Mohamoud et al. 2009; Sellappans et al. 2013). Daraus ergeben sich laut Hagglund und Scandura (2007) folgende Konsequenzen: erhöhte Fragmentierung in der Pflege, erschwerte bis fehlende Koordination zwischen den involvierten Professionen und unnötige „Mehrarbeiten“. Unterbrechungen, Verzögerungen oder gar Lücken im Informationsaustausch wirken sich folglich negativ auf Sicherheit und Qualität der Patientenversorgung aus. Im Rahmen der Pflegeüberleitung, insbesondere bei Krankenhausentlassungen ist die Gefahr für Behandlungs- und Medikationsfehler sowie für Infektionen nach Georgiou et al. (2012) am höchsten und bedingt nicht selten Wiedereinweisungen ins Krankenhaus. Der größte Problembereich, der sich aus fehlender und mangelhafter Kommunikation ergibt, zeigt sich jedoch im Medikationsmanagement durch Mehrfachverschreibungen, Auslassen von Arzneimitteln, überdurchschnittlich hohen Einsatz von Beruhigungsmitteln, sowie fehlender oder unzulänglicher Medikationsüberprüfung (Georgiou et al. 2012; Sellappans et al. 2013; Reilly et al. 2013). Schätzungsweise 30 % der Krankenhauseinweisungen von Menschen ab 75 Jahren sind auf Medikationsfehler zurückzuführen (Runciman et al. 2003). Nach Georgiou et al. (2012) wären 75 % davon durch besseres Kommunikationsmanagement vermeidbar. Eine Studie der University of Calgary untersucht derzeit, ob ein vernetztes Kommunikationstool geeignet ist, Krankenhauswiedereinweisungen, Behandlungsfehler, Medikationsfehler und Todesfälle zu reduzieren. Besonderes Interesse gilt dabei der Schädigung der Patienten durch Medikationsfehler, Prozessfehler, Krankenhausinfektionen, Stürze, Therapiefehler und Diagnosefehler. Ergebnisse sind noch nicht bekannt bzw. veröffentlicht (Okoniewska et al. 2012). Neuenschwander et al. (2003) zeigten am Beispiel der Einführung eines Barcodesystems, dass durch die Nutzung von elektronischen Managementsystemen Arzneimittelschäden um 70 % reduziert werden können. Im Rahmen einer klinischen Studie der New Yorker Queens Hospital Group konnte durch die Einführung einer elektronischen Patientenakte eine Effizienzsteigerung von 23 % erreicht werden (Carr et al. 2003). Zudem konnte die Dauer von Spezialuntersuchungen erheblich verkürzt werden. Das aus unleserlicher Dokumentation entstehende Aufkommen von doppelter Arbeit konnte ebenfalls minimiert werden. Die wissenschaftliche Evidenz zur Entwicklung und Einführung von erfolgreichen Sektoren übergreifenden technologischen Kommunikationslösungen ist rar, lückenhaft und oftmals nicht sonderlich aussagekräftig im Hinblick auf die Auswirkungen auf Patientensicherheit und Versorgungsqualität (Goldzweig et al. 2009; Jimison et al. 2008). Dennoch lässt sich beobachten, dass die Implementierung vernetzter, professionsübergreifender Kommunikation immer mehr in den Fokus der Forschung rückt. Mit dem vom Land Nordrhein-Westfalen geförderten Projekt „solimed-Pflegemanagement – EDV gestütztes Pflegemanagement in der integrierten Versorgung“ soll vor dem dargestellten wissenschaftlichen Hintergrund in Deutschland eine Lösung für eine moderne digitale Kommunikation zwischen Pflegeeinrichtungen und medizinischen Einrichtungen aufgezeigt werden, die die Dokumentation vereinfacht und standardisiert sowie die fach- und Sektoren übergreifenden Behandlungsprozesse zwischen Pflegekräften und Ärzten qualitativ verbessert und optimiert. Die bereits vorhandenen internen Solimed Pflegemanagement … 823 Kommunikationssysteme der Einrichtungen dienen dabei als Basis für die Implementierung des neuen Kommunikationssystems und werden im Vorhaben schnittstellengerecht modifiziert. Das zu entwickelnde Kommunikationssystem wird aus einer Netzakte und einer Ad-hoc-Kommunikation über verschlüsselte E-Mails bestehen. Die Netzakte wiederum setzt sich aus einer elektronischen Patientenakte und einem elektronischen Pflegebericht zusammen. Erste Anstrengungen zur Entwicklung eines elektronischen Pflegeberichts wurden bereits 2006 innerhalb eines Versorgungsnetzwerkes in Osnabrück durch Giehoff und Hübner unternommen und werden als wichtige Grundlage für Weiterentwicklungen dienen (Schulte et al. 2013; Hübner und Flemming 2010; Giehoff und Hübner 2006). 2 Zielsetzung Ziel des Projektes war es, die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen nachhaltig zu verbessern und hierzu eine einfache, schnelle und sichere Kommunikation unter allen an der Pflege und medizinischen Versorgung beteiligten Berufsgruppen zu schaffen. Dazu wurden notwendige Informationen, technische Anforderungen an ein solches System und die wichtigsten Use Cases mit allen an der Versorgung beteiligten Professionen definiert. Auf dieser Grundlage wurde eine Kommunikationslösung als technisches Forschungssystem entwickelt, die ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen über einen interoperablen und sicheren elektronischen Datenaustausch flächig mit akutmedizinischen Versorgungseinrichtungen vernetzt. Diagnosen, Medikamente, Allergien oder Pflegedokumentationen werden über die Vernetzungssoftware comdoxx ausgetauscht. Die beteiligte Einrichtung dokumentiert dabei weiter in dem bereits existierenden Dokumentationssystem; Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes war kein weiteres paralleles EDV-System einzuführen. Im Mittelpunkt steht der Pflegeprozess an der Schnittstelle zwischen ambulanter bzw. stationärer Pflege und akutmedizinischer Versorgung. Die EDV-Vernetzung unter den niedergelassenen Ärzten von solimed – Unternehmen Gesundheit diente hierzu als Grundlage und soll durch die An- und Einbindung ambulanter sowie stationärer Pflegeeinrichtungen erweitert werden. Hintergrund ist, dass der bisherig noch rudimentäre Informationsaustausch zwischen den Sektoren dafür verantwortlich ist, dass vermeidbare pflegerische Risiken entstehen oder Krankheitszustände sich unnötig verschlechtern. Zwar existiert eine erste Strukturbeschreibung für einen exemplarischen ePflegebericht (Flemming 2010), der sich an den eArztbrief anlehnt. Hier hat man aber vor allem zeigen können, dass die vorhandenen technischen Standards (HL7) prinzipiell flexibel genug sind, die benötigten Datenfelder abzubilden und aus den lokalen Systemen zu befüllen sind. Wichtige Fragen, z. B. nach einer einheitlichen Klassifikation sind aber noch unbeantwortet. Auch ist unseres Erachtens weiterhin eine Diskussion erforderlich, inwiefern der ePflegebericht gegebenenfalls an spezielle Pflegebereiche, wie die Wundversorgung oder Demenz anzupassen 824 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu ist (Hübner 2010). Akzeptanz und Relevanz sowie die organisatorischen Implikationen dieses Schemas sind aufgrund fehlender Praxis noch völlig unbekannt. Industrielle Forschungsarbeit als lokale, mit dem Ziel der Übertragbarkeit und als praxisorientierter Lösungsansatz verstandene Aktivitäten ist daher dringend erforderlich, wenn man die Pflegequalität verbessern will. Da für die Entwicklung und Implementierung eines ePflegeberichtes als Prozessinnovation zumindest in Deutschland keine Vorbilder existieren, ist es hier die wesentliche Aufgabe durch industrielle Forschung, die Grundlagen für dessen gelungene Implementierung zu schaffen. Darauf aufbauend kann dann nach dem Projekt eine finale Produktentwicklung stattfinden, wobei das Ergebnis des Projektes prinzipiell offen ist: Durch die Besonderheiten des pflegerischen Kontextes ergeben sich überdurchschnittliche Risiken für den Projekterfolg. Eine aufschlussreiche Studie hierzu stammt von Mania 2008. In seiner Untersuchung am Beispiel von drei Kölner Krankenhäusern ermittelt er zunächst, dass der Umgang mit Informationstechnik bei über 80 % der Pflegekräfte nicht Bestandteil der Ausbildung gewesen ist. Über zwei Drittel aller Pflegekräfte stufen den Anteil der Informationstechnik in ihrem beruflichen Alltag als eher hoch bis sehr hoch ein. Dies steht dem Autor zufolge tendenziell im Widerspruch zur tatsächlichen Verbreitung der Pflegesysteme. Diese stehen in Deutschland noch am Anfang. Somit kann aus den Zahlen dieser Studie plausibel gefolgert werden, dass aufgrund fehlender Kenntnisse und Vertrautheit im Umgang mit Software schon die eher geringe Nutzung von IT-Systemen von den Pflegekräften als zu hoch empfunden wird. Den belastenden Faktor für die Pflegekräfte kann man auch daran ablesen, dass überwiegend mehr Fortbildung zu diesen Technologien gewünscht wird. Dass überdies die Nutzerorientierung konkrete Bedeutung hat, beweist die Feststellung, dass 82 % der befragten Pflegekräfte sich eine Vereinfachung von mobilen Systemen erwarten. Ferner belegen andere Studien, dass das Selbstverständnis der Pflegekräfte als Angehörige der helfenden Berufe prinzipiell eher zur Distanz gegenüber Technologien führt, da man vor allem eine Störung der Beziehung zum Pflegenden und eine Entfremdung von den „eigentlichen“ Tätigkeiten der Pflege befürchtet. 3 Projektverlauf 3.1 Projektbeteiligte Bei dem vom Land Nordrhein-Westfalen und der Europäischen Union geförderten Projekt „solimed-Pflegemanagement – EDV-gestütztes Pflegemanagement in der integrierten Versorgung“ handelt es sich um ein regionales Projekt im Bergischen Land, an dem die nachfolgend genannten Projektpartner mitwirken. a) solimed – Unternehmen Gesundheit GmbH & Co. KG solimed – Unternehmen Gesundheit ist ein Netzwerk in Solingen, das sich aus derzeit 70 Haus- und Fachärzte und den drei Kliniken St. Lukas Klinik, Städtischen Klinikum Solimed Pflegemanagement … 825 Solingen sowie dem Klinikum Bethanien zusammensetzt. Seit 2008 sind die Haus- und Fachärzte sowie die drei Krankenhäuser elektronisch vernetzt und führen für ca. 25.000 eingeschriebene Patienten eine dezentrale elektronische Patientenakte. b) Ev. Altencentrum Cronenberger Straße Das Evangelische Altencentrum Cronenberger Straße ist eine Einrichtung der stationären Pflege, in der 123 Bewohner betreut werden. 152 Mitarbeiter gewährleisten hier die pflegerischen Leistungen und versorgen zusätzlich 23 Personen des Patientenkreises mit Demenzerkrankungen separat in drei Hausgemeinschaften. Das verwendete Pflegeinformationssystem heißt ACS Arendt. c) Bethanien mobil Bethanien mobil gehört zum Diakonischem Werk Bethanien e. V. und ist eine Einrichtung der ambulanten Pflege. 77 Mitarbeiter werden beschäftigt und leisten u. a. Palliativpflege. Die Einrichtung ist mit allen pflegerischen Aufgabenstellungen vertraut und arbeitet mit ausgereiften und anerkannten Pflegekonzepten. Der Pflegedienst ist mit dem Pflegedokumentationssystem APS ausgestattet. d) Bethanien – Haus Ahorn und Vollstationäre Heimbeatmung Das Haus Ahorn, ebenfalls dem Diakonischen Werk e. V. angegliedert, ist eine stationäre Pflegeeinrichtung mit 124 Mitarbeitern. Hier werden 116 Bewohner betreut. Acht Plätze dieser Einrichtung werden der Kurzzeitpflege zugesprochen. Innerhalb der Einrichtung Haus Ahorn ist die vollstationäre Heimbeatmung integriert, eine spezifische Ausrichtung des Hauses mit über 31 Betten für beatmungspflichtige Bewohner. Als Pflegeinformationssystem wird HVP der Firma DM EDV genutzt. e) Klinik Bethanien Die Klinik Bethanien leistet als Klinik für Pneumologie und Allergologie und Zentrum für Schlaf- und Beatmungsdiagnostik mit insgesamt 203 Mitarbeitern, davon 111 Mitarbeiter in der Pflege, medizinische und pflegerische Tätigkeiten an jährlich mehr als 4600 Patienten. Die Klinik verfügt über ein Krankenhausinformationssystem. In der Pflege wird darüber hinaus das System VISIS eingesetzt. f) Altenheim St. Joseph Das Altenheim St. Joseph zählt zu den Einrichtungen der stationären Pflegebetreuung. 140 Mitarbeiter betreuen hier 134 Bewohner. Zusätzlich werden 21 Patienten mit Erkrankungen der Multiplen Sklerose oder ähnlichen Erkrankungen versorgt, weitere acht Plätze werden für Patienten in der Langzeitschwerstpflege (Wachkomapatienten) bereitgehalten und weiterhin elf Kurzzeitpflegeplätze stehen zur Verfügung. Die Einrichtung nutzt das Pflegeinformationssystem der Fa. DAN, dieses wurde während der Projektlaufzeit eingeführt. 826 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu g) St. Lukas Klinik Die St. Lukas Klinik versorgt mit 729 Mitarbeitern Patienten im Leistungsspektrum der inneren Medizin, Neurologie mit Schlaganfallzentrum Kplus Stroke Unit Solingen, Geriatrie mit geriatrischer Tagesklinik, Chirurgie, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie sowie der Radiologie in 345 Betten. Jährlich werden 10.600 stationäre und 17.900 ambulante Patienten behandelt. Die St. Lukas Klinik verfügt über ein Krankenhausinformationssystem, die Pflegemodule sind in diesem System integriert. h) Medicus Pflegeteam Das Medicus Pflegeteam leistet in der ambulanten Versorgung mit 38 Mitarbeitern die pflegerische Betreuung in Abstimmung mit den niedergelassenen Ärzten sowie mit den Krankenhäusern. Der Pflegedienst ist mit einem Pflegedokumentationssystem ausgestattet. i) Bergische Universität Wuppertal (Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG)) Am BKG entstand im Mai 2010 unter der Leitung von Juliane Köberlein-Neu die Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“. Diese setzt sich derzeit aus Wissenschaftlern der Bereiche Arbeits- und Organisationspsychologie, Versorgungsmanagement, Gesundheitsökonomie sowie Gesundheit und Bildung zusammen. Der Forschungsbereich befasst sich mit den Strukturen, der Organisation sowie der Funktionsweise von Versorgungssystemen. Ein wesentlicher Schwerpunkt des Bereichs liegt in der Umsetzung international sowie national erlangter wissenschaftlicher Erkenntnisse in regional tragfähige Versorgungsstrukturen. j) Barmer GEK Die Kranken- und Pflegekasse Barmer GEK ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit aktuell ca. 19.000 Mitarbeiten. Als größte Krankenkasse Deutschlands vertrauen mittlerweile über 8,6 Mio Versicherte auf den Gesundheitsschutz der Barmer GEK. Die Barmer GEK sichert nicht nur die finanziellen Folgen von Krankheit und Pflege ab, sondern gestaltet Gesundheit mittels Versorgungsmanagement und gezielten Verträgen mit Leistungserbringern aktiv mit. Dies wird gemeinsam mit solimed – Unternehmen Gesundheit GmbH & Co. KG bereits seit 2009 im Zuge eines IV-Vertrags nach § 140 ff. SGB V in Solingen umgesetzt und bieten somit die idealen Voraussetzungen für eine bestmögliche Kranken- und Pflegeversorgung. Hinzu kamen als assoziierten Partner*innen die Krankenkasse AOK Rheinland/Hamburg und das Städtische Klinikum Solingen. Während der fast dreijährigen Projektlaufzeit wurden die Projektpartner und deren Fachkräfte in unterschiedlicher Weise in das Projektgeschehen eingebunden. Insgesamt wurden durch Workshops, Arbeitsgruppen, verschiedene Mitarbeiterbefragungen zu Solimed Pflegemanagement … 827 Inhalten und Anwendungen des Kommunikationssystems, qualitative Interviews in den Einrichtungen, die prozessbegleitende Meldung von Kommunikationsprobleme an den Schnittstellen und der Testphase des entwickelten Systems rund 500 Mitarbeiter in den Einrichtungen und Praxen an der Projektdurchführung beteiligt. 3.2 Herangehensweise Für das Pilotprojekt wurde ein Arbeitsprogramm mit detaillierten Arbeitsschritten erstellt. Innerhalb der verschiedenen Arbeits- und Teilarbeitspakete gab es diverse Kontaktpunkte und partnerübergreifende Aufgabenstellungen, entsprechend den in den Arbeitspaketen definierten Prozessen und Prozessverantwortlichkeiten. Angesichts der Komplexität des Projektes war eine zentrale Projektkoordination notwendig. Diese wurde parallel zur bestehenden Gesamtverantwortung für das Netzwerk von solimed – Unternehmen Gesundheit geleistet (Abb. 1). Die Leistungserbringer (Praxen, Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienste, Krankenhäuser) legten für das technische Forschungssystem zunächst die Anforderungen fest – die sogenannten Use Cases, also die wesentlichen Anwendungsszenarien in der Pflege und weitere Anforderungen an die Funktionalitäten und Bedienbarkeit. Das zu entwickelnde Forschungssystem sollte im zweiten Schritt dazu dienen, im Testbetrieb, weitere Anforderungen an die Lösung zu erheben. Das Forschungssystem selbst wurde als Auftragsarbeit vergeben. Abb. 1  Schematische Darstellung des Projektverlaufs solimed Pflegemanagement 828 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Die Universität Wuppertal übernahm als wissenschaftliche Partnerin die Rolle, das Forschungssystem zunächst formativ zu evaluieren. Summative Bewertungen nach Übertragung des Testsystems in die Anwendungspraxis sind vorgesehen. 4 Vorgehen bei der formativen Evaluation Die formative Evaluation gliederte sich in Ergänzung zu den üblichen Prüfungen auf Interoperabilität in vier Teilbereiche: 1. Erhebung der Anforderungen und Nutzendimensionen zur Unterstützung einer nutzerorientierten Entwicklung des Kommunikationssystems. 2. Anwenderbefragung zur Erfassung der Zufriedenheit. 3. Qualitative Interviews zum Erleben der Projektsituation und der Kommunikationslösung. 4. Projektbegleitende Bewertung der Schnittstellenkommunikation und Unterstützung kollaborativer Lernprozesse. 4.1 Erhebung der Anforderungen und Nutzendimensionen Die Befragung zielte auf die Erhebung von Anforderungen ab, welche die späteren Anwender der Kommunikationslösung an das System stellen. Dieser nutzerorientierte Ansatz bedingt zum einen die Befragung möglichst vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Netzwerkes im Rahmen einer Vollerhebung, welche idealerweise eine Responserate von ca. 80 % aufweist. Zum anderen musste eine Methode gefunden werden, welche eine Konsensbildung unabhängig bestehender hierarchischer Strukturen ermöglicht. Zur Bildung eines Konsenses besonders in heterogenen Gruppen ist die DelphiMethode das Design der ersten Wahl. Besonders im Gesundheitswesen eignet sich diese Vorgehensweise, da der Einfluss von Meinungsführern neutralisiert werden kann (Häder 2009). Ein wichtiges Prinzip der Delphi- Methode ist die Anonymität der Teilnehmer. Diese Anonymität hat gegenüber nicht-anonymen Gruppenverfahren den Vorteil, dass sowohl Meinungsäußerungen als auch die Entscheidungsfindung nicht durch Statusunterschiede oder gruppendynamische Faktoren beeinflusst werden (Linstone und Turoff 1975; Häder 2009). In Delphi-Studien wird mit schriftlichen Befragungen gearbeitet, die in der Regel eine Kombination von offenen und geschlossenen Fragen enthalten, und sich im Verlauf der Untersuchung aufgrund der Resultate vorangegangenen Befragungswellen verändern (Ludwig 1997). In einer ersten Befragungsrunde können offenen Fragen gestellt, deren Antworten dann mit inhaltsanalytischen Techniken zu Items zusammengefasst und in den Fragebogen der zweiten Runde integriert werden. Diese Frageeinheiten werden von den TeilnehmerInnen auf ihre Relevanz hin eingeschätzt. Häufig kommen hierbei Solimed Pflegemanagement … 829 Likert-Skalen zur Anwendung. Diese Likert-Einschätzungen werden mit beschreibender Statistik zusammengefasst (Mittelwert, Median, Standardabweichung, Interquartilabstände etc.) (Häder 2009). Ebenso können in allen Delphi-Runden strukturierte Fragebögen zum Einsatz kommen. Der initiale Fragebogen wird hierbei anhand von Literaturrecherchen, Befragung von Schlüsselpersonen und Pretests mit Experten konstruiert. (Burns und Grove 1993; Groen und Van der Bruggen 1996; Häder 2009). Das im Rahmen des Vorhabens eingesetzte Delphi-Verfahren griff auf die letztbeschriebene Methodik zurück. Bei den zu ermittelnden Systemanforderungen wurde unterschieden zwischen • organisatorischen Anforderungen, • fachlichen Anforderungen und • Nutzungsanforderungen. Organisatorische Anforderungen der Nutzer und Nutzerinnen galten als diejenigen, die dazu dienen, den Arbeitsprozess zu gewährleisten und bestenfalls zu erleichtern. Zu nennen wäre beispielsweise einheitliches, detailliertes und vollständiges Festhalten von Informationen in einem leicht zu folgenden Arbeitsdokument. Da es sich bei solimed um ein Versorgungsnetzwerk handelt, in dem unterschiedliche Professionen, wie Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, ambulante und stationäre Pflegedienste organisiert kommunizieren müssen, sollten die Anforderungen an das zu entwickelnde System auch fachspezifisch beleuchtet und umgesetzt werden. Haus- oder Fachärzte benötigen keine umfänglichen Informationen über die Pflegeplanung wie etwa Darreichungsform von Medikamenten oder Einzelheiten der Behandlungspflege, während diese Daten jedoch elementar für Krankenhäuser, stationäre und ambulante Pflege sind. Die Nutzung des elektronischen Kommunikationssystems muss zudem in den Arbeitsalltag integriert werden. Sie sollte keine neue Gefahrenquelle für Behandlungsfehler darstellen und keinen zusätzlichen Zeitaufwand bedeuten. Daher müssen die Bedürfnisse der Anwender und Anwenderinnen zur Benutzung des Softwaretools bezüglich Eingabemöglichkeiten, Zugang, Datenschutz etc. festgestellt und weitestgehend erfüllt werden. Entwicklung der Delphi-Inhalte Zur Vorbereitung der Untersuchung wurde eine ausführliche Literaturrecherche zu den Anforderungen an die Kommunikation in Netzwerken im Gesundheitswesen durchgeführt. Ergänzt wurde die Literaturarbeit durch mehrere qualitative Workshops im Haus Bethanien, um eine Palette differenzierter Basisaussagen zu gewinnen, die zur Operationalisierung häufig auftretender Problemstellungen und Handlungsfelder dienen sollten. Die TeilnehmerInnen setzten sich aus VertreterInnen der Gruppen: Hausärzte, Fachärzte, Tagespflege, ambulante Dienste, Krankenhäuser, Altenheime und Pflegeheime zusammen. Die ersten Workshops thematisierten die allgemeinen Anforderungen der Pflegenden, Ärzte und weiteren Mitarbeiterinnen des solimed-Netzes an die Kommunikation. 830 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Anknüpfend wurden in weiteren Workshops mit den gleichen Beteiligten die Anforderungen an die EDV bzw. das Kommunikationstool erarbeitet. Um den allgemeinen Pflegebedarf im ambulanten und stationären Pflegealltag für ein elektronisches Netzwerk zusammenzutragen, war eine nähere Betrachtung der Schnittstellen einzelner medizinischer Dienstleister im betrachteten Setting notwendig. Anfallende Tätigkeiten und daraus resultierende Prozesse zwischen den Dienstleistern mussten beschrieben werden. In diesem Zusammenhang wurden Anwendungskontexte vonseiten der wissenschaftlichen Begleitung formuliert und in einem Exposé den beteiligten Projektpartnern als Grundlage für eine differenzierte, praxisorientierte Weiterbearbeitung in Kleingruppen und zur Entwicklung von Use Cases zur Verfügung gestellt. Folgende Anwendungskontexte sind zusammengefasst worden: • Medikationsmanagement: In diesem Zusammenhang wurden die Medikationsdokumentation, Verordnungskommunikation und die Verordnungsorganisation als Use Cases definiert. Eine Schnittstellenkommunikation muss hier gewährleisten, dass die notwendigen Arzneimittel in Art, Form und Dosierung ebenso wie in der Dringlichkeit der Verordnung und Zugriffsmöglichkeiten auf die gefragten Arzneimittel für die behandelnden und pflegenden Personen möglich sind. Eine Fehlmedikation, Mehrfachverschreibungen und drohende Folgen daraus sind damit vermeidbar. • Im Wundmanagement wurden beispielhaft die Use Cases Wunddokumentation, Wundpflege und Dokumentation allgemeiner und lokaler Störfaktoren verzeichnet. Die Behandlung akuter und chronischer Wunden beinhaltet in diesen Use Cases die Dokumentation des aktuellen Status der Wunde, Heilungsfortschritte und Infektionsereignisse. Des Weiteren in der Pflege die Versorgung und Reinigung von Wunden und weiterhin in der Dokumentation der Störfaktoren Ereignisse und Begebenheiten im allgemeinen körperlichen Zustand der Patientin oder des Patienten und im unmittelbaren Wundumfeld (Infektionen, Keimbesiedlung). Jedes vermiedene negative Ereignis und die erfolgreiche Wundheilung beschreibt eine gelungene Kommunikation in diesem Feld. • Im Anwendungskontext Prophylaxemanagement wurden die Use Cases Dekubitusprophylaxe, Thromboseprophylaxe, Infektionsprophylaxe und Sturzprophylaxe verankert. Wie bereits einleitend beschrieben, geht aus der Literatur hervor (Okoniewska et al. 2012), dass solche Patientenschäden durch eine adäquate und strukturierte Kommunikation vermieden werden können. Die Einhaltung aller Maßnahmen der jeweiligen Prophylaxe steigert die Patientensicherheit. • Das Pflegemanagement versteht sich als ein beispielhafter Kommunikationsschnittpunkt in der vorgesehenen Software, um die Prozesse von Nutrition, Körperpflege, Mobilisation und Lagerung als Use Cases einzurichten. Das heißt, die betreffenden Schnittstellen müssen kommunizieren, in welchem Zustand die Verrichtungen des alltäglichen Lebens, die in diesen Use Cases widergespiegelt werden, selbstständig ausführen kann und inwiefern unterstützende Maßnahmen durch pflegende Einrichtungen notwendig werden. Die einzelnen Use Cases beschreiben in diesem Beispiel Solimed Pflegemanagement … 831 detailliert, inwiefern die Patientin oder der Patient selbstständig zum Wasserglas greift oder dazu angehalten werden muss, ob und wie er seine Körperpflege durchführt, wie und wohin die Mobilisation durchgeführt werden muss. Der Pflegezustand der Patientin oder des Patienten und die Vermeidung von Lagerungs- sowie Mobilisationsversäumnissen vermitteln z. B. eine gelungene Kommunikation und Ausführung dieser Use Cases. • Das Behandlungsmanagement zielte auf die Use Cases leitliniengerechte Therapiefortführung, Behandlungsdokumentation, Terminverwaltung der Therapie, Transportorganisation und Therapie unterstützende Pflege ab. Die Patientin oder der Patient soll durch eine gewissenhafte Dokumentation und Kommunikation der Behandlungsstrategie eine organisierte Therapie erhalten, die in Folge in der Verbesserung des Krankheitszustandes und Vermeidung von Rezidiven mündet. Das gewonnene Material aus allen Sitzungen war der Ausgangspunkt für die Erstellung des standardisierten Delphi-Fragebogens. Zur Überprüfung der entwickelten Fragebögen wurden Pretests durchgeführt. TeilnehmerInnen besagter Pretests waren die MitarbeiterInnen der Einrichtung Bethanien, da sich unter dem Dach des Hauses alle am gesamten Projekt beteiligten Professionen befinden und Bethanien somit das gesamte Netzwerk solimed repräsentiert. Die Pretests sollten ermitteln, ob: • die Fragen verständlich sind, • der/die Befragte Probleme bei der Beantwortung/Einschätzung der Items hat, • das Interesse und die Aufmerksamkeit des Befragten bei den einzelnen Fragen ausreichend sind, • ein gewisses Wohlbefinden des Befragten bei der Beantwortung der Fragen vorhanden ist, • eine ausreichende Häufigkeitsverteilung der Antworten auftritt, • technische Probleme mit den Fragebögen existieren. Sind die Bögen so verfasst, dass die Teilnehmerinnen alle darin enthaltenen Anweisungen richtig verstehen? • die Zeitdauer der Befragungen und damit die Länge des Fragebogens für die TeilnehmerInnen zumutbar sind. Ablauf der Delphi-Befragung Es erfolgten zwei Befragungsdurchgänge. Vor Beginn der ersten Delphi-Runde wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die recherchierte Originalliteratur und deren zusammengefasste Ergebnisse sowie die Resultate der qualitativen Workshops zur Verfügung gestellt. Der Fragebogen enthielt 87 Items, die sich auf Netzwerkkommunikation und dessen Inhalte bzw. auf den elektronischen Pflegebericht beziehen, welche von den TeilnehmerInnen mithilfe einer fünfstufigen Likert-Skala eingeschätzt oder die mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden sollen. Die Befragung erstreckte sich über die Gebiete: organisatorische Anforderungen, fachliche Anforderungen und Nutzungsanforderungen. Zur schriftlichen Beantwortung der Fragen erhielten die TeilnehmerInnen 10–14 Tage Zeit. 832 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Nach Auswertung der Ergebnisse der ersten Befragungsrunde wurde der bestehende Fragebogen modifiziert. Die Anmerkungen, Ideen und Ergänzungen wurden berücksichtigt und eingearbeitet. Die Fragen, in denen bereits nach Runde eins allgemeiner Konsens bestand, wurden nicht noch einmal gestellt. Die Ergebnisse der ersten Befragung wurden zuzüglich des Mittelwertes dargestellt und als Feedback in den zweiten Fragebogen integriert. Zusätzlich wurden alle Anmerkungen, Ideen und Ergänzungen anonymisiert aufgeführt. Nach Auswertung der zweiten Befragungsrunde wurden die Ergebnisse beider Untersuchungen zusammengeführt und den Projektteilnehmern als Feedback und der Kommunikationstoolentwicklung als Entwicklungsrichtlinien zur Verfügung gestellt. Subgruppenanalyse Subgruppenanalysen wurden vorgenommen, um festzustellen, ob innerhalb kleinerer Personengruppen Abweichungen in der Beantwortung vorliegen. Es wurde überprüft, ob kleinere Gruppen die Gesamtbefragung beeinflussen und wie stark der Einfluss dieser Gruppen war. Zur Analyse von Subgruppen sind genderspezifische Betrachtungen und eine Differenzierung nach Tätigkeitsbereichen herangezogen worden. Diese Angaben waren in den meisten Fällen enthalten. 4.2 AnwenderInnenzufriedenheitsbefragung Die Anwendung der Kommunikationslösung sowie der Schnittstellenkommunikation muss regelmäßig evaluiert werden, um permanente Systemverbesserungen zu gewährleisten und eine Nutzenkurve im Verlauf des Projektes darstellen zu können. Der Erfolg des IT-Systems kann nach Ammenwerth und Denz (2003) als multidimensionales Konstrukt angesehen werden. Die bedeutendste Komponente ist der Humanfaktor, also die Anwenderinnen und Anwender des Systems. Zur Systembewertung kann die Mensch-Computer-Interaktion untersucht werden, wozu auch die Reaktion der Anwenderinnen und Anwender auf das System zählt. Nach Boy et al. (2000) setzt sich die Zufriedenheit der AnwenderInnen mit einem EDV-System aus systemabhängigen und systemunabhängigen Faktoren zusammen. Die systemabhängigen Faktoren sind: Zufriedenheit mit dem Inhalt, Zufriedenheit mit den Schnittstellen und Zufriedenheit mit der Organisation. Als systemunabhängige Faktoren definiert Boy et al. (2000) individuelle Faktoren, wie etwa die grundsätzliche Haltung gegenüber EDV oder frühere Erfahrungen. Aus diesem Modell resultiert, dass sich die AnwenderInnenzufriedenheit als Indikator definieren lässt, welcher anzeigt, inwieweit ein EDV-System den Arbeitsprozess der AnwenderInnen unterstützt. Ist diese Unterstützung des Prozesses ein Ziel des Informationssystems, dann stellt die AnwenderInnenzufriedenheit eine Variable des Systemerfolgs dar (Boy et al. 2000). Mithilfe schriftlicher Befragungen wurden AnwenderInnenzufriedenheit, Praktikabilität und Akzeptanz der Anwenderinnen und Anwender im gesamten Netzwerk solimed ermittelt. Um die Entwicklung der Untersuchungsparameter im Zeitverlauf beurteilen Solimed Pflegemanagement … 833 und gegebenenfalls die Funktionen des Systems modifizieren zu können, wurden mehrere regelmäßige Messzeitpunkte festgesetzt: • Die erste Befragung sollte unmittelbar vor Einführung des neuen Kommunikationstools stattfinden, das heißt, die AnwenderInnen nutzen noch ihr altes System, bzw. noch gar kein elektronisches Pflegedokumentationssystem. • Drei weitere Befragungen sollten in Dreimonatszyklen nach Implementierung des Systems und der gemeinschaftlichen Nutzung des ePflegeberichts des gesamten Netzwerkes solimed erfolgen. Durch die lückenhafte Einführung des Systems in den Einrichtungen und fehlende Funktionalität bis zum Ende der Projektlaufzeit, konnten die geplanten drei Befragungen nicht vorgenommen werden. Um trotzdem Hinweise auf die Anwenderperspektive nach Einführung der Kommunikationslösung zu erhalten, wurden alternativ qualitative Interviews mit Projektteilnehmern durchgeführt, welche in der Projektlaufzeit mit der EDV-Vernetzung arbeiten konnten. Die Methodik zur Durchführung der Interviews wird in einem separaten Kapitel beschrieben. Die Fragebögen der ersten Befragungsrunde wurden durch die ausfüllenden MitarbeiterInnen selbst anonymisiert. Jeder Bogen wurde mit einer alphanumerischen Kennung anstatt eines Namens versehen. Diese Kennung bestand aus dem Geburtsmonat und -jahr der MitarbeiterInnen, den beiden Anfangsbuchstaben des Vornamens des Vaters und dem Geburtsmonat sowie -jahr der Mutter. Der Identifikationsschlüssel dient ausschließlich zur eindeutigen Zuordnung von Fragebögen über mehrere Erhebungswellen und könnte jederzeit bei weiteren Befragungen von den Teilnehmern reproduziert werden. Zur Motivationssteigerung wurden die Fragebögen möglichst kurz gehalten. Die Fragebögen setzten sich aus selbst entwickelten Items und aus Inhalten anderer validierter Studien zur Messung von Anwenderzufriedenheit (vgl. Baroudi und Orlikowski 1987; Ives et al. 1983; Chin et al. 1988) zusammen. Der Fragebogen aus der ersten Befragung unterschied sich im Inhalt etwas von den folgenden, die identisch sind. Der unterschiedliche Aufbau des ersten Bogens lässt sich damit begründen, dass die Bögen je nach situativem Kontext (das heißt Zeitpunkt vor oder nach Implementierung des Forschungssystems) umformuliert werden, um logisch zu bleiben. Es ist z. B. nicht zielführend, die AnwenderInnen vor Implementierung zu ihren Erfahrungen mit dem neuen EDV-Modul/zum elektronischen Pflegebericht zu befragen bzw. nach Implementierung zu Zeitläufen und Nutzung im Altsystem. Aus diesen Gründen wurden im ersten Bogen persönliche Einstellungen, Einschätzungen und Erfahrungen zum Altsystem und in den folgenden Erhebungen nach persönlichen Einstellungen, Einschätzungen und Erfahrungen mit dem neuen EDV-Tool gefragt. Zur Validierung der entwickelten Fragebögen wurde im Vorfeld ein Pretest durchgeführt. Die Fragebögen bilden die systemabhängigen Faktoren: Zufriedenheit mit Inhalt, Schnittstellen und mit der Organisation, sowie die systemunabhängigen, individuellen Faktoren, wie etwa die grundsätzliche Haltung gegenüber EDV oder frühere 834 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Erfahrungen, ab. Des Weiteren wurden u. a. folgende Angaben zur Person erhoben: Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Dauer der Einrichtungszugehörigkeit und Einrichtung. In der ersten Befragung wurden einmalig die EDV-Vorkenntnisse erhoben. Ausschließlich mit dem ersten Fragebogen erfolgte zudem eine Beurteilung der Einstellungen gegenüber der Nutzung von EDV im Allgemeinen. Als Follow-up-Befragung war die Erhebung von Einschätzungen bzw. Erfahrungen zum Computersystem und zur Schnittstellenkommunikation, der Zeitaufwand, die Systemantwortzeiten, Benutzungshäufigkeiten sowie die Abfrage der Zufriedenheit mit einzelnen Arbeitsschritten, Inhalten, Funktionsweisen und der Kommunikation vorgesehen. Auswertung Für die mit der Likert-Abstufung beantworteten Fragen wurden die prozentuale Verteilung der Antworten, der Median, der Mittelwert und die Standardabweichung berechnet. Weiterhin wurden verschiedene Subgruppen im Hinblick auf signifikante Unterschiede in der Beantwortung der Fragen miteinander verglichen, z. B. Männer vs. Frauen, niedergelassene Hausärzte/Fachärzte vs. Fachärzte im Krankenhaus, stationäre Pflegekräfte vs. Pflegekräfte aus der ambulanten Pflege, Ärzte vs. Pflegende. Mit der Untersuchung der Subgruppenunterschiede wurde die Homogenität des Panels geprüft bzw. untersucht, ob die Ergebnisse verallgemeinert werden können. Zur statistischen Ermittlung von Subgruppenunterschieden wurden die bereinigten und auf Plausibilität geprüften Daten mit den dem jeweiligen Skalenniveau der Variablen entsprechenden statistischen Tests auf signifikante Gruppenunterschieden hin untersucht (Fünf-Prozent-Niveau, zweiseitig). Als nicht gültig wurden diejenigen Antworten gewertet, bei denen • „nicht zutreffend“ angekreuzt wurde oder • die angekreuzte Skalenposition nicht eindeutig war. Mögliche Verzerrungen wurden kontrolliert, indem • die Mittelwerte aus den verschiedenen Einrichtungen mittels eines zweiseitigen Kruskal-Wallis-Tests, • die Mittelwerte der verschiedenen Tätigkeitsbereiche (Pflege/MTA, Ärzte etc.) mittels eines zweiseitigen Kruskal-Wallis-Tests und • die Mittelwerte weiblicher und männlicher Anwender mittels eines zweiseitigen Mann-Whitney-U-Tests miteinander verglichen wurden. Zudem wurde der Korrelationskoeffizient nach Spearman benutzt, um festzustellen, ob die Zufriedenheit mit der Geschwindigkeit des Systems einen wesentlichen Einfluss auf die Zufriedenheitswerte der Faktoren Systeminhalt, Systemkenntnisse und Einbeziehung des Benutzers hat. Solimed Pflegemanagement … 835 4.3 Qualitative Interviews zum Kommunikationserleben der Anwender Das qualitative Interview ist ein Instrument, das vor allem in der empirischen Sozialforschung Anwendung findet. Hierbei wird anstelle von quantitativen Daten auf induktive, subjektiv interpretierte Erhebungen zurückgegriffen (Atteslander 2000). Die Methode ist im Besonderen für eine tiefgründige Betrachtung weniger Fälle geeignet, da sie sowohl eine aktuelle Bestandsaufnahme, als auch vergangene, erlebte Umstände sowie potenzielle, zukünftige Situationen erlaubt. Durch die freie Antwortmöglichkeit in der Interviewsituation werden neben spezifisch formulierten Fragen auch Randinformationen gesammelt, die der Interviewte aus seinen Erfahrungen wiedergeben kann. Da im Vorhaben die Fortschritte der Systemeinführung in den unterschiedlichen Einrichtungen stark voneinander variierten und nur wenige Personen innerhalb der Projektlaufzeit die Kommunikationslösung in der PatientInnenversorgung nutzten, ersetzte das qualitative Interview zunächst die nach Systemeinführung geplanten Anwenderbefragungen. So konnten auf Einzelinterviewebene das Kommunikationserleben in Anlehnung an die in der medizinischen Literatur gebräuchlichen Fallstudien herausgearbeitet werden. Das Interview wurde als leitfadengestütztes, teilstandardisiertes Interview mit meist offenen und wenigen geschlossenen Fragen (Bewertung mittels Skala) durchgeführt. Der Interviewleitfaden beinhaltete 24 Items, davon sieben mit Skalenbewertung und der Rest mit offenem Beantwortungsstil. Im Einführungsteil des Interviews wurde dem Interviewten ein kurzer Überblick zum Evaluationsstand des Projektes gegeben. Weiterhin wurde die Methode des qualitativen Interviews erläutert sowie die Notwendigkeit, das Interview aufzuzeichnen. Der Interviewpartner wurde in der Einführung zudem gebeten, unvoreingenommen alle Interviewthemen zu kommentieren, da die Auswertung des Interviews jede persönliche Angabe anonymisiert. Die Interviewinhalte waren vom jeweiligen Systemstand in der Einrichtung abhängig gemacht worden, indem der Interviewer innerhalb des Interviews auf die Umstände vor Ort reagierte und entsprechende Fragen und Nachfragen formulierte. Der Leitfaden war während des Interviews für den Interviewten nicht einsehbar, diente jedoch dem Interviewer als Hilfestellung und Übersicht. Damit konnte gewährleistet werden, dass auch bei umfassenden, übergreifenden Antworten des Interviewten kein Gesichtspunkt außer Acht gelassen wurde, der für die Evaluation der Anwenderzufriedenheit und Beurteilung des Tools von Bedeutung gewesen wäre. Auswertung Die Auswertung der qualitativen Interviews wurde nach dem von Lamnek (2005) beschriebenen Prinzip vorgenommen. Dieses Prinzip sieht vier Phasen vor: 1. Transkription des Interviewmaterials 2. Einzelanalyse 836 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu 3. die generalisierende Analyse 4. Kontrollphase Die Einzelanalyse sieht vor, das Material zu konzentrieren, indem zentrale Passagen hervorgehoben, prägnante Textstellen markiert und kommentiert werden. Darüber hinaus werden eine Charakterisierung des Interviews sowie die Interpretation besonderer Merkmale vorgenommen. Die Interviews wurden mithilfe der Software MAX-QDA analysiert. Das Antwortverhalten wurde kommentiert. Zwei voneinander unabhängige Auswerter haben einzeln die Interviews nach folgenden Kriterien bewertet: • Beantwortungspräzision: umfangreich, ausschweifend, knapp, präzise, Fragen übergreifend • persönliche Valenz des Befragten zu: – Interview, – zum Tool und – zum Gesamtprojekt und nach der • Interviewsituation: • Antwortverhalten: schnell, überlegend, spontan – scheinbares Wohlbefinden in der Interviewsituation – mögliche Vorbehalte gegenüber den Fragen oder dem Interviewer. Es wurden durch die Auswertenden Kommentare an die entsprechenden Passagen des Textes notiert. Dies diente der Interpretation. Die Phase drei nach Lamnek (2005) beinhaltet die „generalisierende Analyse“. Hier wurden jeweils Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Interviews herausgearbeitet. In der letzten Phase, der „Kontrollphase“ wurde das Interviewmaterial nach den gleichen, vorher beschriebenen Kriterien ein weiteres Mal kontrolliert. Die Auswertenden tauschten zudem ihre Einzelinterpretationen aus. 4.4 Projektbegleitende Bewertung der Schnittstellenkommunikation Zur projektbegleitenden Dokumentation der Schnittstellenkommunikation wurde für die MitarbeiterInnen der Einrichtungen eine Möglichkeit geschaffen, störende Ereignisse im professions- und organisationsübergreifenden Kommunikationsprozess in ein aktenunabhängiges Meldesystem zu berichten. Störfaktoren, Beinaheschäden, Dokumentationsschwächen, Mehrarbeit durch fehlende Informationen, kritische Ereignisse und mögliche Fehler, die aus der Dokumentation und Kommunikation zwischen den Projektpartnern hervorgingen, konnten formuliert werden. Damit sollte die Praxisrealität der Solimed Pflegemanagement … 837 teilnehmenden Einrichtungen sowohl mit als auch ohne Einführung einer neuen EDVKommunikationslösung beschrieben und zur Evaluation genutzt werden. Das Meldesystem wurde in Anlehnung an das international bekannte „Critical Incidence Reporting System“ (Stiftung für Patientensicherheit 2007) entwickelt. Innerhalb einer Eingabemaske konnten bei Meldung eines Vorfalls Angaben zu folgenden Inhalten gemacht werden: • Patient: Alter, Geschlecht, Diagnose, Kennung (ID) • Ort des Ereignisses: Einrichtung und Spezifikation (Zimmer, Flur, Toilette, usw.) • Kontext des Ereignisses: z. B. Medikation, Therapie, Morbiditätskomplikationen (Dekubitus, Sturz, Wunden, usw.) • Ereignis: Schilderung der Abläufe und Geschehnisse • Ergebnis: Schilderung der entstandenen Schäden, Beinaheschäden, vermehrter Arbeitsaufwand, usw. • Subjektive Einschätzung der Gründe und Faktoren für das Ereignis • Häufigkeit der Ereignisse • Berufsstatus der berichtenden Person In den verschiedenen Feldern gab es die Möglichkeit, sowohl ein Drop-down-Menü zu bedienen, als auch freie Textfelder zu füllen. Zugang zum Berichtssystem bestand sowohl online als auch über eine Präsenzdatei auf den Computern der Einrichtungen, sowie papierbasiert. Der Rücklauf der Berichte erfolgte in der Onlineversion als elektronische Nachricht an die Mitarbeiter der Bergischen Universität Wuppertal. Die Präsenzdateien sollten ausgefüllt auf einem portablen Medium (USB-Stick) verschlüsselt gespeichert und aus den Einrichtungen abgeholt werden. Sowohl für die papierbasierten Berichte als auch für die portablen Medien wurden Umschläge zur Verfügung gestellt, die die Einsicht anderer Mitarbeiter sowie Vorgesetzter im täglichen Versorgungsablauf verhinderten. In einem Zyklus von drei Monaten wurden alle Berichte zusammengetragen und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Eingabe in das iBS (internes Berichtssystem für Störfaktoren im Kommunikationund Informationsprozess) erfolgte anonym und beinhaltete keine persönlichen Angaben der Mitarbeiter. Rückschlüsse auf die eintragende Person konnten durch die sofortige Übermittlung des Datensatzes der Onlineversion und die verschlossenen Präsenzberichte nicht getätigt werden. Alle notwendigen Informationen zu den Hintergründen der Einführung des iBS, zur Eingabe, zum persönlichen Datenschutz durch Anonymisierung und zur Evaluation der erzielten Daten wurden in einem Projekttreffen den anwesenden Mitarbeitern der teilnehmenden Einrichtungen vermittelt. Diese Personen fungierten als Multiplikatoren und kommunizierten die nötigen Informationen im Rahmen von Schulungen in ihrer 838 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Einrichtung. Zudem wurde ein Informationsblatt als Handout allen anderen Mitarbeitern in den Einrichtungen zur Verfügung gestellt. 4.5 Auswertung Zur Beurteilung der Eingaben im iBS wurde ein qualitativer Auswertungsansatz gewählt. Die qualitative Inhaltsanalyse wurde in der vorliegenden Evaluation als strukturierende Inhaltsanalyse (Mayring 2002, 2008, 2010) vorgenommen, mit der Absicht, das Textmaterial der iBS-Berichte nach Kategorien und Codierungen zu filtern und zu sortieren, um Diskussionsmaterial für Fokusgruppen, bestehend aus Vertretern jeder Profession zu schaffen. Für den vorliegenden Kontext wurde von Handlungsfeldern des Versorgungsalltags ausgegangen, die als Kategorien formuliert wurden. Aus der internationalen Literatur (Georgiou et al. 2012; Reilly et al. 2013; Sellappans et al. 2013; Runciman et al. 2003) geht hervor, dass speziell in den Handlungsfeldern Medikation und Krankenhauseinweisung/-entlassung die meisten Ereignisse durch Kommunikationsfehler berichtet werden können. Aus diesem Grund wurde im Analyseablauf der Inhaltsanalyse eine Typisierung für die Handlungsfelder Medikationsmanagement und Krankenhauseinweisung/-entlassung vorgesehen. Die Codierung erfolgte für jeden Typ der Analyse mittels vorab formulierter Schlagworte (Tab. 1). Diese bildeten die kleinsten Textbestandteile, anhand derer die Berichte durchsucht und gefiltert wurden. Diese Schlagworte sollten im Zusammenhang mit dem Typ/Kontext in der Textanalyse gefiltert werden. Verknüpfungen der Schlagworte untereinander sowie erweiterte Schlagworte wurden fortlaufend ergänzt. Zudem wurden innerhalb der Fokusgruppen weitere Schlagworte oder Synonyme dieser Begriffe erarbeitet und in die Codierung einbezogen. Entsprechendes Vorgehen ist im Ergebniskapitel beschrieben. Zur Umsetzung der Auswertung wurde ein computerbasiertes System verwendet. Nach Auswertung der iBS-Berichte wurden die Texte einer Fokusgruppe bestehend aus Tab. 1  Kontext und Kodierung der qualitativen Berichtsanalyse Kontext/Typisierung Medikation Krankenhauseinweisung Codierung/Schlagworte • Verordnung • Dosierung • Doppelmedikation • Fehlmedikation • Wirkstoff • Präparat • Einweisung • Entlassung • Wiedereinweisung • Infektion • Wunden • Dekubitus • Dehydrierung • Sturz • Aspiration • Blutzuckerschwankungen Solimed Pflegemanagement … 839 Vertretern jeder Profession bereitgestellt und innerhalb der Gruppe durchgearbeitet. Anschließend wurde anhand formulierter Fallvignetten Lösungsansätze erarbeitet. Eine strukturierte und ausführliche Vorgehensweise für der Erarbeitung von Lösungen im Falle festgestellter systematischer Prozessbeeinträchtigungen bietet das London-Protokoll nach Adams und Vincent (Stiftung für Patientensicherheit 2007). Es zielt darauf ab, alle fehlerhaften Vorgänge und beitragenden Faktoren des Ereignisses zu identifizieren. Hierdurch soll der Hergang der Ereignisentstehung in den Vordergrund gerückt werden, nicht einzelne Verursacher. Das London-Protokoll sieht die nachfolgend genannten Schritte vor: A – Identifikation und Entscheidung zur Untersuchung B – Mitglieder des Untersuchungsteams auswählen C – Organisation und Datensammlung D – Chronologischen Ablauf des Zwischenfalls ermitteln E – Fehlerhafte Vorgänge identifizieren F – Fehlerbegünstigende Faktoren identifizieren G – Empfehlungen ableiten und Maßnahmenplan entwickeln Die ersten drei Arbeitsschritte des London-Protokolls ergeben sich aus der Fragestellung der vorgesehenen Evaluation (a), der bereits erwähnten Fokusgruppe (b) und der vorgesehenen Art der iBS-Berichte und Patientenakte (c). Im Punkt D, dem chronologischen Ablauf des Zwischenfalls, soll die zeitliche Abfolge des Zwischenfalles klar und angemessen detailliert erarbeitet werden. Dazu können Hilfsmittel wie ein Zeit/Personenraster (wer war wann wo) und/oder Flussdiagramme bei der Bestimmung der Ereignisabfolge hinzugezogen werden. Der Arbeitsabschnitt E, in welchem die fehlerhaften Vorgänge identifiziert werden sollen, wurde aus dem vorliegenden Datenmaterial eruiert. In Schritt F werden die fehlerhaften Vorgänge ermittelt. Das meint die Ausführung von Vorgängen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein können. Beispiele sind Teamfaktoren, Organisations- und Managementfaktoren. Da die Fokusgruppen aus einem Team von Mitarbeitern der verschiedenen teilnehmenden Einrichtungen bestanden, konnten hier interne einrichtungsspezifische Faktoren benannt werden. Der letzte Aufgabenschritt des London-Protokolls sieht vor, Empfehlungsstrategien abzuleiten und konkrete Maßnahmen zur Ursachenvermeidung zu erörtern. 5 Hemmnisse und Herausforderungen im Projektverlauf Die Schwierigkeiten innerhalb der Projektlaufzeit lassen sich in vier Kategorien zusammenfassen: Personal- und Mitarbeitersituation, EDV, Auflagen des Datenschutzes und Besonderheiten der adressierten Patientengruppe. 840 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Personal- und Mitarbeitersituation Innerhalb der Projektlaufzeit fanden mehrere Personalwechsel auch an für das Projekt relevanten Schlüsselstellen in mehreren Einrichtungen statt. Folglich mussten immer wieder neue Fachkräfte und Mitarbeiter zunächst von der Projektidee überzeugt und für eine aktive Projektarbeit gewonnen werden. Da ein professionsübergreifender Austausch unter den Beteiligten bisher nicht alltäglich war und zu Beginn der Projektlaufzeit zunächst eine offene Austauschsituation unter den Beteiligten geschaffen werden musste, wurde diese im Projektverlauf positiv erfahrene Entwicklung von Offenheit und sektorenübergreifender partnerschaftlichen Zusammenarbeit durch jeweilige Neubesetzung von Arbeitsgruppen zunächst unterbrochen, neue Mitglieder mussten sich in diese neue Situation zunächst erst einfinden. Datenschutz Das Einschreiben von Patienten für das Projekt gestaltete sich sehr zeitaufwendig. Die Einschreibung in das solimed-Netz musste um ein zweites Einschreibungsformular und eine Erläuterung zum Datenschutz ergänzt werden, da die bisherige solimed-Einschreibung die Informationsweitergabe an Pflegefachkräfte nicht vorsah. Dieses Formular musste dabei sämtliche gesetzliche Anforderungen an den Datenschutz von sensiblen, persönlichen Gesundheitsdaten inkl. der Entbindung der Schweigepflicht für die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtungen sicherstellen und erfüllen. Damit war ein erheblicher Mehraufwand und Erklärungsaufwand notwendig, um mögliche Patienten zu unterrichten, zumal die Themen Datenschutz und EDV für die Patientengruppe eher fremd waren. Besonderheiten der Gruppe der Patienten Der Einschreibeprozess gestaltete sich sehr langwierig, da z. B. die überwiegende Zahl der infrage kommenden Patienten nicht eigenständig über eine Teilnahme an einem solchen Projekt entscheiden konnte. So wurden zunächst die Patienten über das Projekt informiert und über die datenschutzrechtlichen Aspekte aufgeklärt, anschließend Angehörige oder Betreuer informiert, aufgeklärt und die notwendigen Formalitäten abgewickelt. EDV Die Zusammenarbeit mit den beteiligten externen EDV-Anbietern gestaltete sich über die gesamte Projektlaufzeit als schwierig. So entstand zunächst der Eindruck großer Bedenken der Firmen gegebenenfalls eigenes Entwicklungs-Know-how preiszugeben. Ein sich befruchtender fachlicher Austausch war bis zum Projektende unter den beteiligten Firmen kaum möglich. Im Projekt erworbenes Wissen wurde nicht durchgängig aktiv transportiert oder genutzt. Einige EDV-Firmen vermittelten bis zum Projektende den Eindruck, dass sie den Nutzen des Projektes nicht nachvollziehen. Die EDV-technische Umsetzung des Projektes wurde daher in den einzelnen Einrichtungen sehr unterschiedlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt, sodass ein aktiver Erfahrungsaustausch der beteiligten Mitarbeiter in den Einrichtungen z. B. bei den durchgeführten Projekttreffen oder in den einzelnen Arbeitsgruppen nicht Solimed Pflegemanagement … 841 optimal ermöglicht wurde. Ein gemeinsames Erleben der Projektumsetzung und ein hierzu weiterführender und sicherlich motivierender Austausch der einzelnen Akteure waren bis zum Ende des Projektes lediglich begrenzt möglich. Literatur Ammenwerth E, Denz M (2003) Empfehlungen für Evaluationsstudien von Informationssystemen im Gesundheitswesen. Schweiz Arzteztg 83(39):2030–2032 Atteslander P (2000) Methoden der empirischen Sozialforschung, 9. Aufl. Schmidt, Berlin Baroudi JJ, Orlikowski WJ (1987) A short form measure of user information satisfaction: a psychometric evaluation and notes on use. Information Systems Working Papers Series, CRIS #171 Boy O, Ohmann C, Aust B, Eich HP, Koller M, Knode O, Nolte U (2000) Systematische Evaluierung der Anwenderzufriedenheit von Arzten mit einem Krankenhausinformationssystem-Erste Ergebnisse, Stud Health Technol Informatics 2000:518–522 Burns N, Grove SK (1993) The practice of nursing research: conduct, critique and utilization, 2. Aufl. WB Saunders, Philadelphia Carr D, David RA, Rothschild T (2003) Queens Health Network — Healthcare Information System 2002 Davies Award Winner — A Model for an Integrated Computerized Patient Record. Internal Summary Chin JP, Diehl VA, Norman KL (1988) Development of a tool measuring user satisfaction of the human-computer interface. Paper presentation at SigChi'88 Flemming D (2010) ePflegebericht, Umsetzung des HL7 Standards. Vorgestellt auf der Pflegefachtagung, Bremen Georgiou A, Marks A, Braithwaite J, Westbrook JI (2012) Gaps, disconnections, and discontinuities – the role of information exchange in the delivery of quality long-term care. The Gerontologist 53(5):770–779 Giehoff C, Hübner U (2006) Der elektronische Pflegebericht des Netzwerkes Versorgungskontinuität in der Region Osnabrück-Evaluationsergebnisse und ihre Konsequenzen. Pflegewissenschaft 8(6):371–377 Goldzweig CL, Towfigh A, Maglione M, Shekelle PG (2009) Costs and benefits of health information technology: new trends from the literature. Health Affairs 28(2):w282–w293 Graves A, Wallace B, Periyalwar S, Riccardi C (2005) Clinical grade-a foundation for healthcare communications networks. Design of Reliable Communication Networks 5th International Workshop, S 395–402 Groen J, Van der Bruggen H (1996), Towards an univocal definition and classification of patient outcome; Interim report of a Delphi survey. Unpublished thesis, Faculty of Health Sciences, University of Maastricht NL, Maastricht NL Häder M (2009) Delphi-Befragungen: Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl, VS Verlag Hagglund M, Scandurra I (2007) Studying intersection points – an analysis of information needs for shared homecare of elderly patients. J Inf Technol Healthc 7:23–42 (Georgiou et al 2013) Hübner U (2010) Mehrwert für die Versorgung von Patienten. Dtsch Arztebl 107(4):134–136 Hübner U, Flemming D (2010) Telematik in der Pflege: Der elektronische Pflegebericht. Schwest Pfleg Fachz Pflegeberufe 5(10):500–503 Ives B, Olson MH, Baroudi JJ (1983) The measurement of user information satisfaction. Commun ACM 26(10):785–793 Jimison H, Gorman P, Woods S, Nygren P, Walker M, Norris S, Hersh W (2008) Barriers and drivers of health information technology use for the elderly, Chronically III, and Underserved. AHRQ Evidence Report/Technology Assessment, Nr. 175 842 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS (2000) To err is human: building a safer health system. National Academies Press, Washington Lamnek S (2005) Qualitative Sozialforschung, 4. Aufl. Beltz, Weinheim Lasker RD, Weiss ES, Miller R (2001) Partnership synergy: a practical framework for studying and strengthening the collaborative advantage. Milbank Quarterly 79(2):179–205 Linstone H, Turoff M (1975) The Delphi method: techniques and applications. Addison-Wesley (Advanced Book Program) Ludwig B (1997) Predicting the future: have you considered using the Delphi methodology. J Extension 35(5):1–4 Mayring P (2002) Einführung in die qualitative Sozialforschung. Beltz, Weinheim Mayring P (2008) Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 10. Aufl. Beltz, Weinheim Mayring P (2010) Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, Beltz Pädagogik, 11., aktual. u. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim Mohamoud S, Byrne C, Samarth A (2009) Implementation of health informationtechnology in long-term care settings: findings from the health IT portfolio. Agency for Healthcare Research and Quality, Rockville Neuenschwander M, Cohen MR, Vaida AJ, Patchett JA, Kelly J, Trohimovich B (2003) Practical guide to bar coding for patient medication safety. Am J Health Syst Pharm 60(8):768–779 Okoniewska BM, Santana MJ, Holroyd-Leduc J, Flemons W, O’Beirne M, White D, Clement F, Forster A, Ghali WA (2012) The seamless transfer-of-care protocol: a randomized controlled trial assessing the efficacy of an electronic transfer-of-care communication tool. BMC Health Serv Res 12(1):414 Reilly JB, Marcotte LM, Berns JS, Shea JA (2013) Handoff communication between hospital and outpatient dialysis units at patient discharge: a qualitative study. Jt Comm J Qual Patient Saf 39(2):70–76 Runciman WB, Roughead EE, Semple SJ, Adams RJ (2003) Adverse drug events and medication errors in Australia. Int J Qual Health Care 15(suppl 1):i49–i59 Schulte G, Flemming D, Hübner U (2013) Die Zukunft ist elektronisch. ePflegebericht. Schwest Pfleg Fachz Pflegeberufe 5(13):494–498 Sellappans R, Chua SS, Tajuddin NAA, Lai PSM (2013) Health innovation for patient safety improvement. Australas Med J 6(1):60 Stiftung für Patientensicherheit (2007) Systemanalyse kritischer Zwischenfälle – DAS LONDONPROTOKOLL. Deutsche Übersetzung, Zürich Weiterführende Literatur Afentakis A, Böhm K (2009) Beschäftigte im Gesundheitswesen. Gesundheitsbericht 2009 Bates DW, Kuperman GJ, Wang S, Gandhi T, Kittler A, Volk L, Spurr C, Khorasani R, Tanasijevic M, Middleton B (2003) Ten commandments for effective clinical decision support: making the practice of evidence-based medicine a reality. J Am Med Inform Assoc 10(6):523–530 Bertgen FW et al (2009) Hausärztliche Leitlinie „Geriatrie Teil 2: Spezielle Geriatrie“ Version 1.02, 14. Sept. 2009 Bundesärztekammer (2009) Statistische Erhebung der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen – für das Statistikjahr 2009. http://www.aek-mv.de/upload/file/aerzte/Recht/Gutachterkommissionen_Praesentation.pdf. Zugegriffen: 13. Mai 2015 Solimed Pflegemanagement … 843 Campillo-Artero C (2012) When health technologies do not reach their effectiveness potential: a health service research perspective. Health Policy 104(1):92–98 Donabedian A, Wheeler JRC, Wyszewianski L (1982) Quality, cost, and health: an integrative model. Medical Care 20(10):975–992 Flick U (2006) Qualitative Forschung. Eine Einführung. Vollst. überarb. und erw. Neuausg., 4. Aufl. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg Franck N, Rückriem G, Stary J (2009) Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens: eine praktische Anleitung, 15. Aufl. Utb, Stuttgart Grant JS, Kinney MR (1992) Using the Delphi technique to examine the content validity of nursing diagnoses. Int J Nurs Terminol Classif 3(1):12–22 Green SD, Thomas JD (2008) Interdisciplinary collaboration and the electronic medical record. Pediatr nurs 34(3):225 Han YY, Carcillo JA, Venkataraman ST, Clark RSB, Watson RS, Nguyen TC, Bayir H, Orr RA (2005) Unexpected increased mortality after implementation of a commercially sold computerized physician order entry system. Pediatrics 116(6):1506–1512 Häyrinen K, Saranto K, Nykänen P (2008) Definition, structure, content, use and impacts of electronic health records: a review of the research literature. Int J Med Inform 77(5):291 Hellesø R, Lorensen M, Sorensen L (2004) Challenging the information gap – the patients transfer from hospital to home health care. Int J Med Inform 73(7):569–580 Kaushal R, Kern LM, Barrón Y, Quaresimo J, Abramson EL (2010) Electronic prescribing improves medication safety in community-based office practices. J Gen Intern Med 25(6):530–536 Kelley TF, Brandon DH, Docherty SL (2011) Electronic nursing documentation as a strategy to improve quality of patient care. J Nurs Scholarsh 43(2):154–162 Keyhani S, Hebert PL, Ross JS, Federman A, Zhu CW, Siu AL (2008) Electronic health record components and the quality of care. Medical Care 46(12):1267–1272 Koppel R, Metlay JP, Cohen A, Abaluck B, Localio AR, Kimmel SE, Strom BL (2005) Role of computerized physician order entry systems in facilitating medication errors. JAMA 293(10):1197–1203 Korst LM, Eusebio-Angeja AC, Terry Chamorro RN, MN, Gregory KD (2005) Nursing documentation time during implementation of an electronic medical record. In: Evaluating the organizational impact of healthcare information systems, Springer, S 304–314 Kripalani S, LeFevre F, Phillips CO, Williams MV, Basaviah P, Baker DW (2007) Deficits in communication and information transfer between hospital-based and primary care physicians. JAMA 297(8):831–841 Kuckartz U (2005) Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten, 3. Aufl. VS Verlag, Wiesbaden Moody LE, Slocumb E, Berg B, Jackson D (2004) Electronic health records documentation in nursing: nurses’ perceptions, attitudes, and preferences. Comput Inform Nurs 22(6):337–344 Mosler K, Schmid F (2003) Beschreibende Statistik und Wirtschaftsstatistik. Springer, Berlin/ Heidelberg National Health and Hospitals Reform Commission (2009) A healthier future for all Australians: final report June 2009. National Health and Hospitals Reform Commission Noelle G, Heitmann KU (2001) SCIPHOX–elektronische Kommunikation im Gesundheitswesen: Auf dem Weg zur integrierten Versorgung. Dtsch Arztebl 98(2) Notter LE, Hott JR (1991) Grundlagen der Pflegeforschung. Huber, Bern Pabst MK, Scherubel JC, Minnick AF (1996) The impact of computerized documentation on nurses’ use of time. Comput Nurs 14(1):25 844 M. Kuypers und J. Köberlein-Neu Parente ST, McCullough JS (2009) Health information technology and patient safety: evidence from panel data. Health Affairs 28(2):357–360 Patterson ES, Cook RI, Render ML (2002) Improving patient safety by identifying side effects from introducing bar coding in medication administration. J Am Med Inform Assoc 9(5):540–553 Polit D, Hungler B (1995) Nursing research: principles and methods, 5. Aufl. Lippincott Company, Philadelphia Pronovost P, Berenholtz S, Dorman T, Lipsett PA, Simmonds T, Haraden C (2003) Improving communication in the ICU using daily goals. J Crit Care 18(2):71–75 Saranto K, Kinnunen U (2009) Evaluating nursing documentation – research designs and methods: systematic review. J Adv Nurs 65(3):464–476 Shekelle P, Morton SC, Keeler EB (2006) Costs and benefits of health information technology. AHRQ Evidence Report/Technology Assessment Nr. 132 Stevenson JE, Nilsson G (2012) Nurses’ perceptions of an electronic patient record from a patient safety perspective: a qualitative study. J Adv Nurs 68(3):667–676 Thomeczek C, Bock W, Conen D, Ekkernkamp A, Everz D, Gerlach F, Fischer G, Gibis B, Gramsch E, Jonitz G, Klakow-Franck R, Oesingmann U, Schirmer H-D, Smentkowski U, Ziegler M, Ollenschläger G (2004) Das Glossar Patientensicherheit- Ein Beitrag zur Definitionsbestimmung und zum verständnis der Thematik „Patientensicherheit“ und „Fehler in der Medizin“. Gesundheitswesen 66:833–840 Van der Meijden MJ, Tange H, Troost J, Hasman A (2001) Development and implementation of an EPR: how to encourage the user. Int J Med Inform 64(2):173–185 Walker JM, Carayon P (2009) From tasks to processes: the case for changing health information technology to improve health care. Health Affairs 28(2):467–477 Williams PL, Webb C (1994) The Delphi technique: a methodological discussion. J Adv Nurs 19(1):180–186 Zhou L, Soran CS, Jenter CA, Volk LA, Orav EJ, Bates DW, Simon SR (2009) The relationship between electronic health record use and quality of care over time. Journal of the American Med Inform Assoc 16(4):457–64 Über die Autoren Mark Kuypers studierte Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth und arbeitete bis 2008 im Controlling sowie als Qualitätsmanagementbeauftragter der Katholischen Stiftung Marienhospital Aachen. Seit Mitte 2008 ist Mark Kuypers für das Ärztenetz Solimed – Unternehmen Gesundheit, zunächst als stellvertretender Geschäftsführer und mit in den Bereichen „Aufbau des Netzwerkmanagements“ und „Vertragsmanagement“, seit 2012 als kaufmännischer Geschäftsführer tätig. Seit März 2012 engagiert er sich zudem als Mitglieder des Vorstandes in der Agentur Deutscher Arztnetze. Kontakt: kuypers@solimed.de Solimed Pflegemanagement … 845 Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und Juniorprofessorin für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie leitet die am BKG angesiedelte Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“ und übernahm 2014 den Vorstandsvorsitz des Bergischen Kompetenzzentrums für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer derzeitigen Tätigkeit liegt in der Entwicklung und Evaluation von Konzepten zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Kontakt: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten (PEPA) als zentrale Infrastrukturkomponente einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung Oliver Heinze und Björn Bergh 1 Einleitung/Hintergrund Das Gesundheitswesen in Deutschland ist in den letzten Jahren geprägt durch eine immer aktivere Einbindung des Patienten in Prozesse der Gesundheitsversorgung. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Eine Ursache ist die Entstehung neuer Behandlungsmodelle wie der integrierten Versorgung, die darauf ausgelegt ist, bei gleicher Qualität die Kosten der Gesundheitsversorgung nicht weiter steigen zu lassen (vgl. Iakovidis 1998; BMBF 2010). Ein weiterer Grund ist der steigende Bedarf mündiger Patienten an aktiver Teilhabe, Autonomie sowie der Durchsetzung des Rechts auf Informationelle Selbstbestimmung (vgl. Nolting und Wasem 2002). Im angloamerikanischen Raum wird dies auch mit dem Begriff „PatientEmpowerment“ bezeichnet (vgl. Aujoulat et al. 2007). Damit einher gehen ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein zusammen mit einer aktiven Lebensgestaltung, sowie die Nutzung präventiver Gesundheitsangebote (vgl. Wetter 2016). Der Patientenbezug findet auch in immer mehr Regierungsprogrammen Einzug, wie beispielsweise der Digital Agenda for Europe (vgl. Europäische Kommission 2010). Zur optimalen Unterstützung dieser Entwicklungen und ihrer komplexen Anforderungen mittels Informationstechnologie bedarf es neuer, patientenzentrierter Konzepte für die Architekturen von Informationssystemen im Gesundheitswesen. Ein entscheidendes O. Heinze (*) · B. Bergh  Zentrum für Informations- und Medizintechnik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: Oliver.Heinze@med.uni-heidelberg.de Prof. Dr. B. Bergh E-Mail: Bjoern.Bergh@med.uni-heidelberg.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_45 847 848 O. Heinze und B. Bergh Merkmal dieser Architekturen ist die Fähigkeit, Inhalte und deren Bedeutung in Abhängigkeit der Patienteneinwilligung mit anderen Systemen automatisiert austauschen zu können, damit ihre Anwender interagieren können. Diese Eigenschaft nennt man Interoperabilität. Sie lässt sich nur durch die Verwendung gemeinsamer Standards erreichen (IEEE 2010). Dieser Beitrag beschreibt das Konzept, die Systemarchitektur und erste Umsetzungserfahrungen der sogenannten persönlichen, einrichtungsübergreifenden, G ­ esundheitsund Patientenakte (PEPA), die alle zuvor genannten Belange einer modernen, patientenzentrierten Gesundheits-IT-Architektur erfüllt. Somit ist die PEPA eine zentrale Komponente einer zukünftigen, auf den Patienten ausgerichteten Gesundheitsversorgung. Abschn. 2 führt in die nötigen Grundlagen ein. Anschließend werden das PEPA-Konzept sowie die Systemarchitektur dargelegt. Abschn. 5 beschäftigt sich mit der Umsetzung des Konzepts am Universitätsklinikum Heidelberg sowie der Metropolregion Rhein-Neckar. Abschließend werden verschiedene Aspekte sowie die Implementierungserfahrungen diskutiert und ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen gegeben. 2 Grundlagen Die Implementierung einer PEPA stellt neue Anforderungen an bestehende IT-Systeme, die bisher vor allem für die Unterstützung der medizinischen Dokumentation und Organisation von Abläufen innerhalb von Einrichtungen des Gesundheitswesens konzipiert sind. Diese sogenannten Primärsysteme wie Krankenhausinformationssysteme (KIS), Picture and Archiving and Communication Systems (PACS) oder Arztpraxisverwaltungssysteme (AVS) bilden institutionelle elektronische Patientenakten (iEPA) als Sammlung medizinischer Informationen innerhalb einer Einrichtung (vgl. Schmücker 1998; Haas 2006, S. 18). Ihre Implementierungen sind bisher meist nicht für den einrichtungsübergreifenden Austausch von Informationen ausgelegt und entsprechend verfügen sie nicht über die erforderlichen standardisierten Schnittstellen (vgl. Iakovidis 1998). Um die neuen Anforderungen an gemeinsam geführte elektronische Patientenakten abdecken zu können, hat sich eine neue Aktengattung etabliert: die arztgeführte einrichtungsübergreifende, elektronische Patientenakte (eEPA), die alle, für die Weiterbehandlung relevanten, Teilausschnitte der iEPAs enthält (vgl. Haas 2006). Die Belange der aktiven Einbindung von Patienten bleiben bei eEPA jedoch unberücksichtigt. Die Eigenschaft der Fähigkeit zum Austausch und zur Zusammenarbeit zwischen Organisationen und ihren Systemen wird als Interoperabilität bezeichnet (vgl. IEEE 2010). Die Interoperabilität zwischen den bestehenden Primärsystemen und eEPASystemen ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Austausch von Informationen (vgl. Blobel und Pharow 2009). Integrating the Healthcare Enterprise (IHE; Bergh et. al. 2015) ist eine Initiative, die sich dem Interoperabilitätsproblem mit der Erstellung sogenannter Inhalts- und Integrationsprofilen annimmt. Für diese Profile definiert IHE zunächst Anwendungsfälle und dann wie diese mittels weltweit etablierter Standards (wie z. B. HL7 oder DICOM) Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten … 849 technisch umgesetzt werden können. Hierfür werden Akteure benannt, welche bestimmte Rollen in Softwareimplementierungen einnehmen können. Akteure kommunizieren über Transaktionen. Innerhalb der Transaktionen werden profilierte Standards verwendet (vgl. IHE-International 2015). Details zu den IHE-Profilen finden sich in den Technical Frameworks. Alle Profile sind sogenannten Domänen zugeordnet, wobei die meisten der hier verwendeten Profile zur Domäne IT-Infrastructure gehören (IHE-International 2014a; IHE-International 2014b). Dieser Ansatz hat sich bei regionalen und nationalen einrichtungsübergreifenden, elektronischen Patientenakten bereits weltweit bewährt (vgl. Boone 2010). Ein weiterer Aspekt, den moderne Informationssysteme des Gesundheitswesens berücksichtigen sollten, ist die Beteiligung und Einbindung des mündigen Patienten in den Behandlungsprozess. Dazu zählen die Steuerung von Zugriffsrechten, der Zugriff auf die Patientenakte, Informationen und Behandlungsalternativen. Dadurch wird eine Möglichkeit geschaffen, Transparenz und Eigenverantwortung im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu erzeugen (Nolting und Wasem 2002). Patientengeführte, elektronische Patientenakten werden zu diesem Zweck bereits seit Mitte der neunziger Jahre diskutiert (vgl. Szolovits et al. 1994; Adida et al. 2010). In Deutschland werden entsprechend sogenannte elektronische Gesundheitsakten (EGA) als ergänzendes Werkzeug zu arztgeführten Akten betrachtet (vgl. Ueckert et al. 2003; ZTG 2011). Dieser Ansatz konnte sich in der Fläche nicht durchsetzen. Einer der Hauptgründe ist die oft fehlende Interoperabilität der EGA-Systeme mit Primärsystemen der Gesundheitsdiensteanbieter (GDA), wodurch sich hinsichtlich der Gebrauchstauglichkeit signifikante Nachteile ergeben (vgl. Kirchner 2009). 3 Das PEPA-Konzept Die persönliche, einrichtungsübergreifende, Gesundheits- und Patientenakte ist eine patientengeführte Akte für den Austausch behandlungsrelevanter Informationen, die es dem mündigen Bürger und Patienten ermöglicht, sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung durchzusetzen und auf Augenhöhe in den Behandlungsprozess eingebunden zu sein. Die PEPA wird definiert als „eine patientengeführte, longitudinale Sammlung von medizinischen Inhalten, die entweder vom Patienten selbst, von vernetzten mobilen Medizingeräten oder automatisiert über standardisierte, offene Schnittstellen aus den iEPAs der angebundenen Primärsysteme von Gesundheitsdiensteanbietern in die Akte übermittelt werden. Die PEPA als digitale Gesundheitsdrehscheibe dient der kooperativen, integrierten und sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung“ (vgl. Heinze 2015, S. 84). Das PEPA-Konzept fußt auf vier zentralen Axiomen, die u. a. aus dem deutschen Datenschutzrecht hergeleitet sind (vgl. Heinze 2015, S. 81 ff.): 1) Die Hoheit liegt beim Bürger/Patienten: Umsetzung des Opt-in-Prinzips. Der Bürger entscheidet über seine 850 O. Heinze und B. Bergh Einwilligung, welche Inhalte in der Akte gespeichert werden und wer auf diese Zugriff erhält. Auch ein Notfallzugriff kann vom Bürger gewährt oder unterbunden werden. Ebenso steht es ihm frei, Daten für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen. Mit der PEPA haben Bürger Zugriff auf alle Inhalte (Auskunftsrecht), aber auch alle anderen rechtlichen Optionen (Verweigerungsrecht, Entbindung von der Schweigepflicht, Widerspruchsrecht) können im Detail umgesetzt werden. So können Dokumente auch gelöscht bzw. im Falle der Primärdokumentation gesperrt werden (Recht auf Sperren und Löschen). 2) Die Belange des Datenschutzes und der Datensicherheit müssen gewährt sein: technische und organisatorische Maßnahmen zur Einhaltung müssen dem Stand der Technik entsprechen. Unter anderem gehören dazu sichere Authentifizierung und Autorisierung, sichere Speicherung der Inhalte sowie Protokollierung aller Transaktionen. 3) Datenimport und -export für die Integration mit anderen Systemen auf Basis offener, standardisierter Schnittstellen (Recht auf Datenübertragbarkeit und Berichtigung). 4) Wahrung der ärztlichen Dokumentationspflicht im Falle einer Primärdokumentation: Ist eine Dokumentation nur in der PEPA hinterlegt, so kann sie innerhalb der gesetzlichen Aufbewahrungspflichten nicht gelöscht werden, um forensische Aspekte einhalten zu können. Basierend auf diesen Axiomen bietet die PEPA für Bürger/Patienten folgende Basisfunktionen: Steuerung der Zugriffsberechtigungen über ein einwilligungsbasiertes Berechtigungskonzept, Einsichtnahme in und lokales Speichern von professionell erzeugten Inhalten, Einstellen eigener Informationen (Medizinisch, Notfalldaten, Kontakte, etc.), Übertragung der Aktenführung an einen Stellvertreter, Einsichtnahme in Zugriffsprotokolle. Außerdem können Daten für die Forschung bereitgestellt werden. Der Bürger/Patient steuert seine Akte über ein Patientenportal, in dem alle Basisfunktionen und Erweiterungen verfügbar sind. GDAs erhalten Zugriff auf Inhalte entweder über das Professional-Portal oder über einen nativ in ihr Primärsystem integrierten Client, der alle Anforderungen an den Datenschutz ohne Verletzung der PEPA-Axiome umsetzt. Idealerweise ist ihr Primärsystem über interoperable Schnittstellen mit der PEPA verbunden, um relevante Inhalte (semi)automatisch einstellen zu können. Andernfalls können Inhalte auch über das Portal manuell hochgeladen werden (vgl. Heinze 2015, S. 84 ff.). 4 Die PEPA-Architektur Der PEPA-Architektur liegen die Prinzipien Privacy by Design, Privacy by Default, Modularisierung und Standardisierung zugrunde (vgl. Heinze 2015, S. 94 ff.). Die Architekturmuster Service-orientierte Architektur und N-Tier-Architektur bestimmen die Anordnung einzelner Komponenten, die lose gekoppelt in mehreren Schichten angeordnet sind. Jede Komponente stellt ihre Funktionalitäten durch Implementierung von Akteuren und Transaktionen bestimmter IHE-Profile über standardisierte Schnittstellen zur Verfügung. Akteure nehmen Rollen in einem Informationssystem ein und Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten … 851 Abb. 1  PEPA-Architektur kommunizieren über Transaktionen, für deren Spezifikation in den Profilen international etablierte Standards verwendet werden. Akteure und Transaktionen werden innerhalb der Komponenten oft als Webservices umsetzen. Abb. 1 zeigt die PEPA-Architektur. Der PEPA-Kern besteht aus den Schichten Identitätsverwaltung, Aktenverwaltung und Sicherheit, deren Komponenten die serverseitigen IHE-Akteure implementieren und ihre offenen Schnittstellen über die Schicht „eHealth Integration Fassade“ für die Kommunikation mit Primärsystemen und den PEPA-Portalen exponieren. Die Portale und die angebundenen Primärsysteme implementieren ihrerseits die zugehörigen client-seitigen IHE-Akteure. Ist eine native Umsetzung nicht möglich, so können entsprechende Adapter verwendet werden. Nachfolgend werden die einzelnen Komponenten beschrieben. Der Master-Patient-Index sorgt für die einrichtungsübergreifende Identifizierung und Zuordnung der unterschiedlichen Patienten-IDs (PID) der Primärsysteme zu einer Patientenidentität. Dazu führt er lokale Nummernkreise unter einer globalen Identifikation zusammen. Zudem ermöglicht er Abfragen für die Ermittlung der globalen PID. Dazu implementiert die zuständige Komponente die IHE-Profile PIX1 und PDQ2. Ein Verzeichnis für Gesundheitsdiensteanbieter verwaltet alle Personen und Organisationen, die die PEPA 1Patient 2Patient Identifier Cross-Referencing. Demographics Query. 852 O. Heinze und B. Bergh nutzen. Diese Komponente implementiert das IHE-Profil HPD3. Den Bereich Datenschutz und Datensicherheit decken weitere Komponenten ab, die dazu verschiedene Profile implementieren. Das Profil CT4 sorgt für die Synchronisation der Zeit. ATNA5 verantwortet die sichere Authentifikation und Kommunikation der Komponenten untereinander sowie die Protokollierung aller Transaktionen und Ereignisse innerhalb der PEPA. Das Profil XUA6 regelt die sichere Benutzerauthentifikation sowie das sogenannte Single Sign-on, welches z. B. die Weitergabe eines im Primärsystem authentifizierten Benutzers an die Plattform ermöglicht. Das IHE-Profil BPPC7 sowie seine von Heinze und Bergh (2014) sowie für Deutschland (IHE Deutschland 2014) spezifizierten Erweiterungen8 regeln die Verwaltung der Patienteneinwilligung und der dynamischen, feingranularen Berechtigungsvergabe. Der Austausch von Inhalten (z. B. Befunde oder radiologische Bilddaten) sowie die zentrale Speicherung wird von den Komponenten Registry und Repository (auch für Bilddaten) übernommen. Sie implementieren dazu die Akteure der Profile XDS.b9 und XDS-I.b10. Die Registry-Komponente verwaltet als Gehirn einer Affinity-Domain11 alle in der Plattform abgelegten oder referenzierten Inhalte. Das Repository ist der zentrale Speicher dieser Inhalte. Eine Ausnahme stellen DICOM-basierte Bilddaten dar. Diese werden innerhalb der PEPA in einem separaten Bilddaten-Repository gespeichert, das in dieser Form nicht von IHE spezifiziert ist. Die Portale für Professionals und Patienten implementieren für die Kommunikation mit dem PEPA-Kern die nötigen Client-Akteure der zuvor genannten Profile. Dies trifft ebenso auf die Integration von Primärsystemen zu. Kann ein Primärsystem aus technischen oder organisatorischen Gründen keinen nativen Document-Consumer implementieren, um auf Inhalte der PEPA zuzugreifen, kann das Professional-Portal per Single Sign-on unter Verwendung des XUA-Profils eingebunden werden. Die Verwendung der zuvor skizzierten IHE-Profile in der Architektur soll nachfolgend am Beispiel XDS gezeigt werden. Abb. 2 abstrahiert dazu von der Umsetzung der erforderlichen Sicherheitsmechanismen und stellt die Akteure und Transaktionen der XDSProfile für den Dokumentenaustausch zwischen einem Primärsystem, dem PEPA-Kern sowie dem Patientenportal dar. Damit Dokumente aus einem Primärsystem in die PEPA eingestellt werden können, ist es zunächst erforderlich, dass der Patient über den MPI 3Health Provider Directory. Time. 5Audit Trail and Node Authentication. 6Cross User Authentication. 7Basic Patient Privacy Consent. 8Eine kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgt innerhalb von IHE-Deutschland. 9Cross Enterprise Document Sharing. 10Cross Enterprise Document Sharing for Imaging. 11Begriff aus der IHE-Welt, der den Zusammenschluss aller Organisationen und ihrer Systeme bezeichnet, die einen Patienten kooperativ versorgen. 4Consistent Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten … 853 Abb. 2  XDS-Profile in der PEPA-Architektur. (Nach Heinze 2015, S. 111) bereits in der Document-Registry per Transaktion Patient-Identity-Feed bekannt gemacht wurde. Dieselbe Transaktion findet auch Verwendung, um einen Patienten aus einem Primärsystem beim MPI zu hinterlegen. Anschließend kann der Akteur Document-Source innerhalb eines Primärsystems mit der Transaktion Provide&Register-DocumentSet ein oder mehrere Dokumente zum Patienten im Repository der PEPA hinterlegen. Das Repository speichert die Dokumente und registriert die Verweise darauf zusammen mit den übermittelten Metadaten in der Registry, dem zentralen Index der PEPA. Es ist ebenfalls denkbar, dass Dokumente in dezentralen Repositories verbleiben, welche dann die Übermittelung der Metadaten an die zentrale PEPA-Registry übernehmen. Änderungen an den Metadaten oder Löschungen von Dokumenten können durch den Akteur Document-Administrator durchgeführt werden. Dazu bedient er sich der Transaktionen Update/Delete-Document-Set. Sollen Dokumente aus der PEPA abgerufen werden, so muss die entsprechende Dokumenten-Viewer-Komponente in einem Portal oder einem anderen System den Akteur Document-Consumer implementieren. Dieser ist in der Lage, mit der Transaktion Registry-Stored-Query Dokumente zu einem Patienten bei der Registry zu erfragen und diese anschließend in dem zentralen Repository der PEPA oder einem dezentralen Repository eines anderen Systems mit der Transaktion 854 O. Heinze und B. Bergh Retrieve-Document-Set abzuholen. Anschließend kann die Viewer-Komponente die Inhalte darstellen. Der Austausch von Bilddaten auf Basis von DICOM gestaltet sich komplexer. Das XDS-I-Profil sieht vor, Referenzen auf ein oder mehrere DICOM-Objekte in Form eines Key-Object-Selection-Objekts (KOS) im Repository abzulegen und in der Registry zu registrieren. Die dort referenzierten DICOM-Objekte können dezentral in beliebigen PACS oder in der oben genannten zentralen PEPA-Bilddatenkomponente liegen. Dazu übermittelt der Akteur Imaging-Document-Source entweder das KOSObjekt per Provide&Register-Imaging-Document-Set an das PEPA-Repository, welches dieses in der Registry hinterlegt. Alternativ wird die betroffene Bildstudie zunächst zur zentralen Speicherung an die zentrale Bildkomponente der PEPA z. B. per DICOM-c-store übermittelt. Die PEPA-Bildkomponente implementiert ihrerseits einen Imaging-Document-Source-Akteur, der analog zum ersten Fall die Studie registrieren kann. Sollen Bild-Inhalte nun z. B. aus einem Portal abgerufen werden, so muss die betreffende Viewer-Komponente den Akteur Imaging-Document-Consumer implementieren. Dieser bezieht, wie schon für „normale“ Dokumente beschrieben, die zugehörigen KOS-Objekte aus dem Document-Repository, ist dann aber zusätzlich in der Lage die Informationen aus dem KOS-Objekt zu extrahieren und anschließend z. B. mit der Transaktion Retrieve-Images die DICOM-Objekte aus der im KOS-Objekt referenzierten Imaging-Document-Source zu beziehen. 5 Umsetzung am Universitätsklinikum Heidelberg und in der Metropolregion Rhein-Neckar Zwei Forschungs- bzw. Entwicklungsprojekte am Zentrum für Informations- und Medizintechnik des Universitätsklinikums Heidelberg beschäftigen sich seit 2006 zusammen mit weiteren Projektpartnern mit der Entwicklung und Umsetzung der PEPA: im Projekt Intersektorales Informationssystem (ISIS)12 wurde der PEPA-Kern zusammen mit dem Professional-Portal und der Integration der Primärsysteme des Klinikums und weiterer Krankenhauspartner in der Region umgesetzt und wird seither als eEPA betrieben (vgl. Heinze et al. 2009). Im ersten Cluster des Projekts Informationstechnologie für patientenorientierte Gesundheitsversorgung (INFOPAT)13 wurde das Patientenportal entwickelt und integriert. Außerdem werden hier auch niedergelassene Ärzte und Apotheken an die PEPA angebunden. Die Erprobung des Patientenportals sowie die Erforschung der Auswirkungen auf das Patient-­Empowerment erfolgen für den Anwendungsfall Kolorektales Karzinom. INFOPAT, als eine von fünf BMBF-geförderten Gesundheitsregionen der Zukunft, beschäftigt sich darüber hinaus mit der PEPA-Nutzung in weiteren Kontexten. 12www.isis-akte.de. 13www.infopat.eu. Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten … 855 Hierzu gehören die Arzneimitteltherapiesicherheit und die Verwendung von PEPA-Daten für die Versorgungsforschung bzw. die Berechnung von Qualitätsindikatoren aber auch das Case-Management (vgl. Bergh et al. 2011). Nach Ablauf des Projektes INFOPAT ist geplant, das Patientenportal mit der ISIS-Umgebung zu verbinden und es allen Patienten anzubieten, deren Versorgung bereits über die eEPA erfolgt. Außerdem werden sukzessive weitere GDAs in die Akte eingebunden und die Funktionalität stetig erweitert. 6 Diskussion und Ausblick Das Konzept und die bisherige Umsetzung der persönlichen einrichtungsübergreifenden, elektronischen Patientenakte sind in der Lage, Bürgern und Patienten so in neue Behandlungsformen einzubinden, dass sie technisch in der Lage sind, mit ihren Behandlern auf Augenhöhe zu kommunizieren und ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Bereich Gesundheit zu wahren und durchzusetzen. Zudem erhalten sie mit der PEPA ein Werkzeug, das ihnen selbst jederzeit einen Überblick über die sie betreffende medizinische Dokumentation sowie ein aktives Management der eigenen Gesundheitsdaten ermöglicht. Der zunehmend hohe Stellenwert patientenzentrierter Versorgungsmodelle manifestiert sich nicht nur durch den Zeitgeist, sondern auch in Forschungsarbeiten (vgl. Iakovidis 1998; Nolting und Wasem 2002; Ueckert et al. 2003; Stroetmann et al. 2006; Aujoulat et al. 2007; Heinze und Bergh 2014; Baudendistel et al. 2015) sowie durch seine praktische Relevanz im Rahmen nationaler und europäischer Richtlinien und Gesetzen (vgl. z. B. Europäische Kommission 2010). Unter diesem Gesichtspunkt scheinen rein arztgeführte Ansätze, wie die eEPA oder die elektronische Fallakte (vgl. Neuhaus 2007) zu kurz gegriffen, da sie die Interessen des Bürgers und der Patienten in der Form, wie es die PEPA kann, nicht ausreichend berücksichtigen. Perspektivisch wird die PEPA daher als evolutionäre Weiterentwicklung früher Ansätze nach Szolovits et al. (1994) und Waegemann (1996) als digitale Gesundheitsdrehscheibe und zentrale Infrastrukturkomponente einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung in Deutschland eine entscheidende Rolle spielen. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass das PEPA-Konzept sowohl architektonisch als auch in der regionalen Umsetzung unter Berücksichtigung aktueller Regelungen und Bestimmungen des Datenschutzes und der Datensicherheit auf Basis internationaler Profile und Standards machbar ist. Als Knackpunkt hat sich dabei besonders die Integration der bestehenden Primärsysteme in die Akte erwiesen, was in identischer Form auch für die eEPA gilt. Kaum ein Primärsystem am deutschen Markt ist bisher in der Lage, nativ eine auf IHE-Profilen der Domäne IT-Infrastruktur basierte Akteninfrastruktur zu nutzen. Somit ist bisher jedes Anbindungsprojekt nicht nur mit der Auswahl der richtigen Trigger-Mechanismen und der Konfiguration der entsprechenden Metadaten befasst, sondern erfordert immer auch die Ausarbeitung eines nachhaltigen, 856 O. Heinze und B. Bergh passgenauen Integrationskonzepts. In der Umsetzung und Nutzung einer Akte sind zudem die organisatorischen Aspekte und Maßnahmen wie die Einbindung der initialen Aufklärung und Einwilligung sowie der Support nicht zu unterschätzen. Die PEPA wird in der Metropolregion Rhein-Neckar weiter erforscht und weiterentwickelt. In iterativen Zyklen werden routinefähige Artefakte in die Versorgung ausgerollt. Aktuell wird an der Integration der PEPA als Mehrwertanwendung in die kommende Telematikinfrastruktur der gematik gearbeitet. Zudem steht gegenwärtig die Beantwortung der Frage nach den Kernaspekten für eine wirksame Teilhabe des Bürgers am Gesundheitsprozess und Kommunikation auf Augenhöhe und die damit verbundene, notwendige Infrastruktur im Fokus aktueller Forschung. Literatur Adida B, Sanyal A, Zabak S, Kohane IS, Mandl KD (2010) Indivo x: developing a fully substitutable personally controlled health record platform. AMIA Annu Symp Proc 2010:6–10 Aujoulat I, d’Hoore W, Deccache A (2007) Patient empowerment in theory and practice: polysemy or cacophony? Patient Educ Couns 66(1):13–20 Baudendistel I, Winkler E, Kamradt M, Langst G, Eckrich F, Heinze O, Bergh B, Szecsenyi J, Ose D (2015) Personal electronic health records: understanding user requirements and needs in chronic cancer care. J Med Internet Res 17(5):121 Bergh B et al (2015) Die Rolle von Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) in der Telemedizin. Bundesgesundheitsbl 58(10):1086–1093. doi:10.1007/s00103-015-2226-2 Bergh B, Ose D, Szecsenyi J, Heinze O (2011) The federal award-wining „Health region of the Future“ project in the Rhine-Neckar-Region. ICT Forum for Educational, Networking and Business (Med-e-Tel), Luxembourg, International Society for Telemedicine and eHealth Blobel B, Pharow P (2009) Analysis and evaluation of EHR approaches. Methods Inf Med 48(2):162–169 BMBF (2010) Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung. Bonn, Berlin Boone KW (2010) Where in the world is IHE XDS and CDA?, 2015. http://www.google.com/ maps/d/viewer?mid=zXd445XcIVCg.kn5LIvGtp1Uk. Zugegriffen: 1. März 2015 Europäische Kommission (2010) Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. A Digital Agenda for Europe. 745 final/2 Haas P (2006) Gesundheitstelematik – Grundlagen, Anwendungen, Potenziale. Berlin, Springer Heinze O (2015) Persönliche, einrichtungsübergreifende, elektronische Patientenakte (PEPA) – Konzept, Systemarchitektur und Umsetzungserfahrungen. Dissertation, Universität Heidelberg Heinze O, Bergh B (2014) A model for consent-based privilege management in personal electronic health records. Stud Health Technol Inform 205:413–417 Heinze O, Brandner A, Bergh B (2009) Establishing a personal electronic health record in the Rhine-Neckar region. Stud Health Technol Inform 150:119 Iakovidis I (1998) Towards personal health record: current situation, obstacles and trends in implementation of electronic healthcare record in Europe. Int J Med Inform 52(1–3):105–115 IEEE (2010) IEEE Standards Glossary – Interoperability. http://www.ieee.org/education_careers/ education/standards/standards_glossary.html. Zugegriffen: 3. Nov. 2015 Persönliche einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakten … 857 IHE-Deutschland (2014) IHE-D Cookbook für einrichtungsübergreifende Aktensysteme. 2015. http://wiki.hl7.de/index.php?title=IHE_DE_Cookbook. Zugegriffen: 5. Juni 2015 IHE-International (2014a) IHE IT Infrastructure Technical Framework Volume 1 (ITI TF-1) Integration Profiles. Revision 11.0 IHE-International (2014b). IHE IT Infrastructure Technical Framework Volume 2a (ITI TF-2a) Transactions Part A – Sections 3.1–3.28. Revision 11.0 IHE-International (2015) IHE International. http://www.ihe.net/. Zugegriffen: 1. Juni 2015 Kirchner H (2009) Chancen und Erwartungen an patientengeführte Gesundheitsakten – Evaluation der Barmer Gesundheitsakte. Telemed 2009, Berlin Neuhaus J (2007) Die elektronische Fallakte – Eine Definition und Abgrenzung aus fachlicher Sicht, Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST Nolting HD, Wasem J (2002) Der Patient vor der Wahl – Durch mehr Wissen zu mehr Verantwortung – Ergebnisse der Janssen-Cilag Bevölkerungsbefragung. DELPHI – Studienreihe zur Zukunft des Gesundheitswesens Schmücker P (1998) Die elektronische Patientenakte- Ziele, Strukturen, Präsentation und Integration. Inform Biom Epidemiologie Med Biol 29(3–4):221–241 Stroetmann KA, Jones T, Dobrev A, Stroetmann VN (2006) eHealth is Worth it – the economic benefits of implemented eHealth solutions at ten European sites. Office for Official Publications of the European Communities, Luxembourg Szolovits P, Doyle J, Long WJ, Kohane I, Pauker SG (1994) Guardian angel: patient-centered health information systems. Laboratory for Computer Science Cambridge Massachusetts Ueckert F, Goerz M, Ataian M, Tessmann S, Prokosch HU (2003) Empowerment of patients and communication with health care professionals through an electronic health record. Int J Med Inform 70(2–3):99–108 Waegemann CP (1996) The five levels of electronic health records. MD Comput 13(3):199–203 Wetter T (2016) Consumer health informatics – new services, roles, and responsibilities. Springer, Heidelberg ZTG (2011) Elektronische Akten im Gesundheitswesen – Nutzen, Ausprägungen, Datenschutz. Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen GmbH, Bochum, S 1 Über die Autoren Dr. sc. hum. Oliver Heinze  ist Diplominformatiker der Medizin. Er promovierte an der Universität Heidelberg über IHE-basierte, patientenzentrierte Architekturen elektronischer Patientenakten. Er leitet stellvertretend die Sektion Medizinische Informationssysteme des Zentrums- für Informations- und Medizintechnik am Universitätsklinikum Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind eHealth und mHealth sowie Wissensmanagement. Er engagiert sich in der Lehre, der Open eHealth Foundation sowie für IHE-Deutschland. Kontakt: Oliver.Heinze@med.uni-heidelberg.de 858 O. Heinze und B. Bergh Prof. Dr. med. Björn Bergh Von 1999 bis 2003 war Björn Bergh CIO des Universitätsklinikums Frankfurt, seitdem ist er W3-Professor für Medizinische Informationssysteme und Direktor des Zentrums für Informations- und Medizintechnik (ZIM) am Universitätsklinikum Heidelberg. Er ist Autor von 80 Veröffentlichungen und war an neun EU- sowie diversen BMBF-Forschungsprojekten beteiligt. Er ist/war Vorstandsmitglied folgender Organisationen: IHE Deutschland und Europa, EHTEL, HIMSS Europe, TMF, Open eHealth Foundation, ICMCC und nimmt diverse Beiratsaufgaben wahr. Kontakt: Bjoern.Bergh@med.uni-heidelberg.de INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation einer IT-gestützten, praxisnetzbasierten komplexen Intervention für multimorbide DMP-Diabetes mellitus Typ 2 Patienten/innen Christian Jacke, Martina Kamradt, Dominik Ose, Johannes Krisam, Joachim Szecsenyi und Hans-Joachim Salize 1 Einleitung Mit dem Wettbewerb „Gesundheitsregionen der Zukunft: Fortschritt durch Forschung und Innovation“ unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2008 die Rolle des Gesundheitswesens in Deutschland als Wachstumsmarkt mit großem Innovationspotenzial. Bisher haben Erfahrungen aus international erfolgreichen gesundheitswirtschaftlichen Modellen und vorangegangenen BMBF-geförderten Initiativen gezeigt, dass eine enge, regional fokussierte Vernetzung aller im Gesundheitswesen C. Jacke (*) · H.-J. Salize  Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim / Universität Heidelberg, Mannheim, Deutschland E-Mail: Christian.Jacke@zi-mannheim.de H.-J Salize E-Mail: Hans-Joachim.Salize@zi-mannheim.de M. Kamradt · D. Ose · J. Szecsenyi  Abt. Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: Martina.Kamradt@med.uni-heidelberg.de D. Ose E-Mail: Dominik.Ose@med.uni-heidelberg.de J. Szecsenyi E-Mail: Joachim.Szecsenyi@med.uni-heidelberg.de J. Krisam  Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: krisam@imbi.uni-heidelberg.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_46 859 860 C. Jacke et al. involvierten Akteure von besonderer Bedeutung für eine optimale Nutzung vorhandener Innovationspotenziale in Wissenschaft und Wirtschaft sind. Genau diese Erkenntnis soll im Rahmen des BMBF-Wettbewerbs „Gesundheitsregionen der Zukunft“ aufgegriffen werden. So sind Akteure aus der Gesundheitsversorgung, Forschung, IT-Entwicklung und Wirtschaft aufgerufen, sich regional eng zu vernetzen und gemeinsam Synergien freizusetzen, um die Potenziale einer Region im Gesundheitswesen durch Prozess- und Produktinnovationen zu erschließen (vgl. BMBF 2016a S. 1). Durch das Hervorbringen von marktreifen Produkten, welche bereits im Versorgungsalltag erprobt wurden, trägt dieser Wettbewerb zur Stärkung der Wertschöpfungskette in der Gesundheitswirtschaft und einer damit verbundenen Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Region bei. All dies führt letztendlich zu einer Steigerung der Qualität und Effizienz in der Patientenversorgung im Gesundheitswesen (vgl. BMBF 2016b S. 1). Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, die thematischen Schwerpunkte des geförderten Projektes „INFOrmationstechnologie für eine PATientenorientierte Gesundheitsversorgung“ (INFOPAT) in der Metropolregion Rhein-Neckar zu skizzieren. Aus der Menge der Vorhaben sei das Teilprojekt der praxisnetzbasierten komplexen Intervention, im Folgenden als CMP bezeichnet, für mehrfach erkrankte Diabetes mellitus Typ 2 Patienten/innen ausgewählt und näher beschrieben. Die Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation bzw. des sogenannten Health Technology Assessments (vgl. Perleth und Busse 2008, S. 12) seien erläutert und diskutiert, da die Bewertung von IT-gestützten komplexen Interventionen einige, für HTAs nicht unübliche Besonderheiten aufweisen. Infolge des begrenzten Rahmens muss auf die Darstellung der technischen Innovationen verzichtet werden. 2 Das INFOPAT-Projekt Das BMBF fördert insgesamt fünf „Gesundheitsregionen der Zukunft“, zu denen das INFOPAT-Projekt in der Metropolregion Rhein-Neckar seit dem Jahr 2012 zählt (vgl. Ose und Szecseny 2015, S. 84). Das INFOPAT-Projekt basiert auf Informations- und Kommunikationstechnologien und setzt thematisch verschiedene Schwerpunkte. So wendet sich das Teilprojekt P2/P3 der persönlichen, einrichtungsübergreifenden, elektronischen Patientenakte (PEPA) zu, während Teilprojekt P4/P5 drängende Fragen zur Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) bearbeitet. Weitere Schwerpunkte beziehen sich auf das Thema Warehouse und Gesundheits-Monitoring (P8/P9) sowie der Versorgungssteuerung auf Basis eines individuellen CMPs (GEDIMAplus, Projekt P6/P7). Wie alle anderen Projekte auch, will sich das letztgenannte GEDIMAplus-Projekt am Ende des mehrstufig angelegten Dialogs zwischen Entwicklungs- und Anwendungsprojekt einer sozialwissenschaftlichen und gesundheitsökonomischen Evaluation stellen, um qualitative und quantitative Evidenz über die Wirksamkeit und Nutzen, Kosten, und das Kosten-Wirksamkeit-Verhältnis der entwickelten Interventionen zu informieren. Eine INFOPAT-übergreifende Metaanalyse zielt schließlich darauf ab, die entwickelten Innovationen auf ihren Aspekt der Nachhaltigkeit zu prüfen. INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 861 2.1 IT-gestütztes, praxisnetzbasierte komplexe Intervention (GEDIMAplus) Das Teilprojekt Versorgungssteuerung zielt auf Diabetes mellitus Typ 2 Patienten ab, welche im Rahmen der alltäglichen Routineversorgung und des strukturierten Versorgungsprogrammes (Disease Management Programme, DMP) für Diabetes mellitus Typ 2 versorgt werden. Obwohl DMPs bereits die Versorgungssituation von Betroffenen verbessern können, repräsentieren sie einen krankheitszentrierten Versorgungsansatz. Zusätzlich auftretende Nebenerkrankungen (Komorbiditäten) und damit verbundene Folgen werden kaum berücksichtigt. GEDIMAplus knüpft an dieser Stelle an, indem es moderne IT-Lösungen zur Implementierung eines CMPs nutzt (vgl. Freund et al. 2011, S. 163; Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). CMPs sind speziell für Personengruppen mit mehreren, gleichzeitig auftretenden chronischen Erkrankungen entwickelt und beinhalten eine Vielzahl von vorstrukturierten und definierten Aktivitäten, die auf den Patienten und sein Hilfesystem (Angehörige, Verwandte, Freunde, Selbsthilfe, etc.) abzielen und bei der Versorgung körperlicher und psychosozialer Probleme unterstützen. Alle Anstrengungen sind auf eine Verbesserung des Gesundheitsstatus, der Versorgungsqualität, und eine Reduktion der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems gerichtet (vgl. Bodenheimer und Berry-Millett 2009, S. 4). Damit wird der Schwerpunkt auf eine individuelle, am Bedarf bemessene, patientenzentrierte Versorgung verlagert. Der konzeptionelle Ansatz des hier entwickelten CMPs basiert auf der Idee, speziell geschulte Medizinische Fachangestellte (MFA) als „Netz Case Manager/innen“ (NCM) in einem Praxisnetz, und nicht in einer einzelnen Hausarztpraxis, anzustellen. Diese Konstruktion ermöglicht die Betreuung von mehrfach erkrankten Patienten/innen aus unterschiedlichen Praxen. Auf diese Weise haben die einzelnen Hausarztpraxen kaum zusätzlichen organisatorischen und personellen Mehraufwand, sodass auch Patienten/ innen kleinerer Hausarztpraxen Zugang zu einer ergänzenden, intensiven Betreuung erhalten (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). Die Betreuung durch einen NCM im Rahmen des IT-gestützten, praxisnetzbasierten CMPs umfasst zwei Hauptelemente: 1) persönliche Bedarfsmessungen medizinischer und sozialer Aspekte sowie 2) regelmäßige Telefon-Monitoring-Kontakte mit dem Ziel, eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu erkennen und Patienten/innen hinsichtlich ihrer individuellen Fragen und Bedarfe zu beraten. Die Ergebnisse und Informationen der einzelnen Bedarfsmessungen und Telefon-Monitoring-Kontakte werden von den NCMs an die jeweilige betreuende Hausarztpraxis zurückgemeldet (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). Als Ansprechpartner der NCMs in den Hausarztpraxen fungieren sogenannte Dialogassistenten/innen (DA), die als MFA ohnehin jede Arztpraxis vorhält. Die DAs stellen den Informationsfluss zwischen NCM und betreuendem Hausarzt/betreuender Hausärztin sicher (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). 862 C. Jacke et al. Bei der Ausübung der Tätigkeiten steht den NCMs und DAs die Software „ICW Care Manager“ der InterComponentWare AG, Walldorf, (ICW) zur Verfügung, welche speziell an die Anforderungen eines praxisnetzbasierten CMPs im Laufe des INFOPAT-Projekts angepasst wurde. Die webbasierte Software zeichnet sich durch eine aufgabenorientierte Darstellung von Versorgungsprozessen aus, die je nach Bedarfslage dem einzelnen Patienten zugeordnet werden. Die speziell für das Projekt erarbeiteten Versorgungsabläufe, sogenannte Workflows, sind in der Software hinterlegt. Als Basis für die Workflows dienten aktuelle Leitlinien, Behandlungspfade sowie Ergebnisse einer vorgeschalteten, qualitativen Befragung von Diabetikern/innen und beteiligten Leistungserbringern (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). Darüber hinaus bietet die Software eine umfassende Informationsbasis über weitere Informationsquellen, Hilfe-Einrichtungen, Ansprechpartner etc., welche die NCMs bei der Beratung und Unterstützung von Patienten/innen nutzen. Erstellt wurde diese Datenbasis mit maßgeblicher Beteiligung der Selbsthilfe Heidelberg/Mannheim (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). Jeder einzelne Schritt im erstellten Versorgungsprozess ist in Form einer Aufgabe definiert, welche von den NCMs systematisch abgearbeitet und dokumentiert wird. Ist an eine Aufgabe, wie bei der persönlichen Bedarfsmessung und dem Telefon-Monitoring, die Erhebung von Daten geknüpft, so erfolgt dies mithilfe eines elektronischen Formulars. Das Formular ist Teil der Software und erfasst spezifische, vorab definierte Informationen. Interventionsbezogene Datenerhebungen sind allerdings von studienbezogenen Datensammlungen zu unterscheiden (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243; Kamradt et al. 2015, S. 59). 2.2 Randomisiert kontrollierte Interventionsstudie Der Wirksamkeitsnachweis erfolgt im Rahmen einer zweiarmigen, randomisiert kontrollierten Multicenter-Studie (RCT) über insgesamt 18 Monate. Zielgruppe dieser Studie sind mindestens 18-jährige Patienten/innen mit Diabetes mellitus Typ 2 (International Classification of Diseases Version 10: E11–E14), die in ein DMP für Diabetes mellitus Typ 2 eingeschrieben sind und mindestens zwei weitere, schwerwiegende chronische Erkrankungen aufweisen. Patienten/innen mit folgenden Merkmalen wurden ausgeschlossen: Demenz (ICD 10: F00–F03), schwerwiegende seelische oder verhaltensbezogene Störungen (ICD 10: F11–F16, F18, F19, F20–F29), bösartige Neubildungen (ICD 10: C00–C97) unter Chemo-/Radiotherapie, Organ-/Gewebetransplantation (ICD 10: Z94), oder Dialyse-Versorgung (ICD 10: Z49). Patienten/innen mit Sprach- und Verständnisschwierigkeiten sowie Notfälle wurden ebenso ausgeschlossen (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). Die Rekrutierung von Patienten/innen (N = 495) erfolgte in 21 Hausarztpraxen des Praxisnetzes der Genossenschaft Gesundheitsprojekt Mannheim (GGM). Die anschließende Randomisierung in die Interventions- und Kontrollgruppe erfolgte stratifiziert INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 863 nach Insulinbehandlung (ja/nein) und betreuendem Hausarzt/betreuender Hausärztin (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). Patienten/innen der Kontrollgruppe werden nach den Prinzipien der Regelversorgung und des DMP Diabetes mellitus Typ 2 versorgt. Die Teilnehmer/innen der Interventionsgruppe erhalten zusätzlich eine ergänzende, individuelle Betreuung durch einen NCM (insgesamt elf). Innerhalb der ersten neun Monate erhält ein Patient zwei Besuche zu Hause (zu Interventionsbeginn und nach sechs Monaten) sowie 15 Telefon-MonitoringKontakte (Monat 1–6: alle zwei Wochen; Monat 7–9: alle vier Wochen) (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). Abb. 1 skizziert das Interventions- und Studiendesign während der ersten neun Monate. Datenerhebungen für die klinischen und gesundheitsökonomischen Bewertungen erfolgten zum Zeitpunkt des Studieneinschlusses (T-0), nach neun (T-1) und nach 18 Monaten (T-2). Die Wirksamkeit der IT-gestützten, praxisnetzbasierten CMPs bemisst sich am Selbstsorgeverhalten nach neun Monaten. Der hierzu ins Deutsche übersetzte Fragebogen „Summary of Diabetes Self-Care Activities Measure“ (SDSCA-G) zeigte nach empirischer Prüfung eine akzeptable Reliabilität und Validität (vgl. Kamradt et al. 2014, S. 185). Der primäre Endpunkt des GEDIMAplus Projekts zielt auf den Gruppenunterschied in der durchschnittlichen Veränderung des Selbstsorgeverhaltens (SDSCA-G) zwischen den Messzeitpunkten T0 und T1 ab. Ein Wirksamkeitsnachweis des IT-gestützten, praxisnetzbasierten CMPs in der intensiven Anwendungsphase (Monate 1–9) wird gesucht. Zu tiefer gehenden Details sei auf das veröffentlichte Studienprotokoll verwiesen (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). Abb. 1  Studien- und Interventionsdesign. Legende: (R) Randomisierung, (Punkt) Heimbesuch der Netz-Case-Managerin mit Bedarfsmessung zu Beginn und nach sechs Monaten, (Kringel) Zielvereinbarung zwischen Arzt und Patient auf Basis von Bedarfsmessung, (Quadrate) Telefon-Monitoring, davon alle zwei Wochen in den Monaten 1–6 und alle vier Wochen in den Monaten 7–9, insgesamt 15 Mal in den Monaten 1–9. (In Anlehnung an Bozorgmehr, 2014, S. 243) 864 C. Jacke et al. 2.3 Health Technology Assessment (HTA) Die ökonomisch motivierten Analysen haben die Aufgabe, die klinischen Ergebnisse den assoziierten Kosten gegenüberzustellen und ein Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis zu ermitteln. Das Ergebnis soll später alle beteiligten Interessengruppen dazu befähigen, über die finanzielle Mittelzuweisung (Allokation) und eine mögliche Überführung in den Routinealltag zu entscheiden. Von diesem Ziel werden in erster Linie die Patienten/innen profitieren, für die die Intervention entwickelt wurde. Bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus ist jedoch häufig zu beobachten, dass auch die familiären Angehörigen nicht unbeteiligt bleiben. Ihre Unterstützung bedeutet für die Angehörigen Aufwendungen (Zeit, Geld), die für kurze Fahrten zum Arzt, Medikamentenzuzahlungen, bis hin zum Karriereverzicht (z. B. durch Pflege) reichen können. Diese, zum Teil bewusst vom Gesundheitswesen externalisierten Gesundheitsleistungen, bedeuten finanzielle und familiäre Belastung der Angehörigen (vgl. Chisholm et al. 2000, S. 28), deren Situation ebenfalls in die Studie einging. 2.4 Studiendesign und Perspektive Mit dem RCT-basierten Studiendesign sind bereits viele Entscheidungen über die Studienart gefallen. Eine am Patienten selbst ansetzende Studie erfüllt das Merkmal eines Bottom-up-Ansatzes, das heißt, alle benötigten Daten werden direkt an den Untersuchungseinheiten erhoben, verarbeitet und aggregiert. Es müssen keine bedeutsamen, möglicherweise fehlenden Daten mühsam konstruiert oder aus aggregierten Sekundärdaten für jedes Individuum extrahiert werden (Top-down-Ansatz) (vgl. Schöffski 2012, S. 181). Mit der Anzahl von zwei Vergleichsgruppen im RCT fiel ebenfalls die Entscheidung, dass eine nicht-vergleichende Studienform auszuschließen war und eine Kosten-Wirksamkeitsanalyse (Cost effectiveness analysis, CEA) durchgeführt werden sollte, da dieses Analysemodell klinische Outcome-Kriterien in „natürlichen Einheiten“ verarbeiten kann (vgl. Schöffski 2012, S. 192). Der Begriff „natürliche Einheiten“ war ursprünglich auf Outcomes wie „zusätzlich gelaufene Meter“ oder „gewonnene Lebensjahre“ bezogen. Die von der Hauptstudie vorgegebenen „zusätzlich gewonnenen Einheiten im Selbstsorgeverhalten“ dürfen methodisch aber identisch behandelt werden, da sie sich von rein monetären oder synthetischen Alternativen als Endpunkte (z. B. Quality Adjusted Life Years, QALY) stark unterscheiden. Mit Wahl des Ansatzes und der Studienform ist es schließlich die Aufgabe der HTASubstudie, den Begriff der Kosten inhaltlich zu füllen und empirisch zu messen. Dabei entscheidend ist die Perspektive, da diese bestimmte Kostenarten für „Zahler“ oder „Empfänger“ ein- oder ausschließt und damit das Endergebnis entscheidend mitbestimmt (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 46). INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 865 In der vorliegenden Studie erfolgt die Auslegung der Kosten aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive, da diese alle Kosten aus volkswirtschaftlicher Sicht enthält. Der Wahl der Perspektive folgt die Konvention, den Terminus „Kosten“ durch „Ressourcenverbrauch“ zu ersetzen. Mögliche Missverständnisse seien hiermit ausgeschlossen. Allerdings ist es insbesondere bei E-Health-Projekten heikel, eine genaue Grenze von relevanten und irrelevanten Ressourcenverbräuchen (vgl. Drummond 2005, S. 17) des Studienobjektes zu bestimmen. Letzteres muss daher klar abgegrenzt sein. 2.5 Untersuchungsgegenstand Den Kern der CMP-Intervention bilden die E-Health-Komponenten, das heißt die ICW Care Manager Software mit ihren Workflows. Die Software entfaltet allerdings erst ihre volle Wirkung, wenn sie mit den dazugehörigen Personen (NCM, DA, Arzt/Ärztin, Patienten/innen) interagiert. Ohne die fachgerechte Bedienung der Anwender wäre die Software zunächst ohne Nutzen. Daher bilden Personen und Software einen untrennbaren Verbund miteinander, den es unter Alltagsbedingungen zu bewerten gilt. Die gewählte Definition des Studienobjektes umfasst damit alle Maßnahmen während der Implementierungsphase. Dazu zählen alle personellen Maßnahmen (inkl. Schulungen) vor der Interventionsphase und die konkrete Anwendung während der Interventionsphase. Alle vorgelagerten Entwicklungsschritte und dazu verbrauchten Ressourcen werden nach dieser Definition von der empirischen Bewertung ausgeschlossen. Die Produktentwicklungsphase und das dazu genutzte, technische und medizinische Spezialwissen fließen – in erster Instanz – nicht in die Bewertung ein. 2.6 Empirische Messung von Ressourcenverbräuchen Die monetäre Bewertung der verbrauchten Ressourcen erfolgt in zwei Schritten (vgl. Icks et al. 2010, S. 5). Im ersten Schritt werden alle verbrauchten Ressourcen (Q) quantitativ erfasst. Im zweiten Schritt werden die Mengen dann mit Preisen (P) gewichtet. Das resultierende Produkt aus Q * P bezeichnet dann die Elementkosten, die meist noch diskontiert werden. Diskontierungen sind erforderlich, wenn Ressourcenverbräuche und Nutzeneffekte zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen. Die Diskontierung gewährleistet, dass sich beide Dimensionen auf den gleichen Zeitpunkt beziehen (vgl. Perleth und Busse 2008, S. 217). Diese Prozedur ist auf beide Vergleichsgruppen anzuwenden. In der Kontrollgruppe sind das die Ressourcenverbräuche, die in der alltäglichen Routineversorgung anfallen zuzüglich einer DMP-Verwaltungspauschale. Außerdem fallen indirekte Verbräuche (s. nachfolgender Abs.) an. Zur Messung dieser Ressourcenverbräuche wurden die ­Patienten/innen mit dem „Mannheimer Modul Ressourcenverbrauch“ (MMRV) befragt, 866 C. Jacke et al. der jeweils die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in den zurückliegenden drei Monaten erfasst (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 56). In der Interventionsgruppe fallen zusätzlich noch die Ressourcenverbräuche in der zuvor genannten Implementierungsphase an. Letztere untergliedert sich in die Bereitstellungs- und Interventionsphase. Tab. 1 gibt einen ersten Überblick. Bei der Software handelt es sich um eine webbasierte Lösung, die zentral auf virtuellen Servern des Zentrums für Informatik und Medizintechnik (Universitätsklinikum Heidelberg) bereitgestellt und regelmäßig gewartet werden muss. Dazu muss zunächst eine für die Software passende Hardware angeschafft werden (s. Tab. 1). Der Zugriff auf die Software erfolgt über das Internet. Durch einen Vertrag mit einem Mobilfunkanbieter (z. B. Internet Flatrate) wird sichergestellt, dass die gesammelten empirischen Daten der NCMs bei den Heimbesuchen (Stichwort Bedarfsmessung) oder beim Telefon-Monitoring von zu Hause aus übertragen werden können. Die Daten werden, genauso wie die Software, auf virtuellen Servern des Zentrums für Informatik und Medizintechnik (Universitätsklinikum Heidelberg) vorgehalten. Daneben fällt die einmalige Installation und Konfiguration der ICW Care Management Software an. Die Lizenz je eingeschriebenem Patient und Jahr (Subskriptionsmodell) fallen an. Zur fachgerechten Nutzung bedarf es zudem zweier Trainer, welche die Produktschulungen der Anwender übernehmen. Die eigentliche Intervention erfordert NCMs (Personalverträge), die zuvor genannte technische Softwareschulung sowie interventionsspezifische Schulungen, die auf die Heimbesuche und das Telefon-Monitoring vorbereiten. Letztere sowie der erhöhte Koordinations- und Managementaufwand der Intervention wird dem durchführenden Praxisnetzwerk Genossenschaft Gesundheit Mannheim (GGM) mit einer Managementpauschale je Patient/in abgegolten. Analog wird der erhöhte Managementaufwand der Dialogassistent/in bewertet. Daneben sind die Fahrtkosten der NCMs für die Besuche bei den Patienten/innen zu Hause zu berücksichtigen. Schließlich leistete die GGM die notwendige Supervision der NCMs, um Problemen in der Feldphase frühzeitig zu begegnen und eine hohe Interventionstreue der NCMs und der Patienten/innen zu gewährleisten. Die genannten Verbräuche adressieren alle direkten medizinischen und nicht-medizinischen Kosten in der Kontroll- und Interventionsgruppe, das heißt Ressourcenverbräuche, die direkt mit der medizinischen Versorgung und/oder der Intervention in Verbindung stehen. Diese werden, je nach Verfügbarkeit, mit vorgeschlagenen, standardisierten Preisen (vgl. Krauth et al. 2005, S. 736; Bock et al. 2015, S. 53) gewichtet, um später eine höhere Vergleichbarkeit mit anderen Studien zu gewährleisten. Davon zu unterscheiden sind die verbrauchten Ressourcen, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Versorgung stehen (indirekten Kosten). Dazu zählen in erster Linie die volkswirtschaftlichen Produktivitätsausfälle infolge von Arbeitsunfähigkeitstagen, die mit den durchschnittlichen Arbeitskosten in Deutschland je Tag gewichtet werden („Humankapitalansatz“) (vgl. Schöffski 2012, S. 165). Zu den indirekten Kosten müssen aber auch die Sekundärbelastungen von Familienmitgliedern und Angehörigen INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 867 Tab. 1  Ressourcenverbräuche in der Interventionsgruppe Art Merkmal Beschreibung Hardware Laptops 11 Tasche, Mouse 11 UMTS-Serverstick 11 Verträge zum Flatrates Telefonanbieter 11 Mengen Bereitstellung CMP-intensiv CMPRoutine 11 11 9 9 Wartung (mtl.) 9 9 Netzwerk (mtl.) 9 9 N N 11 11 Virtuelle Server Bereitstellung (mtl.) Software (ICW Care Manager) Rollout Installation, Konfiguration Lizenz Je eingeschriebenem Patient-/in Trainer Anwender-/NCM 2 Schulung Praxisnetzwerk- Netz-CaseManagement Manager/innen (NCM) 1 MFA-Personalverträge (400 EUR mtl.) 11 Schulung der NCMs Einheiten von je 45 min 30 Praxisnetz GGM Managementpauschale je Patient N N DialogAssistent/-in (MFA) Managementpauschale je Patient N N NCM Hausbesuche Fahrtkostenpauschale N N Supervision NCMs durch GGM Je Monat á 2 h 18 18 Legende: (CMP-intensiv) Komplexe Intervention in den Monaten 1–9, (CMP-Routine) Komplexe Intervention in den Monaten 10–18, (UMTS) Universal Mobile Telecommunications Systems, (ICW) InterComponentWare, (NCM) Netz-Care-Manager/-in, (MFA) Medizinische Fachangestellte (GGM) Genossenschaft Gesundheitsprojekt Mannheim, (N) Numerus/Anzahleingeschriebener Patienten 868 C. Jacke et al. gerechnet werden, auch wenn diese zu den unbezahlten, informellen Leistungen zählen (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 37). In der vorliegenden HTA-Studie konzentriert sich die Analyse auf die finanzielle Belastung der Angehörigen. Dazu wurde die deutsche Version des „Involvement Evaluation Questionnaire“ (IEQ-EU) (vgl. Bernert et al. 2001, S. 97) an die Zielpopulation angepasst. Der Fragebogen erfasst die Höhe der Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen, die Angehörige zur Unterstützung ihrer erkrankten Familienmitglieder aufwenden mussten. Neben diesen monetären Transfers leisten Angehörige jedoch erhebliche Unterstützungsleistungen, die vom stundenweisen Verzicht ihrer Berufstätigkeit bis hin zur Aufgabe der Erwerbstätigkeit führen können. Auch diese zum Teil umstrittenen Dimensionen gingen in die Datenerhebung ein. 2.7 Durchführung der empirischen Messungen Die empirischen Erhebungen erfolgten gemeinsam mit der Hauptstudie, die im Wesentlichen die MFAs der Hausarztpraxen koordinierten. Nach Aufklärung durch den Hausarzt/ die Hausärztin händigten die MFAs den Patienten/innen den MMRV-Fragebogen noch in der Praxis aus. Dort wurde er ausgefüllt und zurückgegeben. Vor Verlassen der Praxis erhielten die Patienten/innen zudem einen Umschlag für ihre Angehörigen. Studieninformationen, die Einverständniserklärung, sowie der Fragebogen (IEQ-EU) wurden an den entsprechenden Angehörigen weitergegeben. Im vorfrankierten Rückumschlag erreichte der ausgefüllte Fragebogen schließlich direkt die Studienzentrale. Alle verwendeten Fragebögen, das heißt der MMRV und IEQ-EU, lagen in deutscher und türkischer Sprache vor, sodass die Patienten/innen und ihre Angehörigen in ihrer jeweiligen Muttersprache antworten konnten. 2.8 Statistische Analysen Das gewählte CEA-Studiendesign erlaubt die Schätzung der inkrementellen KostenEffektivitätsrelation (IKER). Der IKER ist ein Quotient, der im Zähler die durchschnittliche Kostendifferenz und im Nenner die durchschnittliche Wirksamkeitsdifferenz zwischen den Vergleichsgruppen enthält. Die Differenzen beruhen auf den Followup Messwerten, das heißt, im konkreten Fall dieser Studie auf den Werten nach neun Monaten. Der resultierende Punktschätzer kann in einem Kosten-Effektivitäts-Diagramm abgetragen werden, um eine visuelle Entscheidungshilfe über die Kosten-Effektivität zu erhalten (vgl. Glick 2007, S. 134). Ein Punktwert allein kann aber immer von der konkret gezogenen Stichprobe abhängig sein, das heißt, der interessierende Schätzwert kann mal höher oder mal niedriger ausfallen, je nach konkreter Stichprobenrealisation. Um die Schwankungsbreite zu quantifizieren und die Unsicherheit anzugeben, können Vertrauensintervalle über die INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 869 Präzision der Schätzmodelle berichten. Allerdings kann es bei der Berechnung des IKER dazu kommen, dass der Nenner den Wert Null annimmt. In einem solchen Fall wäre der IKER nicht schätzbar und die Verteilungsfunktion bliebe undefiniert (sogenannte Cauchy-Verteilung). Um dieses methodische Problem zu lösen, werden wiederholte Stichproben mit Zurücklegen (nicht-parametrische Bootstraps) gezogen, um den Grad der Unsicherheit mit einem Vertrauensintervall auszudrücken. Üblicherweise werden dazu 1000 Bootstraps gezogen, sodass man 1000 IKER-Punktschätzer erhält. Diese lassen sich als Punktwolke bzw. Konfidenzellipse ebenfalls im Kosten-Effektivitäts-Diagramm abtragen (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 126). Die Punktwolke allein beantwortet aber noch nicht die Frage, um wie viel teurer die entwickelte Innovation sein darf. Diesen Grenz- bzw. Schwellenwert nennt man die maximale Zahlungsbereitschaft (willingness to pay, WTP), ab dem die Mehrkosten einer Innovation als gesellschaftlich und gesundheitspolitisch vertretbar sind (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 124). Betrüge die WTP der entwickelten Innovation beispielsweise wie in den USA weniger als 50.000–60.000 US$ je zusätzlicher Einheit im Selbstsorgeverhalten, so gelte die Innovation in den USA als wirtschaftlich und könnte zur Übernahme in die Routineversorgung empfohlen werden. In Deutschland gibt es allerdings solche Schwellenwerte nicht, sodass bei jeder Innovation individuell über die Annahme oder Ablehnung beraten und entschieden werden muss. Alternativ können gesundheitsökonomische Methoden aber dennoch aktiv werden und auf Basis von Wahrscheinlichkeiten eine mögliche Antwort anbieten. Dabei geht das Netto-Nutzen-Verfahren (Net-Monetary-Benefit, NMB) folgender Frage nach: Wie hoch müsste die WTP für eine zusätzliche Selbstsorgeeinheit sein, um mit 95-prozentiger Sicherheit von einer kosteneffektiven Intervention ausgehen zu können? Grafisch gesprochen, wird bei der Beantwortung der Frage durch die IKER-Punktwolke eine Gerade mit Ursprung im Nullpunkt angelegt und die Steigung der Geraden so lange erhöht, bis 95 % aller IKER-Punktschätzer rechts neben der Geraden liegen. Die Steigung der Geraden λ entspricht dann der gesuchten Zahlungsbereitschaft WTP, dessen Schwankungsbreite ebenfalls mit einem Konfidenzintervall angegeben werden kann (vgl. Glick 2007, S. 137). Mathematisch wird für jedes Individuum (i) ein Nettonutzen ermittelt, bei dem der monetär gewichtete Wirksamkeitseffekt (λ * Ei) die Interventionskosten (Ki) übersteigt: NMBi = (λ * Ei) −Ki > 0 (vgl. Salize und Kilian 2010, S. 132). Die gewonnenen Schätzergebnisse können dann weiter dazu genutzt werden, die schrittweise erhöhten WTP (x-Achse) und den jeweiligen Anteil der Individuen mit positivem Nutzen (y-Achse) auf der sogenannten Kosteneffektivitäts-Akzeptanzkurve abzutragen. Das Netto-Nutzen-Verfahren kann auch im Zuge multivariater Methoden für studiendesignspezifische Effekte oder Unterschiede zwischen den Individuen genutzt werden. Wie in der Hauptstudie können gemischt-lineare Regressionsmodelle geschätzt werden, die trotz randomisiert kontrolliertem Studiendesign beispielsweise die Merkmalsunterschiede zwischen den Hausarztpraxen berücksichtigen können. 870 C. Jacke et al. 3 Diskussion Die entwickelte IT-Lösung für eine praxisnetzbasierte komplexe Intervention erweitert die Funktionalität von DMPs, indem es über die Versorgung von nur einer Erkrankung (z. B. Diabetes mellitus Typ 2) hinausgeht und die Begleiterkrankungen in den Fokus der Versorgung nimmt. Nicht zu verwechseln ist die Intervention mit fallbezogenen Ansätzen, die in der Regel für kleine Gruppen ausgelegt sind und kurzweiliger sowie unstrukturierter sind (vgl. Bodenheimer und Berry-Millett 2009, S. 4). CMPs hingegen sind für größere Populationen entwickelt und mittel- bis langfristig orientiert, vorstrukturiert und mit vordefinierten, evidenzbasierten Versorgungspfaden nach Maßgabe von Leitlinien hinterlegt. Sie zielen eher auf eine Qualitätsverbesserung und Ausgabenreduktion ab und erfordern klinisch versiertes, und geschultes Personal. Im Vergleich zu Case-Managementansätzen bietet die entwickelte CMP-Intervention zudem den Vorteil, bereits eine transparente Dokumentation über den Krankheits- und Versorgungsverlauf anzulegen. Vor dem Hintergrund enormer administrativer Kosten im ambulanten Sektor von mehr als ca. vier Mrd. Euro jährlich (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2015, S. 1) ein zunehmend wichtiger Aspekt, zu dem E-Health-Lösungen einen Beitrag leisten können. 3.1 Alternatives Studiendesign Das INFOPAT-Projekt zeichnet sich durch die multidisziplinäre Ausrichtung aller Beteiligten aus, indem alle Partner direkt oder indirekt an der Entwicklung der Hauptstudie und den Evaluationsstudien beteiligt sind. Diese Situation ist für alle Beteiligten von großem Vorteil, da sich insbesondere die HTA-Substudie jederzeit an den Entscheidungen zum Studiendesign einbringen konnte. Diese Herangehensweise stellt sicher, dass zur Evaluation alle notwendigen Daten aller im Fokus stehenden Personen (Patienten/innen, Angehörige) zur Verfügung stehen. Diese, in der Regel eher seltene Konstellation, ist als ideal für die Durchführung gesundheitsökonomischer Evaluationen einzustufen. Allerdings muss man zugeben, dass der zeitliche und finanzielle Aufwand für eine Kosten-Effektivitätsstudie mit patientenbezogenen Endpunkten vergleichsweise hoch ist. Im Falle des ambitionierten INFOPAT-Projektes erscheint dieser Aufwand aber legitim, um später präzise Schätzergebnisse für die Entscheidungsfindung vorzulegen. Bei Letzterer wird man allerdings feststellen, dass sich die erzielten Ergebnisse nur mit den Ergebnissen anderer Studien vergleichen lassen, wenn diese 1) ebenfalls auf das gleiche ausgewählte Patientenkollektiv abstellen und 2) als Endpunkt ebenfalls den Indikator des Selbstsorgeverhaltens wählen. Insofern ist die Vergleichbarkeit mit anderen Studienergebnissen stark eingeschränkt. Diesen Nachteil hätte man teilweise mit einem anderen Studiendesign auflösen können, beispielsweise mit einer Kosten-Nutzenwert-Analyse (cost-utility analysis, CUA, vgl. Schöffski 2012, S. 201). Anstatt des primären Endpunkts des Selbstsorgeverhaltens hätte lediglich die Lebensqualität mit einem generischen Instrument (z. B. EQ-5D-3L) INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 871 gemessen werden müssen. Dieses wiederum hätte man auf Basis indirekter Methoden mittels sogenannter „value sets“ (vgl. Szende et al. 2007, S. 25) in qualitätsadjustierte Lebensjahre (Quality Adjusted Life Years, QALY) transformiert. QALYs sind berechtigterweise viel kritisiert, haben aber den Vorteil, die Studienergebnisse über mehrere Studien, Interventionen, und Krankheitsbilder hinweg vergleichen zu können. Das beschriebene Vorgehen hätte aber bedeutet, den Endpunkt der Hauptstudie zu verändern. Zudem hätte eine Anpassung der Fallzahlberechnungen vorgenommen werden müssen, da sich die Power-Berechnungen auf den Endpunkt des Selbstsorgeverhaltens bezogen (vgl. Bozorgmehr et al. 2014, S. 243). Da die gesundheitsökonomische Evaluation aber letztlich kein Selbstzweck ist und nicht den Endpunkt der eigentlichen Hauptstudie verändern kann, ist aus den genannten Gründen die Lebensqualität als ein sekundärer Endpunkt eingegangen. Mit dieser Entscheidung wurde ein möglicher systematischer statistischer Fehler (Beta-Fehler) zugunsten der Vergleichbarkeit der Studienergebnisse bewusst in Kauf genommen. 3.2 Wirksamkeit von E-Health-Lösungen Mit der volkswirtschaftlichen Perspektive sollen sämtliche, relevante Kosten- und Nutzendimensionen der entwickelten Intervention angesprochen werden (vgl. Graf von der Schulenburg et al. 2007, S. 286). Die entwickelte E-Health-Intervention erzeugt jedoch deutlich mehr Nutzeneffekte als das gewählte Selbstsorgeverhalten je erfassen könnte. Diese Nutzeneffekte entstehen unmittelbar bei allen anderen Personengruppen (z. B. Hausarzt/Hausärztin, MFA/DA, NCMs, Angehörige, etc.) und mittelbar bei vor- und nachgelagerten Institutionen der Mesoebene (z. B. soziale Sicherungssysteme) oder der Makroebene, die ebenfalls von der sekundärpräventiven Ausrichtung des CMP-Ansatzes profitieren. Diese sekundären Effekte übersteigen jedoch den Rahmen und die methodischen Möglichkeiten jeglicher gesundheitsökonomisch motivierten Evaluationsstudie, weshalb sie auch in diesem Evaluationsprojekt nicht berücksichtigt werden können. Um aber dennoch die organisatorischen, rechtlichen, ethischen und soziokulturellen Aspekte (vgl. Perleth und Busse 2008, S. 167) zu untersuchen, ist eine sozialwissenschaftlichqualitative Evaluation und eine Metaevaluation auf Nachhaltigkeit des INFOPAT-Projekts im übergeordneten Projektmanagement fest verankert. Alternativ hätte man das Problem der unzureichenden Indikatoren von Nutzeneffekten ebenfalls lösen können, indem man die Perspektive verändert, z. B. auf die der Kostenträger oder Leistungserbringer. Eine solche Einengung/Fokussierung der Perspektive wurde aber abgelehnt, da mit diesem Perspektivwechsel das ursprüngliche Ziel einer Sektor übergreifenden Versorgung verloren gegangen wäre. Zudem hätten relevante Kostendimensionen vernachlässigt werden müssen, da bestimmte Kostenkategorien von Kostenträger oder Leistungserbringer nicht getragen werden müssen, das heißt irrelevant sind. Hoch relevant dagegen ist die Wahl der Messzeitpunkte, zu denen Nutzeneffekte bzw. die Wirksamkeit auf den primären Endpunkten erwartet werden. Ist das 872 C. Jacke et al. Beobachtungsintervall zu kurz, kann die volle Wirkung der Intervention nicht gemessen werden. Ist das Intervall zu lang, gehen erste wirksame Effekte für eine empirische Messung möglicherweise verloren. In Zusammenhang mit IT-Lösungen ist zudem zu beobachten, dass sich in den ersten Wochen und Monaten noch Lernkurven bei den Anwendern einstellen. Zeitverzögerte Effekte sind einzukalkulieren. Insofern ist die Unterscheidung der intensiven Interventionsphase in den ersten neun Monaten und einer Versorgungsphase unter Routinebedingungen ein Kompromiss, um individuell unterschiedliche Start- und Lernbedingungen sowie -geschwindigkeiten bei Anwendern/innen und Patienten/innen auszugleichen. 3.3 Ressourcenverbräuche von E-Health-Lösungen Auf der Seite der direkten und indirekten Kosten der Studie gingen die direkten Versorgungskosten mit in die empirische Messung ein. Generell muss das nicht notwendigerweise so sein, wenn die Intervention unabhängig von der Routineversorgung ist (vgl. Drummond 2005, S. 17). Die vorliegende komplexe Intervention allerdings beabsichtigt eine gezielte Inanspruchnahme auszulösen, indem die NCMs mittels Telefon-Monitoring die Bedarfe der Patienten/innen an die DAs/Hausärzte zurückmelden und gegebenenfalls eine frühzeitige Inanspruchnahme auslösen. Insofern müssen die direkten Versorgungskosten erhoben werden, um auch das übergeordnete Ziel der höheren Versorgungsqualität und der reduzierten Versorgungskosten durch die entwickelte komplexe Intervention (vgl. Bodenheimer und Berry-Millett 2009, S. 4) messen zu können. Die Wahl des Erhebungsinstruments (hier: MMRV, IEQ-EU) ist dabei eher unerheblich, da die meisten anderen Fragebögen wie z. B. der generische FIMA (vgl. Seidl et al. 2015, S. 46) oder diabetesspezifische Instrumente (vgl. Chernyak et al. 2012, S. 303) die gleichen Dimensionen erfragen und ohnehin an das gewählte Patientenkollektiv oder die jeweilige Krankheitsphase (inkl. Komorbiditäten) an das Studienziel angepasst werden. Diese Anpassungen sind als unproblematisch einzustufen, da sich die Fragebögen letztlich nur mit der reinen Mengenerfassung in Anspruch genommener Güter und Dienstleistungen befassen und keinerlei psychometrische Eigenschaften besitzen. 3.4 Interventionskosten der E-Health-Lösung Als problematisch kann man die sehr hohen, aber branchenüblichen IT-Entwicklungskosten und Schulungen durch hoch qualifizierte Trainer ansehen, da diese Posten die Interventionskosten in die Höhe treiben und entsprechende Zuwächse auf der OutcomeSeite für eine angestrebte Kosten-Effektivität erwarten lassen. Dieses IT-typische Problem einmalig hoher Entwicklungskosten sollte auf zweierlei Weise begegnet werden. Zunächst wurden die Entwicklungskosten per Definition ausgeschlossen, da nicht der technische Entwicklungsprozess, sondern das Endprodukt im Alltagsbetrieb bewertet INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 873 werden soll. Da aber das beteiligte IT-Unternehmen einen Gewinn erwirtschaften will, ist ein vorläufiges, patientenbezogenes Einschreibe- bzw. Subskriptionsmodell als Geschäftsmodell ausgewählt worden. Dieses Geschäftsmodell ist eines unter vielen möglichen und beinhaltet zwei Stellschrauben für den wirtschaftlichen Erfolg: die Anzahl der eingeschriebenen Patienten/innen (Menge) und die Höhe des monatlichen Preises. In der jetzigen Phase kann über die Anzahl eingeschriebener Patienten/innen keine zuverlässige Angabe gemacht werden. Daher konzentrierten sich die Überlegungen auf die monatlich anfallenden Lizenzgebühren, die sich nach der erwarteten Länge des Produktlebenszyklus richten und an den Aufwendungen für die zusätzlichen Serviceleistungen wie technischen Support via Telefon-Hotline (Support-Level II–III) orientieren. Das entwickelte Geschäftsmodell besitzt aber im derzeitigen Stadium eher einen Vorschlagscharakter, der explizit offenlässt, wer und in welcher Höhe über welchen Zeitraum die IT-bezogenen Ressourcenverbräuche trägt. Dennoch sind die Angaben so realistisch wie möglich quantifiziert worden, um die Evaluation so nah wie möglich an eine Intervention im Routinealltag zu bringen. Eine Kostenübernahme beispielsweise durch Krankenkassen soll auf diese Weise nicht zusätzlich erschwert werden. Allerdings sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Krankenkassen nicht als die alleinigen Betreiber infrage kommen. Es gibt durchaus noch eine ganze Reihe anderer Interessengruppen, für welche die komplexe Intervention Nutzen stiftend ist. Das zuvor genannte Argument der Realitätstreue greift insbesondere bei Schulungen durch hoch qualifizierte Trainer, die in den Interventionskosten enthalten sind und in die Kostenerfassung eingehen. Aufgrund der Komplexität der Software ist diese Schulung notwendig, da man ansonsten mit einer geringeren Wirksamkeit der entwickelten Intervention rechnen muss. Diese Erfassung berichtet damit anderen, interessierten Gesundheitsregionen unverzerrt über die zu erwartenden Implementierungskosten. 3.5 Indirekte Kosten: Angehörige Diabetes mellitus Typ 2 ist eine chronische Erkrankung, von der auch die Angehörigen betroffen sind. Allerdings misst die Substudie lediglich die ökonomischen Auswirkungen der E-Health-Lösung und verzichtet auf die Messung emotionaler Aspekte (vgl. Do et al. 2015, S. 224) oder intervenierender Einflüsse durch (Ehe-)Partner (vgl. Beléndez et al. 2010, S. 205). Dem allgemeinen Argument der Externalisierung von Systemleistungen auf Angehörige sei hinzugefügt, dass auch die entwickelte E-Health-Lösung durchaus eine entlastende Wirkung auf die Angehörigen ausüben kann. So sorgt das regelmäßige Telefon-Monitoring der NCMs für eine gezielte und planbare Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bzw. kann vermeiden helfen, möglicherweise unnötige Arztbesuche oder spontane Notaufnahmen in Anspruch zu nehmen. Mögliche Zuzahlungen, Fahrtkosten der Angehörigen, stundenweise Unterbrechungen der Arbeit, ambulante oder Pflege zu Hause etc. können vermieden werden. Möglicherweise kann emotionaler Stress der Angehörigen reduziert und einer eigenen Erkrankung vorgebeugt werden. Letztere 874 C. Jacke et al. Erwartung ist jedoch umstritten und schwer zu belegen, da die Angehörigen möglicherweise auch so erkrankt wären. Dennoch sei dieser Aspekt untersucht und den indirekten Kosten zugeordnet, um die Diskussion auch auf diesem Feld zu beginnen. 4 Analysen und Ergebnisse Die statistischen Analysen folgen dem derzeit aktuellen Stand gesundheitsökonomischer Methoden und ermöglichen am Ende des Projektes eine gemeinsame Diskussion von klinischen und ökonomischen Ergebnissen. Allerdings sei gesagt, dass auch die ökonomischen Analysen mit Unsicherheiten behaftet sind. Dies ist nicht im statistischen Sinne (Stichwort Vertrauensintervall, Konfidenzellipse) gemeint, sondern betrifft die zentralen Annahmen des statistischen Modells. Diese können durch realistische Szenarien im Rahmen von Sensitivitätsanalysen systematisch variiert werden (vgl. Glick 2007, S. 145). Grundsätzlich infrage kommen dabei alle Interventionselemente wie sie in Tab. 1 zu finden sind. Beispielsweise können Mengenelemente wie die Anzahl der eingeschriebenen Patienten/innen variiert werden. Es können aber auch Elementkosten wie z. B. die Praxisnetz-Management-Pauschale variiert werden. Schließlich bietet sich auch die Möglichkeit, die Repräsentativität beeinflussenden Faktoren systematisch zu variieren (vgl. Perleth und Busse 2008, S. 218). Mit diesem Zugang kann die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Regionen geprüft werden. Einen Konsens über die endgültige Definition der Szenarien für die Sensitivitätsanalysen ist geplant und wird in Kürze konsensual mit allen beteiligten INFOPAT-Partnern abgestimmt. 5 Repräsentativität und Übertragbarkeit Unter dem Begriff Repräsentativität sei eine zufällig gezogene Stichprobe verstanden, die die Merkmale einer definierten Zielpopulation stellvertretend auf sich vereint (vgl. Schnell et al. 2005, S. 305). Unter der Zielpopulation ist im vorliegenden Fall die Menge der an Diabetes mellitus Typ 2 Patienten/innen zu verstehen, die ihrerseits die definierten Einschlusskriterien erfüllen. Das heißt, die gewonnenen Ergebnisse sind auch nur auf dieses Kollektiv – und nicht auf alle Diabetes-Patienten/innen – anderer Regionen übertragbar. Diese Aussage gilt insbesondere vor dem Hintergrund des klinisch randomisierten Studiendesigns, da die Versorgung des ausgewählten Patientenkollektivs unter den Bedingungen der Routineversorgung erfolgt. Die HTA-Studie darf sich daher auf eine hohe interne und externe Validität berufen. Es handelt sich um einen Ausschnitt multimorbider Patienten/innen, was ein charakteristisches Merkmal von CMP ist (vgl. Bodenheimer und Berry-Millett 2009, S. 6). Diese wollen insbesondere Hochrisiko-Patienten/innen ansprechen, da diese hohe Versorgungsausgaben verursachen. Eine derartig kostenintensive Intervention käme daher nicht für INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 875 Patienten/innen infrage, die nur eine geringe Neigung zur Inanspruchnahme haben. Daher kommt insbesondere der Rekrutierung und Auswahl der Probanden eine zentrale Bedeutung zu, da hiermit über den Erfolg (und Misserfolg) der Intervention entschieden wird. Insofern wird es u. a. die Aufgabe der Sensitivitätsanalysen sein, relevante Subgruppen in der Zufallsstichprobe zu identifizieren und das Kosten-Wirksamkeits-­ Verhältnis nach Komorbiditätsniveau abgestuft auszuweisen. Dieses Vorgehen wiederum basiert auf der Annahme, dass die entsprechenden Diagnosen den korrekten Gesundheitsstatus der Individuen reflektieren. Eine Annahme, die insbesondere im ambulanten Sektor als eher kritisch einzustufen ist (vgl. Giersiepen et al. 2007, S. 1028; Zimmermann et al. 2012, S. 260). Unter diesen Voraussetzungen können die gesundheitsökonomischen Szenarien aber dennoch dazu beitragen, wesentliche Erfolgsfaktoren für eine kosteneffektive Intervention zu identifizieren. Dieses Vorgehen zielt darauf ab, eine Reproduktion der Studienergebnisse in anderen Regionen zu gewährleisten. 6 Ausblick Mit dem jetzt verabschiedeten E-Health-Gesetz kann man gut begründet annehmen, dass IT-Lösungen und patientenbezogene individualisierte Versorgungsangebote ihren Einzug in das deutsche Gesundheitswesen finden. Das INFOPAT-Projekt mit seiner GEDIMAplus Substudie zielt darauf ab, die notwendige klinische und gesundheitsökonomische Evidenz für eine Übernahme in die Regelversorgung zu erzeugen. Parallel dazu werden am Ende der INFOPAT-Projektlaufzeit die gesundheitsökonomischen Studienergebnisse zum Arzneimitteltherapiesicherheitssystem und der Daten zusammenführenden, persönlichen und elektronischen Patientenakte (vgl. Baudendistel et al. 2015b, S. 2613; Baudendistel et al. 2015a, S. e121) vorliegen, um im regionalen Maßstab eine erste Vorstellung über die Gesundheitsregion der Zukunft in der Metropolregion Rhein-Neckar zu gewinnen. Danksagung  INFOPAT/GEDIMAplus wird von vielen Schultern getragen. Wir möchten Marion Kiel, Kayvan Bozorgmehr, Werner Besier, Manfred Meyer, Beate Gerling, Ralf Brandner, Sandra Schmitt, Christina Reiß, Göce Karakas, Ömer Sanatci, Oliver Heinze und Björn Bergh für ihre stete Unterstützung danken. Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Förderkennzeichen FZ 01KQ1003H. Literatur Baudendistel I, Winkler E, Kamradt M, Brophy S, Längst G, Eckrich F, Heinze O, Bergh B, Szecsenyi J, Ose D (2015a) The patients’ active role in managing a personal electronic health record: a qualitative analysis. Support Care in Cancer 23:2613–2621 876 C. Jacke et al. Baudendistel I, Winkler E, Kamradt M, Längst G, Eckrich F, Heinze O, Bergh B, Szecsenyi J, Ose D (2015b) Personal electronic health records: understanding user requirements and needs in chronic cancer care. JMIR 17:e121 Beléndez M, Wit M de, Snoek FJ (2010) Assessment of parent-adolescent partnership in diabetes care: a review of measures. Diabetes Educ 36:205–215 Bernert S, Kilian R, Matschinger H, Mory C, Roick C, Angermeyer MC (2001) Die Erfassung der Belastung der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen – Die deutsche Version des Involvement Evaluation Questionnaires (IEQ-EU). Psychiatr Prax 28(Suppl 2):97–101 BMBF (2016a) Mit Gesundheitsregionen Innovationspotentiale heben. http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/4884.php. Zugegriffen: 15. März 2016 BMBF (2016b) Gesundheitsregionen der Zukunft; Metropolregion Rhein-Neckar: Raum für Gesundheit. http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/5154.php#RheinNeckar. Zugegriffen: 15. März 2016 Bock J, Brettschneider C, Seidl H, Bowles D, Holle R, Greiner W, König HH (2015) Ermittlung standardisierter Bewertungssätze aus gesellschaftlicher Perspektive für die gesundheitsökonomische Evaluation. Gesundheitswesen 77:53–61 (Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [Germany]) Bodenheimer T, Berry-Millett R (2009) Care management of patients with complex health care needs (Research Synthesis Report 19). http://www.rwjf.org/content/dam/farm/reports/issue_ briefs/2009/rwjf49853/subassets/rwjf49853_1. Zugegriffen: 25. Aug. 2015 Bozorgmehr K, Szecsenyi J, Ose D, Besier W, Mayer M, Krisam J, Jacke CO, Salize H, Brandner R, Schmitt S, Kiel M, Kamradt M, Freund T (2014) Practice network-based care management for patients with type 2 diabetes and multiple comorbidities (GEDIMAplus): study protocol for a randomized controlled trial. Trials 15:243 Chernyak N, Ernsting C, Icks A (2012) Pre-test of questions on health-related resource use and expenditure, using behaviour coding and cognitive interviewing techniques. BMC Health Serv Res 12:303 Chisholm D, Knapp MR, Knudsen HC, Amaddeo F, Gaite L, Wijngaarden B van (2000) Client Socio-Demographic and Service Receipt Inventory–European Version: development of an instrument for international research. EPSILON Study 5. European Psychiatric Services: Inputs Linked to Outcome Domains and Needs. Br. J. Psychiatry (Supplement) 177(39):28–33 Do YK, Norton EC, Stearns SC, Van Houtven CH (2015) Informal care and caregiver’s health. Health Econ 24:224–237 Drummond M (2005) Methods for the economic evaluation of health care programmes. Oxford University Press, Oxford Freund T, Peters-Klimm F, Rochon J, Mahler C, Gensichen J, Erler A, Beyer M, Baldauf A, Gerlach FM, Szecsenyi J (2011) Primary care practice-based care management for chronically ill patients (PraCMan): study protocol for a cluster randomized controlled trial [ISRCTN56104508]. Trials 12:163 Giersiepen K, Pohlabeln H, Egidi G, Pigeot I (2007) Die ICD-Kodierqualität für Diagnosen in der ambulanten Versorgung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 50:1028–1038 Glick H (2007) Economic evaluation in clinical trials. Oxford University Press, Oxford Deutsches Ärzteblatt (2015) Bürokratie verursacht mehr als 4 Milliarden Kosten. http://www. aerzteblatt.de/nachrichten/63960/Buerokratie-verursacht-Kosten-von-mehr-als-vier-MilliardenEuro. Zugegriffen: 15. März 2016 INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 877 Graf von der Schulenburg J-M, Greiner W, Jost F, Klusen N, Kubin M, Leidl R, Mittendorf T, Rebscher H, Schöffski O, Vauth C, Volmer T, Wahler S, Wasem J, Weber C (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation – dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. Gesundheitsökonomie Qualitätsmanagement 12:285–290 Icks A, Chernyak N, Bestehorn K et al (2010) Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation in der Versorgungsforschung. Gesundheitswesen 72:917–933 (Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [Germany]) Kamradt M, Bozorgmehr K, Krisam J, Freund T, Kiel M, Qreini M, Flum E, Berger S, Besier W, Szecsenyi J, Ose D (2014) Assessing self-management in patients with diabetes mellitus type 2 in Germany: validation of a German version of the Summary of Diabetes Self-Care Activities measure (SDSCA-G). Health Qual Life Outcomes 12:185 Kamradt M, Krisam J, Besier W, Jacke C, Salize H, Brandner R, Schmitt S, Szecsenyi J, Ose D (2015) Implementierung einer praxisnetzbasierten, softwaregestützten Case Management Intervention am Bsp. von multimorbiden Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. ENI 2015, 8. wissenschaftlicher Kongress für Infomationstechnologie im Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich: 59, Hall/Tirol. http://www.kongress-eni.eu/eni_2015_vorabprogramm.pdf. Zugegriffen: 29. Sept. 2015 Krauth C, Hessel F, Hansmeier T, Wasem J, Seitz R, Schweikert B (2005) Empirische Bewertungssätze in der gesundheitsökonomischen Evaluation – ein Vorschlag der AG Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation (AG MEG). Gesundheitswesen 67:736–746 (Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [Germany]) Ose D, Szecseny J (2015) Patientenorientierte Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen; Das INFOPAT-Projekt. ENI 2015, 8. wissenschaftlicher Kongress für Infomationstechnologie im Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich: 84, Hall/Tirol. http://www.kongress-eni. eu/eni_2015_vorabprogramm.pdf. Zugegriffen: 29. Sept. 2015 Perleth M, Busse R (2008) Health technology assessment; Konzepte, Methoden, Praxis für Wissenschaft und Entscheidungsfindung. MWV, Berlin Salize HJ, Kilian R (2010) Gesundheitsökonomie in der Psychiatrie; Konzepte, Methoden, Analysen. Kohlhammer, Stuttgart Schnell R, Hill PB, Esser E (2005) Methoden der empirischen Sozialforschung. Oldenbourg, München Schöffski O (Hrsg) (2012) Gesundheitsökonomische Evaluationen. Springer, Berlin Seidl H, Bowles D, Bock J, Brettschneider C, Greiner W, König H, Holle R (2015) FIMA–Fragebogen zur Erhebung von Gesundheitsleistungen im Alter: Entwicklung und Pilotstudie. Gesundheitswesen 77:46–52 (Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [Germany]) Szende A, Oppe M, Devlin NJ (2007) EQ-5D value sets; Inventory, comparative review, and user guide. Springer, Dordrecht Zimmermann T, Kaduszkiewicz H, Bussche h vd, Schön G, Wegscheider K, Werle J, Weyerer S, Wiese B, Olbrich J, Weeg D, Riedel-Heller S, Luppa M, Jessen F, Abholz HH, Maier W, Pentzek M (2012) Reliabilität ärztlicher Morbiditätsangaben zu chronischen Krankheiten. Ergebnisse einer Längsschnittstudie im hausärztlichen Bereich. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 55:260–269 878 C. Jacke et al. Über die Autoren Dr. Christian Olaf Jacke  ist Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Versorgungsforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim/Universität Heidelberg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der klinischen und gesundheitsökonomischen Evaluation komplexer Interventionen. Kontakt: Christian.Jacke@zi-mannheim.de Martina Kamradt B.Sc. Physiotherapie und M.Sc. Public Health ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Versorgungsforschung, wo sie sich derzeit im Rahmen des BMBF geförderten Projektes „INFOPAT“ mit dem praxisnetzbasierten, IT-gestützten Case Management für multimorbide Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 beschäftigt. Kontakt: Martina.Kamradt@med.uni-heidelberg.de Dominik Ose  Seit Januar 2008 arbeitet Dr. Dominik Ose an der Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der Universitätsklinik Heidelberg. Dominik Ose studierte Pflege an der Fachhochschule Fulda und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Herr Ose war von 2001–2003 in einer Kommunikationsagentur als Projektleiter und von 2003–2007 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld tätig. Herr Ose hat in Gesundheitswissenschaft promoviert und in Versorgungsforschung habilitiert. Kontakt: Dominik.Ose@med.uni-heidelberg.de INFOPAT-Projekt: Gesundheitsökonomische Evaluation … 879 Johannes Krisam  M.Sc. Mathematik, ist Biometriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Biometrie und Informatik der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der klinischen Studien und Studien in der Versorgungsforschung, im Rahmen des BMBF geförderten Projektes „INFOPAT“ ist er verantwortlicher Biometriker für drei randomisiertkontrollierte Interventionsstudien. Kontakt: krisam@imbi.uni-heidelberg.de Prof. Dr. med. Joachim Szecsenyi, Dipl.-Soz.  ist seit 2001 Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg und seit 1995 Geschäftsführer des Göttinger AQUA-Instituts. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Qualitätsindikatoren und Qualitätsförderung im Gesundheitswesen, Versorgung chronisch Kranker und Multimorbidität, Patientenperspektive und Patientensicherheit sowie ärztliche Weiterbildung und Interprofessionalität. Kontakt: Joachim.Szecsenyi@med.uni-heidelberg.de Prof. Dr. Hans-Joachim Salize, Dipl.-Soz. leitet die Arbeitsgruppe Versorgungsforschung (AGV) am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim/Universität Heidelberg. Im Rahmen des BMBF-geförderten Projektes „INFOPAT“ ist die AGV für die gesundheitsökonomischen Evaluationen der Anwendungsprojekte verantwortlich. Kontakt: Hans-Joachim.Salize@zi-mannheim.de Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes Juliane Köberlein-Neu und Stefan Müller-Mielitz Die Evaluation von E-Health kann aus unterschiedlicher Motivation erfolgen. Beispielsweise können Aspekte zur Wirksamkeit, Qualität, Risiko und Sicherheit eine Rolle spielen, wenn E-Health und dessen Auswirkungen überprüft werden. Dieses Kapitel beschreibt eine Roadmap zur Entwicklung eines projektspezifischen Evaluationskonzeptes. Vorgestellt wird zunächst eine allgemeine Roadmap, deren Hauptanliegen es ist, den Anwender mit grundsätzlichen Leitfragen bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Evaluation zu unterstützen. Die Roadmap kann sowohl bei der Planung der formativen als auch für die summative Bewertung von Technologie eingesetzt werden. Für die Durchführung eines Evaluationsvorhabens, welches die Wirtschaftlichkeit von E-Health in den Blick nimmt, wurde die Roadmap in Abschn. 2 weiter spezifiziert und die Wirtschaftlichkeit betreffende Sicht von E-Health noch einmal isoliert betrachtet. 1 Allgemeine Roadmap zur Planung einer formativen oder summativen Bewertung Juliane Köberlein-Neu Die einzelnen Elemente der Roadmap sind in Abb. 1 entsprechend der Abfolge ihrer Bearbeitung dargestellt. J. Köberlein-Neu (*)  Bergisches Kompetenzzentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de S. Müller-Mielitz  IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren, Deutschland E-Mail: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8_47 881 882 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz Warum wird eine Evaluation durchgeführt? (Rationale und Ziele) Welche Stakeholder sind zu adressieren? (Perspektive) Wann soll evaluiert werden? (Entwicklungsstand) Welcher Zeitraum soll gewählt werden? (Zeithorizont) Was wird evaluiert? (Evaluationskriterien) Welche ethischen Aspekte müssen beachtet werden? (Ethik) Welche Parameter bilden die Evaluationskriterien ab? (Evaluationsparameter) Welche Methoden zur Datenerhebung sollen eingesetzt werden? (Evaluationsdesign) Welche Wirkung soll mit den Ergebnissen erzielt werden? (Ergebnisverwendung) Abb. 1  Allgemeine Roadmap zur Planung von Evaluationsvorhaben im Bereich E-Health. (In Anlehnung an Alalwany 2010) Die Roadmap beginnt mit der Darlegung der Evaluationsrationalen, einer Definition der Ziele sowie der Formulierung einer präzisen Forschungsfrage. Die Ausgestaltung des ersten Schrittes sollte dabei mit Sorgfalt erfolgen, da bereits an dieser Stelle die Grundlage für die methodische Ausrichtung der Evaluation gelegt wird. Im Bereich E-Health lassen sich sechs grundsätzliche Forschungsdesiderate abgrenzen: 1. Formative Bewertung (z. B. Funktionalität, Design, Usability-Test von Services Akzeptanzverhaltens der Anwender) 2. Allgemeine Bewertung der Kosten und der Wirksamkeit von E-Health Anwendung zur Unterstützung von Allokationsentscheidungen (auf der Makro-, Meso- und Mikroebene); 3. Untersuchung von E-Health-Anwendungen im Rahmen organisationsbezogener Forschung. Hierbei sind neben der technischen Systemebene zwei Untersuchungseinheiten zu unterscheiden: a) Personen, das heißt Mitarbeiter der Organisation und Adressaten/Klienten (z. B. Patienten), b) Sozialsysteme, das heißt entweder einzelne Subsysteme einer Einrichtung (z. B. Stationen, Abteilungen) oder die Gesamtorganisation; 4. Analyse versorgungsbezogener Auswirkungen von E-Health auf das Gesundheitssystem, z. B. auf das Verhalten von Leistungserbringern und Patienten; Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes 883 5. Identifikation effektiver Implementierungsstrategien; 6. Fragestellungen in Bezug auf die Patientensicherheit. Bei der Definition der Forschungsziele ist dabei darauf zu achten, formative nicht mit summativen Fragestellungen innerhalb einer Evaluationsstudie zu kombinieren. Dies könnte die Generalisierbarkeit der Ergebnisse aus dem summativen Bereich beeinträchtigen, vor allem dann, wenn aus den formativen Resultaten heraus Änderungen an der Intervention vorgenommen werden. Der Roadmap folgend schließt sich an die Festlegung der Forschungsziele die Wahl einer geeigneten Perspektive, z. B. des individuellen Nutzers, der Organisation, der Gesellschaft, an. Die Entscheidung für eine Perspektive impliziert gleichzeitig, welcher Zeithorizont für die Evaluation relevant ist und welche ethischen Aspekte bei der Ausarbeitung des Designs berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus bestimmt die Wahl der Perspektive, welche Evaluationskriterien genutzt und definiert werden. Während beispielsweise die Einbeziehung direkter (umfassen den gesamten aktuellen und zukünftigen Ressourcenkonsum) und indirekter Kosten (bezeichnen den krankheitsbzw. interventionsbedingte Produktivitätsausfall) aus gesellschaftlicher Perspektive für die Kostenbewertung einer E-Health-Anwendung eine hohe Relevanz besitzt, wäre aus der Perspektive der Organisation der Betriebskostenansatz die bevorzugte Methodik zur Ermittlung der Kosten einer Intervention. Die zu bestimmende zeitliche Dimension bei der Evaluation von E-Health-Anwendungen umfasst zwei Komponenten. Zum einen muss entschieden werden, in welchem Entwicklungsstadium die Intervention im Evaluationsvorhaben bewertet werden soll (z. B. im Entwicklungsprozess, nach Implementierung). Zum anderen ist ein adäquater Zeithorizont für die Analyse anzusetzen. Dabei weisen Untersuchungen, welche recht früh im Lebenszyklus einer Intervention erfolgen und in der Regel der formativen Evaluation zugerechnet werden können, einen kurzen Zeithorizont auf (Lilford et al. 2009). Die Bewertung nach Implementierung der Intervention, vor allem die Betrachtung der Wirksamkeit und der Kosten, sollte hingegen entsprechend länger sein, um alle relevanten Kosten und Effekte der Versorgungsszenarien abbilden zu können (Icks et al. 2010). Der fünfte Schritt der Roadmap sieht die Auswahl der Evaluationskriterien vor, welche im weiteren Verlauf (Schritt 6) durch Beobachtungsparameter operationalisiert werden. Gemäß Cronholm und Goldkuhl (2003) können in diesem Zusammenhang drei Ansätze differenziert werden: 1. Kriterienbasierte Evaluation 2. Zielorientierte Evaluation 3. Zielfreie Evaluation Im Rahmen der kriterienbasierten Evaluation, welche bei der Bewertung von E-Health am häufigsten eingesetzt wird (Alalwany 2010), erfolgt eine literatur- und/oder 884 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz theoriegeleitete Definition der zu evaluierenden Kriterien, z. B. die Auswahl von Evaluationskriterien entsprechend postulierter Wirkmechanismen (s. Abschn. 2), welche in einem zweiten Schritt durch konkrete Parameter operationalisiert werden (z. B. Kriterium: „Funktionalität“, Parameter: „Erreichbarkeit des Services“). Vorteilhaft an einem kriterienbasiertem Vorgehen ist, dass die Kriterien und Parameter häufig multiperspektivisch interpretiert werden können. Zielorientierte Evaluationen hingegen sind spezifisch auf die im zweiten Schritt der Roadmap (Perspektive) gewählten Stakeholder ausgerichtet und finden daher häufig im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses einer Organisation Anwendung. Ihre Kriterien sowie die mit den hinterlegten Parametern definierten Ziele (z. B. Prozent Einsparung) werden aus dem Kontext der betrachteten Einheit (z. B. das Krankenhaus) abgeleitet. Zum Einsatz kommen vor allem quantitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Bei der zielfreien Evaluation handelt es sich um einen vornehmlich qualitativ orientierten Evaluationsansatz, welcher unabhängig von den vorherbestimmten Zielen versucht, alle Auswirkungen einer Intervention zu erfassen. Das Vorgehen soll eine gewisse Aufgeschlossenheit des Evaluierenden gegenüber nicht-intendierte Ergebnisse erreichen und die Erhebung schwerwiegender negativer nicht beabsichtigter Ereignisse unterstützen (Giel et al. 2015). Nach Festlegung der Evaluationskriterien ist der Roadmap weiter folgend das Evaluationsdesign sowie entsprechende Methoden zur Datenerhebung zu bestimmen. Die Auswahl des Designs orientiert sich dabei eng an den Zielen des Vorhabens, am Entwicklungsstand der Intervention, der gewählten Perspektive sowie am Zeithorizont. Ist die Entwicklungsphase noch nicht abgeschlossen, sind für die formative Evaluation vor allem qualitative Ansätze zu wählen. Nach Abschluss der Entwicklungen und vor Implementierung der Intervention sollte zunächst die Effektivität und gegebenenfalls die Kosten durch quantitative Methoden adressiert werden (vgl. Abschn. 1 in „Die Bewertung von E-Health im Kontext der Versorgungsforschung“). Während sich bei der Bewertung von Arzneimittel vor allem randomisierte, kontrollierte klinische Studien (RCT) als Goldstandard herausgebildet haben, existiert für die summative Evaluation von E-Health kein solcher Konsens. Lilford et al. (2009) und Scott und Briggs (2009) postulieren in ihren Arbeiten, dass vor allem die Integration quantitativer und qualitativer Methoden im Rahmen eines Interferenzprozesses (Mixed-Methods Desgin) als erstrebenswertes Ziel für die Evaluation solch komplexer Interventionen angesehen werden sollte, um einerseits zu generalisierbaren Ergebnissen und andererseits zu kontextbezogenen Erklärungen zu gelangen. Ebenso sind Untersuchungen auf der Outcome-Ebene durch Evaluationen auf der Throughput-Ebene zu ergänzen, z. B. in Form von Mehrebenenmodellen (vgl. hierzu z. B. Hox 2010). Die bereits in Abschn. 2 in „Einführung“ angesprochenen methodischen Herausforderungen für die Durchführung klassischer RCTs, der enge Kontextbezug von Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes 885 E-Health-Anwendungen sowie die aufgrund des stetigen technischen Fortschritts begrenzt für eine Evaluation zur Verfügung stehende Zeitspanne machen somit ein recht pragmatisches Vorgehen bei der Auswahl eines geeigneten Evaluationsdesigns im summativen Bereich notwendig (Nguyen et al. 2007). Orientierungshilfe bieten Arbeiten aus dem Bereich Patientensicherheit (vgl. z. B. Brown et al. 2008), da hier ähnliche Herausforderungen bei der Bewertung von Interventionen vorliegen. Die Wahl des Designs wird von wenigen Faktoren geleitet: 1. Verwendungszweck der Ergebnisse: Ist die Evaluation Teil des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses einer Organisation? (Praxisforschung vs. Allg. Kosten-Wirksamkeitsbeleg und Versorgungsforschung) 2. Zeitpunkt der Evaluation im Lebenszyklus: Wurde die Intervention bereits vor Planung der Evaluation implementiert? Falls ja, kann trotzdem eine Kontrollgruppe initiiert werden? 3. Evaluationskriterien und -parameter: Handelt es sich bei den ausgewählten Beobachtungsparametern um Endpunkte, welche im Studienkontext selten auftreten (z. B. Todesfälle, Krankenhauseinweisungen)? 4. Kosten der E-Health-Anwendung und Eindeutigkeit der Wirkzusammenhänge: Ist der Einsatz der Intervention mit hohen Kosten verbunden? Gibt es bereits eindeutige Belege für die Wirkzusammenhänge, welche bei Anwendung der E-Health-Intervention auftreten? 5. Ebene der Intervention: Setzt die Wirkung der Intervention auf globaler (organisationaler) oder individueller Ebene an? (Beispiele: Ebene der Organisation – eLearning, elektronische Patientenakte; Patientenebene – Arzneimittel-App zur Unterstützung des Selbstmanagements der Patienten) 6. Erwartete Effekte/Organisation der Intervention: Ist bereits zum Zeitpunkt der Studienplanung absehbar, dass die Intervention positive Effekte haben wird oder kann die Intervention nicht gleichzeitig bei allen Patienten/in allen Studienzentren eingeführt werden? Zu jedem der benannten Faktoren lassen sich Leitfragen formulieren (s. Abschn. 1), welche in Form eines Algorithmus Unterstützung bei der Entscheidungsfindung leisten können (s. Abb. 2). Das abschließende Element der Roadmap thematisiert die Verwendung der Evaluationsergebnisse. Diese sollte vor Beginn des Vorhabens erörtert werden, da sich hieraus Implikationen für die bereits beschriebenen Schritte der Roadmap sowie für die Kommunikation der Evaluationsstrategie ergeben. 886 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz JA Ist die Evaluation teil des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses einer Organisation? Vorexperimenteller Versuchsplan mit Vorher -Nachher Messung (monozentrisch); ggf. Zeitreihen NEIN Besteht die Möglichkeit einer Kontrollgruppe? JA NEIN JA Vorexperimenteller Versuchsplan mit Vorher -Nachher Messung (multizentrisch); ggf. Zeitreihen Handelt es sich bei den Beobachtungsparametern um seltene Ereignisse ? Ist der Einsatz derInt. mit geringen Kosten und Risiken verbunden und die Wirkzusammenhänge klar? JA JA Cluster-randomisierte, kontrollierte Studie im stepped wedge Design NEIN Ist eine Randomisierung (zufällige Austeilung der Individuen auf Gruppen) möglich? (pragmatische) Randomisierte, kontrollierte Studie Cluster-randomisierte, kontrollierte Studie NEIN NEIN Natürliches Experiment (Quasiexperimentelles Design) mit mehreren Messzeitpunkten Intervention auf Organisationsebene? Sprechen ethische o. orga. Aspekte gegen ein Parallelgruppendesign? Abb. 2  Algorithmus zur Auswahl des Studiendesigns im Rahmen der summativen Evaluation 2 Spezifizierte Roadmap zur Anwendung im Rahmen einer (gesundheits-)ökonomischen Analyse von E-HealthTechnologien Stefan Müller-Mielitz 2.1 Hintergrund Im dggö-Ausschuss „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ wurde seit 2011 eine Vorgehensweise für die ökonomische Analyse von E-Health diskutiert und weiter verfeinert. Das methodische Vorgehen in zwölf Schritten wurde in seinen Grundzügen 2011 publiziert (Müller-Mielitz et al. 2011) und auf der GMDS-Tagung 2012 vorgestellt (Müller-Mielitz et al. 2012). In den folgenden Jahren wurde im Rahmen von Workshops auf dggö-Jahrestagungen, GMDS-Jahrestagungen und auch bei der MKWI-Tagung 2014 in Paderborn im Dialog mit der Community eine Erweiterung des Ansatzes auf 14 Punkte vorgenommen und der Absatz in verschiedenen Projekten erprobt. Im Rahmen des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ hat sich eine Gruppe mit dem Thema der ökonomischen Analyse von E-Health intensiv beschäftigt. Der aktuelle Status der Diskussion wird dargestellt, um damit die Diskussion weiter zu führen. Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes 887 2.2 Detaillierte Beschreibung des spezifizierten Vorgehensmodells In Tab. 1 sind alle Punkte aufgelistet, die für das Vorgehen einer ökonomischen Analyse von E-Health relevant sind. Im Folgenden werden die erarbeiteten Schritte detailliert beschrieben: Untersuchungsgegenstand Die Beschreibung des Gegenstands der Untersuchung ist die Voraussetzung für die Abgrenzungen von Kosten, Nutzen und – besonders wichtig – für die Abgrenzung von (in)-tangiblen Effekten und den direkten/indirekten Effekten des Projekts. Die Beschreibung des Gegenstandes enthält zudem die Fragestellung, die am Ende der Untersuchung im Ergebnisteil beantwortet wird. Ziele E-Health-Anwendungen verfolgen unterschiedliche Ziele. Es muss bei der Zielbeschreibung eines Vorhabens diese Differenziertheit durch den Analysten herausgearbeitet werden. Das ermöglicht in einem interdisziplinären Team die ökonomische Analyse von IT-Anwendung neben einer betriebswirtschaftlichen Optimierung oder der Untersuchung einer medizinisch besseren Versorgung in Form einer risikoärmeren Diagnostik oder Therapie. Die Erarbeitung der Ziele enthält zudem die Aufstellung einer klar formulierten Fragestellung, die am Ende der Untersuchung im Ergebnisteil beantwortet wird. Tab. 1  14-Punkte-Vorgehen bei einer ökonomischen Analyse 14-Punkte-Vorgehen bei einer ökonomischen Analyse von E-Health 1 Untersuchungsgegenstand 2 Ziele 3 Perspektiven 4 Evaluationsform 5 Vergleichsalternativen 6 Zeit, Raum, Material 7 Input 8 Transformation 9 Output – Outcome – Impact 10 Berechnung 11 Diskontierung 12 Sensitivitätsanalyse/Szenarioanalyse 13 Benchmarks 14 Ergebnis, Empfehlung, Publikation 888 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz Perspektiven Die Nennung der Perspektive ist für den Leser eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der Analyse. Idealerweise wird eine umfassende Analyse aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wie z. B. aus der Sicht der beteiligten Akteure und Institutionen. Konsens ist, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse die gesamtgesellschaftliche Perspektive berücksichtigen soll. Somit sollte zwischen der Perspektive des Auftraggebers einer Analyse und der Zielperspektive (Individuum, Gruppe, Kollektiv, Gesellschaft, und weitere) unterschieden werden. Evaluationsform Für die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung von E-Health eignen sich alle Formen der gesundheitsökonomischen Evaluation, beispielsweise die Kosten-Analyse, die Kosten-Minimierungs-Analyse, die Kosten-Krankheitsstudie, die Kosten-Nutzwert-Analyse, die Kosten-Wirksamkeits-Analyse oder die Kosten-Nutzen-Analyse. Die Entscheidung für eine Evaluationsform ist nicht zuletzt auch abhängig von der gewählten Perspektive. Vergleichsalternativen Bei der Durchführung (gesundheits-)ökonomischer Studien mit vergleichendem Charakter (z. B. Kosten-Wirksamkeits-Analyse oder Kosten-Krankheitsstudie) ist in Ergänzung zum Untersuchungsgegenstand ein entsprechendes Referenzszenario festzulegen, z. B. Treatment as usal (TAU). Zeit, Raum, Material Bei der zeitlichen Abgrenzung können die Nutzer analysiert werden, die sich in verschiedene Nutzergruppen aufteilen und zu unterschiedlichen Zeiten an dem Projekt beteiligt waren. Beispielsweise können das die potenziellen Nutzer sein, die in einem Community-Prozess, beispielsweise bei der Anforderungsanalyse, beteiligt waren. Der Aspekt „Raum“ wird offensichtlich, wenn intersektorale, regionale E-Health-Vernetzungen analysiert werden sollen oder auf nationaler Ebene Aussagen zu Kosten und Nutzen der Telematikinfrastruktur gemacht werden. Das vorhandene und damit zu analysierende Material ist so vielschichtig wie die zu evaluierenden Projekte selbst. Das Datenmaterial für die Berechnungen kann aus dem laufenden Projekt direkt stammen oder über eine Befragung indirekt gewonnen werden. Die neuen technischen Möglichkeiten des Web 2.0 bieten andere und schnellere Formen der Befragung als es noch vor wenigen Jahren denkbar war. So ist es u. a. möglich, die bisher sehr aufwendig erhobenen willingness-to-pay-Daten sehr viel einfacher und kostengünstiger zu erheben. Input Ein schwieriger Part der Analyse ist und bleibt die Kostenermittlung auf der Input-Seite. Hierfür kann es keine einheitliche Vorgehensweise geben. Eine wichtige Vorarbeit ist Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes 889 durch die Definition des Gegenstands und die Festlegung der Perspektive(n) erfolgt. Dadurch wird der ökonomische Rahmen eingegrenzt, in dem die Analyse erfolgt. Die Kosten bestimmen sich aus den Mengen und den Preisen der eingesetzten Input-Faktoren. Die ermittelten Kosten schaffen in Projekten die Grundlage für die Kostenanalyse. Transformation Der Transformationsprozess kann auch dargestellt werden als: input➔system➔output. Die Transformation im System erfolgt durch endogene und/oder exogene Faktoren und mittels der Nutzung des zu untersuchenden Gegenstandes. Ziel des methodischen Vorgehens ist es, nach der Abgrenzung des Gegenstandes den durchgeführten Transformationsprozess zu beschreiben, Determinanten für das Output zu erörtern und sein Ergebnis (Output, Outcome, Impact) zu untersuchen. Output – Outcome – Impact Bei der Planung von Maßnahmen tritt das Problem auf, dass keine Mengenangaben und oft keine Preise für die verwendeten Faktoren zur Verfügung stehen, die eine Quantifizierung (Menge) und Monetarisierung (Preis) in Form von bewerteten Kosten oder Nutzen ermöglichen können. Es besteht daher Bedarf, dass z. B. über einen Community-Abstimmungsprozess die Mengenbestimmungen (welche Mengen haben welche Relevanz) und Preisbestimmungen (Vorschläge für Surrogat oder Preisvorschläge) als Option für die Analytiker zur Verfügung gestellt werden. Berechnung Eine Kosten-Nutzen-Analyse wird qualitativ aufgewertet, wenn es gelingt, alle vorhandenen Nutzen nicht nur in der Analyse zu beschreiben, sondern durch die zuvor eingeführte Output-Systematisierung in den quantifizierbaren und monetarisierbaren Bereich für die Kosten-Nutzen-Rechnung (KNR) zu überführen. Diskontierung Wenn das Projekt über mehrere Jahre verläuft, sind die erhaltenen monetären Werte der Analyse zu diskontieren wie es der Hannoveraner Konsens vorschlägt (vgl. Graf von der Schulenburg et al. 2007, S. 289). Sensitivitätsanalyse/Szenarioanalysen Geschätzte oder wichtige Input-Werte können und sollten in Sensitivitätsanalysen variiert werden. Dazu ist ein klares, strukturiertes Vorgehen notwendig. Alle Variationen sind in ihren Grundannahmen und Veränderungen zu beschreiben und zu begründen. Ändert sich das Ergebnis der Untersuchung durch die Variationen nicht, liegt ein robustes Ergebnis vor. 890 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz Benchmarks Kennzahlen können einen Vergleich zwischen Projekten ermöglichen. Ergebnis, Empfehlung, Publikation Eine durchgeführte Analyse und ihr Ergebnis bedeuten keine Aussage über Motive oder Ziele des analysierten Wirtschaftens. Es gilt die Wertneutralität des Ökonomen. Mit seinen Forschungsergebnissen sollen Entscheidungshilfen oder Handlungsempfehlungen erfolgen, mehr nicht. Eine Empfehlung des Wissenschaftlers für Handlungen durch den Auftraggeber ist opportun. Das Ergebnis sollte aus Transparenzgründen allen Beteiligten und darüber hinaus der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. 2.3 Ergebnis Die Abb. 3 fasst noch einmal den beschriebenen Rahmen einer (gesundheits-)ökonomischen Evaluation von E-Health-Technologien grafisch zusammen. Mit der Abb. 1 wird das neu entwickelte methodische Framework in einem Überblick dargestellt und kann damit als Verfahrensvorschlag (im Sinne einer Roadmap) Abb. 3  Grafische Zusammenfassung des 14-Punkte Vorgehens Roadmap zur Entwicklung eines Evaluationskonzeptes 891 von Analysten genutzt werden. Die Erfahrungen für die strukturierte Analyse mit dem Framework sind sehr gut und es hat sich auch bei Workshops mit Teilnehmern aus der Forschung und auch der Industrie als zweckmäßiges Vorgehen bewährt. Literatur Alalwany H (2010) Cross disciplinary evaluation framework for E-Health services. Brunel University, West London Brown C, Hofer T, Johal A, Thomson R, Nicholl J, Franklin BD, Lilford RJ (2008) An epistemology of patient safety research: a framework for study design and interpretation. Qual Saf Health Care 17:158–162 Cronholm S, Goldkuhl G (2003) Six generic types of information system evaluation. The 10th European Conference on Information Technology Evaluation (ECITE-2003), Madrid, 25.–26. September 2003 Giel S, Klockgether K, Mäder S (2015) Evaluationspraxis. Professionalisierung – Ansätze Methoden. Waxmann, Münster Graf von der Schulenburg J-MG et al (2007) Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation – dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. Gesundh Ökon Qual Manag 12(5):285–290 Hox JJ (2010) Multilevel analysis (quantitative methodology), 2. Aufl. Tayler & Francis, Hove Icks A, Chernyak N, Bestehorn K, Brüggenjürgen B et al (2010) Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation in der Versorgungsforschung. Memorandum des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung. Gesundheitswesen 72:917–933 Lilford RJ, Foster J, Pringle M (2009) Evaluating eHealth: how to make evaluation more methodologically robust. PLoS Medicine 6:e1000186 Müller-Mielitz S et al (2011) Kosten-Analyse von IT-Projekten. eHealth2011 – Health Informatics meets eHealth, S 223–228. OCG, Wien. http://www.ehealth20xx.at/wp-content/uploads/scientific-papers/2011/mueller-mielitz.pdf. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Müller-Mielitz S et al (2012) Zwölf Punkte zur Durchführung der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung komplexer Gesundheitsprojekte. GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. http://www.egms.de/static/de/meetings/gmds2012/12gmds020.shtml. Zugegriffen: 15. Nov. 2015 Nguyen HQ, Cuenco DA, Wolpin S, Benditt J, Carrieri-Kohlman V (2007) Methodological considerations in evaluating eHealth interventions. CJNR 39:116–134 Scott PJ, Briggs JS (2009) A pragmatist argument for mixed methodology in medical informatics. J Mixed Methods Res 3:223–241 892 J. Köberlein-Neu und S. Müller-Mielitz Über die Autoren Prof. Dr. Juliane Köberlein-Neu  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und Juniorprofessorin für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie leitet die am BKG angesiedelte Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomische Evaluation“ und übernahm 2014 den Vorstandsvorsitz des Bergischen Kompetenzzentrums für Bergisches Kompetenz-zentrum für Gesundheitsökonomik und Versorgungsforschung (BKG). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer derzeitigen Tätigkeit liegt in der Entwicklung und Evaluation von Konzepten zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Kontakt: koeberlein@wiwi.uni-wuppertal.de Stefan Müller-Mielitz  ist Diplom-Volkswirt und Zertifikatsinhaber „Medizinische Informatik“ von GMDS e. V. und GI e. V. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des IEKF Institut für Effizienz Kommunikation Forschung GmbH, Ibbenbüren. Als Wissenschaftler tätig insbesondere zum Themenkomplex Wirtschaftlichkeit von E-Health. Verantwortlich bei der DMI GmbH & Co. KG für den Bereich Angewandte Forschung. Mitglied bei IHE, BVMI, GMDS und dggö. Tätig als Lehrbeauftragter an der Hochschule Fresenius und als Dozent an der HHL in Leipzig. Gründer des dggö-Ausschusses „Gesundheitswirtschaft und E-Health“. Kontakt: Stefan.Mueller-Mielitz@iekf.de Epilog Stefan Müller-Mielitz und Thomas Lux E-Health-Ökonomie zeigt sich in Wissenschaft, Praxis und Politik als neues und vielfältiges Themengebiet, dessen Diskussion gerade einmal beginnt. Das vorliegende erste Werk liefert einen umfassenden Überblick über das Thema und zeigt den aktuellen Stand der Diskussion. Gesundheitsökonomie, Gesundheitswirtschaft, Gesundheitsversorgung sowie ambulante, stationäre, Sektoren übergreifende und Versorgung am Gesundheitsstandort der privaten Haushalte; E-Health ist heute und besonders auch in Zukunft einhergehend mit weiteren technologischen Innovationen von sehr großer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns, dass wir aus den verschiedenen Themenfeldern zahlreiche Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis für einen Beitrag gewinnen konnten. Ein ganz besonderer Dank gilt den Paten der verschiedenen Kapitel, welche uns als Herausgeber enorm dabei geholfen haben, die Autorinnen und Autoren der vielfältigen Beiträge zu den jeweiligen Themen mit ihrer Expertise zu unterstützen und damit zu einer ausgezeichneten Qualität der Beiträge und einer geeigneten Struktur in den Kapiteln beitragen. „Grundlagen der E-Health-Ökonomie“ ist das einführende Kapitel, eingeleitet durch den E-Health-Experten, Wirtschaftsinformatiker und Ökonomen Thomas Lux, Herausgeber dieses Buches, in welchem die Autoren in die wesentlichen Begrifflichkeiten von E-Health, Gesundheitswirtschaft und Ökonomie einführen, Verfahren zur ökonomischen Analyse vorstellen und auch ausgewählte Projekte und deren Ergebnisse in diesem Umfeld diskutieren. Im Kapitel „E-Health und Gesundheitswirtschaft“ bespricht Volkswirt und Inhaber des Zertifikats „Medizinische Informatik“ Stefan Müller-Mielitz die Vielfalt des Themas. Der Herausgeber dieses Buches zeigt auf, dass die Informationstechnologie, die Digitalisierung des Gesundheitswesens und damit das Thema „E-Health“ relevante Themen bei Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sind. Es wird in dem Kapitel deutlich, dass ökonomische Aspekte neben weiteren Betrachtungen auf die Gesundheitsleistungserbringung wie, Effektivität, Qualität und Risiko von Bedeutung sind. Der Sozialwissenschaftler und Inhaber des Zertifikats „Medizinische Informatik“, Lars Treinat, führt im Kapitel „E-Health im System der Gesundheitsversorgung“ die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 S. Müller-Mielitz und T. Lux (Hrsg.), E-Health-Ökonomie, DOI 10.1007/978-3-658-10788-8 893 894 Epilog Bedeutung von E-Health für die Erbringung von Gesundheitsleistungen an. Das Kapitel macht aber auch deutlich, dass noch viele Barrieren bestehen und es einiges an Arbeit in Forschung, Praxis und Politik bedarf, damit E-Health dort ankommt, wo es gebraucht wird. Für den „Gesundheitsstandort privater Haushalt“ führt Volkswirt und Gerontologe Uwe Fachinger zu Recht an, dass wir noch keine genaue Vorstellung dieses primären Standortes „zu Hause“ haben: Ist es der „erste“ Gesundheitsstandort – wie wir meinen – oder ist es der verlängerte Arm des Arztes durch Telemedizin und damit der dritte Ort der Leistungserbringung? Welche Rolle spielen Prävention und Rehabilitation in den heimischen vier Wänden heute und zukünftig? Wie werden sich die Themen Smart Home und AAL in Eigenheim und Mietwohnung integrieren und welche Entwicklungen sind in Zukunft zu erwarten? Der Medizin-Informatiker und Berater von Krankenhäusern Carl Dujat zeigt aus Sicht der Praxis am zweiten und dritten Gesundheitsstandort die konkreten Anwendungsfälle von E-Health im Kapitel „Ambulante und stationäre Versorgung“. Schwerpunkt dieses Kapitels ist die Vermittlung der überwiegend technischen Voraussetzungen für E-Health, um künftig interregional und intersektoral die Akteure technisch zu unterstützen. Das Kapitel schließt dann ab mit drei konkreten IT-orientierten Projekten und den aktuellen technischen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Gesundheits-Ökonomin Juliane Köberlein-Neu diskutiert im Kapitel „Grundlagen der Evaluation von E-Health“ den aktuellen Stand aus wissenschaftlicher Perspektive und anhand verschiedener E-Health Projekte. Damit werden die Perspektiven der gesundheitsökonomischen Bewertung aufgezeigt und deren Umsetzbarkeit aus technischer Sicht geprüft. Die Beiträge in diesem ersten Buch zur E-Health-Ökonomie verdeutlichen die Fülle der Perspektiven und Aspekte, welche in Wissenschaft und Praxis diskutiert werden. Auch zeigen die Beiträge in diesem Buch auf, dass sich die Diskussion gerade einmal am Anfang befindet und noch sehr hoher Entwicklungs- und viel Forschungsbedarf besteht. Grundlegende Voraussetzung für den Erfolg ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen. Einen umfassenden Beitrag zu diesem interdisziplinären Verständnis von E-Health leistet dieses Buch mit der Darstellung der erforderlichen ökonomischen, medizinischen und auch IT-orientierten Aspekten. Die aus Sicht der Herausgeber künftig notwendigen Entwicklungen und Forschungsarbeiten sind u. a.: • Entwicklung eines Metamodells für die Evaluierung von E-Health-Anwendungen und Projekten • Methodische Weiterentwicklung der Detailanalyse: technisch, ökonomisch im Sinne eines standardisierten Vorgehens • Etablierung von abgestimmten Kosten, Mengeneinheiten und damit von Preisen für das Metamodell Epilog 895 • Einbindung aller Akteure in die Gesundheitstelematikinfrastruktur, Darstellung des Nutzens und Beschreibung von Nutzenaspekten • Sicherstellung von Datensicherheit und Datenschutz bei E-Health-Anwendungen und der IT-Infrastruktur • Schaffung von technischer und semantischer Interoperabilität in E-Health-Anwendungen Das Thema „Gesundheitswirtschaft und E-Health“ wurde maßgeblich durch den gleichnamigen Ausschuss bei der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) e. V. in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht und vorangetrieben. Die Herausgeber dieses Buches haben den Ausschuss innerhalb der dggö gegründet und Herr MüllerMielitz koordiniert die Aktivitäten als Geschäftsführer des Ausschusses. Damit bietet der Ausschuss für uns eine gute wissenschaftliche Heimat und wir laden alle Interessenten ein, die zuvor aufgelisteten Metaaufgaben gemeinsam anzupacken und im Dialog mit der Community weiter zu entwickeln. Wir freuen uns, das Thema „E-Health-Ökonomie“ gemeinsam mit Ihnen weiter zu diskutieren! Stefan Müller-Mielitz und Thomas Lux